Eine zärtliche Geschichte

BLOG: Anatomisches Allerlei

Kopflose Fußnoten von Helmut Wicht
Anatomisches Allerlei

Einst gab ich – zum Zwecke einer Prüfung – einer Medizinstudentin einen knöchernen Schädel in die Hand. Sie war schrecklich nervös, der Schädel entglitt ihren zitternden Händen, stürzte herab und zersprang auf dem steinernen Boden. Zwar fiel ihr der Schädel durch die Hände, sie aber nicht durch die Prüfung. Denn am zerborstenen Schädel lag jetzt die Kieferhöhle offen, die ich Ihnen nun dank des Missgeschickes und zu seinem photographischen Beleg auch im Bild zeigen kann (1). Und zur Anatomie jener Höhle befragte ich die zitternde Dame dann – und sie zeigte sich darüber erstaunlich wohl informiert.

von Studentin zerborstener Schädel

Moral? Nun, so Sie einen Schädel, einen Kopf haben: Geben Sie ihn nicht aus der Hand. Oder achten Sie zumindest sehr darauf, in wessen Hände, an wessen Schulter oder in wessen Schoss Sie ihn betten. Er ist ein Unikat und nicht zu ersetzen.

Oder schaffen Sie sich ein Kopfmodell aus unempfindlichen Hartplastik an. So machen wir es jetzt in der Anatomie. Und bei Betrachtung des Weltgeschehens will mir scheinen, dass das zunehmend auch ausserhalb der anatomischen Institute in Mode kommt.

(1) Am zerbrochenen Schädel hat man Gelegenheit, in die grösste der Nasennebenhöhlen, die Kieferhöhle (Sinus maxillaris) zu schauen (Pfeil). Der Sinn dieser Höhlen (es gibt noch weitere, kleinere) ist es nicht, durch ihre Entzündung (Sinusitis) die Hals-, Nasen- und Ohrenärzte in Lohn und Brot zu halten, sondern als Resonanzräume für die Spracherzeugung (und vielleicht auch zur Gewichtseinsparung) zu dienen. Diese Räume im Knochen sind nämlich luftgefüllt – es gibt kleine Verbindungsgänge zur Nasenhöhle – und wenn sie entzündet, verschwollen und voller Flüssigkeit sind, dann leidet ja auch die Sprache. Sie wird dumpf und "nasal".

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Veröffentlicht von

Gedankenfragmente von Helmut Wicht, Dozent an der Frankfurter Universität, über Neurobiologie, Anatomie, Philosophie, Gott und die Welt. Seine eigentliche Expertise bezieht sich auf die (Human-)anatomie und die vergleichende Anatomie des Nervensystems.

17 Kommentare

  1. @Helmut: und das Ende?

    “Oder schaffen Sie sich ein Kopfmodell aus unempfindlichen Hartplastik an. So machen wir es jetzt in der Anatomie. Und bei Betrachtung des Weltgeschehens will mir scheinen, dass das zunehmend auch ausserhalb der anatomischen Institute in Mode kommt.”

    Es kommt mir so vor, als hättest du nicht alles gesagt……

    Gibt’s noch Nachschlag? 🙂

  2. @ Diederichs

    Der Text ist ein Fragment aus dem Manuskript meiner diesjährigen Weihnachtsvorlesung, an der ich momentan arbeite.

    Das mit den “Hartplastikköpfen” im letzten Absatz ist wirklich nur ein sarkastischer Nachschlag, der sich ganz allgemein gegen die “herrschenden Verhältnisse” richtet und keineswegs bestimmte einzelne Vorgänge oder gar Personen im Visier hatte.

    Ich könnte den Nachschlag – ad personam meam – auch genau umdrehen, und mir selbst vorhalten, dass ich je älter, desto gefühlsduseliger werde. Und das matschige Mus in meiner eigenen Birne lässt mich dann eben meinen, dass alle anderen Betonköpfe hätten.

    Nimm’ den kurzen Text halt als ein literarisches Experiment: Den Versuch, Zärtliches und Zerborstenes zusammenzudenken und Sentimentales und Sarkastisches zu kombinieren.

    Die Info über den Sinus maxillaris hält der wissenschaftlichen Überprüfung stand, und die Prüfungsgeschichte hat sich wirklich so zugetragen. Vor mehr als 10 Jahren, den kaputten Schädel hab’ ich im Regal und die Geschichte in meinem Herzen aufgehoben.

    Ach so, nein. Nicht im Herzen. Irgendwo im der neuronalen Halbwegs-Festverdrahtung des Langzeitgedächntnisses in den Gyri temporales inferiores oder occipitotemporales des Lobus temporalis oder wo auch immer diese sentientalen Erinnerungen residieren.

    Residiert eine Erinnerung irgendwo im Raum?

  3. Trifft sich gut.

    Ich hatte schon befürchtet, dass wir dieses Jahr gar keinen Wicht-Beitrag für die Auslese haben.

    Ich glaub wenn du die Dame hättest durchfallen lassen, dann hätte sie bis heute ein Prüfungstrauma. Mannmannmann…

  4. @Helmut: Außen hart, innen weich

    Und das matschige Mus in meiner eigenen Birne lässt mich dann eben meinen, dass alle anderen Betonköpfe hätten.

    Tröste dich. Ich merk das an mir schon mit dreißig…

  5. @ Lars

    ..und die (gleichfalls wahre) Geschichte von dem Studenten, dem ich in der Neuro-Prüfung ein ausgebautes Hirn vorlegte, und ihn bat, den Nervus trigeminus zwecks Identifikation mit der Pinzette zu fassen, wobei er so zitterte, dass er den Nerven abriss, und ich sagte:

    “Mein Gott! Ein Arzt braucht eine ruhige Hand! Auch in Grenzsituationen! Was wollen Sie denn mal werden?”

    Und er sagt:

    “Neurochirurg!”

    Dann ham’ wir so gelacht, dass alle Nervosität von ihm abfiel – und er hat auch bestanden.

    Was aus ihm geworden ist, weiss ich nicht. Neurochirurg?

  6. @ Draminga – Schüttelreim erlaubt?

    “Es hat sich schon mancher Student an der Anatomieprüfung den Kopf zerbrochen.”
    Ja.
    Aber auch die Köpfe (und Herzen) der Anatomieprüfer brechen mitunter:

    “Ach, es will mir scheinen, Mädel,
    Du zerbrachst grad’ meinen Schädel.”
    (Doch brach ihm auch das Herz die Maid,
    weshalb er sie im März gefreit. Auf einer Heid’. Des Schüttelreimes wegen).

  7. @ Per Anhalter zum neuen Gehirn

    schaffen Sie sich ein Kopfmodell aus unempfindlichen Hartplastik an. So machen wir es jetzt in der Anatomie. Und bei Betrachtung des Weltgeschehens will mir scheinen, dass das zunehmend auch ausserhalb der anatomischen Institute in Mode kommt.

    Das erinnert mich ans Ende von Per Anhalter durch die Galaxis: Die Mäuse, die in Wirklichkeit Außerirdische sind und die Erde als einen gigantischen Computer haben bauen lassen, wollen das Gehirn von Arthur Dent, einem der letzten Überlebenden der Erde, um endlich die Lösung zu erfahren. Vorschlag von Zaphod Beeblebrox: Man könne Arthurs Gehirn durch ein einfaches Elektronengehirn ersetzen, das bloß abwechselnd mit den Äußerungen von “Was?!?” und “Wo gibt’s hier Tee?” keinerlei erkennbare Unterschiede feststellen lassen würde.

    Dir weiterhin gute Unterhaltung mit deinen StudentInnengehirnen.

    P.S. Bei fMRT-Messungen hat eine Sinusitis übrigens einen positiven Effekt auf das Signal, da es durch luftgefüllte Hohlräume zu magnetischen Artefakten kommen kann. In diesem Sinne also her mit den Erkältungen; umgekehrt musste ich einmal eine Messung abbrechen, weil eine Versuchsperson einen Hustenanfall bekam. Sie war aber eher allergisch als erkältet.

  8. Na solange die Studentin in der Prüfung nur einen Kopf und kein Herz gebrochen hat, ist doch alles in Butter… 😉

  9. @ Schleim

    “Dir weiterhin gute Unterhaltung mit deinen StudentInnengehirnen.”

    Stephan,

    es ist eine Katastrophe. Die Verweiblichung der Medizin, mein’ ich. Wir sind jetzt in FFM bei etwa 70-80% Frauen.

    Es fällt – als Mann – wirklich zunehmend schwer, NICHT den Rappel zu kriegen. Dauernd ist man in der Nähe von wirklich reizenden, klugen, wissbgierigen, schönen jungen Frauen. Stundenlang, auf dem Präpkurs, Seit’ an Seit’.

    Klar – die meisten nimmt man einfach nur als Studentinnen wahr. Aber es gibt da immer die eine oder andere…

    Früher, als es noch nicht so viele waren, da sagte ich so schätzungsweise ein oder zwei Mal pro Semester im Angesicht solch einer Frau: “Ui!”

    Jetzt müsst ich eigentlich täglich: “Uiuiuiuiuiuiui!” sagen.

    Das ist Psychoterror, jawohl! Als ob man einen Diabetiker im Süsswarenladen einsperrte…

    Nieder mit der Frauenquote in der Medizin! Lasst dicke Männer um mich sein! Um meines Seelenfriedens willen!

  10. @ Helmut

    Für die Gesellschaft dicker Männer musst du wohl noch bis zum Bloggertreffen in Deidesheim warten. Ich arbeite jedenfalls daran; mein neues Buch hat mir 3kg zusätzlich auf die Hüfte gebracht.

    Weißt du, in einem Psychologischen Institut ist es mit der Frauenquote auch nicht anders. Aber ich denke, abgesehen von der körperlichen Hülle macht sich doch irgendwo ein Altersunterschied bemerkbar — zum Glück!

    Vielleicht denkt man als Anatom, wo man es prinzipiell mit Körpern zu tun hat, da anders drüber? Dann lobe ich mir doch die Erforschung des psychischen Inneren des Menschen… 😉

  11. @ Schleim

    Stephan,

    ich bin mir ziemlich sicher, dass die dauernde Beschäftigung mit der Anatomie den Blick für Schönheit schärft.

    Ich guck’ den Damen auf die Hälse und suche die, bei denen ich das Spiel des Musculus omohyoideus beim Reden im Trigonum laterale colli beobachten kann, ich schau’ in Gesichter und wäge die Symmetrien der Brauenbögen, der Lidfalten, der Lidkanten und des Amorbogens ab, ich prüfe, ob auch eine Fossa supraclavicularis minor vorhanden ist, versuche, schöngeschwungene Schlüsselbeine zu erspähen, und von Iriden träum’ ich, braun, mit hellen Sprengseln, und Augen von ägyptischem Schnitt, mit einer geraden unteren Lidkante, aber einer oberen, die zum medialen Augenwinkel, zur Caruncula hin, stark gekrümmt ist, zum schläfenseitigen Augenwinkel aber flacher nur sich krümmt, und und und….

    Ich denk’, der Psycholog’ muss lang in Seelen graben, bevor er etwas Schönes zutage fördert. Mich, den Anatomen, springt’s an wie ein Raubtier.

  12. @ Wicht

    ich bin mir ziemlich sicher, dass die dauernde Beschäftigung mit der Anatomie den Blick für Schönheit schärft.

    Kann sein. Schönsaufen funktioniert auch und geht schneller.

  13. @ Helmut: Vergängliche Schönheit

    Wir denken wohl unterschiedlich über Schönheit. Die körperliche Schönheit des Anatomen ist doch vergänglich, unterliegt den natürlichen Zerfallsprozessen; die Schönheit einer Seele, wenn auch ans Gehirn gebunden, lässt sich ein Leben lang verfeinern und kultivieren — und man braucht auch keine Fotos, um sie zu dokumentieren; sie spricht aus den Taten eines Menschen, deren Resultate über sein physisches Ende hinaus fortbestehen (können).

    @ Martin, lol, von seinem SciLogs-Preis-Weinkasten dürfte Helmut aber wohl schon lange nichts mehr übrig haben.

  14. @ Stephan Schleim

    “Vergängliche Schönheit”

    Das, was Du schriebst, klingt meinen Ohren dualistisch: “Vivitur ingenio, caetera mortis erunt.” (Gelebt wird im Geiste, alles andere ist des Todes).

    http://tinyurl.com/2blgeqh
    (aus Vesal, de humani corporis fabrica, “Über den Bau des Körpers des Menschen”, 1543)

    Gebe zu bedenken, dass Schönheit auch flüchtig sein kann, ja, dass vielleicht die flüchtigen, einmaligen Momente die schönsten sind. Verweise hierzu auf den ersten Absatz von Schopenhauers “Über die Weiber”

    http://tinyurl.com/27hommd

    (Ohne dabei Schopenhauers Misogynie zu teilen)

  15. @ Helmut: Plura-, nicht Dualist!

    Ich denke durchaus, dass es viele Arten von Schönheit gibt, von denen nicht alle körperlich sind, wenngleich sie durch körperliche Eigenschaften (z.B. von Gehirnen) realisiert sind. Insofern bestreite ich auch nicht Schopenhauers “Knalleffekt”, nur finde ich seine Interpretation der sozialen Funktion desselben, nun ja, etwas einseitig. Im Niederländischen spricht man übrigens vom “klik”. Es muss “klikken”.

    Ich war gestern übrigens in unserem Universitätsmuseum, wo es gerade eine historisch-anatomische Ausstellung gibt; solltest du einmal in der Nähe sein…

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