Digital – Vorlage

BLOG: Anatomisches Allerlei

Kopflose Fußnoten von Helmut Wicht
Anatomisches Allerlei

Aus Gründen, die hier darzulegen nichts zu der Sache, von der ich berichten will, beitragen, interessiere ich mich momentan für die Sitzungsprotokolle der Administration der Dr. Senckenbergischen Stiftung der Jahrgänge 1795-1815.

Ein Segen ist’s, dass es die im Institut für Stadtgeschichte (ISG) überhaupt noch gibt. Es sind Unikate, gebundene Manuskripte, etwa im Quart-Format, 2 Bände für den oben genannten Zeitraum, über 1000 Seiten. Noch größeres Glück: ich kann die Kurrent, in der die Protokolle mit der Feder handgeschrieben sind, so halbwegs lesen.

Das heißt: ich könnte sie lesen, wenn ich an die Bände käme. Die sind allerdings gerade zwecks Digitalisierung ausgelagert. Nach tüchtigem Gejammer meinerseits stellt man mir freundlicherweise die vorläufigen .pdfs zu Verfügung – auf einem USB-Stick. Den darf ich aber nur im Lesesaal des Institutes in den dortigen Rechner stöpseln, ich muss ihn auch wieder abgeben, und argusäugig wird gewacht, dass ich mir keine Kopie auf meinen eigenen USB-Stick ziehe.

“Na gut”, dacht’ ich mir, “im ISG ist’s ja auch nett, kommst Du für eine gute Weile dienstlich aus’m Büro, kommst auch mal in die Innenstadt, hast ansonsten Deine Ruhe und kannst lesen.”

So las ich. Erstmal 200 Seiten Langenweile, bevor ich auf 10 Seiten stieß, die mich interessierten. Wenn ich schrieb: “ich kann’s lesen”, dann heißt das: ich verstehe, worum es es geht, aber so etwa jedes zehnte Wort rate ich mehr, als dass ich’s wirklich lese, ergo muss ich das alles, um es zitieren zu können, sauber transkribieren. Das ist Philologenarbeit, macht aber Spaß und dauert. Das würde ich wirklich gerne im Büro machen, wo ich die Sache auch mal liegen lassen oder mit Kollegen besprechen kann.  

Ich brauche diese zehn Seiten. Sie einfach vom Bildschirm abzuphotographieren – was man mir großzügigerweise erlauben würde – hat keinen Sinn, denn man muss sich einzelne kritische Stellen stark vergrößert angucken können. Ich würde mit einem Puzzle von Dutzenden von Detailphotos arbeiten müssen, die zu sortieren und im Photoshop wieder zusammenzubasteln wären – nein, das kann ja nicht Sinn der Digitalisierung sein.

“Kann ich mir diese 10 Seiten als .pdf kopieren?”

“Nein.”

“Was dann?”

“Schriftlichen Antrag auf Digitalisierung stellen.”

“Aber es ist doch schon digitalisiert …”

“Ach so .. trotzdem Antrag stellen. Wir schicken Ihnen die .pfds als email zu.”

“Aha …”

“Hier ist der Antrag.” (zweiseitiger Vordruck, ich fange an, den auszufüllen)

[… dauert …]

“Äh – hier steht: Seitenzahlen. Welche sind gemeint? Die vom .pdf oder die Originalpagination des gebundenen Manuskriptes?”

“Gute Frage. Schreiben Sie beide hin.”

“Dafür reicht der Platz nicht.”

“Heften Sie noch eine Notiz dran.”

[… dauert …]

“Bis wann hab’ ich das?”

“Hm. Der Mann von der Digitalisierungsabteilung ist diese Woche krank … aber erst kriegen Sie eh’ mal die Rechnung. Wenn Sie die bezahlt haben, kommen die .pdfs.”

“Kann ich das nicht unten an der Kasse bar bezahlen?”

“Nö.”

Jetzt, zwei Wochen später, kommt die Rechnung. Ganz high-tech mässig, per email, als .pdf. Sie enthält ein sehr langes Kassenzeichen, ich soll die 6 Euro, die der Spaß kostet, an’s Steuer- und Kassenamt der Stadt überweisen.

Mach’ ich doch glatt. Ich hab’ kein e-banking, also papierene Überweisung. Und dann nehm’ ich einen Ausdruck der Rechnung und einen von meiner Bank quittierten Überweisungsbeleg, besser noch: eine Kopie meiner Kontoauszüge, schreibe einen erklärende Girlande auf Institutsbriefkopfpapier dazu (denn anders geht’s nicht) und schicke das alles an die Verwahrgeldbuchhaltung meiner Universität, mit der Bitte, mir aus den Geldern, die ich für das Forschungsprojekt eingeworben habe, den von mir privat vorgelegten Betrag von 6 Euro auf mein Konto SondundsoViel bei DieserundjenerBank zurück zu erstatten siehe Anlagen mit freundlichen Grüßen Dr. Helmut Wicht.

Dann haben wir (selbst wenn ich die Zeit für das Verfassen dieses Blogs nicht einrechne), einen Verwaltungszeitaufwand von zwei, drei Stündchen in verschiedenen Institutionen erzeugt, und diverse Seiten Papier vollgeschrieben. Wegen 6 Euro, und wegen 10 Seiten .pdf, die ja schon digital vorlagen.

Verstehen Sie jetzt, warum ich dieses Blog mit Digital-Vorlage betitelt habe?

Heute ist tatsächlich der 11.11., 11 Uhr 11 ist, indem ich diese Zeile schreibe, gerade durch.

Willkommen in den Zeiten der digitalanalogen Narrenherrschaft!

Postskriptum:

Beim Ausfüllen der Überweisung hab’ ich mich – des langen Kassenzeichens und der immerelendlangen IBANs halber, zweimal verschrieben und musste neu anfangen. Ob bei den Digitalisaten die mögliche Fehlerquelle bzgl.der Pagination (s.o.) erkannt und vermieden wurde, weiß ich noch nicht. Die .pfds sind noch nicht da. Da muss ja erst das Kassenamt der Stadt Frankfurt dem Institut für Stadtgeschichte einen Brief schreiben, wo drin steht, dass die Rechnung mit dem Kassenzeichen 65z.6449.3367.6674-19b bezahlt wurde.

Postpostskriptum:

Ich bitte darum, nicht missverstanden zu werden. Die Menschen im Institut für Stadtgeschichte, mit denen ich es dort zu tun hatte und habe, sind überaus nett und hilfsbereit.  Sie zappeln halt im selben Netz der analogdigitalen Narretei – beim Ausfüllen des Formulars am Tresen des Lesesaals haben wir sogar gemeinsam darüber gelacht.

Postpostpostskriptum vom 13.11.:

Ich hab’ sie, die .pdfs!

Ach – isses nicht wunderschön:

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Veröffentlicht von

Gedankenfragmente von Helmut Wicht, Dozent an der Frankfurter Universität, über Neurobiologie, Anatomie, Philosophie, Gott und die Welt. Seine eigentliche Expertise bezieht sich auf die (Human-)anatomie und die vergleichende Anatomie des Nervensystems.

8 Kommentare

  1. Vielleicht hat dieses Erlebnis weniger mit dem digitalen Zeitalter und mehr mit der deutschen Bürokratie zu tun.
    Frage: wie rettet sich die Bürokratie ins digitale Zeitalter?
    Antwort: sie wird sicherlich einen Weg finden, wird eventuell sogar kreativ werden, um auch im digitalen Zeitalter für skurrile Erlebnisse zu sorgen.

  2. Alle Rechte müssen beachtet werden, auch die eingebildeten und wertlosesten! Nicht auszudenken, wenn Sie, Herr Wicht, plötzlich eine Raubkopie der Sitzungsprotokolle der Administration der Dr. Senckenbergischen Stiftung der Jahrgänge 1795-1815 veröffentlichen, damit Unsummen verdienen und damit das ISG schädigen. Das Geschäft mit Raubkopien von Blockbuster-Filmen ist ein Klacks dagegen. Es ist doch allgemein bekannt, wie sehnlichst die Veröffentlichung von Sitzungsprotokollen in Kurrentschrift erwartet werden, die Menschen haben die Druck-Antiqua so satt. Wahrscheinlich liest deswegen heute ja auch kaum noch einer. 😉

  3. @ Wappler

    Tja.
    Reichwerden mit den Sitzungsprotokollen.
    Das wär’ schon schön.
    Leider sind sie so geschrieben, dass – sagen wir zum Beispiel mal: Hölderlins Gedichte – im Vergleich dazu echt schmissig uns actiongeladen sind.

  4. Das war natürlich ein Scherz.

    Ich verstehe beim besten Willen nicht, warum man die Archiv- und Bibliotheksnutzer von solchen Quellen mit so einer Bürokratie triezt und schröpft: 6 Euro für eine PDF.! Die Institutionen sollen offensichtlich jede Chance nutzen, Geld zu verdienen. Die Bayerische Staatsbibliothek bietet Digitalisate an, die man kostenlos herunterladen kann, alte Drucke. Das geht also auch.

    Ich kenne eine Bibliothek, da muss man einen Forschungsantrag ausfüllen, wenn man aus einem Buch fotografieren will: Name, Adresse, Nummer des Ausweises, Bezeichnung des Forschungsprojekt, dann Buchtitel und Seitenumfang. Es kostet nichts, im Gegensatz zum Kopieren, wo man aber kein Formular ausfüllen muss. Dass ist rein für die Ablage zur Erfüllung von Vorschriften und nervt tierisch wegen der Sinnlosigkeit.

    In einem anderen Archiv muss man sich vorher per mail anmelden, die Archivalie bestellen, einen Termin ausmachen und bekommt sie dann beim Besuch von einem Lesesaal-Angestellten vorgelegt. Er ist behindert, spricht unverständlich, versteht fast nichts und kann keinerlei Fragen beantworten, die über den angemeldeten und standardisierten Vorgang hinausgehen. Falls es einen Fehler gab und man die falsche Archivalie bekommt hat, hat man Pech gehabt und muss den ganzen Prozess von Neuem starten.

    Im Kupferstichkabinett Basel hat man früher (ob heute noch, weiß ich nicht), den Benutzern erstmal Kopien oder Faksimile vorgelegt. Wenn die Leute damit zufrieden waren, waren es die Archivare auch. Wer genug Fachkenntnisse hatte und die Sachen zurückgab, bekam dann erst die Originale. Das habe ich einmal gehört und auch einmal erlebt.

    Naja, Hauptsache, das Archiv stürzt nicht ein, weil man nebenan eine U-Bahn baut.

  5. Und darum: Inhalte, die öffentlich (ko-)finanziert sind, müssen der Öffentlichkeit dauerhaft kostenlos zur Verfügung stehen. Egal, ob es nun Bibliotheksdokumente, Sendungen der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanbieter oder geförderte Kinofilme sind.

    Wer das nicht akzeptiert, kann halt keine öffentliche (Ko-)Finanzierung mehr bekommen.

  6. @joker @stefan

    Oh, sorry.
    Was da für ein Kopfkurzschluss bei mir aufgetreten ist, weiß ich leider nicht zu sagen. Und dann noch das “uns” statt “und” …

    Mir fiel noch auf – nachdem ich die ganzen Überweisungsvordrucke, die Rückvergütungsanforderungen etc. zu Papier gebracht hatte, und nachdem ich mir vorgestellt hatte, wie andere Angestellte die dann wieder in irgendwelche Systeme eintippen – mir fiel dann noch auf, dass es sich bei diesem Vorgang um “multiple analog-digital conversions”, alo um “mad conversions” handelt. Wahlweise auch um “digital-analog mutual neo-encryption demands”, was man zu dem Akronym damned verdichten könnte.

  7. @ Tim

    Das haben die vom ISG ja auch vor – die Digitalisate, die da momentan gemacht werden, sollen “hinter” den öffentlichen Katalog/die Datenbank gelegt werden, und dann im Netz abrufbar sein.

    Nur sind sie halt noch nicht so weit, und bis dahin gelten noch die alten Regeln, die vermutlich noch aus der Zeit stammen, als man sich Photokopien machen ließ.

    Irgendwie hat es ja auch was – Entschleunigung.

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