Der sophistische Finger

BLOG: Anatomisches Allerlei

Kopflose Fußnoten von Helmut Wicht
Anatomisches Allerlei

Eine “Ich-Geschichte”. Entschuldigung. Aber sie ist ganz und gar wahr und kann Anatomen zum Lachen bringen. Sie geht mit einem Bild los:

Meine rechte Hand. Die roten Klettbänder sind ein “Syndaktylie-Verband”, zu deutsch ein “Zusammenfingerungsverband”. In der umkreisten Region ist noch eine gewisse Schwellung erkennbar. Das war schon ärger, vor drei Wochen war noch der ganze Handrücken dick.

Was da kaputt gegangen ist, zeigt die obige Abbildung. Der durch Aufhellung mitsamt seiner Sehne hervorgehobene Muskel ist der Interosseus dorsalis secundus, der zweite handrückenseitige Zwischenknochenmuskel. Da, wo der rote Pfeil hinweist, hab ich mir dessen Sehne eingerissen und die Kapsel des Grundgelenkes des Mittelfingers, die gleich unter der Sehne liegt und mit ihr verwachsen ist, auch noch lädiert.

Wie das passiert ist  – tja – das hat mir eine Leiche angetan. Das habe ich mir in einer Leiche angetan. Im Brustkorb der Leiche eines sehr kräftigen Mannes, die seit Jahren in Formalin schwamm. Bretthart fixiert. Prächtiges Präparat. Von einem Dauerspender, der nichts dagegen hatte, sein postmortales Nachleben als Anatomiepräparat zu verbringen. “Da machen wir ein schönes Demonstrationspräparat draus!”, dachten wir.

Und da wollten wir eben den Rippenkäfig in toto, am Stück, von den Brusteingeweiden abheben. Was aber gar nicht so einfach ist, denn der hängt hinter dem Brustbein ziemlich fest am Mediastinum, am Mittelfell, wo auch das Herz drin ist. Und da hab’ ich, nach einem ersten Schnitt entlang des Rippenbogens, erstmal blind mit dem Finger zwischen Herz und Innenfläche des Brustbeines herumgebohrt, um das alles zu “mobilisieren”, dazu natürlich den längsten verfügbaren Finger genommen, den mittleren eben, hab’ gewaltig geschoben und gedrückt – – und dann hat es laut geknallt, und ich hab sofort gemerkt, dass sich nun keineswegs der Herzbeutel vom Brustbein, sondern vielmehr mein Mittelfingerfinger aus seiner angestammten Position gelöst hatte. Er stand für einen Moment quer zur der oben blau eingezeichneten Medianebene und kreuzte fast den kleinen Finger…

Arbeitsunfall, selten dämlich.

Das grossartige an einem Uniklinikum ist, dass man, wenn man nur lange genug da gearbeitet und den Klinikern diverse Gefallen getan hat, dass man, wenn man auch die Telefonnummern von den Chefs weiss, und die mal rasch anrufen kann (mit der linken Hand wählen ging noch) , dass man dann dort ratzfatz in den Genuss der allerchefigsten professuralen Verarztung kommt, so dass man sich gegenüber dem geduldig ausharrenden sonstigen Patientenvölkchen schon beinahe wieder schämt.

Ich war nach 30 Minuten geröntgt und versyndaktyliert, und war 12 Stunden post accidens im MRT. Das will was heissen .. und zwar im Privat-MRT unseres Chefradiologen, der dem Anatomen mal so nebenher zeigen wollte, wo es hochtesla-bildgebungsmässig langgeht.

Diagnostisch alles bombastisch. Therapeutisch nicht. Kann man nichts machen. Nur konservativ. Ruhigstellen. Wochen- und monatelang. Heilt zusammen. Oder auch nicht. Wenn nicht: Mist.

Dann wird der Finger nicht mehr stabil und knickt bei seitlicher Belastung zur Kleinfingerseite hin weg, oder, andersherum: ich kann den Mittelfinger nicht mehr in Richtung auf den Daumen schwenken. Und dann wird’s lustig. Anatomisch zumindest. Denn wenn ich je in die Verlegenheit kommen sollte, ein Gutachten über die Art der Einschränkung, die ich erlitten habe, zu benötigen, sollte ich dies Gutachten nie von einem Anatomen verlangen.

Und zwar deshalb:

Die Bewegungen der Finger (oben für den Zeigefinger mit blauen Pfeilen gezeigt) von denen hier die Rede ist, heissen Ab- und Adduktion. Heranführung und Wegführung. Heran an und weg von was? Von der Mediane, der Mittelebene. Die wird aber an der Hand durch den Mittelfinger erst definiert. Mit anderen Worten: der Mittelfinger ist zwar beiderseits zum Daumen und zum kleinen Finger hin schwenkbar, aber diese Bewegung ist weder eine Abduktion noch eine Adduktion, weil er ja die Ebene, auf die hin die Bewegung definiert ist, dabei mitnimmt.

Eine Bewegung aber, die weder Ab- noch Adduktion ist (und auch nicht Beugung oder Streckung oder Rotation, die finden nämlich in anderen Ebenen und um andere Achsen statt), eine Bewegung, die weder Ab- noch Adduktion ist, ist gar keine Bewegung. In dem Gutachten des Anatomen müsste es also heissen:

“…muss ich aus anatomischer Sicht zu der Einsicht gelangen, dass der geschätzte Kollege Wicht an einer nicht-existenten Bewegungseinschränkung leidet. Da diese aber – trotz ihrer Nicht-Existenz – offenbar manifest ist, empfehle ich, ein Zweitgutachten eines in Sophismen und in der Metaphysik erfahrenen Kollegen aus der Philosophie einzuholen.”

Eine Verletzung, denk’ ich mir dann heiter, die meinem Wesen entspricht. Tat aber dennoch weh.

 

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Veröffentlicht von

Gedankenfragmente von Helmut Wicht, Dozent an der Frankfurter Universität, über Neurobiologie, Anatomie, Philosophie, Gott und die Welt. Seine eigentliche Expertise bezieht sich auf die (Human-)anatomie und die vergleichende Anatomie des Nervensystems.

22 Kommentare

  1. Zweitgutachten

    “…muss ich aus anatomischer Sicht zu der Einsicht gelangen, dass der sehr geschätzte Kollege Wicht an einer eingeschränkten Radialdeviation des Digitus tertius manus leidet. Ich wünsche ihm eine rasche und vollständige Rekonvaleszenz.”

  2. @ Bolt

    So leicht kommen Sie mir nicht weg. DEviation von was?

    Gruss und danke für die Besserungswünsche
    Wicht

  3. »Er stand für einen Moment quer zur der oben blau eingezeichneten Medianebene und kreuzte fast den kleinen Finger… «

    Das mag man sich ja gar nicht vorstellen…

    Offensichtlich sind diese seitlichen Fingerbewegungen (Abduktion und Adduktion) nur für Nicht-Mittelfinger definiert.

    Ich hoffe für Sie, dass die Heilungschancen deutlich über 50 Prozent liegen.

  4. @Wicht: Deviation

    von:

    1. der Neutralstellung Ihres Mittelfingers

    oder

    2. der physiologischen Neutralstellung des Mittelfingers in der Verlängerung des dritten Metatarsale.

    Ich hoffe ja, daß beide Fälle bei Ihnen identisch sein werden.

    Allgemein überzeugt mich Poppers etnspanntere Ansicht zu Definitionen:

    “Nach herkömmlicher Auffassung bilden Definitionen die Grundbausteine einer jeden Wissenschaft. Für Karl Popper jedoch sind Definitionen gegenüber Problemen und Theorien eher unwichtig. Denn Begriffe sind in ihrer logischen Funktion den Aussagen und Theorien untergeordnet, in deren Zusammenhang sie verwendet werden.

    ‘Nicht durch die Definition wird die Anwendung eines Begriffes festgelegt, sondern die Verwendung des Begriffes legt das fest, was man seine ‚Definition‘ oder seine ‚Bedeutung‘ nennt. Anders ausgedrückt: Es gibt nur Gebrauchsdefinitionen.’

    Die herkömmliche Auffassung, man müsse, bevor man eine Diskussion beginnt, erst einmal die Begriffe definieren, d. h. Übereinstimmung über das zu verwendende Vokabular erzielen, hält Popper für grundfalsch. Denn alle Definitionen, inkl. operationaler Definitionen, können nur das Problem von einer Seite der Definitionsrelation auf die andere Seite verschieben. Das führt zu einem infiniten Regress; letzten Endes bleiben immer undefinierte Ausdrücke übrig. Es sei aus logischen Gründen unmöglich, wissenschaftliche Begriffe empirisch zu definieren oder zu ‘konstituieren’. Doch ist es, um Verwirrung zu beseitigen, oftmals nötig, Begriffe zu unterscheiden.”

    https://de.wikipedia.org/wiki/Definition

  5. Vom Nordpol nach Norden gehen

    Irgenwie tröstlich, wenn ein wahrhaftes Malheur am Schluss zu einem rein akademischen Problem wird, das in seiner Unlösbarkeit – hier der Suche nach der treffenden Beschreibung innerhalb eines vorgegeben Begriffssystems -, den damit Beschäftigten in andere Sphären entschweben lässt. Mit solch einer Beschäftigung kann man sich gegen die kleinen und großen Gemeinheiten dieser realen Welt, die sich so gar nicht um Begriffe und Definitionen schert, immunisieren.

    Im Übrigen tendiere ich dazu, dem Kommentar von Jürgen Bolz zuzustimmen, der besagt, dass Begriffe vor allem durch ihren Verwendungszusammenhang definiert werden. Der Verwendungszusammenhang macht es oft auch einfach, neue Begriffe einzuführen, wenn sie logisch zum selben Verwendungszusammenhang gehören. Im hier besprochenen Begriffs-Unfall geht es um Bewegungen und Stellungen relativ zum Mittelfinger. Was ein Problem darstellt, wenn es um den Mittelfinger selbst geht. ein solch schönes Problem. Man könnte stundenlang damit verbringen und darob alles andere vergessen.

  6. Median vs. Mittelfinger

    »Mit anderen Worten: der Mittelfinger ist zwar beiderseits zum Daumen und zum kleinen Finger hin schwenkbar, aber diese Bewegung ist weder eine Abduktion noch eine Adduktion, weil er ja die Ebene, auf die hin die Bewegung definiert ist, dabei mitnimmt.«

    Stimmt das denn? Nimmt der Mittelfinger tatsächlich den Median mit, wenn er sich aus der Medianlage heraus bewegt? Ich meine, nein.

    Aber immerhin hat der Mittelfinger die Besonderheit, dass er sich, ohne die Richtung zu ändern, sowohl ab- also auch adduktiv bewegen kann. Das ist doch schon mal was…

    (Naja, bei einem Pendel verhält es sich ja ganz ähnlich ;-))

  7. @Balanus

    “Nimmt der Mittelfinger tatsächlich den Median mit, wenn er sich aus der Medianlage heraus bewegt? Ich meine, nein. Aber immerhin hat der Mittelfinger die Besonderheit, dass er sich, ohne die Richtung zu ändern, sowohl ab- als auch adduktiv bewegen kann.”

    Wenn ich Deine Hypothese im ersten Satz akzeptiere, dann kann der Mittelfinger aus der Neutralstellung nur ab- und nicht adduzieren. Und in die Neutralstellung nur ad- und nicht abduzieren.

    Übrigens teilt er sich seine Besonderheiten mit dem zweiten Zeh. Den sollte man sich also besser auch nicht verletzen, wenn man terminologische Komplikationen vermeiden möchte.

  8. @ Bolt und Balanus und Popper

    Natürlich bewege ich mich auf einem schmalen Grat der Spitzfindigkeit und versuche, ihn mit allerlei Sophismen noch zu schärfen. Da hat Popper schon recht. Es ist ein konstruiertes Problem.

    Ich teile aber Poppers Intention nicht. Nicht stets. Ich WOLLTE die Absurdität. Und die fällt (da bin ich mir mit Sartre und Camus uneins) nicht vom Himmel. Auch die will konstruiert sein.

  9. Sprache und Verstehen

    Nach herkömmlicher Auffassung bilden Definitionen die Grundbausteine einer jeden Wissenschaft. Für Karl Popper jedoch sind Definitionen gegenüber Problemen und Theorien eher unwichtig.

    Definitionen oder Konzepte, oder Theorien oder Sichten oder Probleme sind selbst Definitionen oder Konzepte, die auf anderen Definitionen oder Konzepten (“Begriffe”) basieren.

    Nicht durch die Definition wird die Anwendung eines Begriffes festgelegt, sondern die Verwendung des Begriffes legt das fest, was man seine ‚Definition‘ oder seine ‚Bedeutung‘ nennt.

    Die Verwendung meint die näherungsweise konsensualisierte Definition oder Bedeutung.

    Anders ausgedrückt: Es gibt nur Gebrauchsdefinitionen.

    Das Erkenntnissubjekt arbeitet näherungsweise in nicht-tautologischen Systemen, also in Systemen, die die Natur betreffen, im konsensualisierten Gebrauch. – Also immer näherungsweise, es wird gerührt, die Kommunikation, auch die wissenschaftliche, ist soziale Veranstaltung.

    Die herkömmliche Auffassung, man müsse, bevor man eine Diskussion beginnt, erst einmal die Begriffe definieren, d. h. Übereinstimmung über das zu verwendende Vokabular erzielen, hält Popper für grundfalsch.

    Andere halten dies für “grundrichtig”.

    Denn alle Definitionen, inkl. operationaler Definitionen, können nur das Problem von einer Seite der Definitionsrelation auf die andere Seite verschieben. Das führt zu einem infiniten Regress (…)

    Das führt auf die Natur bezogen zum Verstehen des Näherungsweisen und zum Verstehen der Veranstaltung.

    (…) letzten Endes bleiben immer undefinierte Ausdrücke übrig. Es sei aus logischen Gründen unmöglich, wissenschaftliche Begriffe empirisch zu definieren oder zu ‘konstituieren’. Doch ist es, um Verwirrung zu beseitigen, oftmals nötig, Begriffe zu unterscheiden.

    Es ist nicht aus ‘logischen’, letztlich aus sprachlichen Gründen unmöglich Begriffe endgültig zu definieren, sondern wegen der Weltlichkeit.

    ‘Doch ist es, um Verwirrung zu beseitigen, oftmals nötig, Begriffe zu unterscheiden.’ scheint schwarzer Humor zu sein.

    MFG
    Dr. W

  10. PS:

    Der erste Absatz der letzten Nachricht gefällt im Nachhinein nicht mehr so-o gut, der geneigte, freundliche wie verständige Leser wird aber verstehen, was gemeint war, so dass eine Nachbesserung nicht erforderlich sein sollte. – Es wird ja hier schnell und ohne Voransicht getippt, mal eben so…

  11. Jetzt mal im Ernst – Selbstreferenz

    Das (zugegebenermassen) konstruierte Problem entsteht, weil die Anatomen das durchaus sinnvolle Programm der “selbst- oder körperreferentiellen” Lagebezeichnungen entwickelt haben. “Oben” ist eben “vorne”, wenn man liegt, oder “unten”, wenn man einen Kopfstand macht – also reden die Anatomen von “kopfwärts”. Die Idee ist, dass der Körper sozusagen seine Lagebezeichnungen mitnimmnt, selbst das Koordinatensystem liefert, mit dessen Hilfe man ihn kartiert.

    Und dann schliesst sich halt – wenn ich das logisch recht sehe – der Kreis zwischen Sophisterei und Anatomie wieder, denn die klassisch sophistischen Paradoxa (der Kreter, das Krokodil) entstehen ja auch in selbstreferentiellen logischen Systemen.

  12. Sophismus? Definition ? ? Theorie

    @Bedeutung von Definition:

    Einige Kommentatoren scheinen mir hier eine Scheinkampf auszutragen.

    Im Grunde geht bei dieser Diskussion darum, ob Definitionen einen Diskussions- und Kommunikationsgegenstand, z.B. eine Theorie oder einen Forschungsgegenstand, über die sich Forscher austauschen, begründen, also festlegen über was man überhaupt spricht oder ob umgekehrt primär die Theorie, das Konzept existiert und als Vorstellung vorhanden ist, auch wenn geeignete Begriffe noch fehlen oder (noch) kein Konsensus über die zu verwendenden Begriffe aufgebaut wurde.
    Dazu noch eine Beobachtung: Gefestigte Wissensgebiete haben typischerweise eine klare, unmissverständliche Terminologie an die sich alle halten. Zu solchen gefestigten Wissensgebieten gehört wohl die Anatomie, Meteorologie, die Mechanik und Relativitätstheorie.
    Weniger gefestigte Wissensgebiete haben jedoch keinen konsensuell geteilten Begriffsapparat. Dazu gehört die Ökonomie, wo auch heute noch über die genaue Bedeutung von fundamentalen Begriffen wie Deflation und Inflation gestritten wird oder auch die Medizin wo es viele Fachgebiete gibt mit weitgehend offenem und wenig gefestigtem Begriffskatalog (z.B.: Psychiatrie).

    Die Gegenüberstellung von gefestigten Wissensgebieten (mit meist auch gefestigter Terminologie) und weniger gefestigten (mit Termini, die von verschiedenen Leuten verschieden verwendet werden) zeigt meiner Ansicht nach gut, was hinter dem Definitionsproblem steckt: Definitionen/Begriffe materialisieren bestimmte wichtige Aspekte von Konzepten und Theorien und je gefestigter diese Theorien und Konzepte sind desto eindeutiger sind die Begriffe und Definitionen, die es in einem Fachgebiet gibt. Und meiner festen Überzeugung nach – und wohl auch historisch nachweisbar – führen im Allgemeinen nicht klare Begriffe zu klaren Theorien, sondern umgekehrt führen Theorien und Konzepte, die sich als Denkmodelle bewährt haben, zu klaren Begriffen.

    Diese Überlegung würde also folgendem in einem Kommentar erwähnten Satz recht geben:
    “Für Karl Popper jedoch sind Definitionen gegenüber Problemen und Theorien eher unwichtig.”

    Was lässt sich nun zu folgendem sagen:

    “Die herkömmliche Auffassung, man müsse, bevor man eine Diskussion beginnt, erst einmal die Begriffe definieren, d. h. Übereinstimmung über das zu verwendende Vokabular erzielen, hält Popper für grundfalsch.”

    Da kann man unterschiedlicher Auffassung sein. Meiner Meinung nach sollten die Teilnehmer einer Diskussion über so viel Selbstreflexion und Wissen verfügen um die Fallibilität und Missverständlichkeit der von ihnen verwendeten Begriffe selbst erkennen zu können. In der Diskussion sollten dann Erläuterungen und die Art der Verwendung der Begriffe diese weiter klären.

    Wenn man die Begriffsklärung zur Vorbedingung einer Diskussion macht, besteht die Gefahr, dass die Diskussion gar nie zustande kommt, weil vielleicht ein Diskutant seine Art den Begriff zu verstehen nicht aufgeben will.
    Stellen wir uns eine Diskussion unter Ökonomen vor über Deflation, Inflation und Stagflation und was diese Dinge für eine Volkswirtschaft bedeuten. Man muss sich klar sein, dass die Ökonomen nicht über Begriffe sondern über Konzepte und Theorien sprechen wollen, weshalb es problematisch ist zuerst diese Begriffe bis ins letzte zu klären. Für das Diskussionsklima wohl besser ist es, von einem Minimalkonsens auszugehen (etwa: wir nehmen als Arbeitsdefinition das was in der Wikipedia steht)

    Über gefestigte Theorien mit gefestigtem Begriffsapparat muss man gar nicht mehr diskutieren, dort kann man sie dem Uneingeweihten erklären. Und selbst in dieser Lernsituation ist es fraglich ob man mit dem Begriffsapparat beginnen sollte und nicht mit der Theoriestruktur.

  13. @Martin Holzherr

    “Dazu noch eine Beobachtung: Gefestigte Wissensgebiete haben typischerweise eine klare, unmissverständliche Terminologie an die sich alle halten. Zu solchen gefestigten Wissensgebieten gehört wohl die Anatomie.”

    Ich fürchte, ganz so klar und unmißverständlich ist die Terminologie in der Anatomie auch nicht. Helmut Wicht weist ja auf eine Schwachstelle hin. Bekannter sind die Probleme bei der unteren Extremität, die bei Säugetieren onto- und phylogenetisch verdreht ist. Insbesondere die Richtungsbezeichnungen bei den Sprunggelenken werden uneinheitlich verwendet, was z.B. bei Jürgen Koepkes Übersetzung von Kapandjis “Funktionelle Anatomie der Gelenke” zu einigen Fehlern führte. (Aus tragischen Gründen konnte er diese Fehler, obwohl er es vorhatte, leider nicht mehr korrigieren.)

    Poppers Argument, wenn ich es richtig verstehe, geht folgendermaßen: viele verstehen Definitionen so, daß es zuerst einen Begriff gibt, der dann definiert werden muß. Er und ich sehen das umgekehrt. Zuerst gibt es die Definition, und um sie nicht jedesmal aufsagen zu müssen, faßt man sie in einem Begriff zusammen.

    Definitionen sind also nur dann nötig, wenn Begriffe von Kommunikationsteilnehmern unterschiedlich verwendet werden (können).

  14. Popper On Definitions

    Es gibt ein Research paper Popper On Definitions zu diesem Thema. Kostet nur 43.95 um es downzuloaden. Dem Abstract entnehme ich, dass er von einem Essentialismus ausgeht in dem Theorien zuerst entstehen.

  15. @Martin Holzherr: 43,95 gespart

    Ich habe Ihnen die Stelle rausgesucht, die ich erinnerte. Sie ist im 11. Kapitel im 2. Band der „Offenen Gesellschaft“: Die aristotelischen Wurzeln des Hegelianismus. Sie lautet leicht gekürzt:

    „Auch die Definitionen spielen in der Wissenschaft eine ganz andere Rolle als Aristoteles gedacht hat. Aristoteles lehrte, daß wir in einer Definition zuerst auf das Wesen verweisen – etwa dadurch, daß wir es benennen – und daß wir es dann mit Hilfe der Definitionsformel beschreiben. Und er lehrte, daß wir, indem wir so das Wesen dieses Dinges beschreiben, auf das der zu definierende Ausdruck verweist, auch die Bedeutung dieses Ausdrucks bestimmen oder erklären. Dementsprechend kann die Definition zur gleichen Zeit zwei sehr nah verwandte Fragen beantworten. Die eine lautet: ‘Was ist es?’ Sie fragt nach der Wesenheit , die vom definierten Ausdruck bezeichnet wird. Die andere lautet: ‘Was bedeutet es?’ Ich möchte insbesondere darauf aufmerksam machen, daß beide Fragen durch den Ausdruck veranlaßt werden, der in der Definition auf der linken Seite steht, und daß sie beide durch die Definitionsformel beantwortet werden, die auf der rechten Seite steht. Dies charakterisiert den essentialistischen Standpunkt, von dem sich die wissenschtliche Definitionsmethode radikal unterscheidet.

    Während die essentialistische Interpretation eine Definition ‘normal’, das heißt von links nach rechts liest, muß eine Definition, wie sie gewöhnlich in der modernen Wissenschaft verwendet wird, von rückwärts nach vorne, das heißt von rechts nach links gelesen werden; denn sie beginnt mit der Definitionsformel und fragt nach einer kurzen und handlichen Bezeichnung, nach einer Art Etikette für sie. In der wissenschaftlichen Auffassung ist eine Definition wie etwa ‘Ein Fohlen ist ein junges Pferd’ eine Antwort auf die Frage ‘Wie sollen wir ein junges Pferd nennen?’, nicht aber eine Antwort auf die Frage ‘Was ist ein Fohlen?’. Den wissenschtlichen Gebrauch von Definitionen, der durch das Vorgehen ‘von rechts nach links’ gekennzeichnet ist, kann man die nominalistische Interpretation nennen, im Gegensatz zur aristotelischen oder essentialistischen Interpretation. In der modernen Wissenschaft kommen nur nominalistische Definitionen vor, das heißt abkürzende Symbole oder Etiketten, die zur abkürzenden Darstellung einer langen Formel führen. Und daraus können wir sogleich sehen, daß Definitionen in der Wissenschaft keine besonders wichtige Rolle spielen.“

    Hier die Passage im englischen Text:

    http://archive.org/stream/opensocietyandit033064mbp#page/n21/mode/2up

  16. Definition und Definitionsmacht

    @Jürgen Bolt, Definitionsproblem

    Karl Popper ist ein Philosoph, aber einer, der die übliche geisteswissenschaftliche Vorgehensweise ablehnt und das Wort Wissenschaft immer für die naturwissenschaftliche Vorgehensweise verwendet. Auch im von ihnen dankenswerterweise aufgeführten Zitat ist das so. Im folgenden Satz beispielweise:

    In der wissenschaftlichen Auffassung ist eine Definition wie etwa ‘Ein Fohlen ist ein junges Pferd’ eine Antwort auf die Frage ‘Wie sollen wir ein junges Pferd nennen?’, nicht aber eine Antwort auf die Frage ‘Was ist ein Fohlen?'”

    Meiner Meinung nach müsste es heissen:
    “In der naturwissenschaftlichen Auffassung ist eine Definition …
    Popper scheint wie viele heutige Naturwissenschaftler und die heutige Allgemeinheit und Öffentlichkeit Wissenschaft mit Naturwissenschaft gleichzusetzen. Das hat ja Ludwig Trepl in Der Spezialist als Universalgelehrter beklagt.

    Trotz diesem Vorbehalt – oder gerade wegen diesem Vorbehalt – halte ich Popper für einen Philosophen, der gegenüber Ideen und Ideologien äusserst skeptisch ist. Ideologen und auch viele Geisteswissenschaftler lassen sich von ihren Ideen dagegen davontragen und hinterfragen die Verankerung ihrer Ausgangsannahmen in der Realität oft kaum noch. Popper will die Ideologen und Ideengebärer vom Himmel wieder auf die Erde herunterholen.
    Im Spiegel-Interview Kriege führen für den Frieden beispielsweise spricht er von Hegel als einem Romantiker und die Verelendungs- und Kolonialismustheorien von Karl Marx hält er für “typische Intellektuellen-Formel[n] und natürlich barer Unsinn. Denn Industrialisierung kann nicht Verelendung sein, das ist so klar wie nur etwas. Auch den Kolonien ging es dann zunehmend besser.”

    Interessant ist Poppers Ansicht, dass Theorien nicht aus Verallgemeinerungen (induktiv) folgen, sondern aus Spekulation, denn Spekulation ist ja etwas was Geisteswissenschaftler und Ideologen lieben und machen auch wenn sie es nicht zugeben. Doch die Spekulation der Naturwissenschaftler wird dadurch gebändigt, dass die Spekulation diversen “Relaitäts-Checks” standhalten muss.

  17. Wäre es möglich anatomisch den pathologischen Hintergrund der Verletzung des Digitus medius als veränderte Lagebeziehung zu seinen Nachbarn zu Grunde zu legen.

    Im Falle der Adduktion (Heranführen an die Medianebene) könnte man die ohnehin sich (mit)verschiebende Ebene auf den nächstgelegen Nachbarn projizieren.

    Folglich stünde dann im Bericht:

    Der Patient hat eine pathologische/atypische autonome Adduktionsbewegung des Digitus medius dexter ad Digitus anularis, sowie eine pathologisch bedingte Abduktion sinister ad Index mit autonomer Einschränkung der Grundbewegung und Myasthenie-/hypothonie des Musculus interosseus dorsalis II.

  18. PS: Interpunktion

    Habe ich doch glatt die Interpunktion im ersten Satz verwechselt.

    Anstelle “.” muss die Frage entsprechend mit “?” enden.

  19. Es wäre doch ganz interessant zu erfahren, was denn nun nach acht Monaten aus dem lädierten Finger geworden ist. Und was die Berufsgenossenschaft zur Berufsfähigkeit des Betroffenen sagt. Ich hoffe, nur das Beste für den guten Anatom.

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