Allerleyh (von Arvid Leyh)

BLOG: Anatomisches Allerlei

Kopflose Fußnoten von Helmut Wicht
Anatomisches Allerlei

Wozu dieses ganze virtuelle Gesumse, die Bloggerei, das Getwitter, der "Web 2.0"-Hype und die "p2p-peepshows" eigentlich gut sind?  Um an interessante Leute zu kommen natürlich, die man anders nicht kennen gelernt hätte.  Und um sie dann auch ganz realiter, in personam, im Fleische kennen zu lernen. So bin ich an Arvid Leyh geraten, den ich hier sicher nicht weiter vorstellen muss. Man hört ihn hier im Netz meist reden – schreiben kann er aber auch. Schon das herrliche Buchstabenspiel im Titel seines Gastbeitrages beweist es.

Der Arvid und die Anita Leyh waren neulich bei mir in der Anatomie zu Besuch. Eine der Früchte des Besuches kann als "Braincast" hier in Brainlogs genossen werden. Arvid hat aber auch einen Text geschrieben, der von seinen persönlichen Eindrücken und deren Reflexion angesichts der Dinge, die er in der Anatomie antraf, handelt. Für mich war dieser Text ein "eye-opener" – denn ich bin schon ein halbes Leben lang in der Anatomie, da gewöhnt man sich gewisse Sichtweisen an und kriegt hie und da blinde Flecken. Und als ich Arvids Text las, merkte ich, dass ich eigentlich mit "eyes wide shut" (Zitat Kubrick) durch meine anatomischen Körperwelten laufe. Man kann, man muss das vielleicht auch anders sehen. "Eyes tightly open", sozusagen, denn Arvid bemerkte und sah Dinge, die in meinen blinden Flecken lagen.

Hier ist sein Text. Er gefällt mir sehr.

 

Anatomisches Allerleyh
(von Arvid Leyh)

Ich hätte es wissen müssen. In unseren Diskussionen bisher ging es um Nihilismus, Idealismus oder die Schönheit von Pariser Friedhöfen. Und um hasenherzige Studenten: Dieses Experiment mit dem Froschherz sei doch schon so oft betrieben worden, ob denn sie selbst nun wirklich auch dieses arme Tier töten müssten, es seien alle Fakten doch bekannt? Sie mussten. Und das mit einer Begründung, die als hart an der Grenze des Diabolischen empfunden werden könnte, wäre sie nicht so konsequent: Wer dieses forschende Gewerbe betreibe, müsse seiner Seele mindestens den Mord eines Frosches auferlegen. Andernfalls wisse er nicht, worum es geht.

Dabei war die erste Idee gut: ein Video-Braincast über die Anatomie des Gehirns mit Helmut Wicht, einem nahezu hauptberuflichen Poeten; visuelle Praxis zwischen ansonsten akustischer Theorie; ein Gang durch den Giftschrank, Blicke auf getrocknete Zirbeldrüsen und pulverisierte Ventrikel. Das klang nach Lernen und Lachen auf hohem Niveau.

Aber dann: es sei doch deutlich aussagekräftiger, so Helmut, ein reales Gehirn zu zerlegen und den Dingen auf den Grund zu gehen. Nun bin ich seit zwanzig Jahren Vegetarier und halte mich fern von eklem Fleisch. Hasenherzig bin ich auch: Anatomie II habe ich gar nicht mehr gesehen, bei Anatomie I bin ich an Schlüsselstellen ins Sofa gekrochen. Bisher hatte ich nur ein plastiniertes Gehirn in der Hand.

Er musste nicht einmal argumentieren, ich hatte ja verstanden: Wer einen Podcast zum Gehirn macht, der sollte schon mal eines erlebt haben, in all seiner profanen Fleischlichkeit. Unser Termin war Fronleichnam.

Nun kann ich mir im Grund alles verkaufen, und so konzentrierte ich mich auf das Abenteuer und meine heilige Pflicht als Betreiber eines Hirnfunks. Und siehe da: es wurde so schlimm nicht, allenfalls wenn ich in den Pausen darüber nachdachte, was ich da gerade tat, wurde ich leicht grün. Ansonsten hielt ich mich tapfer. Aber das lag auch an der Vorgeschichte, und um die geht es eigentlich, in diesem Gastauftritt.

Mit all seiner Erfahrung, den Jahren der Praxis, der beruflichen Lehrtätigkeit und der privaten Philosophiererei hat Helmut vermutlich fast jede mögliche Reaktion auf die eigene Tätigkeit schon erlebt und ist entsprechend vorbereitet. Das macht ihn auch zu einem Profi im Umgang mit Hasenherzen. Genau diesen Vorzug genossen nun auch wir, meine mir angetraute Kamerafrau und ich. Helmut brachte uns vor dem Hirn auf Betriebstemperatur, indem er uns von den Skeletten über die ein- und zweiköpfigen Embryos im Einmachglas langsam in den Präparationssaal führte.

Einige von Ihnen werden das kennen und milde werden Sie lächeln und sich mit nostalgischem Gruseln an Ihr erstes Mal erinnern: Wie sich die Türe öffnet und im leicht süßlichen Geruch reihenweise Metalltische stehen, mit eingelassenen Löchern und allen möglichen Eimern drumherum, darauf Bündel von grünem Stoff, überzogen mit Plastik. Man ahnt, was darunter liegt, denkt aber schnell in eine andere Richtung. Reflexartig geht man auf Distanz, benutzt man man, wägt sich in der Sicherheit eines oberflächliches Gesprächs über Abläufe und Lehrtätigkeit, und ist fast schon stolz auf die eigene Coolness angesichts des Unaussprechlichen. Bis plötzlich der Herr Privatdozent scharf links abbiegt zu seinem eigenen Tisch und den Inhalt dieses speziellen grünen Bündels zu offenbaren droht. Ich biege scharf rechts ab, aber er hat mein Manöver vorausgesehen und fängt mich ab mit den Worten, es sei das Dümmste, was man machen könne, sich auf eine kontemplative Distanz zurückzuziehen. Er meint damit, man solle mit dem Blick nicht zu lang grübelnd auf dem Ganzen verweilen, sondern sich an Kleinigkeiten festhalten – und das hilft mir tatsächlich, in den kommenden Minuten nicht zu viel zu denken und das Objekt auf dem Tisch mit der eigentlich gebührenden Bedeutung zu füllen. Es funktioniert, und der kleine Keim neuer Coolness wird weiter unterfüttert durch Wichtens Feststellung, es sei dies kein Mensch, denn Menschen lebten. Es sei auch kein Toter, den der sei die Erinnerung an etwas Lebendiges. Es sei nicht einmal ein Leichnam, denn dies hier würde nicht verwesen. Es sei ein Kunstprodukt, ein Präparat.

Coolness, so erklärten die Psychologen aus Stanford 2005, vermindere die Leistungsfähigkeit des Gedächtnisses. Und vielleicht war ich dann doch nicht so cool. Schon am selben Tag war an Arbeit nicht mehr zu denken – im Zug nachhause waren wir völlig versetzt in Zeit und Raum, schüttelten immer wieder den Kopf angesichts des Erlebten. Bis in die Nacht verglichen wir Gedanken und Gefühle, und obwohl der Schlaf ungestört war, reichte das Echo weit über das Frühstück: Wir sahen wieder, wie Helmut dem Lauf des Vagus folgte oder das Herz in den Herzbeutel steckte, erinnerten uns – eine Lockerungsübung – an die Geschichte seines Bekannten, der fast im Herzen eines Blauwals ertrunken wäre. An einen Tank mit der Aufschrift Arme/Beine

Dass ich beim Thai am Bahnhof dann Nummer 12 statt Nummer 10 bestellte und erst nach zwei Stücken Schweinefleisch erkannte, dass dies kein Tofu war, dass ich trotz der Kontamination Soße und Gemüse drumherum aß – alle Tage vorher wäre es eine Katastrophe gewesen. So passte es zum Tag.

Am meisten aber beschäftigte uns dann doch die Bedeutung, die wir im Nachgang in unseren Gedanken fanden. Helmut hatte respektvoll, fast schon zärtlich von dieser kleinen alten Frau gesprochen. Ich sah nur einen Torso, bei dem ich anfangs nicht einmal wusste, wo oben und unten war. Er erklärte uns seinen Umgang mit der Situation, bis hin zur Trauerfeier, die er alle Jahre wieder auf dem Frankfurter Hauptfriedhof ausrichtete. Das war alles abgeklärt und sehr menschlich. Wir aber sahen uns am nächsten Tag mit der eigenen Sterblichkeit konfrontiert.

Klar: wir wissen, wir müssen sterben. Und je älter wir werden, um so mehr spricht dafür, dass wir es auch glauben können – um uns rum sterben die Leut und die Wahrscheinlichkeit steigt auch für uns. Ab und zu habe ich es sogar gespürt – nach einer Überdosis James Joyce vielleicht, oder als bei Freunden und Verwandten plötzlich lauter Freunde und Bekannte starben. Ich habe mich sogar einmal – in einer Art umgekehrtem Yoga – gedanklich hineinversetzt, in das Gefühl einer gefühllosen, toten Hand. Nur kurz, aber lang genug um immer noch schreckhaft zu sein.

Selten aber habe ich so direkt erlebt, wie viel Hülle ich doch bin, und wie vergänglich sie ohne mich sein wird – Organspendeausweis hin oder her. Sterblichkeit, Leiblichkeit, Haut, Organe, Fasern, Knochen, all das ist ungeheuer greifbar, wenn es plötzlich vor einem auf dem Seziertisch liegt.

Schreiber können im Schreiben ihre Erlebnisse genauso feiern, wie erträglicher machen. Schreiben ist uns reine Therapie und funktioniert als solche zuverlässig. Dieser Text ist nicht all zu lang, die Not kann so groß also nicht gewesen sein. Aber dass sie da war, spürte auch Helmut und so vermute ich, dass die Einladung zum Gast-Posten Teil seiner Nachsorge ist.

Wenn Sie neben seinen psychologischen auch seine anatomischen Fähigkeiten kennen lernen wollen: Braincast 119 – Das Ding an sich finden Sie hier.

PS.: Seelentröstung 

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Veröffentlicht von

Gedankenfragmente von Helmut Wicht, Dozent an der Frankfurter Universität, über Neurobiologie, Anatomie, Philosophie, Gott und die Welt. Seine eigentliche Expertise bezieht sich auf die (Human-)anatomie und die vergleichende Anatomie des Nervensystems.

19 Kommentare

  1. Lesen mit Genuß …..

    “- schreiben kann er aber auch. Schon das herrliche Buchstabenspiel im Titel seines Gastbeitrages beweist es.”

    Ein wunderschöner Beitrag und ein schöner Einblick in Ihr Leben….ja, wahrlich, Arvid Leyh kann so schön schreiben, dass ich es schade finde, wenn er sich hier vor allem auf “braincasts” beschränkt 😉

    Ich hab dem Sensenmann ja mal beinahe “Guten Tag” gesagt….da liest sich das Ganze vermutlich noch einmal anders.

    Bin sehr beeindruckt. Ich danke Ihnen beiden für Ihre schöne wissenschaftliche und tiefsinnige “Poesie” …..

  2. Augenschmaus

    Text(e) ebenso wie der Cast gefallen sehr. Vielleicht sollte Arvid tatsächlich mal einen Nachmittag in der Garage begleiten, da fände sich sicherlich sowohl für die Texte wie auch die Bilder eine Abnehmerschaft, deren Begeisterung prognostizierbar ist.

    Ist auch eher was für Vegetarier, die einzigen involvierten Tiere stehen nur virtuell als Kraftgrad im Kraftrad zur Disposition 😉

  3. “Wie viel Hülle wir doch sind”

    Arvid, ich fühle mit dir! Ob die Größe der Not proportional sein muss zur Länge des Textes – keine Ahnung. Ein Schrei füllt ja auch nicht Seiten. Aber wer wie du (und gar an Fronleichnam) ein Hirn in die Hand nimmt, der denkt wohl notgedrungen: DAS soll alles sein?! Ein Klumpen “Hundefutter”, von neugierigen Pinzetten zerfleddert? So tröstlich Wichts warme Worte “dies war kein Ich, doch bloß ein Organ!”, so wenig mag man dran glauben. Ich ist ein Häufchen Materie. Die Kröte muss man erst mal schlucken.

    Sei’s drum, das Leben geht weiter … 🙂

  4. @ Ayan

    Protest!

    “Ich ist ein Häufchen Materie.”

    Ganz gewiss nicht. Wenn Hirnforschung und Philosophie EINS gezeigt haben, dann genau das. Das “Ich” ist weder im Gehirn verortbar, noch wird es von einem (einzelnen) Gehirn produziert, vielmehr konstituiert es sich in der Interaktion des Hirnes mit dem eigenen Leib und den Leibern und Gedanken anderer “Iche”, mithin im sozialen Raum.
    Und was das “Wesen des Ich” angeht, würde ich raten, mal Schopenhauers Empfehlung zu folgen, und zu versuchen, in der Introspektion das “Ich” zu erkunden, indem man es von allen Nebensächlichkeiten, allen Attributen “reinigt” und sich das eigene “Ich” sozusagen nackt vor die Augen zu stellen versucht.

    Viel Spass dabei! Denn man wird merken, dass da gar nichts Substantielles ist, was man zu fassen bekommen könnte. “Ein substanzloses Gespenst”, in den Worten Schopenhauers, eine “Täuschung” in denen Buddhas, eine “Form der Bündelung von Bewusstseinsinhalten”, wenn ich’s mit meinen Worten sagen darf. Jedenfalls nichts Materielles.

  5. Häufchen Materie

    Leider muss ich zugeben, dass ich Ayans Ansicht eher teilen kann als die Sicht von Helmut Wicht. Selbstverständlich ist die Argumentation richtig, dass das “Ich” eines Menschen nicht nur ein Stück Materie, ob nun Gehirn oder Darm, ist, aber Fakt ist nun einmal, dass nach dem Ableben eben nicht mehr übrigbleibt als dieses bisschen Materie, das zudem auch noch schnell zerfällt.
    Obwohl ich selbst mich eher zu den Atheisten zähle, erinnere ich mich in meiner Kindheit mussten wir am Aschermittwoch in die Kirche und bekamen ein Kreuz aus Asche mit den Worten “Aus Staub bist Du, zu Staub wirst Du” vom Pastor auf die Stirn gezeichnet. Einige der weinigen Sätze der katholischen Kirche von denen ich zugeben muss, dass er nicht völlig falsch ist.
    Am Ende ist das was heute mein “Ich” ist (und das sich erstaunlich wichtig nimmt) morgen nur noch ein Häufchen Materie, da helfen auch keine philosophischen Ausflüchte. Manch einer mag hoffen, dass es eine körperlose Seele gibt, die später unser “Ich” in einem Jenseits weiterleben lässt, und Katja Schwab hat ja in ihrem Blog vor ein paar Wochen darauf hingewiesen, dass selbst Quantenphysiker nicht vor der Versuchung gefeit sind, sich auf diese Weise eine Art ewiges Leben einzureden, aber ich kann sehr gut verstehen, dass Arvid Leyh vom Gedanken an die Person hinter dem Gehirn, das er in der Hand hielt nicht einfach so abstrahieren konnte.
    Dabei ist ein Ende in der Anatomie vielleicht noch die beste aller Alternativen für unsere Überreste.

  6. @ mike

    Die Materialität des “Ich” in Abrede zu stellen (was ich tue) heisst ja nicht, seine Unsterblichkeit zu behaupten. Im Gegenteil: denn der, der behauptet, das “Ich” sei eine materielle Substanz (“Seelenatome”, oder was auch immer) verewigt es ja, indem er die Materie/Energie für ewig und unzerstörbar ansieht.

  7. Durch andere Augen

    Was passiert mit der sterblichen Hülle? Gehen die darin enthaltenen Informationen verloren?

    Es muss nicht sein. Bestimmte Bakterien können DNA entschlüsseln und einbauen. Damit siedeln sie sich in höheren Organismen an. Der Hirnwurm der Ameise und die Hirnwespe der Raupe rufen bestimmte Verhaltensänderungen im Hirn betroffener Tiere hervor.

    Wer weiß also schon, welchen Weg meine “materiellen Informationsspeicher” noch gehen werden. Ob einen die Vorfahren durch die Augen der Ameise im Garten betrachten?

  8. @ Helmut Wicht / Herbert Falk

    Ein interessanter Ansatz, aber ich wollte mit meinen Worten keineswegs sagen, dass das “Ich” eine materielle Substanz ist, sondern lediglich, dass das “Ich” sich unter anderem aus Materie zusammensetzt aus der wir nun einmal bestehen und ohne diese nicht weiterbesteht. Das dabei das Ganze mehr ist als die Summe seiner Einzelteile ist für mich klar. Damit gebe ich Ihnen auch in gewisser Weise recht, das Gehirn eines Menschen ist nicht sein “Ich” es ist lediglich Teil eines einstmals existenten Menschen, also eines früheren “Ich”.
    Aber noch eine andere Anmerkung. Selbst wenn man das “Ich” als reine Materie/Energie ansehen würde ware damit noch immer kein ewiges Leben gewonnen. Soweit ich mich an meine rudimentären Physikkenntnisse erinnere gibt es da den (ich glaube) zweiten Hauptsatz der Thermodynamik nach dem alle Energie in einem System einer immer mehr zuhnemenden Entropie entgegengeht. Entropie ist aber nach meinem Verständnis nicht nur ein energetischer Zustand, der ausgeglichen ist und damit nicht mehr nutzbar, sondern gleichzeitig auch keine Information enthalten kann. Und damit bin ich beim Beitrag von Herrn Falk. Wenn wir Ihrer Argumentation folgen, dann wäre das “Ich” überspitzt gesagt eine Ansammlung von Information, die in irgendeiner Form weiter bestehen kann. Aber genau das ist aus meiner Sicht der Punkt an dem alle Versuche Maschinen ein “Ich” einzuhauchen bisher gescheitert sind. Eine sich selbst-gewisse Entität benötigt auch eine körperliche Erfahrung mit seiner Umwelt, um sich als solche zu definieren. In so fern sind Informationsschnipsel über einen Menschen, die in Form von DNA oder anderen Trägern überleben genausowenig ein “Ich” wie es ein Gehirn ist. Am Ende machen Materie und Information zusammen die Gesamtheit einer Person aus.

  9. @ Wicht @ mike

    Unsterblichkeit? I wo – was für ein altmod’scher Gedanke! Eins wollt ich nur noch loswerden: Ich glaube, Helmut, es liegt hier eine unterschiedliche Verwendung des Wörtchens “ist” vor.

    “Ich ist ein Häufchen Materie” meint wohl strenggenommen nicht, das eine sei “identisch mit” dem andern. Ich ist notgedrungen ein Begriff aus unserer eingebildeten Erlebniswelt, die voller Gespenster steckt.

    Gleichwohl gibt es, darauf muss ich pochen (:-), nichts dergleichen außerhalb des Feuerns von Neuronen. Daran ändern nach meinem Gefühl auch die Argumente vom sozialen Raum “zwischen” den Gehirnen bis zur subjektiv empfundenen Substanzlosigkeit nichts.

    “Ich” ist Materie vielleicht ungefähr so wie Beschleunigung – wir haben einen kuriosen Begriff von ihr, der quasi pur ist, in abstracto (oder wie der Lateiner sagt) – mag sein. Und haben es doch im Grund mit einer möglichen Eigenschaft von Materie zu tun.

    Wenn Philosophie und Hirnforschung EINS gezeigt haben, würde ich sagen: dass man den Gespenstern der Introspektion misstrauen sollte.

  10. Ich, Gott, Begriffshülsen @all

    Das “Ich” ist eine Begriffshülse -ich kann auch “Gott” sagen -ist auch nicht besser und nutzt nix! Bin i-c-h denn die Summe meiner Identifikationen? I+C+H=Ich? Freilich, Götter sind per Definition unsterblich -soweit die Vorstellungen der Menschen und eine andere haben wir ja nicht! Doch ob wir nun “Gott” oder “Ich” sagen -was ist damit geklärt? Nichts -dreimal nichts! Die “Welt” ist immer noch da…

    “MfG – Mit freundlichen Grüßen –
    die Welt liegt uns zu Füßen, denn wir stehen drauf -wir gehen drauf, für ein Leben voller Schall und Rauch -bevor wir fallen, fallen wir lieber auf.”(Die Fantastischen Vier)

  11. @ Steve

    Entschuldigung, ich kann nicht folgen.

    Zitat:
    “Ich ist ein Häufchen Materie” meint wohl strenggenommen nicht, das eine sei “identisch mit” dem andern.”

    Ok – jetzt hab’ ich eine Erklärung Deiner Verwendung des Wortes “ist” erwartet, das in dem Satz “Ich ist ein Häufchen Materie” allerdings genau die Identitätsbehauptung macht, die Du “strenggenommen” nicht machen willst. Im Nachsatz aber keine Erklärung des “ist”, sondern:

    Zitat:
    “Ich ist notgedrungen ein Begriff aus unserer eingebildeten Erlebniswelt, die voller Gespenster steckt.”

    Entschuldigung, dass ist doch ein Schmarren, Du setzt auf eine Verwirrung eine zweite obendrauf. Eben noch war das “Ich” ein Stück Materie, nun ist es ein Begriff. Soll ich das nun “strengnehmen”? Ich tät’s ja gerne, denn auch ich halte das “Ich” für einen “Begriff”, mithin etwas immaterielles.

    Weiter unten nochmal; die Analogie des Verhältnisses von “Ich” zu Materie zu deren Verhältnis zu “Beschleunigung” – wieder mit der Copula “ist” verbunden. Das kannst Du doch nicht ernst meinen: “Materie ist Beschleunigung…”

    Malignerweise könnte ich sagen, dass Deine Verwendung des Wortes “ist” eien Reihe von widersprüchlichen bis zu völlig unhaltbaren Identitätsbehauptungen aufrichtet. Benignerweise könnte ich sagen, dass Du das Wort “ist” im Sinne von “hat irgendwie zu tun mit” verwendest. Im letzteren, benignen Sinne würde ich dann (fast) allen Deinen Aussagen zustimmen.

  12. Ewigkeit

    “indem er die Materie/Energie für ewig und unzerstörbar ansieht”

    Helmut, wie meinst Du das?

    Was wir von der Physik wissen, kann Materie und Energie weder erzeugt noch zerstört, sondern nur umgewandelt werden. Und der Begriff Zeit ist auch so eine Sache, denn die Zeit ist abhängig von der Geschwindigkeit und der Gravitation. Aber wenn man es so will dann haben wir mit der Energie und der Materie zwei Dinge, die für uns quasi ewig sind.

    Da fällt mir noch etwas ein. Ich weiß nicht mehr, wer es mir gesagt hat und ob es stimmt, aber es soll eine Form von Würmern geben, die nicht sterben. Die regenieren sich immer wieder. Vielleicht kennt sich ja ein Leser hier damit aus?

  13. Informationen

    Das ist ein interessanter Einwurf von Falk. Informationen lassen sich zwar auf materiellen Medien speichern (so wie das Gehirn auch eines ist), aber Informationen selbst sind immateriell. Vielleicht wissen wir über dieses Gebiet auch viel zu wenig.

  14. Entropie

    “Entropie ist aber nach meinem Verständnis nicht nur ein energetischer Zustand, der ausgeglichen ist und damit nicht mehr nutzbar, sondern gleichzeitig auch keine Information enthalten kann.”

    Oh, das ist schon lange her. Hoffentlich bekomme ich das noch einigermaßen richtig zusammen.

    Entropie ist auch ein Maß für die Unordnung. Nehmen wir an ich habe eine Stinkbombe auf den Tisch, dann ist die Entropie recht klein, denn ich kann das System gut beschreiben. Es liegt vor mir auf den Tisch. Wenn ich mein Zimmer geschlossen haben und die Stinkbombe platzen lasse, hat die Entropie zugenommen. Ich kann sie nicht mehr so gut beschreiben, denn die Teilchen schwirren irgendwo in meinem Zimmer umher, aber sie sind da, das sagt mir meine Nase. Und wenn ich dann das Fenster öffne und die Teilchen dem Zimmer entweichen nimmt die Entropie nochmals zu, weil ich sie nicht mehr im Zimmer lokalisieren kann.

    Es ist aber nicht so, daß die Informationen verloren gehen. Die Methode Informationen zu erhalten ist zu schlecht. Ich bräuchte nur eine Methode mit denen ich die geplatzte Stinkbombe im Zimmer genau beschreiben könnte (jedes Teilchen kann geortet werden und ich kann den Bewegungsablauf beschreiben) und dann hätte ich alle nötigen Informationen und müßte mich nicht der statistischen Thermodynamik bedienen.

    Es gibt in der Informatik auch den Begriff der Entropie. Der ist dem der Thermodynamik ähnlich (wenn ich mich nicht irre ist er von der Thermodynamik inspiriert), aber meint etwas anderes. Leider kommt es da zu Verwechselungen und falschen Schlußfolgerungen.

  15. @ Huhn

    “Helmut, wie meinst Du das?”

    Genau so, wie Du es beschrieben hast. Wer die Identität des “Ich” mit etwas Materiellem behauptet, behauptet letztendlich dessen Unzerstörbarkeit, ist also näher am “Unsterblichkeistwahn” als jener, der dem “Ich” nur eine formale oder immaterielle Natur zuschreibt.

  16. Anatom und Wurm

    Das “Ich” ist kein monolithischer Block sondern eine kooperative Wolke verschiedenster “Hirnwürmer” die sich im Laufe der Zeit zusammengerauft haben. Wenig davon ist freier Wille. Wenn die Ameise auf die Blattspitze klettert, macht sie es nicht aus freien Stücken.

    Meine Vermutung: Im menschlichen Hirn sind “Hirnwürmer” massiv versammelt aber schwer zu identifizieren. Lassen sich so auch Erscheinungen wie Selbstmord besser verstehen?

    Beispiel: Ein Wurm befällt zunächst Flohkrebse, kann sich dort aber nur bis zum Larvenstadium entwickeln. Die Larve programmiert ihren Wirt jedoch um: Der infizierte Krebs weicht räuberischen Fischen plötzlich nicht mehr aus, sondern schwimmt ihnen quasi ins Maul. Im Fisch entwickelt sich dann aus der Wurmlarve ein geschlechtsreifes Tier. [International Journal for Parasitology (Band 37, S. 61-65).]

    Passen dazu gibt es eine nette Übereinstimmung.

    1. Klasse der Würmer (Vermes) – wirbellose Tiere.

    2. Kleinhirn: Der Wurm (Vermis) ist eine in der Mitte liegende, etwa ein bis zwei Zentimeter breite, sagittal einmal ganz herumlaufende Struktur.

    Forscht der Anatom also in zwei Gebieten, die an den Enden zusammengehören? Ist die Schlange des Äskulap Stabes am Ende gar ein Wurm?

  17. @ Falk

    Bei aller Freude an Analogien und Wortspielen: der Vermis cerebelli hat mit den parasitischen Plattwürmern ebensowenig zu tun wie mit der “Klasse der Vermes” in der biologischen Systematik (die im übrigen längst aufgelöst wurde, so wie die der “Fische”).

    Als Metapher lass ich mir die Bezeichnung des “Ich” als “Hirnwürmerknoten” allerdings gerne gefallen, wobei mir die “Wolke” aber noch besser gefällt.

  18. Die Sache mit dem ist – strenggenommen

    Ojemine, ich weiß, meine neulicher Erklärungsversuch war krumm und schief. Mangels Versiertheit im philosophischen Argumentieren – Asche auf mein Haupt!

    Trotzdem versuch ich’s einfach noch mal: Ja doch, “Beschleunigung ist Materie” ist strenggenommen Unsinn. “Ich ist Materie” strenggenommen auch.

    Aber wie wär’s damit: “Ich ist (die subjektive empfundene Qualität bestimmter Prozesse in) ein(em) Häufchen Materie.”? Ich ist, wie es uns vorkommt, wenn’s im Hirn schnackelt. Und das halte ich für weit mehr als “hat irgendwie damit zu tun”…

    Mehr wollte ich – glaub ich – gar nicht sagen. 😉

    Da fällt mir ein: Wie man “uneigentliche”, verkürzte Sprechweisen doch dulden oder sogar mögen kann, solang die Message stimmt – und es promt sehr strengnimmt, wenn sie missfällt.

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