ESOF-Epilog: Teile Dein Wissen!
BLOG: AcademiaNet
Die ESOF Konferenz 2014 ist vorbei, und in den Straßen des Kopenhagener Stadtteils Carlsberg gibt kein Wissenschaftler-Gewusel mehr. Das war also meine erste ESOF – und ich muss sagen: Das Programm hat mich ziemlich überwältigt! Es gab nicht nur bis zu neun (!) parallele Veranstaltung, drum herum gab es noch ein großes Nebenprogramm, zum Beispiel das Science in the City Festival. Aus den paar Veranstaltungen, die ich besuchen konnte, habe ich eine Menge mitgenommen (allerdings wollten manche Veranstalter eher ein bestimmtes Image rüber bringen und waren weniger an einer echten Debatte interessiert).
Als besondere Zugabe konnte ich mich mit einigen Forscherinnen unterhalten, die im AcademiaNet-Netzwerk präsentiert werden. Mit diesen Frauen hatte ich ein paar tolle Gespräche, die unter anderem dazu führten, dass ich Wissenschaft unter einem völlig neuen Blickwinkel betrachten konnte. Eine dieser Forscherinnen möchte ich hier gerne besonders hervorheben.
Victoria Reyes-Garcia ist eine Anthropologin, die sich mit den Auswirkungen globaler Veränderungen auf ländliche Gesellschaften befasst, sowie mit der Anpassungsfähigkeit von verschiedenen Kulturen. Wir alle können uns unser Wissen und unsere Fertigkeiten nicht selbst erarbeiten, sie sind Teil eines „kulturellen Wissens“. Aber wie beeinflusst dieses kulturelle Wissen unsere Fähigkeit, uns an neue Situationen anzupassen?
Victoria und ihr Team studieren Jäger-Sammler-Kulturen im Amazonasbecken, im Kongo-Becken und auf Borneo. Diese unterschiedlichen Kulturen ermöglichen einen kulturübergreifenden Vergleich der Ergebnisse. Vor Ort wird untersucht, welches Wissen die Menschen über die verschiedenen Aspekte ihres Lebens haben (medizinisches Wissen, Informationen über die Jagd und über ökologische Bedingungen). Als nächstes untersuchen sie den möglichen Einfluss auf die Gesundheit, den Jagderfolg und den Ernährungsstatus. Ein Ergebnis war: Das individuelle Wissen über die komplizierten ökologischen Zusammenhänge korrelierte nicht mit dem Ernährungsstatus. Victoria zieht daraus den Schluss, dass es einen positiven Effekt des Wissenstransfers innerhalb dieser traditionellen Gesellschaften geben muss. Diese Gesellschaften zeichnen sich ohnehin durch ein hohes Maß an Kooperation aus, dadurch wird auch das Wissen vergesellschaftet. Victoria folgert daraus, dass Teilen und Kooperieren die Anpassungsfähigkeit dieser Gruppe erhöht.
Angesichts einer sich ständig wandelnden Welt (Victoria sprach bei einer Veranstaltung zum Thema Umweltveränderungen): Sollten wir unsere Vorstellung von „Wissen“ nicht mal überdenken? Mit Victorias Worten: „Bei uns ist Wissen als Besitz eines Einzelnen definiert, schauen Sie sich nur mal die Patente an. Aber es gibt alternative Auffassungen von Wissen.“ Wenn wir unser Wissen stärker teilen und gemeinsam erschaffen, dann wären wir auch besser in der Lage, auf äußere Veränderungen zu reagieren.
Als Biochemikerin unterschätze ich regelmäßig, wie viel uns die Sozial- und Geisteswissenschaften über die Welt erzählen können. Deshalb habe ich es sehr genossen, einen völlig anderen Zugang zu einer der großen Herausforderung unserer Zeit kennenzulernen. Wenn Victoria berichtet, was wir von völlig fremden Kulturen lernen können, macht mich das gleichzeitig nachdenklich und bescheiden: Nur weil wir iPhones besitzen, heißt das noch lange nicht, dass wir alles besser wissen.
Ganz beseelt vom Geist des Wissenstransfers schließe ich jetzt mit ein paar Einsichten von ESOF-TeilnehmerInnen an der „Wand des Wissens“:
liebe nuria, vielen dank für deine tollen artikel. zwei fragen bleiben mir: wann und wo findet das nächste ESOF statt und ist englisch die einzige verkehrssprache? viele grüße. littka
Hi! 🙂
Die nächste ESOF findet 2016 in Manchester statt. Und ja, alle Sessions sind auf Englisch.
Nuria Cerdá-Esteban schrieb (29. Juni 2014):
> Sollten wir unsere Vorstellung von „Wissen“ nicht mal überdenken? […]
Sollten nicht auch mal Vorstellungen überdacht werden, mit welchen Mitteln “wir unser Wissen
stärker teilen und gemeinsam erschaffen” könnten?
> “Every person you will ever meet knows something you don’t.”
Zu jeder Person ließe sich folglich ein Enzyklopädie-Artikel schreiben, in dem etwas stünde (bzw.
geeignet verwikilinkt wäre), das die gegebene Leserschaft noch nicht wusste (oder nicht gewusst
hätte, ohne die jeweilige Person schon selbst getroffen zu haben).
Und das, scheint mir, wäre eine Menge zu lernen.
Ischt sachlich bestenfalls halbwegs richtich, es gibt Wissen nur auf tautologische Systeme bezogen, die nicht nur umfänglich beschrieben, sondern auch umfänglich verstanden sind. Dort gibt es eine Wahrheit, sofern die diesbezüglichen Systeme einen Wahrheitswert kennen, sofern der in diesen Systemen angelegt ist.
Ansonsten gibt es in den Naturwissenschaften ganz zuvörderst die Erkenntnis, die in “n:m”-Beziehungen zwischen erkennendem Subjekt und Sache oder Sachverhalt verwaltet wird, die als Sichtenbildung (“Theoretisierung”) wie bspw. von Bas van Fraassen beschrieben vorliegt.
Wobei Sichten (“Theoroien”) konkurrieren und gerne auch empirisch adäquate Theorien ihren Bestand waren dürfen, im oben beschriebenen Sinne.
Dies ginge dann Richtung Konstruktivismus, wobei man womöglich beim Thema wäre.
Das Bemühen um Erkenntnis ginge auch anders, im Artikel wird von ‘alternative Auffassungen von Wissen’ geschwatzt, die Frage ist nur: Will man dies? Will man die aufklärerisch-skeptizistische Wissenschaft verlassen, weil es auch anders geht, will man sich anderweitig verbünden?
Der Konstruktivismus wäre hier die anleitende Ideenlehre, leider ist sie auch neomarxistisch-relativistisch genutzt, schwierig; bei Bedarf wird Ihr Kommentatorenfreund hier weiter ausführen, wichtich aber vorab zu verstehen, dass relativistisch nichts geht.
MFG
Dr. W
[1] siehe zweiter Absatz dieser kommentatorischen Nachricht