Wissenschaftskommunikation in sozialen Medien – ein Fazit

In meinem vierten und letzten Gastbeitrag zu diesem Blog möchte ich die Veränderungen bilanzieren, die sich durch Verlagerung der Wissenschaftskommunikation in vernetzte digitale Medien ergeben. Für Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler haben sich die größten Veränderungen mit den erweiterten Möglichkeiten zu Kommunikation und Kooperation ergeben. Entscheidend ist dabei die durch das Internet erzielte Geschwindigkeitserhöhung der Kommunikation. Zwar ist auch heute die Publikation von wissenschaftlichen Ergebnissen in Aufsätzen, Artikeln oder Büchern mit einer gewissen zeitlichen Verzögerung verbunden, früher galt dies allerdings auch für die direkte Kommunikation auf brieflichem Wege. Die digitale Kommunikation hat die Verzögerung bei der Verschickung schriftlicher Nachrichten auf Sekundenbruchteile zusammenschrumpfen lassen, so dass aus einer asynchronen, schrittweise erfolgenden Kommunikationskette ein synchrones, in Echtzeit ablaufendes Geschehen wurde. Durch Blogs, Twitter, Email, Web-Plattformen und soziale Netzwerke ist ein Kommunikationsraum entstanden, in dem Wissenschaftler unmittelbar davon erfahren, was die Kollegen gerade tun, was sie interessiert, wo sie zusammenkommen und welche Meinungen sie vertreten. Die Vielfalt der Forschung wird dabei nicht mehr horizontal im zeitlichen Verlauf gefiltert, durch Verlage, Gutachter und Tagungskomitees, sondern gleichsam vertikal, durch die Teilhabe an einem vernetzten, digitalen Kommunikationsprozess. Ein Wissenschaftler kann heute kaum darauf hoffen, dass sich im Laufe der Zeit schon von selbst erweisen werde, wie bedeutend seine Arbeiten eigentlich sind – wenn die Zeitgenossen dies nicht sofort erkennen, werden sie sehr bald von neueren Publikationen überdeckt und verschwinden aus der Wahrnehmung des Fachs. Was wissenschaftlich wichtig wird, wird unmittelbar ausgehandelt – und wer dabei nicht mitmacht, hat geringere Chancen, mit seinen Ergebnissen Einfluss und Bedeutung zu erlangen. Der bisher geltende Grundsatz „publish or perish“, mit dem jungen Wissenschaftlern die essentielle Bedeutung des Publizierens vermittelt wurde, kann modifiziert werden durch den neuen Grundsatz „communicate or perish“.

Mit dem Wandel der wissenschaftlichen Kommunikation verändert sich auch die institutionelle Organisation von Wissenschaft. Für viele Wissenschaftler ist es zwar ziemlich unerheblich, in was für eine institutionelle Struktur sie eingebettet sind, solange sie ihrer Forschungsarbeit nachgehen können und dafür geeignete Bedingungen vorfinden. Trotzdem sind sie dabei Teil einer Hierarchie, auf deren höheren Ebenen Entscheidungen getroffen werden, die ihre Arbeit direkt betreffen können. Ihre eigentliche Identität beziehen Wissenschaftler jedoch aus ihrer Fachgemeinschaft, die durch Publikationsorgane, Verbände, Gremien und Tagungen geprägt ist. Aber auch hier gibt es Hierarchien, die meist schwer erkennbar sind; in ihnen wird entschieden, wie Gelder verteilt, Themen gesetzt und Karrieren gefördert (oder blockiert) werden. In der digitalen Wissenschaftskommunikation hingegen wird der Einfluss auf das Fach durch die Wirkung der Kommunikation gebildet. So können auch jüngere, noch nicht etablierte Wissenschaftler großen Einfluss gewinnen, und offizielle Institutionen und Fachgemeinschaften verlieren an Bedeutung. Anders als in früheren Zeiten ist deshalb auch der etablierte Wissenschaftler gezwungen, sich in diesem weitgehend hierarchiefreien Kommunikationsraum zu bewegen, wenn er wissen will, was in seinem Fach passiert. Denn hier findet die tatsächliche Forschungstätigkeit ihren unmittelbaren Widerhall.

Auch im Wissenschaftsjournalismus verschieben sich die Schwerpunkt der Tätigkeit. Journalisten müssen zunehmend hybrid arbeiten: Sie müssen das effizient Recherchieren im Web beherrschen und sich auf das digitale und vernetzte Schreiben einlassen. Sie müssen multimedial arbeiten: Der Text allein darf nicht im Zentrum stehen, von vornherein müssen auch Visualisierungen bedacht werden. Der digitale Journalist muss vor allem die Möglichkeiten interaktiver Visualisierungen kennen und bewerten können und gleichzeitig in den Kategorien unterschiedlicher Zielmedien denken. Er muss seine journalistischen Vorstellungen in heterogenen Teams umsetzen können, denn das ist notwendig, um komplexe interaktive Visualisierungen zu realisieren. Und drittens muss er sozial arbeiten: Journalismus hatte natürlich schon immer etwas mit dem geschickten Umgang mit Informanten und Gesprächspartnern zu tun, doch muss der Journalist die Sozialität von Menschen und Informationen heute in noch viel höherem Maße berücksichtigen. Er muss vernetzte Texte schreiben, vernetzte Informationen nutzen und soziale Netzwerke „anzapfen“ können. All dies verändert auch die Redaktionen. Die Darstellung eines Themas gewinnt durch die Tendenz zur Multimedialität im digitalen Journalismus immens an Bedeutung.

Die Gesellschaft erhält durch die Offenheit der digitalen Medien die Möglichkeit, leichter den wissenschaftlichen Diskurs direkt zu verfolgen und sogar daran teilzunehmen – etwa durch Blogs und Microblogs. Allerdings ist auch weiterhin die Vermittlung wissenschaftlicher Ergebnisse durch den Wissenschaftsjournalismus notwendig. Dieser erhält die Möglichkeit, aufgrund der weniger deutlich ausgeprägten Grenzziehungen der verschiedenen Bereiche stärker auch selbst in diesen Diskurs einzugreifen, Zusammenhänge aufzuzeigen oder Positionierungen zu hinterfragen. Zugleich eröffnen sich dem Journalisten auch neue Perspektiven, Wissenschaft als Diskurs darzustellen und weg zu kommen von den aus der Genie-Ästhetik inspirierten „Meistererzählungen“.

Wissenschaftler selbst müssen zunehmend erfahren, dass durch die Auflösung der Geschlossenheit wissenschaftlicher Milieus ein zunehmender Rechtfertigungsdruck auf ihre Arbeit von außen entsteht. Deshalb ist die Darstellung von Wissenschaftlern durch Wissenschaftler selbst nicht nur leichter möglich, sondern auch von immer größerer Bedeutung. Durch die dabei erfolgende Weitung der Perspektive können aber auch Impulse in die wissenschaftliche Tätigkeit zurückfließen.

In Bezug auf die verschiedenen Typen sozialer Medien stellt sich die Frage, wie die Grenzziehung zwischen interner und externer Wissenschafts­kom­munikation zukünftig aussehen wird. Blogs und Microblogs sind ihrer Natur nach nicht auf die interne Kommunikation beschränkt und sind grundsätzlich mit einer „Öffnungsperspektive“ versehen. Ein wissenschaftlicher Blog richtet sich in den seltensten Fällen nur an die Fachcommunity, und in offenen Microblogs ist eine Grenzziehung von vornherein unmöglich. Beide Kommunikationsformate können als ein neuer Typus von Wissenschaftskommunikation betrachtet werden, bei dem die Unterscheidung nach Kategorien wie „intern“ und „extern“ erodiert. Dies verkompliziert die Situation der externen Wissenschaftskommunikation eher als dass es sie vereinfacht: Auch bei dem scheinbar direkten Zugriff auf Texte von Wissenschaftlern entfällt die Vermittlungsaufgabe keineswegs. Vielmehr müssen bei der Wissenschaftsvermittlung die spezifischen kommunikativen Rahmenbedingungen für Blogs und Microblogs eingehalten werden, wenn keine unbeabsichtigten Wirkungen entstehen sollen. Für wissenschaftliche Institutionen ergibt sich damit die Aufgabe, neben den klassischen Formaten der externen Wissenschaftskommunikation nun auch diese sich informell zwischen interner und externer Kommunikation bewegenden Formate zu bedienen. Aus Sicht des Wissenschaftsjournalismus entstehen dadurch jedoch auch neue Chancen für die Vermittlung, die im Bereich der Wissenschaft ebenso aufgegriffen werden sollten, wie es durch institutionelle Blogger und Twitterer etwa von Fernsehredaktionen oder Nachrichtenmedien vorgemacht wird.

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www.lobin.de

Henning Lobin ist seit 2018 Direktor des Leibniz-Instituts für Deutsche Sprache in Mannheim (Mitglied der gemeinsam vom Bund und allen 16 Bundesländern finanzierten Leibniz-Gemeinschaft) und Professor für Germanistische Linguistik an der dortigen Universität. Zuvor war er ab 1999 Professor für Angewandte Sprachwissenschaft und Computerlinguistik an der Justus-Liebig-Universität Gießen. Seine Forschungsschwerpunkte bilden die Auswirkungen der Digitalisierung auf die Sprache, Texttechnologie, Grammatik, Wissenschaftskommunikation und Politolinguistik. Er ist Sprecher der Sektion "Geisteswissenschaften und Bildungsforschung" und Präsidiumsmitglied der Leibniz-Gemeinschaft, Mitglied germanistischer Fachbeiräte von DAAD und Goethe-Institut und des Forschungsbeirats der Stiftung Wissenschaft und Politik. Lobin ist Autor von neun Monografien und hat zahlreiche Sammelbände herausgegeben. Zuletzt erschienen sind Engelbarts Traum (Campus, 2014, polnische Übersetzung 2017, chinesische Übersetzung 2018), Digital und vernetzt. Das neue Bild der Sprache (Metzler, 2018) und Sprachkampf (Duden, 2021). Bei den SciLogs ist Henning Lobin seit 2014 Autor des Blogs "Die Engelbart-Galaxis", nachdem er dort bereits ab 2008 am Gruppenblog "Interactive Science" beteiligt war.

8 Kommentare

  1. Danke für eine interessante Artikelserie!

    Was mir noch zu fehlen scheint (falls nicht überlesen): Ein wichtiger neuer Aspekt ist die Automatisierung nicht nur der Filter bzw. Auswahl- und Suchmechanismen, sondern auch der Verteilungsmechanismen. Mit entsprechender Software kann ich meine Inhalte weitgehend zentral eingeben und dann parallel auf Twitter, Facebook und anderen Plattformen verteilen lassen. Dahinter stehen entsprechende APIs, also maschinelle Schnittstellen – das ist ein weiterer Schritt hin zur Vereinfachung der Veröffentlichung für Einzelpersonen.

    Um noch einmal auf das Kuratieren zurückzukommen: Vor ein paar Tagen fiel mir auf, dass die New York Times, in digitalen Dingen ja nicht selten durchaus innovativ, jetzt mehr als vorher in diese Richtung nicht. Ich weiss nicht, wielange schon, aber auf der Hauptseite der NYT ist jetzt ein Ticker, rechts prominent rechts (gerade noch “above the fold”), der auf Beiträge nicht nur der NYT selbst (obwohl Selbstverweise weit überwiegen), sondern auch von CBS, CNET, BBC, also eigentlich der Konkurrenz verweist. Auf Blogbeiträge, soweit ich sehen kann, noch nicht, aber es scheint mir ein Schritt in die richtige Richtung!

    • Vielen Dank für Ihren Hinweis! Ich gebe zu, dass der Aspekt der Automatisierung in meinen vier Beiträgen hier nicht so prominent behandelt wird, wie er es eigentlich verdient hätte. Das ist vor allem der erforderlichen Kürze geschuldet. In der erwähnten Expertise kommt dieser Aspekt vor, aber auch auf dem Scilogs-Blog “Die Engelbart-Galaxis” habe ich das Thema immer wieder behandelt, zum Beispiel in diesem “visionären” Beitrag zum Lesen und Schreiben oder hier zum wissenschaftlichen Schreiben unter den Bedingungen der Digitalität.
      Ihren Hinweis auf die automatische Aggregation von Informationen ist ebenfalls auch im wissenschaftlichen Zusammenhang interessant. Dass das auch so richtig schief gehen kann, habe ich gerade in der Engelbart-Galaxis an einem kleinen Beispiel beschrieben. Da ging es um die Fluggesellschaft United Airlines, über die aufgrund einer unglückliche Kette automatisch aggregierter älterer Nachrichten bei Bloomberg auf einmal die falsche Nachricht erschien, dass sie zahlungsunfähig sei. Wollen wir hoffen, dass so etwas nicht im Bereich der Wissenschaft passier (ist)!

  2. Herzlichen Dank für die Analyse. Es wird deutlich, dass Geschwindigkeit, Unmittelbarkeit und fachspezifische Reaktionskompetenz eine sehr hohe Anforderungen an jede Wissenschaftskommunikation unter Social-Media-Bedingungen stellen. Wenn Einzelforscherinnen und -forscher unter diesen Bedingungen agieren, so dürfte das auch unter sozialen Normalbedingungen zu nennenswerten Herausforderungen führen: Präsenz, Reaktionszeit, Verständlichkeit bei Antworten, Ansprachekompetenz u. a. m. Kann dies allein von Einzelpersonen geleistet werden? Wäre hier eine institutionelle Begleitung oder Unterstützung nicht nötig? Wenn ein Dialog gepflegt werden soll, so muss dieser wohl auf eine gewisse Dauer gestellt werden können. Dazu kann auch gehören, dass Aktivitäten in anderen Medien zudem mit beachtet werden müssen. Dieser Einbezug setzt einen allgemeinen Überblick über relevante Medien und Formate voraus. Dies umso mehr, wenn ein Thema nicht in den traditionellen Formaten des (massen-)medialen Wissenschaftsjournalismus behandelt wird. Mit Kommunikationsangeboten werden bekanntlich Erwarten formuliert oder geweckt, die in der Folgekommunikation zu beachten sind.

    • Ich stimme Ihren Beobachtungen ganz und gar zu. Manche WissenschaftlerInnen haben derartige Kommunikationsprozesse schon im Blick andere nicht. Das hat sicherlich auch etwas mit der jeweiligen Persönlichkeit zu tun. Die Anforderungen an den oder die Einzelne steigt enorm in diesem weitaus unschärfer umrissenen Kommunikationsterrain. Dass Institutionen hier sehr bald ein tatsächlich wirkungsvolle Unterstützung zu leisten in der Lage sind, wage ich allerdings zu bezweifeln. Wünschenswert wäre es jedoch.

  3. Womöglich habe ich ja Ansätze von WÖM-2, sich dem Thema Social Media auch faktenbasiert, empirisch zu nähern, nur verpaßt. Ich vermisse es jedenfalls.
    Wie gut, dass ich auf die Untersuchung dieses Leibniz-Projektes gestoßen bin: Das steckt viel Stoff und auch Analyse drin.
    Wären die Akademien mal so vorgegangen!

    http://www.goportis.de/de/aktuelles/2015/detailansicht/article/social-media-forschende-nutzen-am-haeufigsten-wikipedia.html

    Der Studienbericht (231 Seiten) zum Download:
    http://www.goportis.de/fileadmin/user_upload/Bericht_Goportis_Nutzung_von_Social-Media-Diensten_in_der_Wissenschaft_Daten_und_Ergebnisse_2015.pdf

    • Bitte bedenken Sie: Ein Blog-Posting ist keine Expertise, eine Expertise ist keine empirische Studie. Die Expertisen enthalten wesentlich mehr Informationen als die Postings hier und beruhen auf einschlägigen Studien.

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