Willensfreiheit und (neuronaler) Determinismus – vorläufige Argumente

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Hirnforschung & Theologie
WIRKLICHKEIT

Hier werden einige gängige Argumente gegen die Vereinbarkeit von Determinismus und Freiheit aufgegriffen und pariert. Der Hinweis auf Möglichkeitskalküle erschließt Freiheit und Verantwortung, bzw. Personalität, in ihrer kulturellen Dimension. Allerdings zeigt sich am Ende, dass etwas Entscheidendes leicht übersehen wird: Freiheit ohne Bewusstsein, Freiheit lediglich als kognitive Fähigkeit wäre noch keine menschliche, keine personale Freiheit.

Hirnforscher: Nicht das Ich entscheidet, sondern das Gehirn.

Antwort 1: Dies wäre dualistisch gedacht. Wir können uns jedoch heute Ich und Gehirn zwar als phänomenal unterscheidbar, nicht aber mehr als voneinander trennbar (also dualistisch eigenständig, "einander gegenüber") vorstellen. Es besteht daher zwischen beiden kein Kausalitätsverhältnis wie zwischen zwei Billardkugeln – weder in die eine noch in die andere Richtung. Wenn mein Gehirn entscheidet, bedeutet dies demnach gerade nicht zwangsläufig, dass nicht Ich entschieden hätte. Ursächlichkeit neuronaler Prozesse für physische Bewegungen meines Körpers steht in keinem logischen Widerspruch zu meiner persönlichen Autorschaft für meine Handlungen.

Antwort 2: Die unbemerkte Beeinflussung oder Verursachung meiner Handlungen durch Hirnprozesse können wir nicht analog zur unbemerkten manipulativen Beeinflussung durch Dritte z.B. in der Werbung betrachten. Denn ohne Hirnprozesse hätte ich nicht andere Intentionen und Wünsche, sondern gar keine. Intentionen und Wünsche sind vielmehr dadurch meine Intentionen und Wünsche, dass sie in meinem Gehirn verkörpert sind.

Hirnforscher: Da die Hirnprozesse so ablaufen, wie sie nun einmal biochemisch etc. ablaufen müssen, sind Gründe etc. kausal irrelevant für Handlungen.

Antwort: Dieser Aussage liegt der epiphänomenalistische Irrtum zugrunde. Der Epiphänomenalismus hält die mentalen Zustände für irrelevant und tut so, als könne man diese wegdenken ohne jedweden physischen Effekt auf den Weltenlauf. Dies ist aber nicht der Fall. Denn in der Welt, in der wir leben, gehen bestimmte Hirnzustände nun einmal mit mentalen Zuständen einher; das Nichtauftreten mentaler Zustände geht umgekehrt mit bestimmten Veränderungen der Hirnzustände einher. Beim Erleben von Gründen werden andere Hirnzustände durchlaufen als wenn das Abwägen von Gründen entfällt. Man kann daher zwar sagen, dass letztlich nur die Hirnzustände physisch wirksam werden – aber deswegen sind mentale Zustände noch lange nicht kausal irrelevant, vielmehr charakterisieren bzw. spezifizieren diese bestimmte, i.d.R. komplexere physische Hirnzustände.

Hirnforscher: Aufgrund des Determinismus gilt, dass man – könnte man die Zeit und die ganze Welt zurückdrehen – an einer Entscheidungssituation immer wieder dieselbe Entscheidung treffen würde, Alternativen sind also faktisch nicht realisierbar, Freiheit ist nur eine Illusion.

Antwort: Versteht man unter einer freien Handlung eine selbstbestimmte Handlung, dann wäre genau diese Konstanz der Entscheidung sogar zu fordern; denn es kann nicht sein, dass ich bei identischem Ausgangszustand (die Zeit und die ganze Welt wird ja zurückgedreht!) einmal so und einmal so entscheiden würde – dann wäre es ja gerade kein selbstbestimmte, begründete Handlung, sondern bloßer Zufall. Auch hier zeigt sich, dass Determinismus nicht notwendig in Widerspruch zur Freiheit geraten muss. Man kann sogar argumentieren, dass eine determiniert zuverlässig ablaufende Welt die Voraussetzung für Intentionsbildung und zielgerichtete Handlungen darstellt.

Soweit so gut, die klassischen Merkmale der Willensfreiheit – Autorenschaft, Intelligibilität (Relevanz der Gründe) und Alternativismus (es gibt Möglichkeiten) – lassen sich mit neuronalem Determinismus und einer nichtdualistischen Verhältnisbestimmung von mentalen und hirnphysischen Zuständen vereinbaren.

Man kann sogar noch mehr sagen: Dass das Gehirn wie ein Ping-Pong-Ball der Determination unterliegt, ist wohl mit das Langweiligste und Unspezifischste, was man über es sagen kann. Viel interessanter ist, dass der Mensch über mögliche Welten nachdenken kann, dass er sogar ganz wesentlich im Raum des Möglichen denkt, lebt und handelt. Das Mögliche ist noch nicht wirklich – es kann z.B. naturwissenschaftlich noch gar nicht beobachtet werden; der einzige Ort, wo es bereits physisch wirklich und wirksam wird, ist das Gehirn desjenigen, der über eine Möglichkeit nachdenkt. Kultur ist die soziale Organisation individueller Möglichkeitskalküle. Dass man jemandem Möglichkeitskalküle zutraut und darin auch mögliche Konsequenzen möglicher Handlungen implementiert (Lob und Strafe; Erziehung, Strafrecht), dass man ihm also Verantwortung zuschreibt, dass man ihn verantwortlich macht, macht ihn gerade zur Person. Tieren und Dingen trauen wir dies nicht zu (obwohl wir auch Hunde erziehen), und auch bei schweren psychischen Störungen wissen wir, dass die Fähigkeit zu Möglichkeitskalkülen eingeschränkt ist. Offensichtlich sind Freiheit (Leben im Raum des Möglichen) und Verantwortung (um Konsequenzen wissen) in diesem Sinne kein rein individuellen Eigenschaften und schon gar nicht Eigenschaften von Gehirnen – nichts desto trotz sind sie wirksam und wirklich, und zwar ohne den Determinismus aufheben zu müssen.

Aber: Mit dieser Argumentation bzw. Definition würde man auch zukünftigen Cyborgs, humanoiden Automaten also, Freiheit zuschreiben müssen. Denn ohne weiteres können Maschinen Zukunftsszenarien entwickeln und beurteilen und daraufhin bestimmte Prozeduren starten. Dennoch werden wir nicht sie, sondern allenfalls ihre Programmierer für ihre Aktionen verantwotlich machen. Wir wissen, dass Roboter lediglich Algorithmen abarbeiten – und daher halten wir sie nicht für wirklich frei.

Mir scheint, dass die Freiheitsdebatte letzlich eben doch nicht unabhängig von der Bewusstseinsproblematik behandelt werden kann. Schon deswegen nicht, weil das Erleben der nahezu perfekten Übereinstimmung unserer Intentionen mit unseren Handlungen im Alltag die entscheidende (auch statistisch überzeugende) Basis für das Freiheitserleben darstellt – das Erleben innerer Zustände können wir Robotern jedoch nicht zusprechen, also auch nicht das Erleben einer entsprechenden Übereinstimmung – und damit auch kein Freiheitserleben. Freiheit ist nicht nur eine kognitive Fähigkeit.

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Geboren 1967 in Emsdetten/Westfalen. Diplom kath. Theologie 1993, Psychologie 1997, beides an der Universität in Bonn. Nach einem Jahr am Leipziger Max-Planck-Institut für neuropsychologische Forschung (1997-98) bin ich seit Oktober 1998 klinischer Neuropsychologe an der Universitätsklinik für Epileptologie in Bonn. Ich wurde an der Universität Bielefeld promoviert (2004) und habe mich 2015 an der Medizinischen Fakultät der Universität Bonn habilitiert (Venia legendi für das Fach Neuropsychologie). Klinisch bin ich seit vielen Jahren für den kinderneuropsychologischen Bereich unserer Klinik zuständig; mit erwachsenen Patientinnen und Patienten, die von einer schwerbehandelbaren Epilepsie oder von psychogenen nichtepileptischen Anfällen betroffen sind, führe ich häufig Gespräche zur Krankheitsbewältigung. Meine Schwerpunkte in Forschung und Lehre liegen in den Bereichen klinische Neuropsychologie (z.B. postoperativer kognitiver Outcome nach Epilepsiechirurgie im Kindesalter) und Verhaltensmedizin (z.B. Depression bei Epilepsie, Anfallsdokumentation). Ich habe mich immer wieder intensiv mit den philosophischen und theologischen Implikationen der modernen Hirnforschung beschäftigt (vgl. mein früheres Blog WIRKLICHKEIT Theologie & Hirnforschung), eine Thematik, die auch heute noch stark in meine Lehrveranstaltungen sowie meine öffentliche Vortragstätigkeit einfließt.

34 Kommentare

  1. Längst nicht alle Hirnforscher

    Interessant ist, dass – soweit ich das mitkriege, aber ich bekomme immerhin Einiges mit aus der “Szene” – die (große?) Mehrheit der Hirnforscher deutlich vorsichtiger, ja skeptischer bzgl. Aussagen über die Nicht-Existenz eines freien Willens ist, als das für gewöhnlich in der Öffentlichkeit ankommt. Dazu vielleicht ein besonders frappantes Beispiel: Der Neurobiologe Gerhard Neuweiler vom Biocenter der LMU München vertrat bei einer Podiumsdiskussion neulich gar die Position, “dass die Struktur des Cortex und der modulare Aufbau der Nervennetze drarauf ausgelegt sind, maximale Variabilität zu erzeugen.” Diese prinzipielle Struktur der Cortexfunktionen verhindere Willensfreiheit nicht, sondern fordere sie geradezu heraus: “Die Frage ist nicht, ob die Willensfreiheit eine Fata Morgana ist, sondern eher, wie weit sie ins Tierreich hineinreicht.” Auf meine Nachfrage hin, wie weit denn diese Grenze wohl hinab ins Tierreich reiche, sagte Prof. Neuweiler, das sei (noch) Glaubenssache, aber persönlich würde er die Grenze bei den nicht-geselligen Säugetieren ziehen, sich aber nicht wundern, wenn sie einmal runter verlegt würde bis zu den einfachsten Säugern, den Insektivoren.

    ((Wie das wohl andere Anatomen sehen? Falls Sie diesen Kommentar lesen, Herr Wicht: Was halten Sie von der Argumentationskette
    “Cortexstruktur – Variabilität – Willensfreiheit”?))

  2. Variabilität – Freiheit

    Guten Morgen, Herr Koenneker!
    M.E. kann man aus physischen Prozessen und ihren statistischen Eigenschaften (z.B. Variabilität) nicht auf Freiheit schließen. Die Biochemie läuft im Gehirn ab, nach Naturgesetzen und evtl. von echtem (quantenmechanischem) Zufall beeinflusst – das mag variabel sein, wie es will. Das Wetter ist auch extrem variabel (zurzeit leider eher weniger), dennoch sind die Erdatmosphäre oder die Wolken nicht frei.

    Die eigentliche Herausforderung besteht darin, Kompatibilität bzw. Nicht-Widersprüchlichkeit aufzuzeigen zwischen physischen Prozessen (Naturgesetz, Zufall) und dem Phänomen Freiheit im subjektiven Erleben und als kulturell wirksames Konzept. Dies ist möglich, wenn man Freiheit nicht als völlige Unbestimmtheit, sondern z.B. als Selbstbestimmung versteht (vgl. M. Pauen). Hier sehe ich dann auch Grenzen, Freiheit in diesem Sinne Tieren zuzugestehen.

  3. Nachfrage

    Guten Morgen, Herr Hoppe 🙂
    Würden Sie denn Herrn Neuweiler immerhin dahingehend folgen, dass mindestens 4 von 5 Hirnforschern die Auffassung, es gäbe keinen Freien Willen, NICHT teilen? Das war seine Schätzung auf eben diese meine Frage.
    Beste Grüße nach Bonn!

  4. @ Könnecker

    Die Anatomen würden sagen, dass sie überall im Cortex Strukturen sehen, die sich nicht grundlegend von jenen unterscheiden, die sie anderswo im Nervensystem oder sonstwo im Organismus finden. Es gibt weder ein “Organ” noch ein “Zellorganell” der Freiheit, noch ein “Molekül” derselben: semper idem. Lauter vertraute biologische Bausteine, aus denen man auch einen – sagen wir mal: Dickdarm bauen könnte (denn auch der besitzt ein ansehnliches “enterisches” Nervensystem).

    Die Anatomen würden weiter sagen, dass es in der Anordnung all diese Bausteine im Cortex (Zellen, deren Verbindungen und Signalmoleküle) gewisse Regeln gibt, die es ihnen erlauben zu sagen: “also diese und jene Zelle steht mit einiger Sicherheit in Verbindung mit jener anderen Gruppe von Zellen”. Sie würden aber sofort hinzusetzen, dass jene Verbindungen, jene Synapsen “plastisch” sind, d.h. morgen stärker oder schwächer sein können als heute oder gar ganz fehlen können.

    Sie würden darüber hinaus darauf hinweisen, dass es im Cortex – und eigentlich überall im Nervensystem der Wirbeltiere keine “identifizierbaren” Nervenzellen gibt, also relativ wenig an “Starrverdrahtung”, wie sie für manche Wirbellosen typisch ist. Sie würden sagen, dass es die schiere Grösse, die ungeheure Anzahl an Nervenzellen bei Wirbeltieren ist, die die Basis dieser “Unschärfen” und Variabilitäten darstellt.

    Endlich würden die Anatomen, im schönsten Schulterschluss mit den Physiologen, daraus folgern, dass es noch nie in der Geschichte des Universums zwei Hirne gegeben hat (und auch nicht geben wird), die exakt die gleiche Struktur/den gleichen funktionalen Zustand aufwiesen.

    Zum guten Schluss würde ICH aber sagen, dass ich die kompatibilistische Position, die die Freiheit in irgendwelchen “Möglichkeitsräumen” verortet (die, wie oben ausgeführt, durchaus in grosser Zahl vom Hirn bereit gestellt werden können) für unbefriedigend halte. Denn die Entscheidung innerhalb dieser Möglichkeitsräume, ja selbst die Bereitstellung der Art von Räumen, ist ja wieder determiniert – wenn auch nicht vorhersagbar, aber darum geht’s nicht. Das Hirn ist, nach allem, was wir wissen, ein deterministisches Chaos, wir kennen kein Einfallstor für den “absoluten”, quantenmechanischen Zufall. Frage übrigens: was soll dass sein, dieser “absolute” Zufall? Die Schrödinger-Gleichung ist strikt deterministisch. Wir entkommen dem Determinismus nicht – schon schlicht deshalb, weil “nulla est sine causa”, weil wir dem Satz vom Grunde nicht entrinnen können. Ihm aber zu entkommen: DAS wäre Freiheit!

    Sie sehen: ich bin Libertarier, oder wie man das nennt, aber einer, der an die Determiniertheit glaubt (und an ihr verzweifelt). Also bleibt mir nur, zusammen mit Herrn Schopenhauer, die Freiheit ganz woanders zu verorten. Sie liegt, in seinen Worten, im “esse”, nicht im “agere” (im Sein, nicht im Handeln) – das Sein selbst ist der grundlose Akt der Spontaneität, alles, was die seienden Wesen so tun, ist determiniert.

    Nieder mit dem Sein! Oder hoch damit! Je nachdem, ob man’s gerne pessimistisch (mit Schopenhauer und Buddha)oder optimistisch (der weitaus grössere Rest) hätte.

  5. Abstimmung über Willensfreiheit

    Ich würde eher vermuten, dass sich viele Hirnforscher in dieser Frage nicht kompetent fühlen und eine 1:1 Übertragung von empirischen Studien in philosophische Positionen (mit Recht) generell kritisch sehen. Persönliche Meinungsäußerungen zur Frage der Willensfreiheit werden vermutlich den allgemein verbreiteten Überzeugungen entsprechen.

    By the way, die ablehnende Position in meinem Beitrag vom “Hirnforscher” vertreten zu lassen, war natürlich ironisch gemeint.

  6. ironisch gemeint

    “By the way, die ablehnende Position in meinem Beitrag vom ‘Hirnforscher’ vertreten zu lassen, war natürlich ironisch gemeint.”

    Schon klar 🙂

  7. @ H. Wicht

    Lieber Herr Wicht, danke für die ausführliche Antwort auf meine Frage nach der Variabilität! Ich kann gut nachvollziehen, wie Sie an der Determiniertheit “verzweifeln”, wie Sie schreiben. Sie sind da durchaus in guter Gesellschaft. Denn den “Möglichkeitsraum” gibt es nicht nur in der Quantenmechanik, auf die Sie rekurrieren, sondern auch in der Literatur, und zwar bei Robert Musil (“Der Mann ohne Eigenschaften”). Dort finde ich zB diesen netten Satz: “Aus dem Kannsein entsteht zur namenlosen Überraschung aller Beteiligten plötzlich das Ist.” Musils Romanheld Ulrich stellt hier für sich fest, dass die unfassbar große Möglichkeitswelt sich in jedem Augenblick auf die eine konkrete Wirklichkeit reduziert und “dass unter der siegreich gebliebenen Wirklichkeit unzählige Möglichkeiten liegen, die auch hätten wirklich werden können.” Die Bandbreite dieser Möglichkeiten ist offenbar grenzenlos: “Das menschliche Wesen ist ebenso leicht der Menschenfresserei fähig wie der Kritik der reinen Vernunft; es kann mit den gleichen Überzeugungen und Eigenschaften beides schaffen, wenn die Umstände danach sind, und sehr großen äußeren Unterschieden entsprechen dabei sehr kleine innere.” Sind das nicht vielleicht eben jene feinen inneren Unterschiede, Prozesse, Veränderungen, denen Forscher nachspüren? Wie halten Sie es mit dieser – verzweifelten (?) – Frage des Protagonisten: “Woran liegt der Reiz, die besondere Versuchung für den Geist, dass er glaubt, die Welt der Gefühle auf Lust und Unlust oder auf die einfachsten physiologischen Vorgänge zurückführen zu müssen? Warum billigt er einem psychologischen Etwas umso mehr Erklärungswert zu, je einfacher es ist? Warum einem physiko-chemischen noch mehr als einem psychologischen, und schließlich der Zurückführung auf die Bewegung physikalischer Atome den allermeisten?”

  8. @ Könnecker

    Lieber Herr Könnecker,

    ich kann Musils Argumentation verstehen, aber nicht nachvollziehen, ja, ich glaube, dass ihr ein Denkfehler zu Grunde liegt. Das Scharnier seines Argumentes – wenn ich ihn recht verstanden habe – ist die Unterscheidung von “Möglichem” und “Wirklichem”, seine Klage richtet sich gegen die Begrenztheit des Wirklichen angesichts der Unendlichkeit des Möglichen.

    Ich komme mit meinem Gegenargument sicher auf (philosophisch) dünnes Eis, aber ich will versuchen, es naturwissenschaftlich zu unterfüttern. Kern des Argumentes: ich halte die Unterscheidung von “Möglichem” und “Wirklichem” für falsch. Es gibt nur Wirkliches. Pointierter formuliert: auch der Wahn ist Wirklichkeit, auch der Traum.

    Die vielzitierten “Möglichkeitsräume” sind Bewusstseinsräume. Sie sind insofern “wirklich” als sie durch wirkliche Hirnvorgänge instantiiert werden (Sie dürfen hier nach Belieben auch die Worte “produziert”, “repräsentiert”, “abgebildet”, “superveniert”, “epiphänomenalisiert” etc. pp. einsetzen. Das Argument, das ich zu entwickeln versuche, sollte gegenüber den verschiedenen Lösungsversuchen des Leib-Seele-Problems invariant sein). Halten wir fest: Möglichkeiten sind Wirklichkeiten, indem sie mit wirkliche Hirnvorgängen zusammenhängen.

    Nun pflegen wir unsere Hirnvorgänge/Bewusstseinsvorgänge grob in zwei Klassen zu sortieren: jene, die in mehr oder weniger unmittelbarem Zusammenhang mit einer äusseren, jetzt gerade vorhandenen objektiven “wirklichen Wirklichkeit” zusammenhängen, und eben jene, die wir als “innere Wirklichkeiten” ansehen. Paradebeispiele für die erste Klasse sind natürlich momentane Sinneseindrücke und Handlungen. Die zweite Klasse: das sind eben die Bewusstseinvorgänge in den Möglichkeitsräumen. Hirnanatomisch und -physiologisch gibt es, wenn ich recht informiert bin, keinerlei Möglichkeit diese beiden Klassen zu unterscheiden. Auch die Alltagserfahrung lehrt uns ja, dass uns – zum Bespiel im Deja vu – die Erinnerungsräume und die momentanen Sinneseindrücke durcheinander geraten können.

    Ein Dualist oder Materialist wird an dieser Stelle einwenden, dass das Kriterium der Unterscheidung natürlich der logische oder kausale Bezug des jeweiligen Gehirn-/Bewusstseinsvorganges zur objektiven, äusseren “wirklichen Wirklichkeit” sei, mit dessen Hilfe man die Unterscheidung jederzeit (wieder) herstellen kann. Es lassen sich aber meiner Ansicht nach etliche Gegenargumente anführen. Zum einen ist jede Aussage über die äussere, “wirkliche Wirklichkeit” wieder über einen Bewusstseins-/Hirnvorgang vermittelt. Zum zweiten ist bekannt, dass dieses Kriterium zumindest beim Wahnkranken versagt – nein, man sollte lieber sagen: der Wahnkranke sortiert seine Bewusstseins-/Hirnvorgänge nach anderen Kriterien. Die Kriterien sind also nicht universell gültig.

    Natürlich muss ich zugeben (schon um dem Vorwurf zu entgehen, selber wahnsinnig zu sein), dass es Klassen von Hirn-/Bewusstseinsvorgängen gibt, die auf besondere Art miteinander zusammenhängen. Diejenigen, die sich auf die äussere, “wirkliche Wirklichkeit” beziehen, zeichnen sich tatsächlich dadurch aus, dass sie den Regeln der Logik, der Kausalität und dem Prinzip der sparsamsten Erklärung genügen. Und, sicherlich das wichtigste Kriterium: sie haben den Charakter überprüfbarer Vorhersagen, sie lassen sich in “falsche” und “vielleicht richtige” sortieren (-> Querverweis auf Sir Karl Popper). Jedoch: die Abgrenzung gegen die Bewusstseins-/Hirnvorgänge der “Möglichkeitsräume” ist nicht scharf (m.E. sogar unmöglich). Wenn ich denke: “es gibt Kentauren”, dann lehrt mich der Blick in die Biologiebücher, dass das falsch ist. Momentan. Und auf der Erde. Anderswo könnte es aber Kentauren geben. Jetzt. Und wenn die Gentechniker so weitermachen, können wir vielleicht hier auch welche bauen. Andere Chimären gibt es ja schon en masse. Es ist also, mit anderen Worten, so, dass sich die Hirn-/Bewusstseinsvorgänge des “Möglichkeitsraumes” nicht prinzipiell von denen der “wirklichen Wirklichkeit” unterscheiden – es ist eine Frage des Grades. Die der “wirklichen Wirklichkeit” sind jetzt, hier, innerhalb des räumlichen und zeitlichen Horizontes, der mir zugänglich ist, auf ihre Richtigkeit überprüfbar. Die des “Möglichkeitsraumes” könnten früher, später, jetzt (aber anderswo) ebenso “richtig” oder “falsch” sein. Sie haben, in Poppers Worten, den Status nicht überprüfbarer Hypothesen. Notabene aber: noch nicht oder nicht mehr überprüfbarer Hypothesen, jedoch den Charakter von Hypothesen, die man wahr machen kann. Wir können Kentauren bauen: wir müssen es nur wollen. Fliegen haben wir schliesslich auch gelernt. Und, noch mal nota bene: es sind Hypothesen, ebenso wie die, die sich auf die “wirkliche Wirklichkeit” beziehen.

    Zusammenfassend: Möglichkeiten sind Wirklichkeiten indem sie wirkliche Hirnvorgänge sind. Möglichkeiten sind Wirklichkeiten, indem sie jenseits unseres Erfahrungshorizontes bereits Wirklichkeit sein oder gewesen sein könnten. Möglichkeiten sind Wirklichkeiten, indem sie dazu gemacht werden können.

    In gewisser Weise (um die Sache noch ein wenig naturwissenschaftlich zu unterfüttern) ist diese Argumentation symmetrisch zu der der “Everettschen Vielweltentheorie” aus der Quantenmechanik. Auch die Schrödinger-Gleichung beschreibt Möglichkeitsräume. Im Falle der Messung eines Quantensystems wird eine dieser Möglichkeiten ausgewählt (ein Teilchen “erscheint”, wird “wirklich”, sog. “Zusammenbruch der Wellenfunktion”, alle anderen Möglichkeiten werden “annihiliert”, sie verschwinden im Nichts). Everetts Interpretation des “Verschwindens” ist radikal. Er behauptet, dass die anderen, bei dieser Messung nicht aufgetretenen Möglichkeiten gar nicht verschwinden, sondern sich gleichzeitig in “Paralleluniversen” manifestieren, die sich aber hinter den Beobachtungshorizont des Beobachters, der die Messung machte, zurückziehen. Auch hier wird die Unterscheidung “möglich/wirklich” aufgehoben.

    Oje, ist das lange geworden.
    Aber die Bücher von Musil sind’s ja auch.

  9. Ich bin begeistert

    Liebe Kommentatoren, aus irgendeinem Grund hat mich das System über Ihre letzten Kommentare bedauerlicherweise nicht informiert – um so erstaunter, ja glücklicher war ich, nun diese Texte von Ihnen, Herrn Wicht und Herrn Koenneker zu finden, und ich möchte nun direkt reagieren.

    Mein eigenes Unbehagen mit einer Freiheit, die logisch mit dem Determinismus vereinbar ist, habe ich mittlerweile in einem zweiten Text unter derselben Kategorie beschrieben (Also “determinierte Freiheit”?).

    Das Statement von Herrn Wicht – Freiheit liegt im Sein, nicht bzw. weniger im Tun – kommt geradezu präkognitiv in die Nähe der Überlegungen, die ich eigentlich so nach und nach an verschiedenen Baustellen vorbereiten und dem Leserkreis unterbreiten wollte.

    Letztlich wurzelt das Problem der Willensfreiheit in einer bestimmten Weise der überpersönlichen Weltbetrachtung, die auf Abstraktion in unterschiedlichem Grade beruht (nämlich Abstraktion vom Vorgang des Beobachtens). Die verschiedenen Welten, die hier auf jedem Abstraktionsniveau gleichsam entstehen, lassen sich nun schlecht zusammendenken, sodass sich die Frage nach einer Entscheidung aufdrängt.
    Die überpersönlich-wissenschaftliche Sichtweise ist heute sehr dominant, auch extrem leistungsfähig – aber ist sie auch dem Phänomen von Freiheit angemessen? Ich meine damit, ob es angemessen ist, buchstäblich alles (und auch das Phänomen Freiheit) in dieser objektiven Welt der Wissenschaft finden zu müssen und es ansonsten als unwirklich und illusionär zu betrachten?

    Meine Überlegungen zielen hierhin: Wissenschaft gründet nicht in sich selbst, sie setzt Wirklichkeit und die Fähigkeit zu beobachten immer schon voraus. Also sollte man hier, am Grund (im “Sein”), nach dem suchen, was vielleicht etwas hilflos traditionell als Seele, Geist, Personalität, Freiheit usw. angesprochen wird.

    Das wird hier alles noch richtig spannend!

  10. Determinismus und Verantwortlichkeit

    Beide widersprichen sich nicht denn:
    Bei einem deterministischen System wird der Systemzustand (und damit die nächst Handlung) zu einem bestimmten Zeitpunkt durch die Vergangenheit des Systems eindeutig bestimmt (determiniert).
    Der Mensch ist ein deterministisches System, das in die Umwelt (bestehend aus Natur und Mitmenschen) eingebettet ist.
    Sein Verhalten wird daher sowohl durch seinen inneren Systemzustand, als auch durch den Zustand der Umwelt bestimmt. Umwelteinflüsse bestimmen also sein Verhalten mit.
    Jetzt kommt der Punkt: Was heißt in diesem Zusammenhang „Verantwortliches Handeln“?
    Dazu ein Beispiel: Sie fahren mit dem Auto und vor Ihnen spielt mitten auf der Strasse ein Kind.
    Verantwortlich Handeln heißt, Sie verlangsamen, hupen und fahren vorsichtig darum herum.
    Unverantwortlich wäre es, stur weiterzufahren. Sie müssten sich dann, wenn das Kind verletzt wird, vor Gericht verantworten.
    Die Fähigkeit eines deterministischen Systems Verhaltensregeln – die zum Erhalt des Überlebens in der Gemeinschaft dienen- einzuhalten bezeichne ich als „Fähigkeit zum verantwortlichen Handeln“. Die Fähigkeit verantwortlich zu Handeln ist also eine Eigenschaft eines deterministischen Systems auf äußere Zwänge so zu reagieren, dass die „gesellschaftliche Regeln “ (die zum besseren Überleben in der Gemeinschaft dienen) erfüllt werden.
    Also, erstens ein deterministisches System kann von außen beeinflusst werden, wir sind ein solches System.
    Zweitens wir können so beeinflusst werden, dass wir gesellschaftliche Regeln einhalten, dann handeln wir verantwortlich.
    Der scheinbare Widerspruch zwischen: „Wir sind ein deterministisches System“ und „Wir sind für unser Handeln verantwortlich“ löst sich dadurch, dass wir nur ein Teilsystem (in unserer Umwelt) sind und wir „Verantwortlichkeit“ dadurch definieren, dass wir als deterministisches System die Fähigkeit haben auf Signale aus dieser Umwelt so reagieren, dass wir nicht „bestraft“ werden. Diese Fähigkeit kann je nach der Beschaffenheit des „deterministischen Systems Mensch“ – genetisch oder durch Umwelteinflüsse bedingt – verschieden stark ausgeprägt sein.

  11. Verantwortung im Determinismus

    Verantwortung läßt sich auch im Determinismus begründen. Dies habe ich in meinem Aufsatz “Die Einheit der Person – Zur Frage der Begründung von Verantwortung im Determinismus” genauer ausgeführt. Die Kernthese ist:
    Das Gefühl der Verantwortlichkeit erwächst aus der Überzeugung, dass die eigene Person durch ihre Handlungen und Motive (Gedanken, Gefühle, unbewusste Vorgänge) geprägt und bestimmt ist. Diese Identität ist aus der Innensicht durch das bestimmt, was man tut, denkt und fühlt. Aus der Außensicht ist sie bestimmt durch die Gesamtheit der geistigen und physischen Vorgänge, die im eigenen Körper ablaufen.
    Würde die Person sich nun von den eigenen Handlungen distanzieren in dem Sinne, nicht sie sei der Täter gewesen, sondern die Moleküle oder Neuronen, die zwangsläufig die Handlungen bewirkt hätten, so wäre diese Distanzierung die Verleugnung der eigenen Identität. Da jedoch die Person der Innensicht und die der Außensicht identisch sind, kann sie sich nicht aus der Außensicht von ihren Handlungen distanzieren. Ich, als Person, kann nicht behaupten, die in mir ablaufenden chemischen und physikalischen Vorgänge haben mit mir nichts zu tun.
    Eine solche Distanzierung wäre nur möglich, wenn die Handlung durch erkennbare äußere Einflüsse (Alkohol, Drogen) bestimmt ist. Bei nicht gestörtem Bewusstsein jedoch ist die Einheit der Person in der Innen- wie der Außensicht und ihre Kontinuität zwischen gestern und heute nicht bezweifelbar. Diese Aussage bildet das Fundament unserer Begründung der Verantwortung. Wer daher die Kontinuität und Einheit der Person bestreitet, kann Verantwortung nicht mehr begründen, unabhängig davon, ob der Determinismus zutrifft oder nicht. Denn wenn die Person von gestern nicht mehr die Person von heute ist, existiert keine Person mehr, der Verantwortung zuzuschreiben wäre.”

    Der Aufsatz kann heruntergeladen werden von http://www.widerspruch.com

  12. Freiheit und Determinismus

    Zu meinem Beitrag zur Verantwortung im Determinismus noch einige Ergänzungen: Aus der Annahme der Einheit der Person folgt, dass es fair ist, von jemandem zu verlangen, die Verantwortung für seine Handlungen durch das nachträgliche Bekenntnis zur Tat zu übernehmen. Er ist der Urheber, und die Tat ist untrennbar mit ihm als Person verbunden. Bekenntnis von Schuld bedeutet in diesem Sinne: Anerkennung des eigenen Fehlverhaltens.
    Diese neue Sichtweise auf die Verantwortung ist auch im Determinismus gültig. Denn hier ist nicht der Freiheitsbegriff, der die Fähigkeit zur Erstauslösung unterstellt und mit dem Determinismus unvereinbar ist, die Grundlage der persönlichen Verantwortung, sondern die Annahme der Kontinuität und Einheit der Person, die den Urheber mit der Tat und ihren Folgen verbinden. Die Schuld wird dadurch persönlich, dass die Person sich zur Tat bekennt; sie kann sich aus diesem Bekenntnis nicht fortstehlen, ohne sich zugleich als Person zu verleugnen.
    Übrigens wird diese Verantwortung gerne übernommen, wenn es nicht um Bestrafung, sondern um Belobigung geht. Meines Wissens hat noch keiner sein Diplom oder den Nobelpreis mit dem Argument verweigert, nicht seiner Person sei die Leistung zuzuschreiben, sie sei vielmehr nach Naturgesetzen zwangsläufig entstanden.

    Gibt es im Determinismus trotzdem einen freien Willen?
    Die subjektive Empfindung freier Entscheidungsmöglichkeit ist das, was im Sprachgebrauch als „freier Wille“ bezeichnet wird. Aus der Innenperspektive wird er vor einer Entscheidung wahrgenommen, nämlich in den Augenblicken, in denen wir abwägen, vergleichen und nach unseren Maßstäben bewerten.
    Aus der Außenperspektive manifestiert sich ein freier Wille durch die Fähigkeit, zwischen realistischen Handlungsoptionen zu wählen. Sich zu entscheiden, vollzieht sich allerdings nach der Anschauung des Determinismus nach Naturgesetzen, in Abhängigkeit von den Bedingungen kurz vor dem Augenblick der Entscheidung. Man entscheidet sich, ohne den Entscheidungsprozess zu kontrollieren.

  13. Zwischen Determinismus und Verantwortung

    @ Eugen Muchowski & Heinz Georg Schuster

    Diese von Ihnen ins Feld geführte Art der “Verantwortung” kann dann aber nicht mehr aus moralischen oder ethischen Erwägungen des Individuums heraus stattfinden. Sie ist ebenso determiniert wie die Tat, für die Verantwortung übernommen werden soll.

    In einem vollständig determinierten Universum ist es bereits ebenso determiniert (also “vorherbestimmt”), ob ein Täter im Nachhinein irgendwann zu seiner vergangenen Tat steht oder nicht – inklusive aller seiner eventuellen zukünftigen moralischen Einsichten über die Vergangenheit. Die “individuelle” Entscheidung über Schuldeingeständnis oder Schuldverleugnung kann innerhalb des Paradigmas des Determinismus nicht vom Individuum kommen, denn innerhalb dieses Determinismus gibt es keinerlei Freiheit für eine von der Zukunft zumindest teilweise unabhängige Entscheidung (da alle zukünftigen Gedanken, Gefühle und Schlussfolgerungen bereits durch vergangene [Gehirn]-Zustände völlig determiniert sind).

    Dass äußere, gesellschaftliche oder andere Umwelteinflüsse Einwirkungen auf das Gehirn des Individuum haben können, kann innerhalb eines strengen Determinismus trotzdem keinen Spielraum für “verantwortliches” Denken und Handeln bieten, da sich Innenwelt und Außenwelt in diesem Falle ja nicht werte- und bedeutungsmäßig aufeinander beziehen, weil sie Sinn ineinander erkennen, sondern weil sie das Resultat vergangener deterministischer Zustände sind, die eben – zufällig? – zu einer mehr oder weniger sinnvollen Korrelation zwischen Innen- und Außenansicht geführt haben. Im Bild des absoluten Determinismus – scheint – es also nur so zu sein, dass Innen- sowie Außenwelt gegenseitig situationsbezogen aufeinander eingehen können. Initiiert wurden diese – erstaunlichen – Korrelationen gemäß deterministischem Denken aber bereits, als das deterministische Uhrwerk vor Jahrmilliarden begann, vor sich hin zu ticken. Eine Analogie wäre die, in einem einzigen Durchgang gleichzeitiger Münzwürfe mit schier unendlich vielen Münzen ein sehr, sehr langes, zusammenhängendes, sinnvolles bzw. signifikantes Muster zu finden, beispielsweise lauter Kopf- oder Zahlwerte hintereinander oder andere statistisch hochsignifikante Folgen. Ob die Anfangsbedingungen unseres Universums einem solch erstaunlichen aber nichtsdestotrotz zufälligen Muster entsprechen oder tatsächlich einen tieferen Sinn haben, den das Individuum aus sich selbst heraus deduzieren kann, lässt sich wohl kaum entscheiden innerhalb der Begrifflichkeiten von Zufall und Notwendigkeit. Innerhalb der Begrifflichkeit des absoluten Determinismus, der keinen Spielraum jedweder Art kennt, denke ich, kann Verantwortung nicht sinnvoll postuliert werden ohne dass sich dieses Postulat gleichzeitig selbst ad absurdum führt.

  14. @Stefan Weckbach

    Es wäre ein Trugschluss, zu glauben, im Determinismus gäbe es für das Individuum keinen Handlungsantrieb. Das Individuum handelt auch im Determinismus nach eigenen Antriebskräften. Nicht mal zum Fatalismus hat das Individuum nach Anschauung des Determinismus eine Wahl.

    Wenn man sich aber mit der Frage beschäftigt, ob Verantwortung und persönliche Schuld auch im Determinismus tragfähige Begriffe sind, muss man sich davon frei machen, dass damit trotzdem die Möglichkeit faktischen Andershandeln Könnens noch denkbar ist. Das ist es nicht. Die Frage der Verantwortung muss ganz anders angegangen werden.

    Was ist denn moralische oder strafrechtliche Schuld?
    Strafrechtliche Schuld ist laut Brockhaus die individuelle Vorwerfbarkeit eines rechtswidrigen Verhaltens. Schuld bedeutet Verantwortlichkeit für rechtswidrig begangene Taten. Schuld und Verantwortung sind Begriffe, die erstens der Innenwelt zuzurechnen sind und damit weder durch eine naturalistische Beschreibung des Menschen zu fassen noch durch objektive Messinstrumente zu erfassen sind. Zweitens ergeben sie nur im sozialen Umfeld einen Sinn.
    Wem schreiben wir denn Verantwortung zu? Keiner Maschine und keinem Tier, sondern einer Person und die besteht aus Innenwelt und Körper.
    Kann sich der Täter mit dem Argument entschuldigen, nicht ich bin verantwortlich, sondern verantwortlich sind die in mir ablaufenden physikalischen und physiologischen Prozesse, die naturgesetzlich gesteuert zwangsläufig die Tat bewirkt haben?
    Er kann es nicht, denn wegen der Einheit der Person kann er sich nicht darauf berufen, die in ihm ablaufenden physikalischen und physiologischen Prozesse hätten nichts mit ihm zu tun. Andernfalls würde er sich als Person verleugnen. Die Person der Innensicht und der Außensicht sind identisch. Daher ist die Tat ihm auch individuell vorzuwerfen. Anders handeln zu können ist also für die Vorwerfbarkeit nicht erforderlich. Sobald wir von einer Person sprechen, müssen wir die mit ihr verbundenen physischen Bestandteile und Prozesse ihr zuordnen und können sie nicht mehr als unabhängiges System auffassen. Sie bilden zusammen mit der geistigen Person eine Einheit.
    Man könnte nun einwenden, es gäbe gar keine Person und deswegen auch keine Verantwortung, sondern das, was wir als Person ansehen, ließe sich auf ein naturalistisches Objekt reduzieren. Dies ist aber nicht möglich, denn die innere Erlebniswelt des Menschen ist nicht deckungsgleich mit der experimentell zu erschließenden Außensicht und somit lässt sich der Mensch nicht vollständig naturalistisch zu beschreiben. Der Zustand des Gehirns eines verliebten Menschen kann noch so umfassend wissenschaftlich vermessen werden, wie sich das anfühlt, können uns die Geräte nicht sagen. (Qualia Problem) Es gibt also eine Person, die ein Bewusstsein von sich selbst und ihrer Umwelt hat, die damit einzigartig ist und der wir deswegen Verantwortungsfähigkeit zuschreiben.

  15. teilweise Zustimmung

    @ Eugen Muchowski

    “Er kann es nicht, denn wegen der Einheit der Person kann er sich nicht darauf berufen, die in ihm ablaufenden physikalischen und physiologischen Prozesse hätten nichts mit ihm zu tun. Andernfalls würde er sich als Person verleugnen”

    Abgesehen davon, dass es überwältigend viele Fälle gibt, in denen sich eine Person durch Lüge vor der Verantwortung drückt – siehe Politik – und sich damit selbst verleugnet (siehe Judas in der Bibel u.ä. wie z.B. “ich kann mich an nix mehr erinnern”, “damit habe ich nichts zu tun”, “hörte Stimmen, die mir befahlen…” etc. pp) gibt es für mich einen anderen Punkt, der mir interessant erscheint und den ich oben bereits erwähnte.

    Wenn wir tatsächlich annehmen, er konnte nicht anders als eine Straftat begehen, da er physikalisch und physiologisch determiniert war (und ist), heißt dass nicht zwangsläufig, diese Prozesse hätten nichts mit ihm zu tun. Da er Teil des gigantischen kosmischen Zahnradgefüges ist haben diese Prozesse sicherlich – zu einem verschwindend kleinen Teil – mit ihm selbst zu tun. Es heißt aber m. E. unter obiger Annahme betrachtet zwingend, dass diese Prozesse nicht von ihm verursacht wurden.

    “Kann sich der Täter mit dem Argument entschuldigen, nicht ich bin verantwortlich, sondern verantwortlich sind die in mir ablaufenden physikalischen und physiologischen Prozesse, die naturgesetzlich gesteuert zwangsläufig die Tat bewirkt haben?”

    Falls der Täter wirklich an den strengen Determinismus glaubt, kann er sich damit entschuldigen (falls der Determinismus tatsächlich zutrifft und nicht nur ein “Glaube” ist, “kann” er das natürlich nicht, denn sein Verhalten ist determiniert und wir wissen nicht, ob ein bestimmter Täter sich dann tatsächlich derart “rausreden” wird; dies ist determiniert aber für uns nicht im Voraus berechenbar; es hat in letzterer Auflösung tatsächlich nichts mehr mit der Person des Täters zu tun). Ob dass die Gesellschaft, die Richter etc. genauso sehen, ist freilich wieder eine andere Frage, da es sich ja nicht streng beweisen lässt, dass es diesen Determinismus wirklich gibt. Dass andere Menschen an etwas anderes glauben, bedeutet aber noch nicht, dass dieses Etwas auch tatsächlich so existiert.

    Der Einheit der Person des Täters würde ein solcher Glaube oder gar die ontologische Realität dieses Determinismus keinen Abbruch tun, denn wie Sie bereits – meiner Meinung nach richtig – sagten, lässt sich die innere Erlebniswelt vermutlich nicht vollständig naturalistisch analysieren (was sich jedoch schwierig wasserdicht beweisen lässt). Daher kann jemand sich wieder “besseren Wissens” vor oder nach einer Tat sehr wohl innerlich mit einem freien Willen ausgestattet denken oder fühlen, weil die relevanten Prozesse, die zur Handlung gehören, auch zur Person gehören, obschon diese Prozesse für ihn “wohlweislich” nicht von seiner eigenen Person verursacht wurden (da die Kausalkette ja nicht erst bei ihm beginnt, sondern beim Urknall o.ä.). Es gibt also im Determinismus, wenn man ihn als ernsthafte Voraussetzung aller Geschehnisse betrachtet, den Unterschied zwischen “ich denke und fühle mich frei” und “ich bin tatsächlich determiniert”.

  16. @Stefan Weckbach – 3 Gedanken

    1. “… lässt sich die innere Erlebniswelt vermutlich nicht vollständig naturalistisch analysieren (was sich jedoch schwierig wasserdicht beweisen lässt).”
    Um irgendetwas naturalistisch beschreiben zu können, muss man sich darauf verständigen, wie man diesen Gegenstand durch ein geeignetes Messverfahren objektiv bestimmt, so dass sich jeder durch Anlegen der vereinbarten Messinstrumente von der Beschaffenheit des Gegenstandes überzeugen kann. Dies ist aber für die innere Erlebniswelt nicht möglich. Sie wird nur durch die Person erkannt, zu der sie gehört. Um dieses klar zu machen, versuchen Sie doch einmal, sich in eine Katze zu versetzen.

    2. Es ist kein Problem, sich frei zu fühlen und trotzdem determiniert zu sein. Wenn Sie einen Willen entwickeln, dann ist das Ihr eigener Wille, egal wie er zustande kommt. Das philosophische Problem ist das Problem der Verantwortung.

    3. Determinismus bedeutet nicht unbedingt, dass Alles für alle Zukunft festgelegt ist, sondern dass alle für uns wahrnehmbaren Vorgänge durch Naturgesetze bestimmt sind. Dies schließt auch die Möglichkeit des Zufalls ein, dessen Existenz von Physikern nicht bestritten wird und der durch die Unschärferelation beschrieben wird.

    Haben Sie meinen Aufsatz zur Verantwortung im Determinismus schon gelesen? Darin habe ich viele der von Ihnen angesprochenen Fragen behandelt. Sie können ihn herunterladen von http://www.widerspruch.com. Siehe auch mein Beitrag in brainlogs vom 30.7.2008.

  17. einige Gedanken zu den 3 Gedanken…

    @Eugen Muchowski

    Zu 3.: Sie schrieben…:
    “Determinismus bedeutet nicht unbedingt, dass Alles für alle Zukunft festgelegt ist, sondern dass alle für uns wahrnehmbaren Vorgänge durch Naturgesetze bestimmt sind. Dies schließt auch die Möglichkeit des Zufalls ein, dessen Existenz von Physikern nicht bestritten wird und der durch die Unschärferelation beschrieben wird.”

    Auf welche Spielart des Determinismus beziehen Sie sich eigentlich in Ihren bisherigen, in diesem thread gemachten Ausführungen zum Problem der Verantwortung im Determinismus (universell gültige Wellenfunktion mit objektivem Zufall, Kollapstheorien, strenger Determinismus mit verborgenen Parametern etc. pp)??

    Wenn

    “alle von uns wahrnehmbaren Vorgänge durch Naturgesetze bestimmt sind”,

    dann tappen Sie ja wieder in die gleiche Falle. Dann ist das durch eine Person wahrnehmbare Innenleben ebendieser Person eben nicht durch Verantwortungsfähigkeit und “freien Willen” selbstbestimmt, sondern per Definition durch Naturgesetze fremdbestimmt und damit unserem „willentlichen“ Zugriff entzogen.

    Zu 2.: Sie schrieben…:
    “Wenn Sie einen Willen entwickeln, dann ist das Ihr eigener Wille, egal wie er zustande kommt. Das philosophische Problem ist das Problem der Verantwortung.”

    Eben nicht. Das wäre lediglich die “Innensicht” der Dinge. Die zentrale Frage in dieser Diskussion ist jedoch, welcher Spielart des Determinismus die objektive “Außenwelt” (einschließlich der “Innenansicht”) tatsächlich unterliegt. Da wir das jedoch nicht zweifelsfrei wissen, ist es eben für die philosophische Frage nach Verantwortungsfähigkeit nicht egal, wie ein Wille prinzipiell zustande kommen könnte. In dem von mir in den obigen Beiträgen skizzierten strengen Determinismus (mit oder ohne den “objektiven” Zufall) gibt es so etwas wie “Wenn Sie einen Willen entwickeln, dann ist das Ihr eigener Wille, egal wie er zustande kommt” nicht, da Sie, ich und unsere “Innenansichten” (und auch die aller anderen denkbaren Personen) nichts “entwickeln” könnten, sondern wir alle von einem Rechenalgorithmus (mit oder ohne Zufallsparameter) “abgearbeitet” werden. „Verantwortung“ wäre hier mit „Zufall“ gleichzusetzen, was widersinnig wäre.

    Falls dieser von mir ins Feld geführte strenge Determinismus jedoch nicht auf die Realität zutreffen sollte, gibt es auch kein philosophisches Problem der Verantwortung mehr, da es dann kaum noch eine rationale Begründung dafür geben könnte, die Erfahrungstatsache der (teilweisen) inneren Freiheit der Person sei als nicht objektiv vorhanden zu deuten.

    Zu 1.: Sie schrieben…:
    “Um irgendetwas naturalistisch beschreiben zu können, muss man sich darauf verständigen, wie man diesen Gegenstand durch ein geeignetes Messverfahren objektiv bestimmt, so dass sich jeder durch Anlegen der vereinbarten Messinstrumente von der Beschaffenheit des Gegenstandes überzeugen kann. Dies ist aber für die innere Erlebniswelt nicht möglich. Sie wird nur durch die Person erkannt, zu der sie gehört.”

    Diese Ihre Anmerkung ist eine vermutlich von den meisten Menschen geteilte Erfahrungstatsache. Ob es auch eine wissenschaftliche Tatsache für alle Zeiten ist, möchte ich einmal dahingestellt sein lassen. Eine weitere Erfahrungstatsache ist zumindest für mich, dass Menschen auf Äußerungen, Internetbeiträge, Handlungen etc. anderer Menschen sinnvoll und verständig reagieren können. Das ist für mich ein weiteres Indiz dafür, dass Verantwortung im Determinismus überhaupt nicht begründet werden muss. Nicht etwa, weil es keine Verantwortung gäbe, sondern weil es echten freien Willen und eben keinen derartigen Determinismus gibt, der ein philosophisches Problem für die Frage nach der Verantwortungsfähigkeit einer Person implizieren könnte. Damit erübrigt sich auch das Lesen Ihres Aufsatzes.

  18. RICHTIG!!!
    Ich bin genauso der Meinung, dass die Folgen der Erkenntnisse der Hirnforscher (z.B. Determinismus) nicht unbedingt im Wiederspruch zu Begriffen wie Verantwortung stehen!

    Den selben Gedankengang findet man schon bei Schopenhauer meisterlich ausgedrückt in seiner “Preisschrift zur Ethik”.

  19. Theorienfesseln

    Die Frage nach einem “freien Willen” gründet auf dem Glauben an ein wie auch immer geartetes Selbst, welches den Erscheinungen “gegenübersteht”. Ist da kein wie auch immer geartetes Selbst, stellt sich diese Frage erst gar nicht. So ist weder das Konstrukt “einer Willensfreiheit” noch das Konstrukt “keiner Willensfreiheit” auch nur irgendwie von Belang.

  20. @Voggenberger

    Aber Zahlen gibt es? Und Gedanken?

    Die Physik ist eine Gedankengebäude – doch Gedanken (= wahrheitsfähige Entitäten) können prinzipiell niemals Gegenstand physikalischer Beobachtung und damit Theorienbildung werden. Physik ist eklatant unvollständig hinsichtlicher der Beschreibung der Wirklichkeit.

    Ihr langweilt mich, Ihr Physikalisten und Positivisten und Empiristen mit Eurem eindimensionalen und grässlich verkürzten Wirklichkeitsbegriff: “wirklich ist was ich anfassen kann”! Lol!

    Ihr steht noch nicht einmal im Vorhof zum Tempel der Philosophie …

  21. @Hoppe

    Da liegt wohl ein Missverständnis vor. Ich argumentiere in erster Linie aus einem buddhistischen Blickwinkel heraus, obgleich es natürlich auch eine sehr enge Verbindung zur Naturwissenschaft gibt. Warum der Ärger? Es gibt nichts Wesentliches zu verlieren. Nur Ansichten, welche sich auf diesem erwähnten Glauben gründen. In der Tat, der “Tempel der Philosophie” ist voll damit.

  22. @buddhistisches Argumentieren

    Das geht nicht: erst dem Selbst und dem Denken, die Existenz absprechen – und dann munter drauf los argumentieren (auf der Basis von Nichtdenken).

    Mir leuchtet ein, dass man keine Probleme mehr hat (u.a. philosophischer Natur), wenn man sich das Denken im Hier und Jetzt abgewöhnt. Ja, und ein “Ich” hat man dann auch nicht mehr.

    So bleibt niemand mehr übrig, der mit nichtigen Gedanken zu irgendetwas argumentieren könnte.

    Der Ärger richtet sich nicht gegen sie, sondern dagegen, dass der Buddhismus es irgendwie geschafft hat, heute für besonders wissenschaftsaffin gehalten zu werden. Und die Erde ist eine Scheibe …

  23. Buddhismus

    Im Buddhismus wird das Ich/Bewusstsein als flüchtige Illusion betrachtet, da es nicht dauerhaft existiert, sondern dauernd neu aus dem vorhandenen Wissen neu entsteht.

    D.h. die Ansicht (Voggenberger) es gäbe kein Ich/Selbst lässt sich aus dem Buddhismus nicht ableiten.

  24. Kein Beobachter

    Man soll natürlich denen nicht glauben, die da behaupten, wenn da kein Denker ist, müsse auch Denken verschwinden. Das wäre nur Ausdruck der Identifikation mit dem Glauben an einen Gegenpol zu Denken: “Wenn das Gegenüber verschwindet, müsse auch Denken verschwinden”.

    Dieses “Gegenüber” kann aber nicht verschwinden; es gibt kein Gegenüber, das irgendwann verschwinden könnte bzw. verschwinden müsste. Auf die konkrete Praxis bezogen wäre diese daraus resultierende Gedankenleere nur ein gekünstelter Bewusstseinszustand auf Basis eines Konstrukts, welches aufgrund von Nichtwissen bedingt entsteht. Diese irrige Vorstellung fand ich u.a. auch bei J. Krishnamurti.

    “Denker & Gedachtes” sind Konzepte. So wie “Sehender & Gesehenes”. Der Bildschirm verschwindet nicht, nur weil diese Konzepte verschwinden, ist denn mal klar geworden, wie es sich mit diesem erwähnten Glauben verhält.

    Und mehr als ein (irriger) Glaube ist es nicht, worauf sich u.a. diverse Gedankenspiele betreffend eines “freien Willen” gründen.

    Auch die Vorstellung “es gäbe keinen freien Willen” basiert auf dem irrigen Glauben an ein wie auch immer geartetes Selbst, welches den Erscheinungen gegenübersteht. In diesem Fall nennt er sich: ohne mich. Diese Vorstellung geht wovon aus? Eben, von einem Gegenpol zu: Erscheinungen. Besser gesagt, von einem “leeren Gegenpol” zu: Erscheinungen. Die konkrete Konsequenz wäre “Automatismus”. Klarerweise ist das nur Dissoziation basierend auf dem erwähnten Glauben.
    Ob nun “freier Wille” oder “kein freier Wille” spielt von Natur aus keine Rolle. Beides sind Vorstellungen basierend auf sowas ominöses wie einem Denker, Sehenden, Hörenden, Fühlenden bzw. einem “Subjekt”, einem “Beobachter”; also Irgendwas recht ominöses das hinter den Dingen steckt:”Da muss es doch noch was anderes geben. Das kann nicht alles sein.”

    Manche nennen dieses ominöse “Dahinter” “Gott”, manche “Leerheit”, manche “freier Wille” bzw. “kein freier Wille”. Letztendlich ist das alles nur ein aufgeblähtes Selbst, und dieses ist nicht mehr als eine irrige Vorstellung aus der Leid entsteht.

  25. @KRichard

    Die fünf Skandhas sind leer von einem “Selbst”. Da ist kein “Selbst”, welches ein wie auch immer gearteter Gegenpol zur Wahrnehmungsgruppe (Sehen, Hören, Fühlen usw.) sein könnte. Die “Nicht-Ich” Vorstellung basiert ebenso wie die “Ich/mein-Vorstellung” auf dem irrigen Glauben an solch einen Gegenpol. Also auf “Nichtwissen”.

  26. Satôri

    Satôri ist nicht höchstes Bewusstsein, sondern ursprüngliches Bewusstsein, die Wurzel des Bewusstseins, der Anfang des Bewusstseins, das Licht des Bewusstseins – aber doch nicht das Ende des Denkens.

    Selbstverständlich findet die Erfahrung, dass ich als identische Person einem Anderen begegne und darüber nachdenke, im Licht des Bewusstseins statt, das ursprünglich die von Ihnene erwähnte Eigenschaft der Leere (nicht zuletzt: der Sinnleere) hat. – Aber dass diese Erfahrung durch Satôri ermöglicht wird, heißt ja nicht, dass sie eine Illusion sei: sie ist ganz und gar real, gerade im Lichte von Satôri.

    Im Zen reitet der erleuchtete Ochsenhirte am Ende genauso zum Markt wie zu Beginn – es hat sich gar nichts geändert.

    Es macht keinen Sinn, philosophische Debatten durch Rekurs auf das präreflexive Jetzt des Buddhismus zu unterlaufen. Und man soll sich auch nicht vormachen, dass man sich so ohne Weiteres aus den Denkstrukturen befreien kann, die unseren Alltag regulieren. Auch der begnadedste Zen-Meister plant seine Kurse, seine Vortragshonorare und seine Anreisezeiten. Ich. Ich. Ich.

  27. @ Hoppe

    H: “Satôri ist nicht höchstes Bewusstsein, sondern ursprüngliches Bewusstsein, die Wurzel des Bewusstseins, der Anfang des Bewusstseins, das Licht des Bewusstseins – aber doch nicht das Ende des Denkens.”

    V: Es geht wie bereits erwähnt nicht um ein Ende des Denkens. Es geht um das Ende irriger Vorstellungen, welche dieses geisterhafte Konstrukt zur Basis haben. Dazu gehört auch die Fage nach einem “freien Willen”. Natürlich darf man zahlreiche Spekulationen darüber anstellen bis der Tempel der Philosophie überquillt. Welchen Wert diverse Spekulationen haben, die nachweislich von einer völlig falschen Grundannahme ausgehen, steht wiederum auf einem anderen Blatt.

    Neuropsychologe Dr. Hans Mustermann auf der Suche nach “dem freien Willen?” Die Idee worauf sich seine Arbeit gründet und hervorgeht ist bloß ein irriges höchst ominöses Konzept. Das ist natürlich ganz und gar nicht “wissenschaftlich”. Dasselbe gilt natürlich auch für Prof. Herbert Mustermann, einem Kognitionswissenschaftler, der aufzeigen möchte, daß “wir keinen freien Willen haben.” Zwei Seiten einer Medaille.

    H: Selbstverständlich findet die Erfahrung, dass ich als identische Person einem Anderen begegne und darüber nachdenke, im Licht des Bewusstseins statt, das ursprünglich die von Ihnene erwähnte Eigenschaft der Leere (nicht zuletzt: der Sinnleere) hat. – Aber dass diese Erfahrung durch Satôri ermöglicht wird, heißt ja nicht, dass sie eine Illusion sei: sie ist ganz und gar real, gerade im Lichte von Satôri.”

    V: “Im Lichte nicht-konzeptuellem Wissens, welches von sich aus ohne jegliches Subjekt-Objekt Konzept ist, spielen diverse Theorienfesseln welche sich auf Nichtwissen (also dem erwähnten Glauben) gründen naturgemäß keine Rolle. Das ist Freiheit. Freiheit von Vorstellungen wie “Willensfreiheit” ebenso wie Freiheit von Vorstellungen wie “keine Willensfreiheit”.

    H: Im Zen reitet der erleuchtete Ochsenhirte am Ende genauso zum Markt wie zu Beginn – es hat sich gar nichts geändert.

    V: Das ist richtig. Die ganze Suche war scheinbar für die Katz’. Da suchen sie z.b. nach einem Denker, Sehenden, Hörenden usw., finden nichts vor und verweilen in dieser Nichtauffindbarkeit. Sie machen aus dem Fakt, daß da z.b. nur Denken ist und kein irgendwie geartetes Gegenüber dazu ein Konzept, was sich in einem gekünsteltem Bewusstseinszustand äussert.

    Das hält jedoch nicht lange an. Jedes “Satori” vergeht. Dann kommen sie zurück zur Situation, wie sie sich vor ihrer Suche die ganze Zeit über schon präsentiert hat und sind recht traurig, weil sie ihr Satori verloren haben. Dann begeben sie sich wieder auf die Suche. Und kommen zurück. Da muss ja mehr sein, da muss ja was anderes sein. Ebendiese Suche ist Ausdruck des erwähnten Glaubens.
    Was aber, wenn man aus dem Fakt, daß da z.b. immer nur Denken ist, aber kein wie auch immer geartetes ominöses Gegenüber, eine Entscheidung trifft, anstatt in irgendeiner Nichtauffindbarkeit zu verweilen? Das ist der Punkt, an dem dieses Ochsenbild greift. Was ist die Folge einer solchen Entscheidung? Das vorher erwähnte nicht-konzeptuelle Wissen. Und das hat mit einem bedingten Bewusstsein recht wenig am Hut.
    H: Es macht keinen Sinn, philosophische Debatten durch Rekurs auf das präreflexive Jetzt des Buddhismus zu unterlaufen.

    V: Letzten Endes spielt “der Buddhismus” keine Rolle. Die “Natur der Dinge”, um auf einen anderen Beitrag von Ihnen zu verweisen, ist ja nicht “buddhistisch”. Es geht auch nicht um ein “präreflexives Jetzt”. Wem es darum geht, verweilt in der vorher erwähnten Nichtauffindbarkeit, was einen gekünstelten Bewusstseinszustand, eine Vertiefung darstellt. Das ist nicht die Natur des Geistes.
    H: Und man soll sich auch nicht vormachen, dass man sich so ohne Weiteres aus den Denkstrukturen befreien kann, die unseren Alltag regulieren. Auch der begnadedste Zen-Meister plant seine Kurse, seine Vortragshonorare und seine Anreisezeiten. Ich. Ich. Ich.

    V: Es geht nicht darum, “sich aus solchen Denkstrukturen zu befreien.” Das wäre wiederum nur eine Suche. Es geht um die Akzeptanz dessen wie es sich präsentiert. Und wie es sich präsentiert, ist alles leer von einem wie auch immer gearteten Gegenpol zu dem was erscheint. Nur ist das noch nicht klar. Um das zu akzeptieren, muss man sich natürlich vorher auf die Suche machen und grundlegend daran scheiteren.

  28. @ Voggenberg

    Okay, Sie sind in die typische Facon de parler des Buddhismus abgedriftet. “Nicht-konzeptuelles Wissen”, “Natur des Geistes” – das kenne ich alles und habe es Gott sei Dank hinter mir.

    Hier wollen wir zu den philosophischen und wissenschaftlichen Themen diskutieren. Wenn Sie das für von vornherein verfehlt halten, wäre es wohl schlüssig, wenn Sie darauf keine Zeit verschwenden.

    Sie werden uns von der Sinnlosigkeit dieser Fragen jedoch nicht überzeugen.

  29. H: Okay, Sie sind in die typische Facon de parler des Buddhismus abgedriftet. “Nicht-konzeptuelles Wissen”, “Natur des Geistes” – das kenne ich alles und habe es Gott sei Dank hinter mir.

    V: Sie können gut und gerne auch eine andere Terminologie für “Nicht-konzeptuelles Wissen” oder der “Natur des Geistes” verwenden. Die “Natur der Dinge” scheint Ihnen ja recht sympathisch. Es spielt keine Rolle, die deutsche Sprache ist reich. In der Tat ist dieses besagte Wissen auch von wissenschaftlichem Interesse, hat es doch mit Bewusstsein recht wenig am Hut. Es tut mir natürlich leid, daß ihr Ausflug in den Buddhismus eine Bruchlandung war. Gott und jedwede andere Bestätigung für ein irriges Selbstbild wird man dort tatsächlich nicht finden. Aber letztendlich braucht es dafür keinen Buddhismus. Es genügt hinzusehen wie es sich präsentiert. Wenn Sie jemals einen Denker, Sehenden, Fühlenden, Hörenden usw. ausserhalb ihrer konstruierten Vorstellungen wie und wo auch immer finden, sagen Sie es mir bitte rechtzeitig. Es wäre eine Sensation.
    H: Hier wollen wir zu den philosophischen und wissenschaftlichen Themen diskutieren. Wenn Sie das für von vornherein verfehlt halten, wäre es wohl schlüssig, wenn Sie darauf keine Zeit verschwenden.

    V: Wir halten es für verfehlt, auf Basis eines ominösen Geisterglaubens welcher der Diskussion um den freien Willen zugrunde liegt, zu behaupten, man würde sich hier wissenschaftlichen Themen zuwenden. Die meisten Philosophen beschränken sich bezüglich dieses Themas meist nur auf utopische Gedankenexperimente. Also nichts als heisse Luft. Selbst die Analytiker dieser Zunft.

    H: Sie werden uns von der Sinnlosigkeit dieser Fragen jedoch nicht überzeugen.

    V: Wir können Eure Hoheit nicht von etwas überzeugen, was offensichtlich ist.

  30. Zum Abschluss

    “Es gibt keine Erleuchtung, die zu erlangen oder die nicht zu erlangen wäre.” (Herz-Sûtra)

    Ich weiß die “Entdeckung” des Jetzt, die ich dem Zen verdanke sehr wohl zu schätzen und ich lebe in der offenen Weite, abhold jeder Wahl, nichts von heilig. (wo denn sonst?)

    Aber Sie unterliegen einem Irrtum, wenn Sie glauben, hierdurch werde auch nur ein Problem gelöst oder als illusionär erledigt. Buddhisten glauben am Ende eben doch an Vieles – und hören mit dem Denken leider gerne genau dann auf, wenn es spannend wird.

    Das betrifft übrigens nur den “Buddhismus” in westlicher Rezeption. Es gibt wohl kaum eine Religion, die so spekulationsfreudig ist wie der originäre Buddhismus …

    Sie zeigen auf Dies hier jetzt.
    Und ich sage: Ist klar! Aber was hat das mit Philosophie zu tun? mit Wissenschaft?

  31. @Hoppe

    Lieber Herr Hoppe,

    “die Entdeckung des Jetzt” mag eventuell auch ein Eckhart Tolle toll finden, nur hat das mit der Natur des Geistes – so wie ich es im tibetischen Dzogchen “gelernt” habe – recht wenig am Hut. Dieses “Jetzt” ist nur ein gekünstelter Fokus, mehr nicht. Das gilt natürlich auch für diese “offene Weite”, von welcher vor allem Cittamatrins gerne berichten.

    Nein, es geht hier um ein “Wissen” im besten Sinn des Wortes. Dieses “Wissen” ist in keiner Weise von dem was erscheint aufzudröseln und völlig sich aus ohne jegliches Subjekt/Objekt-Konzept.

    Fast fühle ich mich dabei entfernt an die berühmt-berüchtigte Gödel/Turing-Argumenation von Roger Penrose erinnert.

  32. @Voggenberger

    Wir kommen uns doch noch näher …!

    Die Philosophie trifft bei all ihren Grundfragen am Ende immer auf die dialektische oder substanziierende “Natur” der Begriffe -und stellt sich damit denkend immer in unlösbare Dualismen. Das gilt auch für die Freiheitsthematik (Freiheit gegen Determinismus), aber auch für Begriffe wie Geist (gegen Materie), Gott (gegen Welt), Selbst (gegen das Andere) usw.

    Unser Erkennen ist im Akt des Erkennens ursprünglich eins und vollkommen – und dennoch sind darin unterscheidbar der Erkennende (Subjekt), das Erkannte (Objekt) und die gewonnene Erkenntnis (Gedanke/Wissen). Es gilt dann: Ich bin nicht das Andere. Ich bin nicht mein Gedanke. Der Gedanke ist nicht, was er denkt. — Und doch ist im ursprünglichen Erkennen alles eins. Ursprüngliches Erkennen ist in einem tiefen Sinne Liebe und Weisheit. Ganz einfach.

    Dzogchen eben.

    Oder – christlich – Trinität: d.h. Erkennen und Lieben als Teilhabe am Leben des dreifaltigen Seinsgrundes; denn der Seinsgrund – die Bedingung der Möglichkeit von Existenz und Erkennen bzw. personalen Wirklichkeitsverhältnissen – wird als unauflösliche Einheit von Vater (Sein), Sohn (Logos, Erkennen) und Geist (vollkommenes Erkennen, Liebe) gedacht.

    Eins – und doch drei. Einheit und doch Vielfalt und echte Andersheit. Gott – und doch die reale Existenz freier Personen, die sich frei zu Liebe und Erkennen entscheiden können.

    Dzogchen – und Philosophie. No opposite.