Zeitschriften auf Papier?

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Wahrheiten als Querdenkerisches verkleidet, von Gunter Dueck
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„Auf Papier? Ja, sicher – der Mensch will aus biologischen Gründen immer lesen wollen und nicht in die Glotze schauen! Das ist erwiesen.“ So beruhigen sich die mit Zeitschriften und Büchern befassten Unternehmen. Kongresse darüber finden heute extra zu dieser besagten Großen Rhetorischen Frage statt und bejahen sie stramm und tapfer. Ich habe bei so einem Kongress Leute erschreckt, glaube ich. Papier stirbt nämlich.

Ich bin ein so genannter Visionär, weil ich solche Fragen ja nicht in meinem Interesse beantworten muss. Ich versuche wirklich zu sehen, was wirklich kommt. Die Erfahrung zeigt, dass es sehr, sehr oft genau so kommt, wie man im ersten Augenblick dachte, aber viel später. Wir können uns mühelos eine große Veränderung vorstellen, so wie da Vinci schon den allgemeinen Flugverkehr kommen sah. Ikarus erkannte schon vor 3000 Jahren, dass man Hitzeschildplättchen gegen atmosphärisches Verglühen … Viel später! In den achtziger Jahren sagten manche, der Computer würde Arbeitsplätze vernichten. Da lachten die meisten. Als die PCs mit großen Speicherplatten aufkamen, machte die Idee vom papierlosen Büro die Runde, aber es stellte sich heraus, dass die meisten Leute auch Drucker dazukauften und viel mehr Papier denn je verbrauchten. Heute aber habe ich selbst einen Laptop mit allem Funkzubehör und 1400 Gramm Gewicht dabei. Ich arbeite überall – im Zug, zu Hause, im Park, im Flughafen. 1400 Gramm wiegt mein ganzes Büro! Wehe, Sie kommen mir jetzt mit Akten! Da stöhne ich auf und bitte um ein pdf-File. Sehen Sie? Jetzt, erst jetzt, kommt das papierlose Büro, und es lacht niemand mehr. Es ist viel später gekommen. Warum später? Die Infrastruktur muss sich günstig verändern – und das dauert.
Viele Jahre wurde die Film-Kamera totgeredet – alles digital! Aber die Leute fotografierten wie gewohnt. Die Filmhersteller und Silberhersteller lachten. Aber auf einmal konnte man Papierbilder von Digicams im Supermarkt bestellen, auf einmal schickten sich Teens Bilder auf Handys herum, auf einmal hatten fast alle einen PC zum Anschauen oder einen Dia-Show-tauglichen DVD-Recorder! Da brach der analoge Markt in kürzester Zeit zusammen. Viel später – als keiner mehr lachte.

So wird es mit den Zeitschriften aus Papier geschehen. Sie werden noch lange bleiben und später – viel später – ganz plötzlich an einer neuen Infrastruktur sterben, die das Neue wirklich besser aussehen lässt. Schauen Sie doch bitte einmal nicht wie gebannt auf die Papiermaschinen und die Kioske. Studieren Sie einmal bitte nicht wichtige Beratungsstudien mit Ihren eigenen Herstellermeinungen, die dort als Diagramme aufbereitet werden. Schauen Sie stattdessen, wie sich die Infrastruktur verändern wird! Und diese sieht später so aus:

Alle PCs sind im Netz – ich meine, unser Speicherplatz ist irgendwo auf einem IBM Großrechner, auf den wir über ein Internethandy zugreifen, das IMMER online ist. Wir haben einen PAPIERartigen elektronischen Faltbildschirm immer dabei, auf dem wir alles anschauen können. Da wir immer online sind, muss kein Computer angeschaltet und hochgefahren werden. Alles ist einfach da. Die Bandbreite stieg in den letzten Jahren von 64 kB pro Sekunde (ISDN) auf 16 MB pro Sekunde (DSL) – stellen Sie sich also für später zum Beispiel 256 GB vor. Alles kommt dann hochaufgelöst in Echtzeit, überall hin. Man wird Zahlungssysteme erfunden haben, die Zenti-Euro-Cents abrechnen können, wie es heute nur die Telekoms tun (1,3 Cents pro Minute für 10 Sekunden „Hallo, gut angekommen!“). Wir können Fernseher auf Internet umschalten und haben riesige Wandbildschirme im Wohnzimmer, auf denen wir auch per Kamera auf die Essgruppe der Kinder abbilden können, die gerade in Japan studieren. Der OTTO Katalog hat keine Bilder mehr, sondern Kleinstvideos mit den Produkten und die Models oder Sie selbst als Avatar können sich per Mausklick an- und ausziehen. Bei Musik in schönem Ambiente.

Sehen Sie – all das kommt ziemlich sicher, aber eben später. Es dauert, bis wir Platz für Riesenbildschirme machen – wo sollen denn die Wohnwände hin und die Ziertassen aus den Schubladen, die wir zur Hochzeit bekamen? Langsam aber wird die neue Infrastruktur etwas zulassen, was großartiger ist als die gedruckte Zeitschrift. Zuerst wird die Werbung Großartigeres produzieren und die Papierzeitschriften links liegen lassen wollen, wenn die nicht mitziehen. Dann müssen die Zeitschriften aber doch immer mindestens vom Inhalt her besser sein als die Werbung, oder?

Die Inhalte werden sich verändern, wenn die Infrastruktur andere Inhalte zulässt. Das, was ein Artikel sein wird, wird sich ändern, das haben wir heute bei der Vorführung der Live-Pages schon ahnen kön-nen. Es wird Zwischenstufen geben! Ich könnte mir vorstellen, dass zu jedem herkömmlichen Artikel RFIDs auf das Papier gedruckt werden können, die interessante Bildinfos auf ein daran schnupperndes Handy schicken können. Hinter einem Artikel über Bayern München ist also ein RFID gedruckt, das kleine Handyfilmchen der Torszenen enthält, die man sich zum Sammeln aufheben kann. Eine solche RFID-Lösung kann das Papier noch eine Weile erhalten und zu einem großen Geschäft für Sie führen. Es wäre denkbar, dass das RFID-Signal einen Dezi-Cent auf die Telefonrechnung setzt, nicht wahr?

Auf irgend so eine Art wird nach dem papierlosen Büro auch die papierlose Zeitschrift und die papierlose Gesellschaft folgen, glauben Sie mir. Leider beruhige ich Sie ja die ganze Zeit mit der Feststellung, dass alles viel später kommt. Da lehnen Sie sich vielleicht zurück. Aber ich sagte auch die ganze Zeit: dann kommt „es“ meist ziemlich plötzlich. Und gerade dann werden die existierenden Papiermaschinen auch wieder nicht abgeschrieben sein. Sollte der Wandel aber allmählich kommen – so wie das derzeitige Aufrollen des Buchhandels durch Amazon, was sich schon zehn Jahre hinzieht – ja dann stände es fast schlimmer um Sie. Das kleine Wachstum des Marktes würde andauernd vom Neuen weggesogen und das alte Papierne muss lange Zeit in stagnierenden Märkten ächzen.

Dann erfinden Sie doch alle lieber an der neuen Zeit?! Nehmen Sie lieber die Zukunft selbst in die Hand, anstatt das offene Bekenntnis zur Papierlosigkeit als Mutlosigkeit zu brandmarken oder als Verrat oder Nestbeschmutzung zu verachten. Bestimmen Sie die Medien der Zukunft! Machen Sie Ihren Weg frei. Papier ist geduldig, aber nicht unsterblich.

Da fällt mir ein, dass neulich jemand sagte: „Lokale Tageszeitungen sind wegen der Todesanzeigen – damit man weiß, wer gestorben ist.“

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www.omnisophie.com

Bei IBM nannten sie mich "Wild Duck", also Querdenker. Ich war dort Chief Technology Officer, so etwas wie "Teil des technologischen Gewissens". Ich habe mich viel um "artgerechte Arbeitsumgebungen" (besonders für Techies) gekümmert und über Innovation und Unternehmenskulturen nachgedacht. Besonders jetzt, nach meiner Versetzung in den Unruhestand, äußere ich mich oft zum täglichen Wahnsinn in Arbeitsumgebungen und bei Bildung und Erziehung ein bisschen polarisierend-satirisch, wo echt predigende Leidenschaft auf Stirnrunzeln träfe. Es geht mir immer um "artgerechte Haltung von Menschen"! Heute bin ich als freier Schriftsteller, Referent und Business-Angel selbstständig und würde gerne etwas zum Anschieben neuer Bildungssysteme beitragen. Ich schreibe also rund um Kinder, Menschen, Manager und Berater - und bitte um Verzeihung, wenn ich das Tägliche auch öfter einmal in Beziehung zu Platon & Co. bringe. Die Beiträge hier stehen auch auf meiner Homepage www.omnisophie.com als pdf-download bereit. Wer sie ordentlich zitiert, mag sie irgendwo hin kopieren. Gunter Dueck

3 Kommentare

  1. Zeitschriften

    wird es schon allein deshalb immer geben, weil man mit einem Laptop keine Fliegen erschlagen kann!
    Aber im Ernst: Das Buch ist ein technisch perfektes Produkt, ähnlich dem Fahrrad und daher nicht kaputtzukriegen. Ein Buch ist ein Buch ist ein Buch. Mit dem Laptop im Internet rumsurfen ist einfach eine andere Tätigkeit, die nicht einfach das Bücherlesen substituieren kann. Wir hören ja auch Radio, obwohl es schrecklich unanimiert ist.

  2. Nicht Papier ist unmodern, sondern das Lesen

    Besser ist ein elektronisches Medium, um mal schnell was zu finden und es dann schnell zu konsumieren. Weil die Betonung auf schnell liegt, muß die Information kompakt sein. Bilder ersetzen längere Texte, Videoclips ersetzen viele Bilder. Läßt sich die Inforamtion nicht auf diese Weise komprimieren oder transportieren, dann gibt es nur zwei Möglichkeiten: Oberflächlich werden oder sich viel Zeit nehmen, mit dem Buch auf das Sofa legen und im Schein der Stehlampe sich ganz unelektronisch von den Gedanken des Autor entführen lassen.

    Man muß gar nicht visionär denken:
    Schon heute nehmen junge Menschen alle wesentlichen Informationen über Bilder auf. Das Ende des Zeitungsjournalismus und der Belletristik ist damit besiegelt. Das Schreiben werden vieleicht schon meine Enkel nicht mehr lernen brauchen. Das wird auch kein elektronisches Papier verhindern.

  3. Infrastruktur und Inhalt reichen nicht.

    Es muss sich auch die Kultur ändern. Nehmen wir als Beispiel die Mikrowelle: die war in den 1950ern schon alltagstauglich (brauchte zwar den Platz eines Kühlschranks, aber das war in den nicht kriegszerstörten Ländern, v.a. USA kein echtes Problem). Doch erst als es nicht mehr allgemein üblich war die Hauptmahlzeiten gemeinsam im Familienkreis zu nehmen konnte sich die Mikrowelle durchsetzen.

    Die Kultur der Rezeption dessen was wir heute noch in Zeitschriften finden oder durch ihre Lektüre bekommen wird sich gewaltig ändern (wie schon) — das ist mE der Hauptgrund für das “aber eben später”, denn “jetzt, erst jetzt” wird der Schlußstein existieren, der die Brücke tragfähig macht. Und auf einmal latschen alle drüber.