Landwirtschaft in die Schulen!

BLOG: Vom Hai gebissen

Notizen aus dem Haifischbecken
Vom Hai gebissen

Vermutlich friert gleich die Hölle zu, aber ich muss jetzt einfach mal Temple Grandin widersprechen. In einem kürzlich geführten Interview beklagte sie die zunehmende Entfernung der (jungen) Stadt-Menschen von der Landwirtschaft. Damit ist sie in großer Gesellschaft. Beinahe täglich lese ich Ähnliches und Menschen aus der Landwirtschaft fordern eben diese in Schulen präsenter darzustellen.

Ich erwähnte schon mal beiläufig das Buch “The Cow” von Jared van Wagenen. Die digitalisierte und von mir gelesene Ausgabe stammt aus dem Jahr 1922. Wenn die These Grandins und vieler anderer stimmt, war hier – zu Zeiten der Kartoffelferien also – alles besser. Schauen wir mal.

Some years ago one of the educational institutions, in furthering its nature-study work, asked the school children to draw an outline picture of a cow. One pupil in New York City sent in a sketch —certainly original—showing a cow with udder extending from the hind legs to the forelegs. I suppose the youngster had taken the pattern from the good old text-book picture of Romulus and Remus suckled by the she-wolf; but the child had never known a cow, perhaps had never seen one.

(Vor einigen Jahren bat eine Bildungseinrichtung ihre Schülerinnen und Schüler um Einsendngen selbst gezeichneter Kühe. Das Bild eines New Yorker Schülers – zweifellos echt – zeigte eine Kuh, deren Euter über die ganze Unterseite verlief.)

His experience of country things was much like that of another pupil in the same city who thought clover was part of a box because a certain article of food had come into his home in a container with a clover-leaf brand.

(Ein anderer Schüler aus der gleichen Stadt hielt Klee für einen Teil einer Kiste, weil mal Lebensmittel in einer Kiste Klee aus Markenzeichen geliefert wurden.)

We who live in the open fields little realize what crude mental pictures of animals and plants lie in the minds of thousands of our people.

(Wir, die draußen auf dem Land leben, realisieren oftmals nur sehr wenig, welch haar-sträubende Vorstellungen von Pflanzen und Tieren sehr viele unserer Mitmenschen in den Städten haben.)

Ups.

Nochmal: wir reden hier von der Situation zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Es hätte sicher niemand gestutzt, wenn ich diese Zitate mit aktuellen Jahreszahlen deklariert hätte. Was also mittlerweile wie eine dem Zeitgeist entsprungene Kritik erscheint, ist tatsächlich gut 100 Jahre alt.

Zweifellos muss etwas in der Aufklärung passieren, schon allein deshalb, damit wir nicht gleich jedem Skandal auf den Leim gehen, den irgendjemand – aus den verschiedensten Gründen – dafür hält. Aber das passiert schon. Die Wege der Kommunikation haben sich verändert, sie haben vieles erleichtert. Der Austausch über Netzwerke ist direkter geworden, Zielgruppen verschwimmen. Und das Interesse der Stadt-Menschen ist da, andernfalls hätte ich hier schon längst die Flaggen gestrichen.

Das Buch van Wagenens bietet neben den erwähnten Beispielen noch viele weitere Belege für die äußerst problematische Vereinnahmung des Zeitgeistes. Sorgen wir uns heute um die Entfremdung von Mensch und Tier durch die Entwicklung von Melkrobotern, trug man diese Sorge auch 100 früher vor sich her – bei der Entwicklung von Melkmaschinen. Ist die Jugend von heute völlig verblödet, war sie es auch 100 Jahre zuvor schon.

Oder in den Worten Jochen Malmsheimers: Früher war nichts besser, ganz sicher war aber vieles früher.

Brauchen wir also Landwirtschaft in den Schulen? Für Menschen aus der Landwirtschaft mag die Antwort auf der Hand liegen. Andererseits sind sie nicht die einzigen, die etwas fordern. Für Menschen, die sich eher der Technologie rund um Computer und das Netz verschrieben haben, ist ebenso klar, dass wir gefälligst moderne Computer und Programmier-Kenntnisse in der Schule brauchen. Ach, die Schulzeit-Verkürzung nicht zu vergessen. Das geht für mich nicht richtig zusammen, wenn ich ehrlich bin. Das Wecken von Interesse funktioniert nach anderen Mechanismen als das Stopfen von Gänsen.

Das weiß sicherlich auch Temple Grandin.

In diesem Sinne baut der Teufel gerade seine ersten Schneemann.


Weitere Hinweise

Veröffentlicht von

Wissenschafts- und Agrarblogger seit 2009 – eher zufällig, denn als „Stadtkind“ habe ich zur Landwirtschaft keine direkten Berührungspunkte. Erste Artikel über Temple Grandin und ihre Forschungen zum Thema Tierwohl wurden im Blog dann allerdings meiner überwiegend ebenfalls nicht landwirtschaftlichen Leserschaft derart positiv aufgenommen, dass der Entschluss zu einer stärkeren Beschäftigung mit der Landwirtschaft gefallen war. Auch spätere Besuche bei Wiesenhof und darauf folgende Artikel konnten die Stimmung nicht trüben. Seit 2015 schreibe ich auch gelegentlich für das DLG-Blog agrarblogger.de, teile meine Erfahrung in der Kommunikation als Referent und trage nebenbei fleißig weitere Literatur zum Thema Tierwohl zusammen. Auf Twitter bin ich unter twitter.com/roterhai unterwegs.

14 Kommentare

  1. Hallo Sören,

    vielleicht sei noch der Hinweis erlaubt, dass die Entfernung von der tatsächlichen Produktion und Verarbeitung (!) der Lebensmittel sehr stark bereits im 19. Jahrhundert einsetzte. Verwiesen sie auf die schöne Dissertation von Vera Vierholzer “Nahrung nach Norm – Regulierung der Nahrungsmittelqualität in der Industrialisierung 1871 – 1914”. Übrigens wurden die Veränderungen wohl in der Bevölkerung insgesamt als Fortschritt und Verbesserung der Qualität wahrgenommen. Es war wirklich nicht alles besser.

    OC

    • Grüß Dich Olaf,

      das ist ein sehr guter Punkt. Mir fiel erst nach der Veröffentlichung des Artikels noch der Aspekt des beruflichen Wandels ein, dass also weniger Menschen direkt in die Landwirtschaft involviert waren.

  2. Hi,
    ich oute mich hier mal als Waldorfvater (*inDeckunggeh*). An Waldorfschulen gibt es verschiedene Ansätze, Landwirtschaft in den Lehrplan zu integrieren. Grundsätzlich gibt es das an allen WS. Wie das organisatorisch abläuft kann aber entsprechend der lokalen Gegebenheiten sehr unterschiedlich sein. Meine Ausführungen beziehen sich auf die Freie Waldorfschule Evinghausen (www.waldorfschule-evinghausen.de) in der Nähe von Osnabrück:
    3 Klasse: die sog. Landbauepoche. Die Kinder arbeiten im laufenden Unterricht auf einem Feld direkt neben der Schule. Dort werden die grundlegenden Arbeiten überwiegend von Hand erledigt. So z.B. Pflügen, Eggen, Säen. Das Pflügen machen die echt teilweise per Hand. Den Rest dann der Bauer mit dem Schlepper. Pferd wurde auch schon mal eingespannt. Im letzten Jahr ging die Klasse 3 Wochen jeden Tag für einige Stunden auf einen nahe gelegenen Hof, wo auch Tiere gehalten werden. Später im Jahr wird dann mit Sensen gemäht, Garben gebunden und später per Hand gedroschen. Wir haben auch ein Backhaus, wo dann Brot gebacken wird.
    Das ist natürlich Museum pur. In der dritten Klasse geht es aber auch vorrangig darum, den Kinder durch das unmittelbare Erleben eine emotionale Bindung zur Urproduktion zu vermitteln.

    9. Klasse: 3 Wochen Landbaupraktikum. Bei uns übernachten die Schüler gemeinsam in der Schule und werden zum täglichen Arbeiten auf umliegende Betriebe “verteilt”. Gleich vorweg: Das sind natürlich nicht alles Biobetriebe sondern auch konventionelle Veredelungsbetriebe oder Milchviehhalter. Dort erfahren die Kinder dann etwas über die Wirklichkeit auf den Betrieben. Da sie sich jeden Abend wieder treffen, gibt es einen regen Austausch.
    Für Schulen, die nicht im ländlichen Umfeld liegen, gibt es mittlerweile sog. Erlebnisbauernhöfe, die derartige Praktika für ganze Klassengemeinschaften anbieten. Dazu habe ich aber keinerlei Erfahrungen.

    Nicht direkt Landwirtschaft ist noch das Küchenpraktikum: 7. Klasse. Immer 2 Kinder einer Klasse arbeiten 2 Wochen lang am Vormittag in der Schulküche mit. In unserer Schulküche wird von einem professionellen Team frisch gekocht. Die Zutaten stammen soweit verfügbar von Erzeugern aus der unmittelbaren Nachbarschaft.

    Aus meiner Erfahrung ist das ein wertvoller Ansatz. Zwar sehr zeitaufwändig für die Kinder und die organisierenden Lehrkräfte. An Schulen in der Stadt ist das sicher auch nicht umzusetzen. Die Kinder finden es nicht immer toll (um es mal vorsichtig auszudrücken). Abfällige Äußerungen über Landwirtschaft hört man von ihnen danach aber nicht mehr.

    Gruß
    Kai

    • Hallo Kai,

      das wirkt auf mich gerade ziemlich geil. Hätte daran wohl auch Spaß gehabt 😀 Ein spannendes Konzept, aber eben eine Waldorfschule, was ich erstmal völlig wertfrei schreibe. Das Konzept ist eben ein anderes. Mit Deinem letzten Absatz bestätigst Du ja meine Befürchtung, wie sich zusätzlicher Unterricht an “normalen” Schulen auswirkt.

      Danke Dir für den Einblick!

    • Hallo Kai,
      da hast du mir fast das Wort aus’m Mund genommen 🙂
      Das Landbaupraktikum und die Landbauepoche gibts auch in der Stadt (z.B. hier in Leipzig). Ich find’s toll, aber bloss weil ich der komischen Meinung bin, man solle wissen, wo’s Essen herkommt und das es Arbeit macht es anzubauen, bzw. aufzuziehen, zu melken, zu schlachten, etc.. Vielleicht beschweren sich die Leute, die das mal selbst gemacht haben, dann eher nicht wenn der Liter Milch zehn cent teurer wird.

      @Sören: Den Satz liebe ich “Das Wecken von Interesse funktioniert nach anderen Mechanismen als das Stopfen von Gänsen.”

      • Tja nu, wenn immer alle nur ihren eigenen Bereich bewerben ohne nach links und rechts zu schauen, kommt aber genau das dabei raus. Lernen als Mast-Vorgang 😀

    • Aus eigener Erfahrung bin ich mir nicht sicher, ob ein Tag dafür wirklich der Brüller ist, sprich: ob das wirklich den Aufwand rechtfertigt. Wenn man es richtig machen will, knallt da eine Menge Stoff auf die Kinder ein, dazu die visuellen Reize, Gerüche etc. Die sind nach einer Stunde aufnahmetechnisch wohl am Ende.

      • Das sehe ich anders! Die meisten Kinder freuen sich, wenn sie einen Tag auf einem Bauernhof verbringen dürfen. Auf der Website der Landwirtschaftskammer Schleswig-Holstein werden sogar Angebote für Kindergeburtstage gemacht.
        http://www.lksh.de/verbraucher/lernen-durch-erleben/kindererlebnisse-bauernhofpaedagogik/
        in manchen Gegenden gibt es auch einmal im Jahr einen “Tag des offenen Bauernhofs”, der jedes Mal ein voller Erfolg ist: http://www.tag-des-offenen-bauernhofes.de/

        • Da haben wir uns wohl missverstanden. Ich habe keine Zweifel daran, dass so ein Tag auf dem Bauernhof für die Kinder ein großer Spaß ist. Allerdings treibt mich eher die Frage um, was von so einem Tag übrig bleibt. Was ich wirklich gut finde, ist das Angebot für ein Jahr einen Bauernhof zu besuchen. Das klingt wirklich vielversprechend. Nicht nur, dass das sicher Spaß macht. sondern die Kinder haben auch Zeit, um Eindrücke zu verarbeiten und nachzufragen, wenn etwas unklar ist.

          • Nach einem Tag auf dem Bauernhof kann man zumindest abschätzen, ob sich ein Kind überhaupt für das Thema interessiert. Als mein Sohn noch klein war machten wir mal eine Woche Urlaub auf einem Bauernhof. Er fand das Ganze auch irgendwie interessant, vor allem die Katzen hatten es ihm angetan, aber der Funke sprang anscheinend nicht über. Beim Abschied meinte die Bäuerin dann auch, dass sie die Katzen nur wegen der Ferienkinder angeschafft hätte, weil sich eben nicht alle Kinder für Kühe begeistern könnten.

          • Damit bestätigst Du ja meine These, dass ein Tag sicherlich Spaß macht, aber eben nur für ein Reinschnuppern reicht. Ist das Interesse dann geweckt, muss das für weitere Besuche genutzt werden.

  3. Finde das alles komplizierter. Viele Lebensbereiche erschließen sich Heranwachsenden nicht besonders, weil alles komplexer wird. Über die Produktion von vielen anderen Dinge, die im täglichen Leben eine Rolle spielen, weiß man auch nicht viel. Da wäre auch mehr Praxisbezug wünschenswert. Andererseits wird kritisiert, das Schulen immer öfter Grundfertigkeiten nur unzureichend vermitteln, die Zahl der funktionalen Analphabeten steigt statt abzunehmen usw.
    Schüler über Landwirtschaft zu informieren ist sicher wünschenswert, aber es wird ja schon deutlich, dass nicht klar ist, wie ein sachlich informativer Einblick gelingen kann.
    Dem Walldorf-Konzept stehe ich eher skeptisch gegenüber, da mir der ideologische Hintergrund eher fremd ist, und ich eine eher sachbezogene Herangehensweise vorziehen würde. (Da sind sinnliche Erfahrungen durchaus eingeschlossen, aber nicht so pädagogisch auf vorgegebene Einstellungen hinzielend).

    • Hallo Kathrin,

      das ist ja eben mein Punkt. Fordern ist leicht, wie sich das dann vernünftig umsetzen ließe, ist etwas ganz anderes. Bildungspolitik wie Aale verkaufen (und ich pack noch einen drauf) kann nicht die Lösung sein.

      Der Hintergrund der Waldorf-Schulen ist mir auch nicht allzu sympatisch. Kais Schilderung fand ich aber schon faszinierend. Bzgl. der sinnlichen Erfahrungen kommt man um diese kaum herum auf einem Bauernhof, es sei denn man hält sich Nase und Ohren zu 😉

Schreibe einen Kommentar