Zu Besuch bei der Rosa-Luxemburg-Stiftung

BLOG: un/zugehörig

Wien. Heidelberg. Berlin: ein israelischer Blick auf Deutschland
un/zugehörig

In der "Auflösung der Judenfrage. Zum Bild des Juden im Spielfilm der DDR", meiner vor ca. vier Jahren entstandenen, im Internet übrigens zur Gänze kostenlos abrufbaren Magisterarbeit, kam ich (je nach Fragestellung) zu verschiedenen Ergebnissen, u. a. zu einem zwiespältigen, das ich zunächst erklären möchte, damit meine Begegnung in der Rosa-Luxemburg-Stiftung späterhin verständlich wäre:
 
Einerseits ist das Jüdische – insbesondere im Zusammenhang mit der nationalsozialistischen Judenverfolgung, aber gelegentlich auch mit anderen Schwerpunkten – weit häufiger in der SBZ/DDR thematisiert worden als in jedem anderen vergleichbaren Land der Welt. Man denke etwa an die BRD, die ihre filmische Auseinandersetzung erst mit dem 1979 aus den USA importierten (!) Fersehmehrteiler "Holocaust" begann, während in der SBZ bereits 1947 unter der Regie von Kurt Maetzig die eigene, qualitativ sehr anspruchsvolle DEFA-Produktion "Ehe im Schatten" entstand, auf die bis zur Auflösung der DEFA noch elf andere Spielfilme und zwei Fernsehmehrteiler mit jüdischer Gegenwart folgten.
 
Andererseits konnte ich mit empirischen Mitteln aus diesem umfangreichen Quellenmaterial eine jüdische Gruppenidentität herausarbeiten, die leer bzw. entleert ist (dabei habe ich – im Gegensatz zu anderen Forschern wie etwa Frank Stern – vorausgesetzt, dass eine Figur nur insofern "jüdisch" ist, als dies für die Zuschauer überhaupt wahrnehmbar gemacht wird). Durch die Darstellung jüdischer Figuren wird in diesen Filmen – meistens übrigens mit ähnlichen Techniken – eine Vorstellung vom Juden mindestens implizit vermittelt, in der die Juden im Grunde genommen allen anderen Figuren gleich, d.h. ganz gewöhnliche Menschen sind oder es gerne wären, wenn sie es nur könnten. Der Unterschied wird ihnen von den Nazis, Antisemiten und sonigen Bösen wie etwa ausgegrenzten Orthodoxen aufgezwungen, weshalb die unterschiedliche Gruppenidentität des normalen Juden (i. d. R. des Protagonisten) auf die Verfolger zurückzuführen sei.
 
Da nicht die Juden selbst, sondern die Nazis diejenigen sind, welche die Juden zu Opfern machen, d.h. den Juden das Opfersein aufzwingen, wird die Möglichkeit, dass es sich um ein Schicksal des Opferseins oder um ein dem Judentum selbst innewohnendes Problem handelt, aufs Strengste abgelehnt und ausgeschlossen. Stattdessen wird eine klare Unterscheidung zwischen dem Jüdisch- und dem Opfersein propagiert: Die jüdischen Opfer seien nicht aufgrund ihres Jüdischseins, sondern infolge des »Faschismus« zu Opfern geworden. Die Judenverfolgung, wie gewissermaßen schon das Jüdischsein an sich, ist daher kein Teil oder Folge der ohnehin abgestrittenen jüdischen Identität, sondern der nationalsozialistischen bzw. »faschistischen« Identität.
 
Aus erster Hand bekommt man es von der jüdischen Vaterfigur in "Bronsteins Kindern" (Reg.: Jerzy Kawalerowicz, 1990-91; eine mit bundesdeutschen Mitteln finanzierte, hier zum Vergleich herangezogene Produktion durch Dienstleistungen der gerade noch existierenden DEFA) bei deren belehrender, an den Sohn gerichteter Rede erklärt: "Du sollst wissen, dass es Juden überhaupt nicht gibt. Dies ist eine Erfindung. Ob eine gute oder schlechte, darüber kann man streiten, jedenfalls – eine erfolgreiche. Die Erfinder haben ihr Gerücht mit so viel Ausdauer, mit so viel Überzeugungskraft verbreitet, dass selbst die Betroffenen, die so genannten Juden, darauf reingefallen sind und wollen sich behaupten [sic!], Juden zu sein. Und das wieder macht die Erfindung umso glaubwürdiger, verleiht ihr eine gewisse Wirklichkeit, und [es] wird immer schwerer die Sache bis zu ihrem Anfang zurückzuverfolgen. Es ist von einem Brei aus Geschichte umgeben, den man mit Argumenten überhaupt nicht durchdringt. Am verwirrendsten ist, dass sich so viele Menschen in ihre Rolle als Juden nicht nur gefügt haben, sondern von ihr geradezu besessen sind. Sie werden sich bis zum letzten Atemzug dagegen wehren, wenn man ihnen diese Rolle wegnehmen würde…"
 
Durch diese Darstellungsweise wird zudem wirksam suggeriert, dass die Bezeichnung eines Menschen als Juden etwas Böses ist, was nur Nazis und ihre Gleichgesinnten tun, also eine schon an sich verpönte, antisemitische, rassistische Äußerung bzw. Tat ist, die anständige und aufgeklärte (d.h. sozialistisch gesinnte) Menschen vermeiden sollen bzw. müssen. Es handelt sich also um eine vergleichsweise intensive Beschäftigung mit dem Jüdischen, doch nur um das Jüdische zu entleeren und eigentlich aufzulösen.
 
Zu diesem Thema hätte ich natürlich noch viel mehr zu sagen, doch möchte ich jetzt auf den Punkt kommen:
 
Anfang April hat der Bundestag meine Stipendiatengruppe zu einem dreitägigen Seminar bei der Rosa-Luxemberg-Stiftung geschickt. In einem der Gespräche mit dem Seminarleiter, Dr. Wolfgang Bey, hat er mir erzählt, dass er bis zur Wende für nichts anderes gearbeitet hat als… die DEFA. Darauf folgten natürlich noch mehr Gespräche, bei denen er allerdings meine Forschungsergebnisse grundsätzlich abgelehnt hat, insbesondere die Feststellung, dass das Jüdische in den DEFA-Filmen relativ oft und intensiv thematisiert wurde.
 
Denn solche Identität sollen, so der Seminarleiter, für die Entscheidungsträger keine Rolle gespielt haben. Das häufige Vorkommen des Jüdischen im Allgemeinen sowie manche Schlüsselszenen im Besonderen erklärt er als Zufälle, die zusammen nichts zu bedeuten haben. Es habe daher eigentlich gar kein häufiges "Vorkommen des Jüdischen" gegeben. Dies sei nur in meinen Augen so gewesen, obwohl er immerhin zugegeben hat, dass ich die Sache sehr wohl auch als "Vorkommen des Jüdischen" oder gar "Thematisierung" interpretieren kann – nur sei diese Interpretation eben meine Sache, die nichts mit den Damaligen zu tun hat.
 
Damit hat er, philosophisch betrachtet, halbwegs Recht: Ja, meine Sichtweise ist zunächst meine Sache. Nichtsdesweniger kann sie auch für andere Menschen auf die damalige Zeit zutreffen, sofern meine Analyse für sie nachvollziehbar ist. Doch eben das konnte sie für ihn nicht sein, denn meiner empirischen Arbeitsmethode seien ja falsche Prämissen zugrunde gelegen: Selbst wenn der Protagonist von den Nazis als Jude verfolgt wird und im Ghetto lebt (man denke etwa an "Jakob den Lügner"), finde im Film keine Thematisierung des Jüdischen – in diesem Fall im Sinne vom jüdischen Schicksal unterm Hakenkreuz – statt, sondern es gehe dabei nur um die antifaschistische Aufarbeitung des Faschismus, die sich im einen oder anderen Fall eben zufälligerweise auch auf die jüdischen Aspekte bezieht, welche sich aber vom Konzept des Films her ganz am Rande befinden.
 
Wir schienen in einem erkenntnistheoretischen Teufelskreis befangen zu sein.
 
Doch dann hat er, in unserem letzten Gespräch, plötzlich gesagt (kein exaktes Zitat): Genau das haben doch die Nazis gemacht, so auf die "Juden" hinzudeuten… Wie hätte denn man bei der DEFA so was machen können?!
 
Und mit dieser kurzen Bemerkung wurde mir klar, dass er als Person, ohne es zu wollen, meine Resultate vielleicht doch zu bestätigen vermag, denn aus meiner Analyse habe ich, wie oben erklärt, u. a. den Schluss gezogen, dass die Bezeichnung eines Menschen als Juden in den ostdeutschen Spielfilmen als etwas Verpöntes dargestellt wird, was (angeblich) nur Nazis und ähnliche Unaufgeklärte machen.

Damit ist aber, glaube ich zumindest, auch ein weiteres Resultat bestätigt worden. Dieses ist eigentlich eine Reflexion, die ich nun ebenfalls zusammenfassend erläutern möchte:
 
Im ostdeutschen Film muss der Jude dem Publikum unverkennbar als solcher vorgestellt werden, um dabei als gewöhnlicher Mensch dargestellt werden zu können; sonst ginge seine Normalisierung, d.h. die normalisierende Wirkung der Darstellungsweise des Juden notwendigerweise völlig verloren. Trotz der Projizierung der Vorstellung vom Juden als ungewöhnlichem Menschen auf die ausgegrenzten Figuren – Nazis und Orthodoxe – kann und darf während des Films kein Zweifel darüber bestehen, dass die gewöhnliche Figur »tatsächlich« jüdisch ist. So müssen die gewöhnlichen jüdischen Figuren jüdisch und gewöhnlich zugleich bleiben, als jüdisch vorgestellt und als gewöhnlich dargestellt werden. Dieser Widerspruch bildet einen unausbleiblichen und unausweichlichen Grundzug der ostdeutschen Judendarstellung, eigentlich aber jeder leugnenden Bezugnahme, die eben das leugnen soll, worauf Bezug genommen wird.
 
Dass die obige, "Bronsteins Kindern" entnommene Rede überhaupt stattfand – will sagen: dass diese Botschaft überhaupt vermittelt werden musste (und das nach 40 Jahren DDR!) – zeugt nämlich umso mehr davon, dass das kantische Ding an sich, d.h. das begriffliche Judentum als eine der kulturellen Grundlagen des Abendlandes, keineswegs zu beseitigen, sondern höchstens nur anders (sei es auch mit einer abstreitenden "Undefinition") zu bestimmen ist. Schon dadurch, dass jüdische Figuren – selbst "unjüdische" bzw. gewöhnliche, geschweige denn "jüdische" bzw. religiöse Juden – auf die filmische Bühne treten, entsteht er, der "Jude". Es ist unmöglich, das Vorhandensein von Juden gerade durch ein und dasselbe Mittel zu leugnen, welches, wie in diesem Fall der Film, die Juden immer wieder als solche vergegenwärtigt.
 
Der sich im besagten Quellenmaterial bekundende Versuch, die jüdische Gruppenidentität abzustreiten, ist bzw. war mithin von vornherein zum Scheitern verurteilt, weil schon die abstreitende Bezugnahme an sich, d.h. die Charakterisierung der Zugehörigkeit zur jüdischen Gruppe als grundsätzlich bedeutungslos, tatsächlich eine Art Vorstellung vom Judentum war und daher schon an sich eine jüdische Gruppenidentität bildete. Weil jede Gruppenidentität schließlich nur noch "fiktiv", d.h. ein Stück gedanklicher Wirklichkeit ist, ist es eben schon die bloße Bezugnahme (sei es eine Postulierung oder eine Leugnung), welche das gedankliche, also in dieser Hinsicht eigentliche Vorhandensein jener Identität festigt, auf die Bezug genommen wird.
 
Die entleerte jüdische Identität hörte daher nicht auf und konnte auch nicht aufhören, sich doch als eine Art jüdische Identität auszuwirken und das begriffliche Vorhandensein des sonst geleugneten Juden weiter zu vertiefen.

Ein Paradoxon? Ja, aber nur ein scheinbares.

 

 

Veröffentlicht von

www.berlinjewish.com/

Mancherorts auch als der Rebbe von Krechzn* bekannt, heißt der Autor von "un/zugehörig" eigentlich Yoav Sapir. Er ist 5740 (auf Christlich: 1979) in Haifa, Israel, geboren und hat später lange in Jerusalem gelebt, dessen numinose Stimmung ihn anscheinend tief geprägt hat. Nebenbei hat er dort sein M.A.-Studium abgeschlossen, während dessen er sich v. a. mit dem Bild des Juden im Spielfilm der DDR befasst hat. Seit Sommer 2006 weilt er an akademischen Einrichtungen im deutschsprachigen Mitteleuropa: anfangs in Wien, später in Berlin und dann in Heidelberg. Nach einer Hospitanz im Bundestag arbeitet er jetzt selbstständig in Berlin als Autor, Referent und Übersetzer aus dem Hebräischen und ins Hebräische. Nebenbei bietet er auch Tours of Jewish Berlin. * krechzn (Jiddisch): stöhnen; leidenschaftlich jammern.

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