Worum es hier (oft) geht

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Wien. Heidelberg. Berlin: ein israelischer Blick auf Deutschland
un/zugehörig

In den letzten Jahren habe ich hier viele Themen besprochen, am meisten aber Deutschland. Da mir anhand der Kommentare klar wird, dass meine »Deutschlandphilisophie« oder »Germanologie« oft rätselhaft wirkt und unverständlich bleibt, möchte ich hier das Grundlegende erklären, nämlich meine Fragestellung.

Dies lässt sich wohl am besten mit einem Vergleich verdeutlichen und zwar zu etwas, was wir alle kennen, nämlich der Europa-Diskurs. Heutzutage ist es ja sehr modisch, über Europa nachzudenken. Was bedeutet das eigentlich, “Europa”? Wo liegt das? Ist das ein geographischer Begriff? Ein kultureller? Ein politischer? Oder gar ein religiöser? Oder alles zusammen?

Zahlreiche Texte wurden und werden über das Europäische geschrieben. Ist so etwas wie das Europäische überhaupt vorstellbar? Wie setzt es sich zusammen? Wo kommen die Inhalte her? Gibt es etwa europäische Werte? eine europäische Kultur oder Zivilisation? Was zählt dazu und was nicht? Warum? Wer ist Europäer? Wer nicht? Wo liegen die Grenzen und warum? Ist hier Eindeutigkeit möglich oder eher Verschwommenheit geboten?

Noch viel komplizierter wird alles durch die Europäische Union. Da ist plötzlich Politik im Spiel. Es geht um Rechte, um Geld, um Wohlstand. Gehört die Ukraine dazu? Weißrussland? Russland? Wie verhält sich Europa zur EU, die EU zu Europa? Bestimmt jetzt die Politik über den Geist? Ist Brüssel die Hauptstadt Europas? Und was tun mit den Ausnahmen? Ist die Schweiz weniger europäisch, weil sie nicht dazugehören will? Oder steht sie mit ihrem Eigensinn in guter europäischer Tradition? Vielleicht ist gerade die Schweiz die letzte Bastei des Europäischen im Herzen Europas?

Was wäre, wenn die EU die adjektivische Form durch die substantivische ersetzen und sich “Europa” nennen würde? Wem das undenkbar erscheint, dem gebe ich zu bedenken, dass wir in einem Staat leben, der sich seit 1949 ganz offiziell und mit gleicher Berechtigung “Deutschland” nennt. Was wäre dann etwa mit der Schweiz? Vielleicht würden sich dann die Schweizer gar nicht als Europäer verstehen wollen? Begriffe sind flüssig und ändern sich schneller als man denkt.

Und so kommen wir zum Thema “Deutschland” zurück. So viel Vorstellungsvermögen haben meine Zeitgenossen, wenn es um Europa geht. Es wird umgedacht, neugedacht, nachgedacht usw. usf., es werden für die Zukunft Visionen skizziert, die Vergangenheit neu interpretiert, die Gegenwart hinterfragt und kritisiert. Doch fragt man sie nach Deutschland, versiegen plötzlich die intellektuellen Quellen. In den Köpfen der Menschen scheinen so verschwommene Begriffe wie “deutsch”, “Deutschland” und “das Deutsche” plötzlich wie in Stein eingraviert. Man weigert sich zu zweifeln, zu kritisieren, zu hinterfragen. Es wirkt so, als ob die Menschen sich wünschen würden, der Gesetzgeber möge doch das alles regeln. Das Grundgesetz soll entscheiden, wer Deutscher ist, damit wir uns nicht mehr mit dieser offenen Frage auseinandersetzen müssten.

Mich aber plagen diese Fragen. Schon seit Jahren. Darum habe ich Germanistik studiert, darum bin ich auch Deutschlandhistoriker geworden. Vielleicht ist meine Psyche irgendwie defekt, mag sein, aber mich interessieren genau diese Fragen. »Deutschland? Aber wo liegt es?« – fragte Schiller und sein Fragezeichen ist bis heute noch aktuell, ja vielleicht aktueller denn je. »Deutschland? Aber was ist es?«, frage ich ergänzend.

Und darum geht es hier: um Deutschland.

Veröffentlicht von

www.berlinjewish.com/

Mancherorts auch als der Rebbe von Krechzn* bekannt, heißt der Autor von "un/zugehörig" eigentlich Yoav Sapir. Er ist 5740 (auf Christlich: 1979) in Haifa, Israel, geboren und hat später lange in Jerusalem gelebt, dessen numinose Stimmung ihn anscheinend tief geprägt hat. Nebenbei hat er dort sein M.A.-Studium abgeschlossen, während dessen er sich v. a. mit dem Bild des Juden im Spielfilm der DDR befasst hat. Seit Sommer 2006 weilt er an akademischen Einrichtungen im deutschsprachigen Mitteleuropa: anfangs in Wien, später in Berlin und dann in Heidelberg. Nach einer Hospitanz im Bundestag arbeitet er jetzt selbstständig in Berlin als Autor, Referent und Übersetzer aus dem Hebräischen und ins Hebräische. Nebenbei bietet er auch Tours of Jewish Berlin. * krechzn (Jiddisch): stöhnen; leidenschaftlich jammern.

17 Kommentare

  1. Doch fragt man sie nach Deutschland, versiegen plötzlich die intellektuellen Quellen. In den Köpfen der Menschen scheinen so verschwommene Begriffe wie “deutsch”, “Deutschland” und “das Deutsche” plötzlich wie in Stein eingraviert. Man weigert sich zu zweifeln, zu kritisieren, zu hinterfragen. Es wirkt so, als ob die Menschen sich wünschen würden, der Gesetzgeber möge doch das alles regeln. Das Grundgesetz soll entscheiden, wer Deutscher ist, damit wir uns nicht mehr mit dieser offenen Frage auseinandersetzen müssten.

    Derartige Überlegungen finden sich in konservativen Medien, die lustigerweise als “rechter Rand” und Ähnliches diffamiert werden. – Der bundesdeutsche Bürger hat es über die Jahre gelernt, dass da irgendetwas am Doitschen pfui sein muss und Doitschland schnellstmöglich in der EU aufzulösen ist.

    Der Schreiber dieser Zeilen stimmt hier gerne zu, allerdings nicht wegen denjenigen, die sich die Fragen stellen, sondern wegen den auto-aggressiven Kräften, die zu kontrollieren sind.

    MFG
    Dr. W

    • allerdings nicht wegen denjenigen, die sich die Fragen stellen, sondern wegen den auto-aggressiven Kräften, die zu kontrollieren sind.

      ich sage nur:
      * wegen derjenigen
      * wegen der auto-aggressiven Kräfte[-]

          • Stichwort: ‘umgangssprachlich’, es geht ja auch darum verstanden zu werden.
            Was glauben Sie, mit welchen Kräften man es im Web allgemein zu tun hat?

          • Ich weiß nicht mehr, was der Etymologe in

            http://www.belleslettres.eu/artikel/wegen-genitiv-dativ.php “Immer wieder wird behauptet, nach der Präposition “wegen” stehe im Standarddeutschen der Genitiv, der Dativ sei dagegen umgangssprachlich oder Dialekt. Doch stimmt das wirklich?”

            ermittelt wird, aber danach sollten keine Fragen mehr offen sein. Übrigens: In der Form A kommt B C vor steht B im Dativ und nicht im Akkusativ 😉

  2. Mich aber plagen diese Fragen. Schon seit Jahren. Darum habe ich Germanistik studiert, darum bin ich auch Deutschlandhistoriker geworden. Vielleicht ist meine Psyche irgendwie defekt, mag sein, aber mich interessieren genau diese Fragen. »Deutschland? Aber wo liegt es?« – fragte Schiller und sein Fragezeichen ist bis heute noch aktuell, ja vielleicht aktueller denn je. »Deutschland? Aber was ist es?«, frage ich ergänzend.

    Ansonsten packen Sie die Sache schon recht ordentlich an, auch wenn die These von der engen Verbundenheit von Juden und Deutschen hier nicht direkt, im Sinne von “Ja, so isses, muss ich haben und zwar jetzt!” geteilt wird.

    MFG + viel Erfolg!
    Dr. W (der Sie sich bereits in den üblichen Medien beim Talk vorstellt)

    • Ergänzend vielleicht noch: Es heißt Deutschland-Philosophie, sofern kein Kunstwort kreiert worden ist, und ‘neu gedacht’.
      Die BRD war nicht von Anfang an ‘Deutschland’, das zu ‘dass wir in einem Staat leben, der sich seit 1949 ganz offiziell und mit gleicher Berechtigung “Deutschland” nennt.’, wobei das Wir natürlich nicht für alle hier d-sprachig Kommentierenden gilt.
      In der Urform des Grundgesetzes wird auch noch recht offen von ‘anderen Teilen Deutschlands’ geschrieben:
      -> http://www.documentarchiv.de/brd/1949/grundgesetz.html

      MFG
      Dr. W

      • Ja, darin drückt sich doch der Anspruch auf Deutschland als Ganzes. Wenn die eine Republik “Deutschland” heißt und die andere Republik ein “Teil Deutschlands” ist, dann wird der anderen Republik das Existenzrecht abgesprochen. Diesen Anspruch auf “Deutschland” erhob die DDR nicht, darum machte man da mit der adjektivischen Tradition weiter. Interessant ist der Minderheitsvorschlag zum GG, wo nicht von “anderen Teilen Deutschlands” die Rede ist, sondern korrekterweise von “allen übrigen deutschen Ländern”. Aber darauf reagierte man (Korff) ja mit: “Deutschland braucht nicht mehr* zu entstehen; Deutschland ist!”

        * nachdem Hitler den Staatenbund 1934 aufgelöst und eine “deutsche” Staatsangehörigkeit erfunden hatte, die 1935 für eine zentralisierte Verabschiedung der “Nürnberger Gesetze” brauchte.

        • Wichtich hier vielleicht noch zu verstehen, dass mit ‘anderen Teilen Deutschlands’ in der ursprünglichen Fassung des Grundgesetzes auch bspw. der ehemalige sudetendeutsche Teil und der nunmehr polnische oder (in Teilen) schlesische Teil Deutschlands gemeint war.
          Es wurde denn auch längere Zeit bspw. von Mitteldeutschland und anderen Gebieten gesprochen und geschrieben, die grundgesetzlich als Teil Deutschlands galten.

          Das zu Ihrer Feststellung mit 1949, ‘offiziell’ etc.

          Zumal D ja bereits seit 1918 ein gerupftes Land ist.
          Sofern ‘Deutschland’, also mit diesem D kommt Ihr Kommentatorenfreund weiterhin nicht so recht klar.

          MFG
          Dr. W (der sich nun aber ausklinken wird – auf jeden Fall vielen Dank für Ihre Versuche D wieder oder erstmals auf gerade Beine zu stellen)

          • ‘Mitteldeutschland’ hieß schon Mitteldeutschland, weil es auch um andere Gebiete ging, weiter östlich und auch die CSSR betreffend, die sich nicht ohne Grund nach der gewaltsamen Vertreibung der Sudetendeutschen als einziges demokratisches Land unter den sozialistischen Mantel geflüchtet hat.

          • “Mitteldeutschland” hatte/hat zwei Bedeutungen: (1) in rechten Kreisen (bis zur Union) wurde die DDR außer “Ostzone” auch “Mitteldeutschland” genannt, um deutlich zu machen, daß man Ostdeutschland östlich der Oder/Neiße zu suchen hat und so der sich damals ausbreitenden Gewohnheit entgegenzuwirken, die DDR “Ostdeutschland” zu nennen. (2) die Länder in der geographischen Mitte Deutschlands. Das waren vor dem Krieg etwa die Länder, die heute den “Mitteldeutschen Rundfunk” unterhalten. Vor der Reichsgründung sah man die Mitte Deutschlands allerdings woanders, weiter südlich. Regensburg und Nürnberg beispielsweise erhoben den Anspruch, in Deutschlands Mitte zu liegen.

          • Regensburg und Nürnberg beispielsweise erhoben den Anspruch, in Deutschlands Mitte zu liegen.

            ja, logisch: “Von der Etsch bis an den Belt”

  3. Deutschland ist eine Illusion, wie alles in dieser intriganten Welt- und “Werteordnung” der wettbewerbsbedingten Hierarchie von und zu materialistischer “Absicherung” – alles ist nur bewußtseinsbetäubenden Dreck wert, denn es hat sich bisher nichts im Sinne des Geistes verändert, sondern immer nur im Sinne des kreislaufenden Zeitgeistes funktioniert!!!

    Jetzt könnten wir uns über den Geist streiten, wobei ich dir Wege zeigen könnte die du höchstwahrscheinlich noch nicht gegangen bist. Aber nach allem was ich bisher von dir gelesen habe, bzw. wie du reagiert hast, bin ich ziemlich sicher, daß du da ebenfalls wie die Masse in einem fatalen Dogma des geistigen Stillstandes seit der “Vertreibung aus dem Paradies” gefangen bist.

    “auto-aggressiven Kräfte” – so ein Quatsch, wo in der gepflegten Bewußtseinsschwäche von Angst, Gewalt und “Individualbewußtsein” nichts automatisch und unkontrolliert aggressiv wird.

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