Wie unterscheidet sich »Geschichte« von »Geschichtsschreibung«?

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Wien. Heidelberg. Berlin: ein israelischer Blick auf Deutschland
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Nach der ersten Differenzierung zwischen Geschichte und Vergangenheit möchte ich nun eine andere Verwechslung entwirren. Wenn wir mit einem Text über die Vergangenheit reden, ist dieser nun Geschichte oder Geschichtsschreibung?

Meine Antwort wäre: weder das eine noch das andere. Ein Text ist erst mal ein Text, also wörtlich ein Gewebe (nicht zufälligerweise klingt es so ähnlich wie »Textil«, das dieselbe lateinische Wurzel hat). In einem historischen Text ist das Geschehene (res gestae), also verschiedene Geschehnisse, zu einer (schlüssigen, deutenden, sinnstiftenden) Geschichte bzw. Erzählung (historia) zusammengewoben. Ob der Text uns selbst schlüssig erscheint, spielt allenfalls bei seiner Auswertung nach heutigen Maßstäben eine Rolle, nicht jedoch bei der Anerkennung des Textes als das, was er ist: ein historischer Text, ein Text mit einer Erzählung über Geschehenes.

Der Text im Sinne einer Schrift ist also nicht identisch mit der Geschichte, die über ihn vermittelt wird; er enthält sie. Diese Geschichte, eine spezifische Sicht auf Vergangenes, kommt in dem Text zum (schriftlichen) Ausdruck, spiegelt sich in ihm. Der Text ist das Medium, die in ihm enthaltene Geschichte ist die Botschaft. Denken wir noch einmal an den Töpfer vom letzten Beitrag: Ist eine Geschichte ein Topf, den er macht, so ist der Text die Verpackung, mit der er den Topf an die Verbraucher weitergibt.

Doch schriftliche Texte sind nur eine – freilich weit verbreitete, ja standardisierte – Möglichkeit. Ihre Geschichten, ihre Erzählungen über die Vergangenheit können Menschen auch anders ausdrücken, neulich etwa in Filmen, einem Medium, das man auch als einen »filmischen Text« verstehen kann (diesen Ansatz habe ich in meiner Magisterarbeit verfolgt).

Die Geschichtsschreibung ist hingegen der Prozess, bei dem das Produkt des Historikers entsteht, nämlich seine Geschichte über eine bestimmte Vergangenheit. Da Geschichte im Prinzip eine Frage des Bewusstseins und der Wahrnehmung ist, tut es Not, zwischen Geschichte als solcher (einem Phänomen des Geistes), ihren Ausdrucksformen (z. B. Text) und ihrer Herstellung (Geschichtsschreibung) differenzieren. Unverkennbar rührt der Begriff »Geschichtsschreibung« daher, dass in den letzten Jahrtausenden das übliche Medium eben der schriftliche Text war und Geschichten meistens in schriftliche Texte verpackt wurden, um an die nächsten Generationen vermittelt zu werden. Doch auch hinter einem zeitgenössischen Werk wie »Unsere Väter, unsere Mütter« steckt nichts anderes als Geschichtsschreibung. Diese bezeichnet also die Arbeit des Historikers, das Weben des Geschehenen in eine sinnstiftende Erzählung.

Nun wissen wir also, dass der historische Text als Medium, als Träger einer Geschichte nicht nur in schriftlicher, sondern nunmehr etwa auch in filmischer Form überliefert werden kann. Doch das ist keine moderne Innovation, denn von jeher war die Schrift nur eine weitere, nie die einzige Möglichkeit für Geschichtsschreibung (im eigentlichen, wenn auch nicht wörtlichen Sinne). Schon lange vor dem Aufkommen von Geschichtsbüchern haben Menschen ihren Nachkommen auch ohne Schriftstücke über ihre Vorfahren erzählt und Geschichte überliefert. In manchen sog. primitiven Gesellschaften ist es auch noch so gewesen, als andere Gesellschaften ihre Geschichten schon verschriftlichten.

Ob mit oder ohne Schrift, erfolgte die Geschichtsschreibung damals, wie alles Menschliche, freilich weniger professionell als heute. Aber auch eine Geschichte, die den heutigen Maßstäben nicht entspricht, ist eine Geschichte, eine Erzählung von Geschehenem nach dem Verständnis des Erzählers (und seiner unmittelbaren bzw. zeitgenössischen Zuhörer oder Leser). Nicht nur nach, sondern auch vor der späten Entstehung einer abendländischen Geschichtswissenschaft war der Geschichtsbegriff de facto stets Änderungen und Wandlungen unterworfen.

So hatten frühere Gesellschaften natürlich ein jeweils anderes Geschichtsverständnis als heute üblich ist, welches nichtsdestoweniger eben ihr charakteristisches Verständnis von Geschichte, nicht ihr Missverständnis davon war. Wenn seit Cicero gesagt wird, Herodot wäre der erste Historiker gewesen, bedeutet das nur, dass man allen Gesellschaften und allen Generationen ein bestimmtes Geschichtsverständnis aufbürdet, das ihnen größtenteils fremd ist. Doch gerade eine selbstkritische Geschichtswissenschaft, wie wir sie heute (freilich nicht zu Ciceros Zeiten) haben oder zu haben glauben, hat zu erkennen, wie unterschiedlich das Verständnis von Geschichte und ihren Akteuren ausfallen kann bzw. konnte.

Wird Geschichtsschreibung heute in der Regel auf der Grundlage dessen betrieben, was im Abendland als rationalistisch gilt, so wurden viele Geschichten früher anders gedacht, etwa so, dass die Götter in ihnen oft die eine oder andere Rolle spielen durften. Dass es uns seltsam erscheint, liegt an unserem heutigen Verständnis von Geschichte als etwas, in dem nur Menschen wirken können. Aber unsere, darunter auch meine Schwierigkeit, solche Werke als Geschichtswerke gelten zu lassen, darf uns nicht dazu verleiten, diesen Werken rückwirkend und anachronistisch ihre damalige Funktion abzuerkennen: als ernst gemeinte und erst aufgenommene Erzählungen über das Geschehene. Auch viele Teile der (vor allem hebräischen) Bibel, die zwar nicht als Geschichte im heutigen, rationalistischen Sinne gelten können, erfüllten damals diese Funktion, naturgemäß nicht im Einklang mit unserem späten, sondern nach dem damals jüdischen Geschichtsbegriff. So war der Entstehungsprozess mancher biblischen Bücher, etwa der Chronik, tatsächlich eine Geschichtsschreibung nach den damals und dort gültigen Maßstäben.

Solche gravierenden Unterschiede im Geschichtsbegriff ergeben sich übrigens nicht nur bei einem Vergleich der Moderne mit der Antike, sondern auch innerhalb der Moderne. Denkt man etwa an den Geschichtsbegriff in der marxistischen Tradition, nach dem die Geschichte zwangsweise zum Kommunismus führen müsse, so erscheint ein solch teleologischer Ansatz, in dem das Ende von Anfang an feststeht, absolut unwissenschaftlich. Aber auch wenn wir, wie im Fall der Bibel, ein solches Verständnis von Geschichte für uns nicht gelten lassen, bleibt es trotzdem, was es ist: ein alternatives Verständnis, kein Missverständnis von Geschichte.

Der stetige Wandel, dem der Geschichtsbegriff unterworfen ist, hört mit uns und unseren heutigen Maßstäben natürlich nicht auf. Auch das Heutige wird natürlich vergehen und neuen Geschichtsbegriffen weichen müssen.

So wird auch das Subjekt zum Objekt: Jeder Historiker wird selbst Teil des Geschehenen, seine Geschichten bzw. Auffassungen von Vergangenheit werden bei der Geschichtsschreibung späterer Historiker aufgearbeitet, wenn sie darüber schreiben, wie Geschichte früher, nämlich zu seiner Zeit, geschrieben bzw. gedacht wurde. So war es mit Herodot, so ist es mit Ranke, so wird es auch mit den heutigen Historikern sein, sofern ihre Werke den künftigen Nachfolgern wichtig genug bzw. »dignum memoriae« (der Erinnerung wert) erscheinen. Denn auch wenn jeder unweigerlich Teil der Vergangenheit wird, kommt es erst auf den künftigen Zurückblickenden an, ihn der Vergessenheit zu entreißen und in Geschichte zu verwandeln.

Veröffentlicht von

www.berlinjewish.com/

Mancherorts auch als der Rebbe von Krechzn* bekannt, heißt der Autor von "un/zugehörig" eigentlich Yoav Sapir. Er ist 5740 (auf Christlich: 1979) in Haifa, Israel, geboren und hat später lange in Jerusalem gelebt, dessen numinose Stimmung ihn anscheinend tief geprägt hat. Nebenbei hat er dort sein M.A.-Studium abgeschlossen, während dessen er sich v. a. mit dem Bild des Juden im Spielfilm der DDR befasst hat. Seit Sommer 2006 weilt er an akademischen Einrichtungen im deutschsprachigen Mitteleuropa: anfangs in Wien, später in Berlin und dann in Heidelberg. Nach einer Hospitanz im Bundestag arbeitet er jetzt selbstständig in Berlin als Autor, Referent und Übersetzer aus dem Hebräischen und ins Hebräische. Nebenbei bietet er auch Tours of Jewish Berlin. * krechzn (Jiddisch): stöhnen; leidenschaftlich jammern.

6 Kommentare

  1. Hallo Yoav,
    erst Mal ein riesen Kompliment. Ich lese deine Ausführungen immer sehr gerne, weil Sie mich inspirieren. Ich bin kein Historiker. Ich bin ein kleiner Bankkaufmann, Wirtschaftswissenschaftler und Wirtschaftsinformatiker und ehemaliger Lehrer. Ich würde mich noch zu der Sorte Akademiker zählen, die eine fundierte wissenschaftliche Ausbildung genossen hat, dabei halte ich mich an die Grundlagen wissenschaftlichen Arbeitens nach den Vorbildern Popper, Kant und Schopenhauer…

    Ganz wichtig in deinen Ausführungen finde ich den, ich bezeichne ihn mal progressiven Geschichtsbegriff, die Geschichts(fort)schreibung. Eine Art iterativer Prozess, vorhandene vergangenheitsnahe Gechichtsschreibung im Zuge eines weiteren Erkenntnisgewinns neu zu deuten.. Eine Arte “Herantasten” an die Geschichte, je länger ein Ereignis in der Vergangenheit liegt.

    Ein entscheidendes Kriterium was die heutige Einordnung der Geschichtswissenschaft betrifft, ist wohl die Tatsache, dass, im Gegensatz zu Zeiten vor der digitalen Kommunikationsrevolution es ein leichtes ist, Geschichte sehr viel früher als sog. Geschichte zu begreifen und zu interpretieren….

    Ich gebe ein Beispiel…

    während früher Entscheidungen nach-geschichtlicher Tragweite weitgehend in einem Art konspirativem Raum getroffen wurden und Akten (bis heute) der Nachwelt zur Interpretation und Einordnung in die Geschichte vorenthalten wurden/ werden, ist im Zeitalter von Internet und offener Kommunikation (Stichwort “Leaks”) eine frühzeitige geschichtliche Einordnung menschlichen Handelns viel eher möglich…. deswegen bin ich ein Verfechter dieses Mediums, denn es offenbart geschichtsrelevantes Handeln sehr viel effizienter und schneller, als alles Papier in Amtsstuben früherer Zeit, das der Öffentlichkeit über Jahre, Jahrzehnte verschlossen blieb.

    Gruß S. Happ

  2. Noch ein konkreteres Beispiel:

    Ich möchte, nachdem du ja atheistischer Jude bist, ich auch jüdisch-gläubige Vorfahren habe (so war das nun mal im Deutschen Reich vor der Nazi-Herrschaft, ehe man aus meinen Urgroßvätern eine jüdische Rasse gemacht hatte, das Judentum war im Deutschen Reich als Religionsgemeinschaft anerkannt, Stichwort Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens, dem auch meine Urgroßväter angehörten) einen kritischen, historischen (wissenschaftlichen) Text zum Thema Zionismus/ Nationalsozialismus nachreichen. Im Zeitalter des Internet ist es ja möglich, sich zu diesem Thema zu informieren. Und viele Dinge, die bis heute im Verborgenen liegen, sind durchaus geschichtlich diskussionswürdig. Hier der Link zum Thema Kooperation deutscher Zionisten mit dem Nationalsozialismus:

    http://archive.org/stream/DerZionismusImKomplottMitDemNationalsozialismus/ZionistenUndNazis_djvu.txt

    Wenn du den Text lesen solltest, wäre ich für eine geschichtliche Einordnung deinerseits sehr dankbar.

    Gruß S. Happ

  3. Hallo Yoav,

    nachdem ich unten verlinkten Text zur gleichen Thematik Zionismus/ Nationalsozialismus gelesen habe, erscheint der Zusammenhang in einem ganz anderen Lichte. Ein sehr interessantes, praktisches Beispiel über Geschichtsinterpretation bzw. unterschiedliche Sichtweise und dem Prinzip von Ursache und Wirkung bzw. “des Augenblicks des Betrachters”

    Eine Einordnung deinerseits hat sich damit erledigt. Der verlinkte Text scheint mir als deutlich klarer, kritischer und damit authentischer, als der vorgenannte.

    http://www.ifz-muenchen.de/heftarchiv/1982_4_3_schoelch.pdf

    Sorry für die nicht zum Thema passenden jüdischen Witze in den anderen Beiträgen. Die hättest du nicht freischalten müssen.

    Gruß

    S. Happ

    P.S.: Ich möchte einfach ein bisschen besser das Schicksal meiner Urgroßväter verstehen und versuche mich deshalb durch diverse historische Befunde und Interpretationen in diese Zeit hineinzuversetzen. Danke, dass du hierzu immer wieder einmal (ungewollt) Denkanstöße gibst.

  4. Interessant, aber ich möchte mit einem Kommentar nicht vorgreifen.

    Nur eine kleine Korrektur: “So wird auch das Subjekt zum Objekt”

  5. Interessant, wo überall der dauertrollende Fake-Jude Happ mit seinem Copy&Paste-Nazischeiss hausieren geht.
    Was für eine erbärmliche Existenz.

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