Purim aus zweierlei Perspektive

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Wien. Heidelberg. Berlin: ein israelischer Blick auf Deutschland
un/zugehörig

Vorgestern bzw. (in Jerusalem erst) gestern hat das israelitische Purim-Fest stattgefunden. Mit gerade noch eleganter Verspätung möchte ich euch zwei verschiedene Sichtweisen auf das Fest darlegen.

Kontra

Selbstbestimmung? Souveränität?

Vielleicht nur Selbsthilfe? Selbstverteidigung?

Wozu, wenn sich ein Jude (mal abgesehen vom zuhälterischen Handel mit einem wehrlosen Mädchen als Mittel zum Zweck) Zugang zum Hofe verschaffen kann? Zwar endet die Geschichte vom Hofjuden Mordechei sehr positiv, aber was für ein Beispiel soll das überhaupt sein?

Der biblische "Jude Mordechai" und die Verarbeitungen des "Jud Süß" sind trotz mancher Unterschiede schließlich doch die beiden Seiten ein und derselben Medaille, sprich: desselben literatischen Motivs.

Es ist durchaus klar, warum solch eine Geschichte in den religiösen Jahreszyklus eines zur Passivität gezwungenen Judentums aufgenommen wurde. Nun ist es aber gleichgültig, wie das Motiv konstruiert und die Geschichte erzählt wird: Hier gibt es kein guter Grund zum Feiern mehr. Es sei denn, man sehnt sich wieder nach derartigen Existenzverhältnissen.

Pro

Die Geschichte des Buchs bzw. der Schriftrolle Esther enthält weder ein direktes Wunder noch eine personifizierte Manifestation der israelischen Gottheit.

Die darin geschilderte Begebenheiten hängen nicht sehr eng miteinander zusammen. Die Keime zur Erlösung – sprich: die (übrigens durchaus berechtigte) Aufsässigkeit Waschtis, die Heirat Esthers mit dem König und Mordechais Aufdeckung der Verschwörung gegen den König – werden neun bzw. fünf Jahre vor Beginn der Bedrohung gelegt, d.h. lange bevor Haman an die Macht und auf die Idee kommt, Israel zu vernichten (vgl. ebd. 1:3, 2:16, 3:7).

Desgleichen in der Moderne: Der Zionismus begann lange vor dem Holocaust. Als die Krematorien erdenklich wurden, war Israels Land schon ansatzweise besät und besiedelt, die Grundlagen für die Erlösung bereits geschaffen. Als die Flut bevorstand, bestand die Arche: damals wie heute.

Das Purim-Fest darf uns mithin zeigen, wie Gott sich nicht mit übernatürlichen und ahistorischen Wundern, sondern in und vor allem mit der Geschichte als solcher offenbart.

Nein, kein Deus ex Machina, dafür aber: Deus est Machina.

Ja, Gott war dabei, ganz mitten drin.

Übrigens

Im Buch Esther kommt erstmals die Bezeichnung "Jude" bzw. "jüdisch" in ihrem heute noch üblichen Sinne, d.h. in dem eines "Israeliten" vor. Mordechai soll ja eigentlich ein Benjaminiter gewesen sein (vgl. ebd. 2:5), d.h. kein Angehöriger des Stammes Juda. Ist es also der bald erzwungene, bald selbstgewollte, jedenfalls für das Exil kennzeichnende Mangel an Bodenständigkeit, der den "Juden" ermöglicht und aufrechterhält?

 

 

Veröffentlicht von

www.berlinjewish.com/

Mancherorts auch als der Rebbe von Krechzn* bekannt, heißt der Autor von "un/zugehörig" eigentlich Yoav Sapir. Er ist 5740 (auf Christlich: 1979) in Haifa, Israel, geboren und hat später lange in Jerusalem gelebt, dessen numinose Stimmung ihn anscheinend tief geprägt hat. Nebenbei hat er dort sein M.A.-Studium abgeschlossen, während dessen er sich v. a. mit dem Bild des Juden im Spielfilm der DDR befasst hat. Seit Sommer 2006 weilt er an akademischen Einrichtungen im deutschsprachigen Mitteleuropa: anfangs in Wien, später in Berlin und dann in Heidelberg. Nach einer Hospitanz im Bundestag arbeitet er jetzt selbstständig in Berlin als Autor, Referent und Übersetzer aus dem Hebräischen und ins Hebräische. Nebenbei bietet er auch Tours of Jewish Berlin. * krechzn (Jiddisch): stöhnen; leidenschaftlich jammern.

2 Kommentare

  1. Purim

    Hallo, und Glückwunsch für diese Seite! Hab sie zufällig gefunden, habe nur ein wenig durchblättert. Werde aber bestimmt gründlich manche Sachen lesen, die mich interessieren.
    (Ich hoffe, du bist heute gut heimgekommen nach dem Ausflug…)
    A propos Purim, ich wünsche.. na ja.. ein schönes Fest “gehabt zu haben”. Ja, Gott hat nicht unbedingt Wunder nötig, um sich zu zeigen. Schönes Wochenende noch und gutes Einarbeiten ab Montag!

  2. Wunder

    Ein Wunder wird im Buch Esther in der Tat nicht beschrieben. Aber dafür Glauben im Sinne von Vertrauen. Esther mußte ein tödliches Risiko eingehen, um etwas verändern zu können. Sie bat darum, daß alle Juden drei Tage fasten und sie selbst tat es auch. Ich gehe davon aus, daß die Zeit des Fasten auch für intensives Gebet genutzt wurde. Das lädt zum Gedankenspielen ein. Hätte Esther auch ohne Glauben an Gott ihr Leben aufs Spiel gesetzt? Hätte sie der Mut verlassen, wenn sie nicht gefastet hätte?

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