Gastautorin: Christine Chiriac über ihre siebenbürgische Identität (Teil III)

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Wien. Heidelberg. Berlin: ein israelischer Blick auf Deutschland
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Eine Deutsche in Rumänien? Eine Rumänin in Deutschland? Christine Chiriac, eine Freundin, Leserin und jetzt auch Gastautorin, reflektiert in einer dreiteiligen Beitragsserie über ihre Identität.

Teil III: Wohin ich gehe

Wenn ich mir heute Siebenbürgen anschaue, muss ich sagen, dass es sich verwandelt hat. Die Ereignisse aus der Vergangenheit, die mir meine Großmutter immer erzählt hat, kamen aus einem anderen Siebenbürgen. Heute ist Siebenbürgen – nicht nur auf dem Papier – ein Teil von Rumänien. Im Laufe der 90 Jahre, die seit 1919 vergangen sind, hat dieses Stück Land eine große Umgestaltung erlebt, und gehört jetzt auch innerlich zu Rumänien (mit Ausnahme der ungarischen Gebiete, aber das ist ein anderes Thema). Über die Zukunft der Rumänen mache ich mir also keine Sorgen.

Ich frage mich aber, wie es mit den Sachsen in Siebenbürgen sein wird. Wie sieht die Zukunft für sie aus?

Doch bevor ich versuche, das zu beantworten, stellt sich mir noch eine Frage: Wieso sind sie eigentlich so massiv ausgewandert?

Näher betrachtet, war die Auswanderung ein vielschichtiger Prozess, der nur um 1990 zu einem Massenphänomen gewachsen ist. Die Sachsen haben eigentlich schon seit etwa 1945 mit dem langsamen Auswandern begonnen. Damals sind viele von den ehemaligen sächsischen Soldaten, die für Hitler gekämpft hatten, nicht mehr nach Siebenbürgen zurückgekehrt. Sie sind entweder in Deutschland geblieben, oder anderswohin geflohen (meine Großmutter hatte daher gute Bekannte aus ihrer Jugend z.B. in Argentinien). Anschließend, als es mit der Deportation auch zu Ende war, kamen viele von den Überlebenden zurück nach Siebenbürgen, viele aber flohen nach Deutschland (West, Ost, Österreich).

Nach dem Tode Stalins ging es den Sachsen in Rumänien etwas besser, aber die Zusammenführung von Familien und die legale Ausreise aus Rumänien waren noch lange nicht als solche erlaubt. Als sich dann Ceausescu eine “nationale”, rumänische Form des Kommunismus zum Ziel setzte, war es wieder unerwünscht, eine andere Volkszugehörigkeit zu haben als die rumänische, auch wenn das nicht laut und deutlich gesagt wurde.

Ende der siebziger Jahre vereinbarten Ceausescu und Schmidt das Abkommen über die “Familienzusammenführung”. Den Sachsen, die Familienangehörige in Deutschland hatten, wurde es erlaubt, sich ihren Familien anzuschließen, was die allermeisten dann auch taten. Ab den siebziger Jahren gab es eine verstärkte Auswanderung; allerdings zahlte die Bundesrepublik an den rumänischen Staat schönes Geld für jeden Sachsen, der Rumänien verließ. Natürlich flohen bei der Gelegenheit auch sehr viele, die keine Familie in Deutschland hatten.

Der eigentliche Exodus kam erst nachher. Die Rekordzahlen der Auswanderung wurden gleich nach der Wende erreicht. Ich kann mich noch erinnern, dass von Weihnacht zu Weihnacht, innerhalb von drei oder vier Jahren, die Kirche in unserem Dorf langsam fast leer wurde. Als ich klein war, hatte man auf der Straße noch Deutsch oder Sächsisch gesprochen, in den Häusern hatten noch meistens Sachsen gewohnt, es hatte im Dorf auch die traditionelle deutsche Schule und den deutschen Kindergarten gegeben, aber in kurzer Zeit war das alles weg… Es war ein merkwürdiges Gefühl, sogar für mich als Kind. Wie mag es für meine Eltern und vor allem für meine Großmutter gewesen sein?

Ich kann mich an diese Stimmung noch gut erinnern. Es war wie eine Lawine, von Tag zu Tag hörte man von immer mehr Leuten, dass sie auch “nach oben”, “hinauf nach Deutschland” ziehen. Diejenigen, die schon dort waren, machten den noch nicht Entschlossenen Mut, möglichst schnell auszuwandern. In den Versammlungen und auch in den Kirchen (!) wurde energisch angedeutet, dass die Zurückgebliebenen in Rumänien keine Zukunft hätten. Das vor kurzem gegründete Demokratische Forum der Deutschen in Rumänien hatte eine Rekordzahl von Anträgen für Mitgliedschaft zu bearbeiten. Viele dieser Mitglieder waren schon die rumänischen Familienangehörigen der Sachsen, die ggf. nicht einmal Deutsch sprachen, aber die durch ihre Mitgliedschaft ihr (vermeintliches) Deutschtum bestätigen ließen, um auch nach Deutschland auswandern zu können. Kurz nach Erhalten der Vorteile, die aus dieser Mitgliedschaft hervorgingen (etwa auch in Form von materieller Hilfe aus Deutschland für die zurückgebliebenen “Deutschen”), also als das Forum aufgehört hatte, sehr konkret nützlich zu sein, gab es eine äquivalente Welle von Austritten.

Auch meine Familie hat sich über eine Auswanderung Gedanken gemacht, aber wir sind letztendlich doch in Siebenbürgen geblieben. Meine Großmutter wollte von vornherein gar nicht auswandern, und als sie dann bei ihrem Bruder in Nürnberg und bei anderen Verwandten in Nordrhein-Westfalen für längere Zeit auf Besuch war, gefiel es ihr viel weniger gut als zu Hause und sie kam frohen Herzens zurück. Meine Eltern sind dann nach längerem Überlegen auch geblieben, denn nach der Wende hat man sich immerhin Hoffnung gemacht, dass es “besser” sein wird.

*

Besser wurde es tatsächlich, aber im typisch nebligen Stil des rumänischen Staates.

Um nur ein Beispiel zu geben: Meine Familie hatte schon immer ein schönes Stück Grund im Besitz gehabt. Durch die Kollektivierung war dieses dann in den Besitz des Staates gelangt. Wir bekamen den Grund nach der Wende zurück, aber nicht dort, wo er gewesen war, sondern einfach anderswo – ohne weitere Erklärungen seitens der Behörden. Weit weg von der Straße, schwer zu erreichen, mit Boden von sehr niedriger Qualität, fast ungeeignet für die Landwirtschaft, und verwertbar eventuell zu einem lächerlichen Preis, falls man überhaupt einen Käufer finden würde. Also unvergleichbar mit dem Grundbesitz, den wir gehabt hatten. Ist das dann noch als Rückerstattung oder teilweise Rückerstattung anzusehen? Wenn man etwas “zurück”bekommt, was gar nicht das ist, was man früher hatte? Umso mehr, wenn das Stück Grund, das wir vor der Kollektivierung im Besitz gehabt hatten, jetzt im Besitz der damaligen Rückerstatter liegt – welch ein Zufall! Die damaligen Rückerstatter sind keine Sachsen und haben vor der Wende in Marienburg nicht viel besessen, eventuell eine Mitgliedskarte in der Rumänischen Kommunistischen Partei und viel Ambition… Jetzt besitzen sie halt etwas mehr als das, nämlich unseren Grund, und lassen sich von Gewissensbissen gar nicht stören, denn sie dürfen sich im Schatten der rumänischen Gesetze nach so viel “Arbeit” in aller Ruhe erholen (und uns mittlerweile das verkaufen, was sie von unserem Grund ernten).

Wenn das eine “teilweise Rückerstattung” ist und keine richtige “Rückerstattung”, dann ist es nach der Wende in Rumänien “teilweise besser”, aber nicht wirklich “besser”.

Noch etwas: die rumänischen Politiker haben sich irgendwann (jetzt liegen mir die genauen Daten nicht vor) für das Leiden der deutschen Bevölkerung in Rumänien öffentlich entschuldigt. Aber das kam hauptsächlich zustande, weil es einen Druck von außen in diese Richtung gab – ich kann nicht wissen, ob sie es sonst als nötig empfunden hätten. Das gleiche gilt übrigens auch für die öffentliche Entschuldigung des rumänischen Staates für die Verbrechen gegen die Juden (ein gutes Buch und mehrere Studien zum Thema hat mein ehemaliger Professor Michael Shafir geschrieben).

Eine offene, “heilende” Diskussion darüber, was genau wo und wann geschehen ist, sowie darüber, von wem und warum es getan wurde – das hat noch nicht stattgefunden. Nebenbei bemerkt: Die Dossiers der “Securitate” gelten offiziell zwar als öffentlich, doch niemand kann sie erreichen und sogar die Institution, die sich damit beschäftigen sollte, genannt CNSAS, wurde meines Wissens gerade aufgelöst…

Dann lebt es sich in Rumänien halt besser, aber wie gesagt, nur teilweise. Und unter dem Flügel der Europäischen Union, die sich energisch gegen die Korruption einsetzt, ist mancher Fortschritt zustande gekommen, aber eben nur mancher.

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Von 2003 bis 2008 habe ich in Bukarest gelebt. Mitte 2008 bin ich dann wieder nach Siebenbürgen gezogen. Und ich muss sagen: Die deutsche Minderheit hat mich sehr positiv überrascht. Zusammenfassend möchte ich einige Beispiele geben.

Hermannstadt/Sibiu. Man hat in den letzten Jahren von dem “Wunder aus Hermannstadt” gesprochen, denn hier hat ein Deutscher, Klaus Johannis, die Wahlen für das Bürgermeisteramt mit etwa 90% gewonnen, und das in einer Stadt, in der die Mehrheit der Bevölkerung rumänisch ist. Das Demokratische Forum der Deutschen in Rumänien hat in derselben Stadt über 50% der Wähler für sich gewonnen. Ein Ergebnis, das wahrscheinlich die Gewinner selbst überrascht hat. Und der Stadt ist es seit damals auch gut gegangen. 2007 war sie sogar Europäische Kulturhauptstadt.

In zahlreichen ehemalig sächsischen Dörfern werden jetzt die Kirchenburgen saniert, die Orgeln restauriert und wiedereingeweiht. Denn es gibt Menschen, die sich dafür einsetzen – meistens nicht ausgewanderte Sachsen. Leider fehlen zurzeit nur noch die (evtl. sächsischen) Gemeinschaften, die diese Kirchen mit Leben füllen könnten. Ähnlich wie mit den Synagogen in Deutschland?

Es gibt auch Rückwanderer, Kinder der ehemaligen Auswanderer, die jetzt mit ihren Familien zurück nach Siebenbürgen kommen. Es gibt dann auch viele private Investoren, Deutsche aus der Bundesrepublik, die gerne in Siebenbürgen investieren, da die Landschaft doch deutscher ist als im restlichen Rumänien.

Kronstadt/Brasov, meine Stadt, hat in letzter Zeit ebenfalls eine Wiederbelebung des Deutschen erlebt. Im kleinen Kreis, natürlich, und ohne die Pracht der Vergangenheit, aber immerhin. Es hat sich wieder ein gemütliches Gemeindeleben entwickelt, samt den dazu nötigen Institutionen: Die Kirche ist wieder aktiver, die Kirchenmusik blüht, das Deutsche Forum bietet reichlich Kulturveranstaltungen, ein Deutsches Kulturzentrum wurde eröffnet und viel mehr. Sicher, die Kunden sind nicht nur Deutsche, doch man freut sich, dass es weitergeht.

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Alle aber stellen sich die Frage: “Wenn das zu Ende ist, wenn diese Generation alt wird, was dann?”

Wer übernimmt dann alles? Was kommt danach?

Das kann ich nicht beantworten. Was ich nur sagen kann: Meinen Beitrag für die Besserung Rumäniens und meinen Beitrag für den Fortbestand und die Entwicklung der sächsischen Kultur werde ich immer zu leisten versuchen.

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Am Ende dieser Serie, möchte ich noch sagen, dass sie in Erinnerung an meine Großmutter entstanden ist. Hoffentlich hätte sie diesen Texten zugestimmt.

Und an Yoav, meinen Gastgeber: Beim Durchblättern in deinem Blog und beim Lesen deiner Beiträge ist mir aufgefallen, dass du kaum über dich persönlich geschrieben hast… Das merke ich jetzt umso mehr im Vergleich mit meinen Beiträgen, die alle auch auf mich persönlich bezogen sind und die viel über mich selbst sagen. Es wäre mir eine Freude, wenn du einmal über dich erzählen würdest – und die Leser fänden es bestimmt auch interessant.

 

 

 

Veröffentlicht von

www.berlinjewish.com/

Mancherorts auch als der Rebbe von Krechzn* bekannt, heißt der Autor von "un/zugehörig" eigentlich Yoav Sapir. Er ist 5740 (auf Christlich: 1979) in Haifa, Israel, geboren und hat später lange in Jerusalem gelebt, dessen numinose Stimmung ihn anscheinend tief geprägt hat. Nebenbei hat er dort sein M.A.-Studium abgeschlossen, während dessen er sich v. a. mit dem Bild des Juden im Spielfilm der DDR befasst hat. Seit Sommer 2006 weilt er an akademischen Einrichtungen im deutschsprachigen Mitteleuropa: anfangs in Wien, später in Berlin und dann in Heidelberg. Nach einer Hospitanz im Bundestag arbeitet er jetzt selbstständig in Berlin als Autor, Referent und Übersetzer aus dem Hebräischen und ins Hebräische. Nebenbei bietet er auch Tours of Jewish Berlin. * krechzn (Jiddisch): stöhnen; leidenschaftlich jammern.

6 Kommentare

  1. Hallo Yoav,
    ich lese mehr oder weniger heimlich seit einigen Wochen mit, und das nicht erst, seitdem Christine hier schreibt. (Die das, wie ich finde, sehr gut gemacht hat! Ich habe sehr aufmerksam und interessiert mitgelesen!)
    Ich kann ihr nur Recht geben, es wäre sehr interessant etwas über dich persönlich zu lesen.

  2. @ Christine & Jutta

    Danke, Jutta. Ja, ich versuche, dem Wunsch entgegenzukommen.

    Christine möchte ich noch eine gute Zeit in der siebenbürgischen Heimat und in Rumänien wünschen, wo sie, nur damit die Leserschaft es weiß, die nächsten beiden Wochen verbringen wird, sowie eine gute Rückreise in dieses andere Deutschland.

  3. @Yoav

    Danke dir für die Wünsche! Ich freue mich schon auf meine Rückkehr, auf die Gespräche und… auf deine kommenden Beiträge!

  4. Vergangenheit und Gegenwart@Christine

    Zunächst einmal ein Dankeschön für deine eindrücklichen Schilderungen, an denen Du uns teilhaben lässt.

    Wenn ich deine Beiträge lese, muss ich immer an eine Reise denken, die ich vor etwa 15 Jahren unternommen habe. Damals bereiste ich Sri Lanka, das ehemalige Ceylon. Diese tropische Insel an der Südspitze Indiens war etwa 100 Jahre lang britische Kolonie, und nirgends war die Vergangenheit so eindrücklich sichtbar wie im kleinen, im zentralen Hochland gelegenen Städtchen Nuwara Eliya. Diese Städtchen wirkte so britisch, wie man es sich nur vorstellen kann. Von der britischen Architektur bis zum Poolbilliard im Hoteluntergeschoss war da alles “very british”. Und doch fehlte etwas – die Briten nämlich. Nie zuvor und niemehr danach in meinem Leben wurde mir so bewusst, welches Gefühl, welche Eindrücke mit morbid umschrieben wird.
    Ist es dieses Gefühl, das dich beschleicht, wenn du dich in Siebenbürgen aufhälst ? Sind auch dort die Zeugnisse einer bereits vergangenen Epoche allgegenwärtig ? Kannst du dieses starke Gefühl nachempfinden, oder missinterpretiere ich ?

    Gruss Peter

  5. Hallo Peter,

    Leider bin ich bis jetzt nicht dazu gekommen, auf deine Frage zu antworten.

    Es kann tatsächlich in Siebenbürgen schwer zu ertragen sein, dass fast keine Sachsen mehr dort leben. Etwa wie du es über Sri Lanka beschreibst.

    Jedoch ist dies die Wirklichkeit, in der ich in Rumänien aufgewachsen bin. Über die “blühende Zeit” der Deutschen in Rumänien habe ich eigentlich mehr aus den Erzählungen anderer Menschen erfahren. Das Bild der traditionellen, lebendigen sächsischen Gemeinden habe ich mehr vermittelt bekommen. Ich habe eigentlich die langsam “vergehende” Epoche als solche von klein auf miterlebt, also kann ich sagen, dass es für mich der Normalzustand ist.

    Wahrscheinlich war und ist es den älteren Leuten, die dort noch leben, viel schwerer zu verkraften, als mir. Oder, andererseits, den Fremden, die nur auf Besuch kommen und sich vielleicht so fühlen können, wie du in Sri Lanka.

    Was mich aber in der Politik ärgert, ist dass man nicht einmal auf die Erhaltung der Architektur achtet. Das Gesetz für Denkmalschutz existiert zwar, ist aber kompliziert und interpretierbar formuliert und wird auch nicht umgesetzt, so dass die meisten sächsischen Häuser, die restauriert werden, immer weniger von der originellen Architektur behalten. Der Staat kümmert sich fast gar nicht darum, dieses so wertvolle Erbe zu erhalten. Diese Gleichgültigkeit seitens der Behörden stört mich mehr, als die Tatsache, dass jetzt andere Leute in den Häusern wohnen, als vorher. Mit Ausnahme einiger Vereine, die sich für den Fortbestand dieser Kultur einsetzen, herrscht also die Gleichgültigkeit. Es wäre schade, wenn auch dieses kulturelle Erbe verschwinden würde.

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