Ein jüdischer Katechismus? Über jüdisches Recht und sein Verhältnis zur Wirklichkeit

BLOG: un/zugehörig

Wien. Heidelberg. Berlin: ein israelischer Blick auf Deutschland
un/zugehörig

Frage: Wie ist die ungeheure Diskrepanz zwischen dem Alltagsleben der allermeisten Juden in der Diaspora und den Vorschriften der Halacha, d.h. des jüdischen Rechts, zu lösen?

Antwort: Das kommt darauf an, wie man das Problem definiert, also welche der beiden Parteien man für die Kluft verantwortlich macht.

Frage: Was bedeutet das ganz konkret?

Antwort: Auch wenn viele Juden in der Diaspora oft kaum noch am jüdischen Leben teilnehmen, darf man nicht übersehen, dass die Halacha als theoretischer Text ihren Gegenstand in der realen Welt nicht mehr vornehmlich beschreibt und dokumentiert, sondern immer mehr Ansprüche an die Wirklichkeit stellt.

Frage: Aber wenn die Halacha auch weiterhin nur jüdische Lebensweisen beschreiben würde, wäre sie wohl kaum noch "jüdisch"…

Antwort: Sprachlich gesehen, bedeutet das hebräische Wort "Halacha" einfach "das Gängige", d.h. das, was unter Juden jeweils üblich ist. Tatsächlich war die Halacha seit ihren Anfängen nicht nur ein normatives Rechtscorpus, sondern zugleich auch ein Spiegelbild der unterschiedlichen Konventionen an verschiedenen Orten zu verschiedenen Zeiten. Erst bei der Begegnung mit der Moderne ist diese Wechselwirkung zwischen der (v. a. orthodoxen) Halacha und den gültigen Konventionen zu Ende gekommen. Die Mehrheit der Juden in der Diaspora, die am jüdischen Leben kaum noch teilnimmt, formuliert damit keine spezifisch jüdische Konvention – und daher auch keine Halacha. Aber auch orthodoxe Juden, die fast überall eine kleine Minderheit darstellen, können keine Konvention zustande bringen. Vielmehr muss die Halacha abermals den Zugang zur gemäßigten Mitte finden, also nochmals an die gültige, weil gängige Konvention gebunden werden, um den Anschluss an die Wirklichkeit, also an das Judentum, nicht ganz zu verlieren (auch in der Halacha selbst gibt es Vorschriften, die darauf hinweisen).

Frage: Aber Juden leben in so vielen Ländern und pflegen bisweilen jeweils unterschiedliche Konventionen?

Antwort: Das stimmt, jedoch gibt es heute nur in einem Land eine jüdische Öffentlichkeit, sozusagen eine nationale Öffentlichkeit: in Israel. Was Juden anderwärts machen, richtet sich immer, ob absichtlich oder gar unbewusst, ob nachahmend-akzeptierend oder kritisch-ablehnend, nach israelischen Konventionen.

Frage: Doch selbst in Israel kann man verschiedene Konventionen beobachten!

Antwort: Zwar gibt es dort mehrere "Parallelgesellschaften", aber nichtsdestoweniger auch eine jüdische Mehrheitskonvention, also eine gültige Norm, die im Mittelpunkt dieser weltweit einzig jüdischen Öffentlichkeit steht und weder "religiös" noch "säkular" ist, sondern irgendwo dazwischen liegt.

Frage: Und sieht das de facto aus?

Antwort:  Man hält z. B. zwar nicht alle fünf Fasttage ein, den wichtigsten aber schon, wobei auch die anderen nicht einfach ignoriert werden. Am Schabbes sieht man zwar fern und fährt Auto, geht aber nicht zur Arbeit und versucht sich auszuruhen. Man befasst sich mit religiösen Inhalten und entwickelt sie weiter, unterwirft sich dabei aber keiner selbst ernannten Autorität. Man isst zwar kein Schweinefleisch, kocht aber am Schabbes und wartet keine sechs Stunden zwischen Fleischigem und Milchigem. Und so weiter und so fort.

Frage: Und was bedeutet das de jure?

Antwort: Diese in der Wirklichkeit verankerte Norm ist die eigentliche Halacha. Nicht die theoretischen Ansätze, sondern diese Wirklichkeit ist das zeitgenössische Judentum.

Frage: Heißt es, dass außerhalb des jüdischen Landes kein jüdisches Leben mehr möglich ist?

Antwort: Mit dem Erlöschen jüdischer Zentren in der europäischen und muslimischen Diaspora einerseits und mit der erfolgreichen Integration jüdischer Zuwanderer in Nordamerika andererseits ist das moderne Israel tatsächlich zum archimedischen Punkt geworden. Jüdisches Leben ist heute im nichtjüdischen Ausland genauso möglich wie deutsches Leben an der Wolga. Es gärt nicht mehr von innen heraus, sondern versucht sich, sofern überhaupt noch Interesse am Fortbestand besteht, an der jeweiligen Muttergesellschaft zu orientieren. Tatsächlich unterhalten Israel und Deutschland semioffizielle Gesandtschaften zur Betreuung der jeweiligen Auslandsminderheiten.

Fazit: Nicht die Nachahmung der künstlichen Performanz eines orthodoxen Minderheitsphänomens, sondern das Sichzurechtfinden in den natürlich entstehenden Normen der jüdischen Öffentlichkeit ist die einzige Erwartung, die an Rand- sowie werdende Juden gestellt werden darf und ggf. auch muss.

 

Erschienen in der "Jüdischen Zeitung", Ausgabe 11/2009.

 

 

Veröffentlicht von

www.berlinjewish.com/

Mancherorts auch als der Rebbe von Krechzn* bekannt, heißt der Autor von "un/zugehörig" eigentlich Yoav Sapir. Er ist 5740 (auf Christlich: 1979) in Haifa, Israel, geboren und hat später lange in Jerusalem gelebt, dessen numinose Stimmung ihn anscheinend tief geprägt hat. Nebenbei hat er dort sein M.A.-Studium abgeschlossen, während dessen er sich v. a. mit dem Bild des Juden im Spielfilm der DDR befasst hat. Seit Sommer 2006 weilt er an akademischen Einrichtungen im deutschsprachigen Mitteleuropa: anfangs in Wien, später in Berlin und dann in Heidelberg. Nach einer Hospitanz im Bundestag arbeitet er jetzt selbstständig in Berlin als Autor, Referent und Übersetzer aus dem Hebräischen und ins Hebräische. Nebenbei bietet er auch Tours of Jewish Berlin. * krechzn (Jiddisch): stöhnen; leidenschaftlich jammern.

16 Kommentare

  1. Halacha

    So ganz verstehe ich das nicht, da es mir zu fremd ist. Was ist diese Halacha? Wer bestimmt, was darin gültig ist und was nicht? Wie ist sie entstanden? Was ich so rauslese ist es schwer die Halacha zu leben in Anbetracht des Zeitgeistes, aber überzeugte Juden möchten sich danach richten. Kommt das so ungefähr hin.

  2. @Yoav:
    Der Text oben suggeriert, Halacha sei ein deskriptiv zu verstehendes Konzept. Worauf basierst Du das?

    Wenn Du Dir anschaust, wie im Talmud halachische Entscheidungen gefaellt werden, dann hat das doch eindeutig normativen Charakter. Wie soll man auch Begriffe wie “chajew”, “poter” und “mutar” deskriptiv verstehen?
    Die Ge- und Verbote der Torah selbst sind doch imperativ formuliert (ist mir klar, dass das angesichts der grammatikalischen Eigenheiten der biblischen hebraeischen Sprache eine etwas schwammige Aussage ist).

    Nach orthodoxem Verstaendnis basiert die gueltige Halacha auf dem Schulchan Aruch (siehe http://en.wikipedia.org/wiki/Shulchan_Aruch), der wiederum auf Beth Josef basiert, der wiederum auf den frueheren Autoritaeten Rosch, Rif und Rambam basiert. Die Sprache dieser Werke ist doch eindeutig normativ, nicht deskriptiv.

    Auch neuere Werke wie Chajej Adam, Kizzur Schulchan Aruch oder Mischnah Brurah – die in der Tat zu einer Zeit verfasst wurden, wo sich Sekularisierung und Aufspaltung in “religioese Stroemungen” abzeichnete) ist normativ.

    Ich verstehe auch Deinen Begriff von der “in der Wirklichkeit verankerten Norm” ueberhaupt nicht. Nach dieser Logik waere ja dadurch, dass sich, wie in den Buechern der Propheten berichtet, die Mehrheit vor Goetzenbildern niederwarf, Halacha entstanden (um mal ein extremes Beispiel zu gebrauchen). Das ist offensichtlich Unfug.

    Fuer eine Klarstellung waere ich also dankbar.

    YM

  3. @ YM

    Seit wann gibt es überhaupt “Halacha”? Kannten Moses, David oder die Propheten schon diesen Rechtsbegriff?

    Der Begriff der Halacha entstand im Zusammenhang mit der allmählichen Verwandlung des hochantiken Judentums ins Rabbinertum, in eine Religion. Zu diesem Zeitpunkt war das Volk bereits ziemlich stark jahwifiziert (auch wenn etwa die Haggadah durch die ausnahmslose Verdrängung Mosis die Gegenwart anderer Vorstellungen vermuten lässt).

    Wenn du den Begriff der Halacha nun aus diesem Zusammenhang loslösen und verallgemeinern willst, um mir dann etwa die Frage nach der Halacha nicht- oder vorjahwistischer Kreisen in Israel zu stellen, dann lautet meine Antwort: Ja, man könnte in dem Fall (wenn auch ganz anachronistisch) sagen, die eine oder andere Vorschrift bzgl. der Anbetung der einen oder anderen Gottheit war damals die “Halacha” des jeweiligen Anbeterkreises. Nur erhält der Begriff dadurch die Bedeutung eines Normen- und Konventionsgefüges im anthropo- bzw. ethnologischen Sinne, sodass auch von den kultischen und sonstigen Halachoth der Indianerstämme in den Amerikas die Rede sein kann.

    Die frührabbinische Halacha entstand in Wechselwirkung zwischen der Deskription pharisäischer Bräuche (übrigens auch in negativer Form: “ein geraubter Lulaw ist passul” kann auch bedeuten, dass damals Lulawim geraubt wurden) und innovativer Normsetzung (wie etwa bei der Einführung und Durchsetzung von Pflichtgebeten durch die Weisen zu Jawne). Dies widerspiegelt sich in der Vielstimmigkeit frührabbinischer Werke (Mischna & Tosefta, Talmudim, Midraschim).

    In den von dir erwähnten, relativ sehr spät entstandenen Werken sieht es schon etwas (aber auch nicht ganz) anders aus: Nach der frührabbinischen Wandelzeit, also im Mittelalter, gab es – bis auf wenige Ausnahmen wie bei Rabbenu Gerschom – kaum noch innovative Normsetzung. Stattdessen wurden pharisäische und frührabbinische Bräuche als ewige Grundsätze empfunden, mit denen der Handlungsspielraum eingegrenzt wurde. Diese Stagnation in der realen Welt darf wiederum zur Blüte der Mystik geführt haben. Interessanterweise hat sie aber auch scheinbar paradoxe Folgen gehabt. So wurde etwa der Schulchan Aruch im 16. Jh. trotz seiner normativen Ansprüche nicht ohne weiteres, sondern in Begleitung der deskriptiven Anmerkungen von Isserles in Groß-Aschkenas aufgenommen, mit denen er Karos Werk der damaligen Praxis, d.h. den in Groß-Aschkenas seinerzeit gültigen Konventionen anpasste (ganz zu schweigen von den jemenitischen Juden, die sich häufig auch heute noch an Rambams 14 halten).

    Diese Problematik war freilich notwendig, damit Israel sogar am Rande der Weltgeschichte fortbestehen und Umstände überleben konnte, unter denen sich andere Völker in weit größerem Umfang, wenn nicht gänzlich, aufgelöst hätten. Achad Ha’ams berühmtem Spruch, “mehr als Israel den Sabbat behütet hat, hat der Sabbat Israel behütet”, stimme ich vollkommen zu. Allerdings hatte die Teilexistenz des Volkes als Religions- bzw. Ideologiegemeinschaft auch Bedauerliches zur Folge, etwa den ideologisch begründeten Zwiespalt zwischen dem rabbinischen und dem karäischen Judentum.

    Doch durch die Entstehung einer jüdischen Öffentlichkeit im eigenen Staat und die allmähliche Wiederkehr natürlichen Volkslebens ist diese lange Leidensgeschichte zu Ende gekommen (und wird von manchen heutzutage nur noch freiwillig fortgesetzt). Pharisäische Bräuche hin oder her: In der jüdischen Öffentlichkeit spielt der Sabbat als offizieller Ruhetag eine zentrale Rolle (auch wenn da zugegebenermaßen, vornehmlich arbeitsrechtlich, noch Verbesserungsbedarf besteht). Und ob man den Sabbatmorgen am Strand oder in der Synagoge verbringt: Der Tag wird in außergewöhnlicher Form begangen und dementsprechend wahrgenommen, bevor der Alltag am Sonntag einkehrt. Und die karäischen Juden sind wieder dabei.

  4. @Yoav:
    Besten Dank fuer die ausfuehrliche Stellungnahme!

    Das Konzept von Halacha macht natuerlich in einem Zeitalter der Prophetie, also fuer Moses, David und andere Propheten ueberhaupt keinen Sinn. Sinnvoll wird das erst nach der (mythischen?) Knesseth Anschei Gedolah. Siehe die bekannte Gemarah mit dem Ofen von Akhnai und bas kol, Baba Metzia 59b unten, fuer die Beschreibung einer Sternstunde.

    Natuerlich gab es frueher, im Zuge der Entwicklung und wegen schwierigerer Kommunikation, keinen einheitlichen Rechtsraum. Aber mir ist immer noch nicht klar, wieso nicht von Anfang an der Anspruch der Verbindlichkeit halachischer Entscheidungen bestanden haben soll. Selbst wenn das, wie Du unterstellst, zunaechst nur “pharisaeische Braeuche” waren, laesst sich doch nicht leugnen, dass das juedische Volk diese als verbindliche Regeln akzeptiert hat, oder doch?
    Ich kann ja auch das GG nicht ablehnen unter dem Vorwand, ich habe es persoenlich nie akzeptiert.

    Inwiefern die Gruendung des Staates Israel Einfluss auf den Verbindlichkeitsanspruch der Halacha haben soll, ist mir auch nicht ganz klar, aber da werden wir einander wohl nicht ueberzeugen koennen…

    YM

    P. S.: Es habe gelegentlich merkwuerdige Probleme mit Deinem Authentifizierungssystem. Obwohl der Code richtig ist, bekomme ich eine gelegentlich Ablehnung. Nach mehreren Versuchen geht es dann. Etwas nervig…

  5. @ YM

    Du siehst die Sache dogmatisch an und suchst nach Grundsätzen, die bis in alle Ewigkeit gelten sollten. Daher erblickst du in der Halacha jene Verbindlichkeit, von der du sprichst. Will sagen: Aufgrund deiner Sichtweise weist die Halacha dieses Charakteristikum auf, hat für dich also diese Verbindlichkeit.

    Ich aber betrachte das Problem sozialhistorisch (wie schon mal in der Diskussion zum Beitrag “Hat die Synagoge ausgedient?” erklärt). Aus dieser Perspektive besitzt die Halacha an und für sich noch keine Verbindlichkeit, vielmehr wird ihr diese beigemessen.

    Da stellt sich die Frage, welche Funktionen die Halacha zum jeweiligen Zeitpunkt im Volksleben erfüllt (hat) – und warum dies der Fall (gewesen) ist. In diesem Zusammenhang ist es klar, dass sich sowohl die Stellung der (bisherigen) Halacha als auch deren Inhalt und sogar deren Beschaffenheit ändern, wenn die Umstände des Volkslebens sich ändern (wie ich ja im obigen Beitrag zu erklären versuche).

    Nicht die Halacha bestimmt das Volksleben, sondern das Volksleben bestimmt die Halacha. Israel hat die Halacha hervorgebracht und wird sie daher auch überleben.

    Deine Gleichsetzung der Halacha mit dem Grundgesetz ist nicht tragfähig. Das Grundgesetz wird mittels des Gewaltmonopols des Staates (s. Max Weber, Thomas Hobbes) durchgesetzt, worüber diejenigen nicht verfügen, die heutzutage im Namen der Halacha sprechen zu dürfen meinen. Du kannst aber das bundesrepublikanische Grundgesetz – was die Verbindlichkeitsfrage angeht – mit der Stellung der Scharia im schiitischen Iran gleichsetzen, wo Letztere ebenfalls durch das staatliche Monopol auf die legitime Gewalt durchgesetzt wird.

    Möchtest du aber wirklich in einem Staat leben, wo die Halacha (samt allem, was da drin steckt, einschließlich etwa der physischen Bestrafung) per Gewaltmonopol durchgesetzt wird? Oder erlaubst du dir – mal ehrlich betrachtet – vornehmlich deswegen, sich zur (selbstgewollten) Verbindlichkeit der Halacha zu bekennen, weil diese mangels Gewaltmonopols nicht wirklich bzw. nicht ganz durchführbar ist?

    Bzgl. der Antispam-Maßnahme: Keine Ahnung. Dafür ist “Spektrum der Wissenschaft” zuständig, also die Leute, die das alles betreiben. Ich hab sie aber auf deine Anfrage aufmerksam gemacht.

  6. Verbindlichkeit Gewaltmonopol

    1. War es historisch nicht so, dass juedische Gemeinden auch im Exil lange Zeit einen hohen Grad an Autonomie hatten? Und einem Beth Din jedenfalls in innerjuedischen Angelegenheiten Vollzugsgewalt zukam?
    Sogar heute kenne ich einen Fall, wo ein groesserer Anlagebetrug an einer orthodoxen Gemeinschaft nicht zur Anzeige gebracht wird, weil die Rabbiner das vor einem Beth Din klaeren wollen.
    Klar hat sich die Durchsetzbarkeit von Halacha nach der Emanzipation dramatisch veraendert.

    2. Aber mir ist immer noch unklar, wie imperative und legalistische Sprache “deskriptiv” sein kann. Welchen Sinn macht den beispielsweise die referenzierte Gemara in BM 59b aus Deiner Perspektive?
    Worum streiten denn z. B. Beth Hillel und Beth Schammai? Wuerde sich der Praesident des obersten Gerichts allen Ernstes ueber Braeuche streiten? Auf Basis dieser Halacha wurden Menschen hingerichtet und finanzielle Streitfragen entschieden! Wenn das nicht Gesetzescharakter hat, was dann?

    3. Das Wort Mitzvoth (“Gebote”), also das, wofuer Halacha Ausfuehrungsbestimmungen sind, ist etymologisch verwandt mit Tzavah (“Armee”). Ich nehme mal an, Dein Kommandant in Tzahal hielt seine Befehle an Euch auch fuer verbindlich.

    YM

  7. Antworten

    1. Ist das ein Einwand oder eine allgemeine Anmerkung? Jedenfalls hatten viele Körperschaften Autonomie, was innere Angelegenheiten anging, also bei Fragen, die keinen Außenseiter betrafen. Diesem Zustand hat die Entstehung des Rechtsstaates ein Ende bereitet. Dabei wurden v. a. die leibeigenen und sonstigen Bauern emanzipiert. Wie diese sind im Laufe der Zeit auch die Juden zu Citoyens geworden. Aber was hat es mit unserem Thema zu tun? Oder meinst du, es wäre besser, wenn Juden die Möglichkeit hätten, ihre Rechtsstellung als Staatsbürger aufzugeben und sich stattdessen der Gewalt halachischer Körperschaften auszuliefern?

    2. Die Erzählung von Achnajs Ofen will die Botschaft vermitteln, dass die Kompetenz, die Halacha zu bestimmen, im Ermessen der Weisen, also derer liegt, welche diese Erzählung erzählen. Das ist wohl ein Zufall…

    3. Selbstverständlich beruht auch das Militär auf der Ausübung von Gewalt. Die Soldaten sind ja während des Wehrdienstes der Militärjustiz ausgeliefert. Wenn du damit sagen willst, wir seien alle Soldaten Gottes, dessen Worte, wie sie uns in der Thorah offenbart worden seien, verbindlichen Charakter hätten, dann kann ich dir nur sagen, dass ich die Thorah für ein Menschenwerk halte.

    Bzgl. Deskriptivität: Vielleicht ist es nicht ganz klar, was ich damit meine. Zur Veranschaulichung würde ich etwa die Halachoth bzgl. der Trennung von Fleischigem und Milchigem heranziehen. Hatte denn das Volk Kuhfleisch in Ziegenmilch verzehrt, bis die Weisen den dreifachen Bibelvers so auslegten, dass 1) nicht nur das Kochen, sondern auch der Verzehr verboten ist; 2) nicht nur das Lamm bzw. die Ziegengattung, sondern alles koschere Vieh gemeint ist; und 3) “Milch” nicht nur die der eigenen Mutter, sondern die Milch von jeder koscheren Viehart bedeutet? Oder legte man den Vers so aus, dass er im Einklang mit dem Brauch stand, der zu jenem Zeitpunkt (zumindest bei den Auslegern) weiter verbreitet war als andere? Meiner Meinung nach: Letzteres.

    Apropos Fleisches im Milchigem: Die Erzählung in Chulin 116a legt beides nahe: 1. In der Mischna (Chulin 8:4) versucht Rabbi Josej haGlili das halachisch zu begründen, was an seinem Ort Brauch war (also: deskriptiv); 2. im Gegensatz zu Josejs Heimat hat man an anderern Orten Geflügelfleisch, was die obigen Verbote angeht, anscheinend doch als Viehfleisch behandelt, was wiederum andeutet, dass die anderen Weisen ebenfalls halachisch begründen wollen, was bei ihnen eh schon gang und gäbe ist (also: nochmals deskriptiv).

    Nicht deskriptiv ist hingegen innovative Normsetzung wie bei der Neugestaltung des Kultes durch die Einführung von Pflichtgebeten als Ersatz der Opfergaben.

  8. Halacha ./. Minhag

    1. Es geht mir nicht um die Frage, ob es heute besser waere, in einem “halachischen Staat” zu leben. Mir ist durchaus klar, dass sich auch religioese Macht missbrauchen laesst.

    2. Warum ignorierst Du die Tatsache, dass diese “Weisen” teilweise fuehrende Mitglieder eines Gremiums namens Sanhedrin waren? Wie deutest Du die Rolle dieses Gremiums? So eine Art Elferrat wie beim Karneval?

    3. Es ging mir nicht um den Gewalt- oder soldatischen Aspekt, sondern wiederum um Verbindlichkeit von Anweisungen.

    Ja, wahrscheinlich letzteres. Aber warum? Weil man davon ausging, dass das, was die Mehrheit macht, wahrscheinlich eher dem entsprach, was G-tt ueber 1000 Jahre zuvor am Sinai befohlen hatte. Dabei ist irrelevant, ob Du heute den Chumasch fuer Menschenwerk haelst. Ausschlaggebend ist doch, dass diejenigen, die diese Entscheidungen getroffen haben, davon ausgingen, dass nicht nur der Chumasch, sondern auch die Regeln der Mischnah vom Sinai stammen.

    Wie unterscheidest Du Halacha von Minhag?

    YM

  9. Hab ich den Faden verloren? Oder laufen die Fäden parallel?

    Die Wissenschaftler wissen unterm Strich nicht, inwiefern das alles stimmt, was von der Sanhedrin erzählt wird (nicht wenig darf Rückprojektionen sein, die als den späteren Weisen als Basis zur Legitimierung ihrer eigenen Ansprüche dient). Nichtsdestoweniger ignoriere ich die Sanhedrin nicht. Nur fällt es mir schwer, deinen Gedankengang nachzuvollziehen. Was willst du damit sagen? Dass die Sanhedrin im damaligen Zusammenhang autoritative Macht besaß, was ihre Beschlüsse Verbindlichkeit verlieh? Damit erklärst du aber nicht, warum diese Verbindlichkeit auch außerhalb des ursprünglichen Zusammenhanges unbedingt fortbestehen müsste. Es sei denn, der sozialhistorische Zusammenhang spielt für dich keine Rolle und die Autorität der Sanhedrin bleibt als Dogma für immer und ewig bestehen. Aber diesen grundsätzlichen Unterschied zwischen uns haben wir ja schon mehrmals festgestellt…

    Bzgl. “davon ausgingen”: Diese Formulierung erscheint hier am Platze… Nun kann es für Menschen wie dich, die die Sache dogmatisch betrachten, tatsächlich ausschlaggebend erscheinen. Aber warum soll es für andere Menschen, die solche (ihres Erachtens kaum begründbare) Ausgangspunkte eben nicht teilen, ebenfalls verbindlich sein?

    Ein Minhag ist ein Brauch und bildet somit Teil einer jüdischen Kultur. Man kann es machen, muss aber nicht. Bis auf Gruppenzwang: Du kennst bestimmt die Erzählung vom Weib des (irgendeines…) Brisker Rabbiners, die neben die Chanukija ihren Besen hingestellt hat. Als sie bemerkt hat, dass die Schüler sie sehr genau beobachten, hat sie gleich gesagt: “Das ist kein Minhag!”. Seitdem stellen die Schüler und deren Schüler neben die Chanukija einen Besen hin und sagen: “Das ist kein Minhag!” …hinter jedem Witz steckt a stickl Wahrheit.

    Eine Halacha ist, verallgemeinert gesehen, ein Minhag, der in einem bestimmten Zusammenhang kanonisiert bzw. kodifiziert wurde (und deswegen nicht Minhag heißt, obwohl er doch einer ist). Durch seine Aufnahme in das religiöse System wurde der Minhag von einem Merkmal jüdischen Volkstums zu einem Bestandteil der rabbinisch-jüdischen Religion. Innerhalb des rabbinisch-religiösen Paradigmas ist diese Halacha verbindlich, allerdings ist dieses Paradigma wiederum nur ein – freilich wichtiges und dennoch an sich unverbindliches! – Merkmal jüdischer Kultur.

    Ob man diesen Halacha gewordenen Minhag, diesen Bestandteil der Religion heute ebenfalls für verbindlich hält, kommt nun darauf an, ob man das religiöse System dogmatisiert und als ewiglich autoritativ erachtet (wie du es tust), sodass Israel quasi zum Bestandteil der rabbinischen Religion wird. Aber man kann sich auch mit diesem System unter Berücksichtigung seines sozialhistorischen Zusammenhanges auseinandersetzen, um es kritisch in den heutigen Zusammenhang zu übernehmen und in seine Auffassung Israels zu integrieren (wie ich es tue).

    Es kommt also immer und immer wieder zu ein und demselben Punkt: Du betrachtest die Sache dogmatisch, ich hingegen sozialhistorisch. Diese beiden Wege verlaufen parallel.

  10. Lustig…

    Deine Brisker Geschichte finde ich wirklich lustig. 😉

    Nenne es meinetwegen ein Dogma. Aber nimm zur Kenntnis, dass die Urheber dieses “Dogmas” die Verfasser und Redaktoren der Texte sind, denen Du dem Umstand verdankst, dass es das Wort “Halacha” überhaupt gibt. Nicht ich.

    Bgzl Sanhedrin: Ist beispielsweise auch Josephus Flavius verdächtig, Teil einer tannaitischen Verschwörung zu sein, die die Bedeutung des Sanhedrin künstlich aufbläst? Oder die Verfasser des “neuen Testaments”?

    Hälst Du die übliche Übersetzung von “Torah” als “Gesetz” für falsch?

    Um mal vor die tannaitische Zeit zurückzugehen (zu etwas, für das es meines Wissens keine Bestätigung aus unabhängigen Quellen gibt, aber das ist hier irrelevant): Die Purim-Geschichte. Wie würdest Du Esther 3:8 übersetzen?

    In der Tat kann man die Frage aufwerfen, weshalb eine evtl ursprünglich vorhandene Verbindlichkeit ausserhalb des ursprünglichen Kontexts erhalten bleiben soll. Akzeptierst Du oder bestreitest Du, dass das jüdische Volk in der Zerstreuung (also ausserhalb des ursprünglichen Zusammenhangs) das rabbinische Regelwerk des Talmud als verbindlich akzeptiert hat?

    Mir scheint Teil des Problems zu sein, dass wir leicht verschiedene Definitionen von “verbindlich” benutzen.

    Gute Nacht

    YM

  11. Antworten

    ad Urheber der Halacha: Ja, eben deswegen muss man die Ansprüche der Halacha in diesem Zusammenhang betrachten, in dem sie verankert sind. Es ist jedoch keine alles-oder-nichts-Wahl. Diese Stufe in der Geschichte Israels gehört ebenfalls zu meinem Erbe. Und das lässt sich nicht von der Haltung abhängig machen, die ich zum einen oder anderen Bestandteil dieses Erbes habe. Genau so, wie die Frührabbiner die Bibel ererbten und nach eigenem Ermessen behandelten, können heutige Juden das behandeln, was sie von den Frührabbinern ererbt haben.

    ad Sanhedrin: Ich glaube nicht, dass es Wissenschaftler gibt, die die bloße Existenz einer Einrichtung namens Sanhedrin bezweifeln. Aber es schwanken die Meinungen in der Frage, wie das zu würdigen ist, was dieser Einrichtung einige Jahrhunderte nach deren Auflösung zugeschrieben wurde. Es ist ja nicht auszuschließen, da etliche Aussagen im Traktat “Sanhedrin” zur Mythologisierung der Sanhedrin neigen. Und da kommt es oft auf Einzelfälle an. Welche Kompetenz wird der Sanhedrin wann und von wem zugeschrieben, in welchem Zusammenhang etc. Das ist jedoch nicht mein Forschungsbereich, ich besitze hier also nur passive Kenntnisse.

    ad Übersetzung: Ich würde “Thorah” mit Lehre übersetzen, Gesetz wiederum mit “Chok”, ggf. auch mit “Dat”.

    ad Esther 3,8: Anscheinend hält der Autor (ob es nur einer war? Die Estherrolle soll ja aus dem Aramäischen übersetzt worden sein) die Bräuche der Juden für verbindlich und setzt sie mit den Verordnungen des Königs gleich (aber diesen zugleich auch entgegen, quasi im Gegensatz zu “dina demalchuta, dina”). Muss ich jetzt unbedingt mit dem Autor ein und derselben Meinung sein?

    ad Akzeptanz: Hat denn ganz Israel das Rabbinische akzeptiert? Ich würde eher sagen, das Rabbinische hat Israel ein Stück weit umdefiniert bzw. -konstruiert, sodass diejenigen, wie etwa die karäischen Juden, die es nicht akzeptiert haben, ausgegrenzt worden sind. Mit anderen Worten: Es scheint mir, dass bei dieser Wechselwirkung zwischen Ideen und Menschen (einerseits als Mitentwicklern der Ideen, andererseits als “Hosts” bzw. Trägern der Ideen) kein klares Subjekt-Objekt-Verhältnis festzustellen ist. Mir ist aber wichtig, immer Herr der Ideen zu bleiben (“hast du Ideen oder haben Ideen dich?” – Früchte des Zorns). Daher gilt es heute m. M. n. diese selbstverschuldete Unmündigkeit des Juden, der sich irgendwelchen inzwischen dogmatisierten Ideen ausliefert, zu überwinden.

    ad Verbindlichkeit: Ohne das jetzt irgendwo nachgeschlagen zu haben, hat der Begriff m. E. immer mit negativen Konsequenzen zu tun, die eintreten, sobald der Mensch den an ihn gestellten Erwartungen nicht gerecht wird. Eine romantische Beziehung ist z. B. insofern verbindlich, als der eine Partner weiß, dass er vom anderen verlassen werden könnte, wenn er/sie (der Erstere) ihn/sie (den Letzteren) mit einem dritten Menschen betröge. Das bundesrepublikanische Recht ist also für mich verbindlich, weil ich nicht bestraft werden möchte (manchmal auch, weil ich mich damit identifizieren kann, aber die Verinnerlichung von Werten ist ein anderes Thema). Auch die Halacha sieht Strafen vor (sonst hätten die Frührabbiner ja keinen Anspruch auf Verbindlichkeit erheben können), nur gibt es heutzutage keine Autorität, welche die diesseitigen Strafen vollziehen könnte, und die jenseitigen Vorstellungen teile ich nicht unbedingt, geschweige denn die damit verknüpften Androhungen.

  12. Prima

    Nu, anscheinend werden wir uns doch noch einig. Denn mehr, als dass Halacha schon immer viel mehr zu sein beanspruchte als Brauchtum, naemlich das Nationalgesetz des juedischen Volkes, wollte ich ja gar nicht sagen. Davon wohl zu unterscheiden ist die Fragen,
    1. inwiefern dieser Anspruch gerechtfertigt ist,
    2. ob sich dieser Anspruch in der modernen Welt durchsetzen laesst oder
    3. ob er im Zeitalter der fortschreitenden Saekularisierung ueberhaupt von einer Mehrheit akzeptiert wird.

    Meine Hypothese dazu: Wie Du schon gesagt hast, ist das Verhaeltnis zwischen Subjekt und Objekt etwas fliessend. Dazu passt auch der von Dir zitierte beruehmte Spruch von Achad Ha’am ueber Schabat und Juden.

    Diejenigen, jedenfalls in der Diaspora, die Halacha ignorieren, fuer wenig relevantes Brauchtum halten oder aehnliches, werden aus dem juedischen Volk ausscheiden. Nicht weil sie per Definition nicht dazugehoeren wuerden oder einen Austritt erklaeren, sondern weil ihre Kinder und Enkel es vorziehen werden, sich z. B. durch “Mischehe” soweit in die Mehrheitsgesellschaft zu assimilieren, dass sie sich nicht mehr als Juden identifizieren. Komplementaer dazu zeugen Paare, die Halacha fuer verbindlich halten, einerseits wesentlich mehr Kinder und sind anderseits wesentlich erfolgreicher, ihnen eine ausreichend starke juedische Identitaet zu vermitteln.

    Auch die wachsende Entfremdung zwischen “Charedim”/”Datim” und “Chilonim” und das demographsiche Wachstum der Paelestinenser in Israel und den Gebieten laeuft darauf hinaus, dass sich dort juedische und israelische Identitaet auseinanderentwickeln.

    Sowohl in der Diaspora als auch in Israel scheint die “traditionelle Mitte” langsam aufgerieben zu werden.

    Es waere demnach nicht so, dass sich das Volk ein Gesetz sucht. Umgekehrt: Das Gesetz findet (und erhaelt sich) sein Volk.

    YM

    P. S.: bzgl Verbindlichkeit und negative Konsequenzen: nach 120 werden wir es erfahren…

  13. Hat das Rabbinertum ausgedient?

    Da rennst du aber offene Türen ein. Ich habe ja schon im obigen Beitrag selbst geschrieben: “Tatsächlich war die Halacha seit ihren Anfängen nicht nur ein normatives Rechtscorpus, sondern zugleich auch ein Spiegelbild der unterschiedlichen Konventionen an verschiedenen Orten zu verschiedenen Zeiten.”

    Meine persönlichen Antworten auf deine drei Fragen:

    1. Aus sozialhistorischer Perspektive kann hier von keiner “Rechtfertigung” die Rede sein. Stattdessen würde ich nach der Wirksamkeit dieses Anspruchs fragen. Und darauf antworten: Jahrhundertelang sehr war er sehr wirksam, nämlich solange, als das Volk nur noch am Rande der Geschichte existierte und es keinen jüdischen Staat im eigenen Lande gab, wo eine jüdische Öffentlichkeit hätte entstehen können. Heutzutage ist der Anspruch aber kaum noch wirksam, weil die (m. E. negativen) Rahmenbedingungen, die ihn über die Jahrhunderte hinweg (notwendigerweise!) so wirksam werden ließen, nicht mehr vorhanden sind.

    2. Offensichtlich nicht.

    3. Offensichtlich nicht.

    Bzgl. der Folgen des Bruchs mit dem Rabbinertum:

    Was im nichtjüdischen Ausland in der Assimilation mündet, führt im jüdischen Inland notwendigerweise, d.h. naturgemäß, zu einer Umgestaltung des Judentums.

    In der Diaspora können Juden als solche, d.h. aus jüdischem Bewusstsein heraus, kaum Einfluss auf die Öffentlichkeit ausüben, in der sie leben. Das liegt am zahlenmäßigen Verhältnis zwischen den Juden und jener Nation, der sie jeweils angehören. Vielleicht wissen heute mehr US-Amerikaner denn je, was “Chanukka” ist; gefeiert werden dort aber nach wie vor die christlichen Feiertage. So einflussreich jüdische Prominente da auch sein mögen: Die US-amerikanische Öffentlichkeit ist und bleibt eine christliche.

    Innerhalb einer jüdischen Öffentlichkeit hingegen haben Juden von vornherein nicht die Möglichkeit, in einer nichtjüdischen Umgebung aufzugehen. Die Feiertage sind die jüdischen Feiertage. Kann sein, dass Chanukka oft auf eine Art und Weise begangen wird, die weder dir noch mir gefällt. Aber dadurch reduziert sich nicht die jüdische Identität. Sie gestaltet sich lediglich um.

    Daher bin ich nicht der Meinung, dass das Gesetz sich auch heute noch quasi ein Volk findet. Dank der Rückkehr in die Geschichte und der Neuentstehung mehr oder weniger natürlichen Volkslebens ist das Volk nämlich nicht mehr an das Gesetz angewiesen: Die Halachoth sind bei vielen wieder Bräuche, die Religion Kulturgut geworden. Wichtig? Ja. Verbindlich? Nein. Und wenn ich diese Entwicklung theoretisch betrachte, so ändert sich im Einklang mit den heutigen Konventionen auch die Halacha.

    Das gilt m. E. notabene nicht nur für die Juden im Inland, sondern auch für diejenigen im Ausland bzw. der Diaspora, für deren jüdische Identität das jüdische Inland eine weit größere Rolle spielt als rabbinische Vorschriften. Es ist jedoch klar, dass die Beziehung zum Kernland immer wieder gepflegt werden muss, um erhalten zu bleiben – genau so, wie in anderen Völkern auch. Sonst steht tatsächlich Assimilation bevor.

    Gute Nacht
    Yoav

  14. Die drei Fragen habe ich mehr in den Raum gestellt, Deine Antworten darauf kenne ich ja schon.

    Mir stellt sich die Frage, inwiefern das Ergebnis einer derartigen Umgestaltung im Inland noch als Judentum bezeichnet werden sollte. Wenn etwas zu sehr vom vorherigen abweicht, ist es Zeit für einen eigenen Namen. So hat ja z. B. auch eine gewisse Bewegung den Namen Zionismus bekommen.

    Bzgl der Entwicklung in der Diaspora: Die mit Abstand größte Diaspora-Gemeinde ist die USA. Und soweit ich die NJPS-Daten und ähnliche demographische Erhebungen verstehe, korreliert die gemessene Intensität der Beziehung amerikanischer Juden zu Israel deutlich positiv mit observantem Lebensstil. Es scheinen also dieselben Leute, die Beziehungen zu Rabbinern haben, auch intensivere Beziehungen mit Israel zu pflegen. Insofern halte ich Deine Aussage über die relative Wichtigkeit von Israel und rabbinischen Vorschriften im Diaspora-Judentum für empirisch mindestens stark relativiert.
    Wie man hört, macht sich auch die Strategieabteilung es israelischen Aussenministeriums durchaus Gedanken und Sorgen, dass es mit der Diaspora abwärts geht.

    Ich denke nicht, dass eine Öffentlichkeit aus Menschen jüdischer Abstammung automatisch schon eine “jüdische Öffentlichkeit” ist. Dazu gehören auch bestimmte Werte. Vage Analogie: Obwohl die meisten US-Amerikaner europäische Wurzeln haben, sind die USA doch signifikant von Europa verschieden.

    “Rückkehr in die Geschichte”: Das klingt mir doch sehr nach Nationalstaat und euroäischer Ideologie des 19. Jahrhunderts.

    “Halacha ändert sich im Einklang mit heutigen Konventionen”: Meine Neugierde ist geweckt. Hast Du eigentlich mal ein Verweis auf ein empfehlenswertes akademisches Paper von einem Sozialhistoriker, der die Thesen, die Du hier vertrittst, ausführt und erläuertert?

    Gute Nacht

    YM

  15. 1. Wenn ich deinen Ansatz zu Ende denke, darf sich das Rabbinertum ebenfalls nicht Judentum nennen. Ich hingegen sehe das nicht so strikt bzw. dogmatisch wie du und gebe mich daher mit Bezeichnungen wie “(vor/früh/hoch/spät-)biblisches Judentum”, “(…)rabbinisches Judentum”, “israelisches Judentum” etc. zufrieden.

    2. Ich habe nicht behauptet, es bestünde ein Widerspruch zwischen orthodoxer Haltung und Interesse an Israel. Ich bin vielmehr der Meinung, dass die meisten Juden – d.h. für mich Menschen, die sich selbst bewusst für Juden halten – in der Diaspora sich (natürlich in unterschiedlicher Weise) eher für das Geschehen in Israel interessieren als für den Inhalt des einen oder anderen Gebetbuches. Bei den meisten Orthodoxen sieht es wohl “ausgewogen” aus. Allerdings sind die Orthodoxen insg. in der Minderheit.

    3. Nicht “Menschen jüdischer Abstammung”, sondern Juden, d.h. jüdische Menschen, die in einem Land leben, wo die jüdische Nationalsprache herrscht, jüdische Literatur blüht, jüdische Erziehung (Verbesserungsbedarf hin oder her) und Bildung allerorts angeboten werden, der jüdische Kalender und v. a. die jüdischen Feiertage das Straßenbild bestimmen etc.

    4. Der herzlsche Zionismus ist tatsächlich eine Idee des “langen 19. Jahrhunderts” (s. Eric Hobsbawm). Diese Feststellung alleine kann ihn jedoch (zumindest m. E.) nicht delegitimieren. Zudem hat sich der Zionismus seitdem astwerkartig weiterentwickelt. Was die Rückkehr in die Geschichte angeht, so scheint mir die Sache klar zu sein: Menschen finden zueinander und konstruieren eine Gruppe, Massen konstruieren Nationen und Völker. Ein Volk, der keinen Staat hat, kein eigenes Land, kann sich selbst nicht führen, geschweige denn eine eigenständige Gesellschaft hervorbringen, die das Weltgeschehen mit beeinflusst und als Subjekt an der Geschichte teilnimmt. Die Mitglieder einer solchen Massengruppe können dann höchstens als Objekte am Rande der Geschichte fortbestehen und die Welt in den Bereichen mit gestalten, wo es eher aufs Individuum ankommt, also vornehmlich in dem des Geistes. Die chassidische Bewegung einerseits und das deutsch-jüdische Groß- und Bildungsbürgertum andererseits, wenn ich mal diese Phänomene als Beispiele heranziehe, haben also gemeinsam, dass sie beide das Ergebnis schöpferischer Energien sind, die mangels einer jüdischen Öffentlichkeit, d.h. eines kollektiven Raums, in andere Bereiche, v. a. in jene des Geistes kanalisiert werden mussten.

    5. Mir ist kein solches Paper bekannt. Ist meine Ansicht deswegen weniger tragfähig? Du weißt ja, dass es darauf ankommt, wie man Halacha versteht. Und du weißt auch, dass ich die Halacha immer im jeweiligen historischen Zusammenhang seit deren Anfängen betrachte und mit den jeweiligen Konventionen in Verbindung bringe, sei es nun die teilweise Behandlung von Geflügelfleisch als Viehfleisch, die Anmerkungen bzw. Korrekturen von Isserles zu Karos Schulchan Aruch oder der Gebrauch von elektrischem Strom am Schabbes. Daher bin ich der Meinung, dass die Orthodoxie heute eben *nicht* in der Tradition der Frührabbiner steht. Vielmehr scheint mir die Orthodoxie (ich müsste das eigentlich mit Anführungsstrichen versehen) heute das zu sein, was das sadduzäische Judentum in der Hochantike und das karäische Judentum in der Spätantike und dem Frühmittelalter waren, nämlich diejenigen, die einen großen, entscheidenden Wandel nicht mitmachen (weil sie es nicht wollen oder nicht können) und sich demzufolge entweder auflösen oder in eine stetige Begleiterscheinung des Mehrheitsjudentums verwandeln.

  16. Gut Schabbes

    1. Man koennte feststellen, dass in der Tat der Begriff Jude gegenueber Israelit sich parallel mit dem Uebergang vom biblischen zum rabbinischen Judentum durchsetzt.

    2. Natuerlich kein Widerspruch. Aber Observanz verstaerkt die Beziehung zu Israel, Nichtobservanz geht einher mit mehrheitlich nichtjuedischem Freundeskreis, schwaecherer Solidaritaet mit Israel etc. Die Religioesen waren uebrigens schon oft in der Minderheit, fuer spektakulaere Beispiele siehe Elijahu am Carmel, oder Esras Rueckkehr aus dem Exil. Uebermorgen beginnt Chanukkah. Und was sagen wir da: “Der wenigen gegen die vielen.” Mit “vielen” nicht unbedingt die Syrer gemeint sind, sondern die Hellenisten.

    3. Da verwendest Du IMHO einen gojischen Kulturbegriff.

    4. Es ging nicht um “deligitimieren”. Nur darum festzustellen, dass Du, ebenso wie ich, aus einer bestimmten Perspektive heraus schreibst. Und ich denke, auch ohne eigenen Staat haben wir eine ganze Menge sehr vorzeigbarer Gesellschaften hervorgebracht.
    Auch Kanalisieren in die Welt des Geistes halte ich nicht fuer einen Plan B, eher im Gegenteil.

    5. Mir scheint, diese ganze Diskussion beruht darauf, dass Du eine etwas unkonventionelle Verwendung des Begriffs “Halacha” verwendest.
    So behaupte ich immer noch, dass die Praxis der Vielen per se zu keinem Zeitpunkt Halacha definiert hat.
    (Sehr wohl allerdings gibt es in etwas anderem Kontext die Redewendung “Minhag bricht den Din”.) Und das Konzept, dass es eine auf dem Talmud basierende, eigenstaendiges juedische Gesetzgebung gibt, war ein universell akzeptiertes Prinzip. Insofern ist der Prozess der Annahme durchaus mit dem Inkrafttreten einer staatlichen Verfassung zu vergleichen, nur dass in diesem Fall eben das dazugehoerige Staatsgebiet fehlt. Natuerlich kann man feststellen, dass Halacha heute, wo die meisten Menschen juedischer Abstammung saekulaer geworden sind, fuer diese nur noch wenig Relevanz besitzt. Es aber doch so, dass der Begriff in der Fruehzeit des rabbinischen Judentums erfunden wurde, und insgesamt fuer das rabbinische Judentum praegend ist. Den Begriff aus diesem Zusammenhang loesen zu wollen, erscheint mir wenig sinnvoll. Es wuerde ja auch komisch wirken, bei einem Elektroauto von “Vollgas” zu reden. Noch extremer ist das ja eigentlich in Deiner Ueberschrift. Denn die Verwendung des “vorbelasteten” Begriffs Katechismus im Zusammenhang mit Judentum ist doch mindestens ungewoehnlich, um es vorsichtig zu formulieren.

    Ich verstehe, dass die meisten nicht mehr so hoch springen wollen. Aber muss man deshalb die Latte niedriger haengen?

    Gut Schabbes

    YM

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