Der Judenbegriff in der Gedenkkultur der DDR

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Wien. Heidelberg. Berlin: ein israelischer Blick auf Deutschland
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Im Anschluss an die letzten beiden Artikel in der Reihe "Ostdeutsche Judenfrage" und angeregt durch eine Frage von Michael Blume, möchte ich jetzt einen Aspekt aufgreifen, der in der Gedenktopografie der neuen Bundesländer nach wie vor präsent ist.

Ich bekomme nämlich manchmal die Frage gestellt, warum in ostdeutschen Gedenkstätten die jüdischen Opfer oft nicht als solche genannt sind bzw. waren. Gemeint sind die vom SED-Regime errichteten Gedenkstätten auf den Geländen ehemaliger NS-Konzentrationslager (wie auch kommunistischer "Speziallager" in den ersten Nachkriegsjahren), die später von der Bundesrepublik zu Recht als eine authentische Schicht der Erinnerung nicht beseitigt, sondern in ein neues Konzept der Erinnerungsarbeit aufgenommen worden sind. Man denke in diesem Zusammenhang an Buchenwald, Sachsenhausen und Ravensbrück (mehr zu diesen Gedenkstätten in der DDR finden Sie in diesem Artikel von Birgit Müller auf der Website der Bundeszentrale für politische Bildung).

Dass im Vordergrund der ostdeutschen Gedenkkultur das identitätsstiftende Moment des so genannten Antifaschismus stand und somit auch die Verfolgungsgeschichte der deutschen Kommunisten, ist klar und bedarf wohl keiner weiteren Erörterung. Jedoch wurde, nicht zuletzt im Sinne des sozialistischen Internationalismus, auch anderer Völker gedacht, die dem "Hitlerfaschismus" zum Opfer fielen. In Buchenwald ist das erweiterte Gedenken z. B. durch die "Straße der Nationen", in Sachsenhausen direkt am großen, obeliskähnlichen Mahnmal, also auf dem ehemaligen KZ-Gelände, realisiert.

In diesen Konstruktionen blieben jene Opfer unbehandelt, die weder deutsche Kommunisten noch anderweitiger Nationalität waren, wie etwa Homosexuelle oder die Zeugen Jehovas; diese ließen sich aber immerhin unter ihrer deutschen Nationalität "subsumieren". Verschwiegen wurde hingegen weitgehend die Existenz jener Opfergruppen, die gerade aufgrund ihrer jeweiligen Volkszugehörigkeit verfolgt wurden, aber keinen eigenen Staat hatten, der am Krieg hätte beteiligt sein können: Die Zigeuner und die Juden. Diese Vermeidung wurde nicht zuletzt dadurch möglich, dass das SED-Regime in seinen Gedenkstätten nicht auf "Polen" oder "Franzosen" hinweisen ließ, sondern auf die am Krieg beteiligten Staaten, also auf "Polen", "Frankreich" etc. Erst infolge der Wende hat sich die Situation geändert: Heutzutage gibt es in diesen Lagern neue Gedenktafeln, die auch den damals staatenlosen Völkern gewidmet sind. So nennt etwa das am 1995 in Buchenwald errichtete "Denkmal an ein Denkmal" der Künstler Horst Hoheisel und Andreas Knitz neben US-Amerikanern, Polen, Russen und anderen Nationen nunmehr die Roma, die Sinti und eben auch die Juden.

Hier möchte ich den jüdischen Aspekt der ostdeutschen Gedenkkultur erklären. Das hat zunächst damit zu tun, dass ich mich mit der Thematisierung der Zigeunerverfolgung in der DDR nicht gut genug auskenne, liegt aber auch darin begründet, dass die Verfolgung beider Völker nicht nur quantitativ, sondern auch qualitativ jeweils anders vonstatten ging: Vor dem Hintergrund der nationalsozialistischen Rassenlehre, die den reinen Zigeuner für hochwertig hielt, wurden Zigeuner umso schlimmer verfolgt, je weniger "reinrassig" sie waren, also je mehr sie sich mit anderen Völkern "vermischt" haben. Bei den Juden war es bekanntermaßen genau umgekehrt.

Was die ostdeutschen Gedenkstätten angeht, glaube ich also nicht, dass die Nichterwähnung der Juden unter den verfolgten Nationen unbedingt verdeckten Antisemitismus oder absichtliche Verdrängung der jüdischen Problematik (etwa aufgrund des fortbestehenden Antisemitismus unter der Bevölkerung, deren Gunst das SED-Regime erlangen wollte) andeuten muss. Eine ernstzunehmende Hypothese ist hingegen, dass man vermeiden wollte, dass das kommunistische Märtyrertum durch angemessene Thematisierung der ziemlich umfassenden Judenvernichtung von der Letzteren überschattet, relativiert oder gar in den Hintergrund gerückt würde.

Ich möchte jedoch behaupten, dass die Weglassung der Juden sich nicht nur auf taktische Gründe zurückführen lässt, sondern auch eine historische Lehre bedeuten kann, also eine Lehre aus der deutschen Vergangenheit. In der DDR galt es nämlich, der nationalsozialistischen Denkweise gezielt zu widersprechen. Im Einklang mit Judenbegriff, zu dem sich das sozialistische Deutschland verpflichtet sah und dessen historisch-theoretischen Hintergrund (vor allem, aber nicht nur bei Marx und Lenin) Sie in Kapitel II meiner Magisterarbeit finden, sollte das nationalsozialistische Konstrukt des "Juden" nicht dadurch bekämpft werden, dass die negativen Vorstellungen vom Juden durch positive ersetzt würden, sondern durch den Abbau dieses allgemein-abendländischen Konstrukts als solchen.

Dieser Abbau, den ich die "Auflösung der Judenfrage" nenne, erfolgte, wie ich in meiner Magisterarbeit zeigte, auch im ostdeutschen Spielfilm, wo das Jüdische zwar relativ oft aufgegriffen, aber mittels einer leeren Identität eigentlich abgestritten wird. Mein Argument ist also, dass dieser Gedankengang sich auch in den ostdeutschen Gedenkstätten manifestierte: Um die Juden nicht erneut von anderen Mitmenschen abzugrenzen und sie somit in ein zumindest gedanklich-begriffliches Ghetto zu verweisen, wurde in der DDR keine Vorstellung vom Völkermord an den Juden vermittelt. Eine Judenverfolgung und -vernichtung, ja, wie diese von Anfang an in den Spielfilmen der SBZ/DDR – und ab den 1980er Jahren, anscheinend aus wirtschaftspolitischem Kalkül, vermehrt auch in anderer Weise (s. dazu z. B. bei Angelika Timm, Jewish Claims against East Germany: Moral Obligations and Pragmatic Policy, Budapest: Central European University Press, 1997, chap. 4: "New Accents in the Eighties", pp. 123-180) – behandelt wurde, aber eben kein Völkermord. Zur Veranschaulichung kann man es etwa mit dem Umgang des SED-Regimes mit dem Nationalsozialismus vergleichen: In der DDR durfte es verständlicherweise keinen Nationalsozialismus gegeben haben, weshalb vom "Hitlerfaschismus" die Rede war.

Darum scheint es mir nur konsequent gewesen zu sein, dass diese erzwungene Assimilation auch in den Gedenkstätten umgesetzt wurde und die jüdischen Opfer folglich nicht abermals als Juden "gebrandmarkt", sondern jeweils unter den Staaten, in denen sie zu Kriegsbeginn gelebt haben, subsumiert wurden und in der Gedenkkultur des deutschen Sozialismus etwa als Polen ihren Platz fanden (was die auch nach dem Krieg nicht gerade philosemitischen Polen davon gehalten haben mögen, ist natürlich eine andere Frage).

Im Übrigen hatte dieser Judenbegriff auch andere Folgen, jenseits von Spielfilmen und Gedenkstätten: Da das Jüdische aus der Perspektive des SED-Regimes kein nationales Moment darstellen durfte und auf die religiöse Ebene reduziert wurde, war es den jüdischen Gemeinden in der DDR untersagt, zu Israel (das vom SED-Regime eben nicht als jüdischer Nationalstaat anerkannt wurde) Stellung zu nehmen oder, im Gegensatz zur sorbischen Minderheit, den für sie relevanten Bereich des Schulwesens zumindest teilweise mitgestalten. Um mit Otto Heller zu sprechen: "Das Ergebnis der Auflösung der Kaste und des Ghettos auf religiösem Gebiet ist das Entstehen einer jüdischen Kirche. Die jüdische Religion wird verkirchlicht, sie soll eine Religion wie irgendeine andere werden […]" (aus: Der Untergang des Judentums. Die Judenfrage, ihre Kritik, ihre Lösung durch den Sozialismus, Wien und Berlin: Verlag für Literatur und Politik, 1931, S. 123).

Zum Schluss möchte ich noch bemerken, dass der sozialistische Judenbegriff freilich intellektuell reizvoll ist. Jedoch bleibt es auch nach dem Untergang des abendländischen Sozialismus leider nicht beim Intellektuellen: Islamische Nationalisten machen oft von dieser Sichtweise Gebrauch, um ihre Forderungen gegen den jüdischen Nationalstaat zu untermauern. Auch heutige Anhänger der SED/PDS/etc. können die Vorstellung vom jüdischen Nationalstaat kaum akzeptieren und würden diesen nicht mit Deutschland oder Polen, sondern eher mit dem Vatikan gleichsetzen. Nichtsdestoweniger: Der intellektuelle Reiz besteht fort.

 

 

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www.berlinjewish.com/

Mancherorts auch als der Rebbe von Krechzn* bekannt, heißt der Autor von "un/zugehörig" eigentlich Yoav Sapir. Er ist 5740 (auf Christlich: 1979) in Haifa, Israel, geboren und hat später lange in Jerusalem gelebt, dessen numinose Stimmung ihn anscheinend tief geprägt hat. Nebenbei hat er dort sein M.A.-Studium abgeschlossen, während dessen er sich v. a. mit dem Bild des Juden im Spielfilm der DDR befasst hat. Seit Sommer 2006 weilt er an akademischen Einrichtungen im deutschsprachigen Mitteleuropa: anfangs in Wien, später in Berlin und dann in Heidelberg. Nach einer Hospitanz im Bundestag arbeitet er jetzt selbstständig in Berlin als Autor, Referent und Übersetzer aus dem Hebräischen und ins Hebräische. Nebenbei bietet er auch Tours of Jewish Berlin. * krechzn (Jiddisch): stöhnen; leidenschaftlich jammern.

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