Der Holocaust und sein Platz im Deutschen wie im Jüdischen

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Wien. Heidelberg. Berlin: ein israelischer Blick auf Deutschland
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Wie soll der Holocaust ins Deutsche eingeordnet werden? Wie lässt es sich integrieren, ohne alles andere in den Schatten zu stellen bzw. zu verschlingen, zu banalisieren? Vor knapp fünf Jahren habe ich mich hier dieser Frage gewidmet und ein Deutschland jenseits von Auschwitz gesucht. Meine damalige, im Jakob-Kaiser-Haus des Bundestages verfasste und somit irgendwie auf Kosten des Steuerzahlers entstandene “Zeitreise durch Deutschland” möchte ich nun durch neuere Gedanken ergänzen.

Wenn ich vom Deutschen und dem Jüdischen als theoretischen Geschwistern spreche, stellt sich immer wieder dieselbe Schwierigkeit in Gestalt des Holocaust bzw. des historischen, vergleichsweise fast beispiellosen Abgrundes zwischen den beiden Völkern. Doch das, was uns auf der Bühne der Identität aufs Grundsätzlichste voneinander trennt und ein wahrhaft deutsch-jüdisches Dasein seit 1945 bzw. 1933 geradezu unmöglich macht, ist auch, was uns hinter den Kulissen eint, ja vielleicht über die Generationen hinweg aneinander koppelt und weiterhin koppeln würde – im Guten wie im Schlechten.

Es ist nämlich die doppelte Schmach: für Deutsche und Juden zugleich. Über die deutsche Schmach ist zur Genüge geschrieben worden. Die jüdische hingegen ist eine Frage, die sich wohl nur Juden stellen “dürfen”, was bislang allerdings nur wenige Mutige taten wie z. B. Hanna Arendt, die dafür einen hohen sozialen Preis zahlen musste. In Israel hat es vor ein paar Jahren der Schrifsteller A. B. Jehoschua (“Josua”) getan und dafür ebenfalls ziemlich schlimme Kritik einstecken müssen. Auch der Schreiber dieser Zeilen hat es mal auf einer Konferenz versucht und wurde vom Publikum zum Schweigen gebracht.

Das Problem der jüdischen Schmach ist die Frage nach der jüdischen Reaktion bzw. dem Fehlen eines Selbstbehauptungswillens. Nichts ist demütigender und herabsetzender als die Annahme, dass die Juden nichts hätten machen können als das, was sie hie und da unternahmen. Woran mag es gelegen sein, wo selbst die Palästinenser – ebenfalls ohne Staat und ohne Militär – eine Intifada nach der anderen vollziehen konnten und können? Warum gab es nicht so richtig jüdischen Terror gegen die Deutschen? Alleine im Reich waren noch Hunderttausende, die nicht einmal in Ghettos eingesperrt waren. Die meisten wussten später oder früher genau, was sie erwartet. Trotzdem blieben die Messer in den Küchen. Waren die Juden zu zivilisiert?

Hier geht es also um eine Frage, die hier angesprochen werden muss, aber nicht besprochen werden kann. Ohne die deutsche Schuld auch nur ansatzweise zu verringern, ist jedem objektiven Betrachter der Ereignisse und ihrer Dynamik klar, dass auch die jüdische Seite eine erhebliche Schuld belastet. Es ist zwar keine Schuld an der Initiative, aber doch an der so unglaublich erfolgreichen Durchführung deutscher Absichten. Ohne die Kooperation der Judenräte z. B. hätte das alles gar nicht so schnell und so effizient eben so weit gehen können, wie schon Hanna Arendt festgestellt hat. Das ist die Last, gegen die sich das jüdische Kollektiv bis heute seelisch abwehrt, weshalb wir nach wie vor so tief in ihrem Schatten stehen.

Dieser zwar nicht gleiche, aber doch ähnliche Schatten verbindet uns mit den Deutschen. Während die Deutschen sich wegen dieses Schattens kaum noch positive Identifikationsinhalte vor 1945/49 erlauben, hat sich in der jüdischen Welt, vor allem bei den Kindern der Überlebenden, ein neues Judentum etabliert, das man oft “Auschwitzjudentum” oder “Seifenjudentum” nennt. Wie bei den Deutschen wird der Krieg zum wichtigsten und fast alleinigen Bezugspunkt, der allerdings als negativer Identifikationsinhalt fungiert (“a negative myth of origin for the post[-]war world” lautet die Formulierung von Avishai Margalit and Gabriel Motzkin, s. hier).

Vor diesem Hintergrund scheint das Problem einer integrativen Deutung des Holocaust auf eine paradox-dialektische Weise eher eine deutsch-jüdische Gemeinsamkeit zu sein als ein trennender Faktor (oder besser gesagt: nur scheinbar ein trennendes Element, das eigentlich bzw. im Hintergrund beiden Völkern gemeinsam ist).

Mit dieser Integrationsproblematik befasste sich schon, zumindest aus deutscher Perspektive, Ernst Nolte, der wie Hanna Arend ebenfalls mit einem Rufmord konfrontiert wurde. Vor kurzem gelang dem amerikanischen Historiker Timothy Snyder mit seinem Bloodlands ein ähnlicher Ansatz viel besser. Snyder ist kein Jude, aber (was in der historiographischen Szene vielleicht noch wichtiger ist) eben auch kein Deutscher wie Nolte, sondern Teil der amerikanischen Siegerperspektive. Und vielleicht spielen auch die inzwischen zweieinhalb vergangenen Jahrzehnte eine Rolle. Aber weder Nolte noch Snyder versuchten eine geistige Integration des Schreckens, der für die damalige Generation von Deutschen und Juden zwar sehr unterschiedlich war, aber für die Nachkommen, wie mir scheint, immer mehr die Gestalt eines gemeinsamen Schreckens bzw. Schatten eines Schreckens annimmt (davon gibt es freilich viele Ausnahmen, vor allem in Deutschland – gemeint sind hier also die intelligenten Deutschen).

Auf die Frage, ob bzw. inwiefern eine solche Integration (wie eingangs beschrieben) möglich ist, habe ich keine gute Antwort. Aber wenn ich mir das nicht im jeweiligen “Tunnelblick”, sondern als eine deutsch-jüdische Problematik überlege, komme ich auf einen Ansatz: Mir erscheint der Holocaust sowohl im deutschen wie auch im jüdischen Zusammenhang nunmehr absolut wichtig, also keine bloße “Episode”, aber nicht allumfassend, nicht absolut ausschlaggebend. Stelle ich mir das Deutsche und das Jüdische personifiziert vor, also eine “Germania” und eine “Judäa”, so kommt mir der Holocaust, sagen wir mal, wie die Leber vor. Absolut wichtig aber eben nicht alles, ja weit davon entfernt, alles zu sein. Ein kritisches Organ? Freilich. Aber eben nur ein Organ.

Veröffentlicht von

www.berlinjewish.com/

Mancherorts auch als der Rebbe von Krechzn* bekannt, heißt der Autor von "un/zugehörig" eigentlich Yoav Sapir. Er ist 5740 (auf Christlich: 1979) in Haifa, Israel, geboren und hat später lange in Jerusalem gelebt, dessen numinose Stimmung ihn anscheinend tief geprägt hat. Nebenbei hat er dort sein M.A.-Studium abgeschlossen, während dessen er sich v. a. mit dem Bild des Juden im Spielfilm der DDR befasst hat. Seit Sommer 2006 weilt er an akademischen Einrichtungen im deutschsprachigen Mitteleuropa: anfangs in Wien, später in Berlin und dann in Heidelberg. Nach einer Hospitanz im Bundestag arbeitet er jetzt selbstständig in Berlin als Autor, Referent und Übersetzer aus dem Hebräischen und ins Hebräische. Nebenbei bietet er auch Tours of Jewish Berlin. * krechzn (Jiddisch): stöhnen; leidenschaftlich jammern.

19 Kommentare

  1. Eine kluge Betrachtung, die die Hand reicht; am Artikel stört dennoch die Konzentration auf die Deutschen und die Juden, die im Reich lebten. Der Großteil der Juden ist aus deutscher Sicht im Ausland ermordet worden.
    MFG
    Dr. W (der infolge dessen auch den siebten wie den letzten Absatz nicht gut findet)

    • “die Juden, die im Reich lebten” – das muss ein Missverständnis sein, jedenfalls habe ich das gar nicht so gemeint. Wo genau entsteht denn der Einruck, dass es um die Reichsjuden geht? Im 7. und letzten Absatz fand ich keinen Hinweis…

      • Wie meinen Sie denn das genau bezogen auf die jüdische europäische Population:
        ‘Ohne die deutsche Schuld auch nur ansatzweise zu verringern, ist jedem objektiven Betrachter der Ereignisse und ihrer Dynamik klar, dass auch die jüdische Seite eine erhebliche Schuld belastet.’

        Sie meinen doch hier und an anderer Stelle immer wieder die Juden, die in der Vorkriegszeit im Reich lebten (bzw. im Protektorat)?!

        MFG
        Dr. W

        • Nein, ich meine die Juden im besetzten Europa, darunter auch, aber nicht so sehr, die Juden im Reich. Vor allem ist hier die jüdische Führungsschicht gemeint. Wo diese sich den Deutschen zur Verfügung gestellt hat (Deutschland, Polen, Ungarn etc.), waren die Überlebenschancen relativ sehr niedrig. Wo die jüdischen Anführer jedoch der Versuchung widerstanden, absolute Herrschaft über die restlichen Juden ausüben zu können, hatten die Deutschen große Schwierigkeit, ihre Pläne zu organisieren und durchzuführen (Dänemark).

          • Vor allem ist hier die jüdische Führungsschicht gemeint. Wo diese sich den Deutschen zur Verfügung gestellt hat (Deutschland, Polen, Ungarn etc.), waren die Überlebenschancen relativ sehr niedrig.

            Liest sich trotzdem nicht so gut, viele deutsche Juden haben sich ja dem Zugriff erst einmal entzogen und sind dann später in die Fänge der Nazis und deren Helfershelfer geraten. Die Chancen der europäischen Juden sich dem Zugriff zu entziehen waren nicht so gut, gerade im Zusammenhang mit den Blitzkriegen.

            An sich ist die Frage, warum Juden nicht umfänglich abgereist sind, natürlich nicht schlecht, viele konnten sich die kommenden Gräuel wohl nicht vorstellen, die Frage nach dem möglichen Terror ist schlecht, muss hier aber nicht näher erläutert werden, oder?
            Interessant ist auch die Frage, warum sich so wenige nichtjüdische Deutsche dem Nazi-Regime entzogen haben, außer Willy Brandt und streng linken Deutschen fallen hier nicht so viele ein.

            Sie versuchen hier und anderswo das Schicksal von Deutschen und Juden zu verbinden, das scheint in Bezug auf die vielen Juden anderswo in Europa, die es ebenfalls erwischt hat, nicht so gelungen.

            MFG
            Dr. W

          • Ich glaube, wir reden hier irgendwie aneinander vorbei…

            “Die Chancen der europäischen Juden sich dem Zugriff zu entziehen waren nicht so gut, gerade im Zusammenhang mit den Blitzkriegen.” – Richtig, aber was hat es mit dem zu tun, was ich gesagt habe? Es geht hier doch nicht um Überlebenschancen oder eine vermeintliche Erhöhung derselben, im Gegenteil.

            “die Frage nach dem möglichen Terror ist schlecht, muss hier aber nicht näher erläutert werden, oder?” – Was soll man dazu sagen? Gescheitert zu sein, ist schlimm genug. Aber erklärt zu bekommen, dass von einem sowieso nichts anderes erwartet wird, ist noch schlimmer. Es war und bleibt so, dass die Nazis nur dank weitgehender jüdischer Kooperation ihre Absichten so erfolgreich und effizient in die Tat umsetzen konnten.

            “Sie versuchen hier und anderswo das Schicksal von Deutschen und Juden zu verbinden” – Das mag bei dir so ankommen, aber meine Absicht ist es nicht. Wenn schon, dann hätte ich eher den gegensätzlichen Eindruck erwartet. Interessant, dass du es so verstehst.

          • “Sie versuchen hier und anderswo das Schicksal von Deutschen und Juden zu verbinden” – Das mag bei dir so ankommen, aber meine Absicht ist es nicht.

            Gu-ut. Dann lassen Sies’s am besten auch sein dementsprechenden Eindruck zu erwecken.

            MFG
            Dr. W (der die regionaltypische Anrede in der 3. Person Plural gar nicht so schlecht findet)

  2. Lieber Herr Sapir,
    ich stalke 😉 Ihre Beiträge ja nun schon länger, aber hier habe ich ernsthaft Bedenken.

    Allein den Begriff “Holocaust” zu benutzen, widerstrebt mir zutiefst, und daß ein Jude es tut, kann ich absolut nicht begreifen. Das griechische Wort meint die vollständige (und nicht teilweise) Verbrennung eines Tier(!)opfers als Gabe an die Götter – und sowas mit dem Massenmord an den Juden gleichzusetzen finde ich pervers, fürchterlich daneben, grauslig und menschenverachtend. Auch wenn diese TV-Serie das Wort in den Sprachgebrauch gehoben hat (von US-amerikanischen Fernsehproduzenten ist nun mal keine philologische Sorgfalt zu erwarten). Ist “Shoah” nicht viel passender?

    Zum anderen vermisse ich auch eine belastbare Definition des Begriffs “jüdisch”, nachdem Sie so eloquent den Begriff “deutsch” als zweifelhaftes Konstrukt entlarvt haben (wobei ich Ihnen durchaus beipflichte). Sie wissen, wie kompliziert das ist. Ich denke dabei vor allem an jene Menschen, die von der NS-Gesetzgebung zu Juden erklärt wurden, obwohl sie selbst sich als alles andere definiert hätten, nur nicht als Juden. Ebenjene oft tragischen Geschichen zu “jüdischen” Geschichten zu erklären, heißt ja letzten Endes, die Rassenlehre der Nazis – die diese Menschen zu Juden erklärt haben – im Nachhinein zu bejahen. Ich denke da beispielsweise an Leute wie Felix Hausdorff und viele andere.

    • ad “Holocaust”: Du rennst hier offene Türen ein. Siehe etwa (aber nicht nur) hier: https://scilogs.spektrum.de/un-zugehoerig/hermeneutikuebung/

      ad “Jüdisches”: Habe ich hier doch öfter hinterfragt und analysiert, meistens als Hintergrund und Bezugspunkt in vielen Texten zum Deutschen. Wenn ich, z. B. hier (https://scilogs.spektrum.de/un-zugehoerig/deutschland/), vom Jüdischen und Deutschen als einem theoretischen Geschwisterpaar rede, dann meine ich damit, dass sie ebenso verschwommen und dennoch auch ebenso real sind wie das jeweils andere.

      • Meinethalben können wir auch beim Du bleiben.

        @ Holocaust: Deine Antwort ändert nichts an meinem Unbehagen, dieses Wort überhaupt zu benutzen. Weil es zehntausende hirnlose Idioten auch tun? Weil es im in den letzen Jahren zunehmend hirnlosen Duden steht? Warum einen einmal als falsch erkannten Begriff weiter verwenden?!

        @ jüdisch: Ja, du betrachtest beide Adjektive (deutsch/jüdisch) als ungenau und verschwommen. Sind sie ja auch. Aber was genau habe ich mir als Leser Deiner Beiträge vorzustellen, wenn Du “jüdisch” schreibst? Das so benannte Volk? Und nach wessen Definition? Der der Nazis, die das per Ahnentafel erledigten? Oder der jener Juden, für die auf immer jüdisch ist, was von einer jüdischen Mutter geboren wurde?

        Oder definierst Du religiös … und dann sind in andere Religionen übergetretene Juden keine Juden mehr? Das würde die Zahl der Shoah-Opfer reduzieren (ja, und all jene Menschen auschließen, die plötzlich von den Nazis diskriminiert wurden, obwohl ebenjene Menschen noch nie einen Gedanken an die Idee verschwendet hatten, Jude zu sein).

        Oder bleibt Du absichtlich im Unklaren? Soll ich mir eine Art Welle/Teilchen-Dualismus vorstellen? Menschen, deren Identität zwischen deutsch und jüdisch hin- und herflackert, je nachdem, wer gerade hinschaut)

        • ad Holocaust: Was soll ich sagen? Deine Kritik ist berechtigt.

          ad Jüdisches:

          “Aber was genau habe ich mir als Leser Deiner Beiträge vorzustellen, wenn Du “jüdisch” schreibst?” – Du fragst mich im Prinzip nach einer genauen Definition, wo “genau” der Wald endet und die Aue beginnt. Das kann ich nicht liefern. s. hier: https://scilogs.spektrum.de/un-zugehoerig/gibt-es-wirklich-deutsche-und-juden/

          “Oder bleibt Du absichtlich im Unklaren?” – das hat mit Absicht weniger zu tun wie mit der Lage des Menschlichen schlechthin. Nichts in unserem Sein ist “klar”, nicht einmal der Unterschied zwischen Tier und Mensch. Kommt es auf die Sprache an? auf die Selbsterkenntnis? auf die Erfindung von Besitz und Eigentum? auf die Ethik? etc. pp. Es kommt auf alles zusammen an und zwar auf eine synergetische Art und Weise – das Geistige, was am Ende aus alledem entsteht, ist nicht mehr ein bloßes Addieren seiner Bestandteile und lässt sich auch nicht mehr so genau auf diese zurückführen.

          “Menschen, deren Identität zwischen deutsch und jüdisch hin- und herflackert, je nachdem, wer gerade hinschaut” – Das gibt es bestimmt auch, wohl auch bei mir selbst, aber auf den Einzelnen kommt es nicht an. s. hier: https://scilogs.spektrum.de/un-zugehoerig/die-menschen-hinter-dem-geistigen/

  3. Sie schreiben im Kommentar „Vor allem ist hier die jüdische Führungsschicht gemeint. Wo diese sich den Deutschen zur Verfügung gestellt hat ….

    Hier aber schreiben Sie über etwas anderes, nämlich über die Masse der Juden:
    „Warum gab es nicht so richtig jüdischen Terror gegen die Deutschen? Alleine im Reich waren noch Hunderttausende, die nicht einmal in Ghettos eingesperrt waren. Die meisten wussten später oder früher genau, was sie erwartet. Trotzdem blieben die Messer in den Küchen.“

    Mir kommt es ungerecht vor, wenn Sie da von „jüdischer Schmach“ schreiben. Man muß, was den weitgehend fehlenden Widerstand angeht, vor allem zwei Dinge auseinanderhalten:

    (1) Verschiedene Gesellschaften sind sehr unterschiedlich zu Widerstand gegen Eroberung und Unterdrückung in der Lage. Historische Beispiele:
    Eine Handvoll marodierender Spanier unterwarf große Reiche in Mittel- und Südamerika. Es gab kaum Gegenwehr. Warum? Das waren keine Kriegergesellschaften. Mit den vorhandenen Berufsheeren, deren Funktion hauptsächlich die Unterdrückung der eigenen Bevölkerung war, wurden die Spanier leicht fertig, zumal sie Feindseligkeiten zwischen verschiedenen Indianervölkern nutzen konnten. Dagegen wehrten sich die Apachen gegen Ende ihrer selbständigen Existenz viele Jahre militärisch gegen eine gewaltige Übermacht von US-Amerikanern. Sie waren eine Kriegergesellschaft und konnten sich wehren. Soll man von der Schmach der Andenbewohner und vom Heldentum der Apachen reden? Das scheint mir sehr deplaziert.

    (2) Die Rede von der „jüdischen Schmach“ übersieht den Schrecken, den jeder Jude, der vor der Entscheidung stand, Widerstand zu leisten, absehen konnte. Dieser Satz zeigt das deutlich: „Woran mag es gelegen sein, wo selbst die Palästinenser – ebenfalls ohne Staat und ohne Militär – eine Intifada nach der anderen vollziehen konnten und können?“ An vielem, aber auch daran, daß die Palästinenser nicht mit einer Reaktion auf Attentate rechnen müssen, die auch nur entfernt derjenigen ähnelt, mit der ein jüdischer Attentäter unter der NS-Herrschaft rechnen mußte. Wer sich als z. B. als nicht-jüdischer Deutscher dem Widerstand anschloß, riskierte nicht die Auslöschung z.B. all seiner Gesinnungsgenossen oder seiner Heimatstadt im Zuge einer „Vergeltungsaktion“. Man weiß, was Juden in entsprechenden Fällen drohte. Wo ist da die Schmach? Stand der Einzelne vor einer Entscheidung, die ihn entehrt, wenn er passiv bleibt angesichts dessen, was dann droht?

    • Es gibt verschiedene Ebenen des Widerstandes und der Verantwortung. Wir können dieses schwierige Erbe, ja diese Last nicht auf den einen oder den anderen Aspekt reduzieren.

      1. Wahrscheinlich bildeten die Juden eine “andere” Gesellschaft als ihre Umgebung aber *inwiefern*? Bestimmt nicht im zivilsatorischen Sinne wie in deinem neuweltlichen Beispiel. Viele Juden waren selber Kriegsveteranen (1. WK, Pol-Sow. Krieg, etc.).

      2. Aber es war keine “Drohung”. Es hing gar nicht davon ab, was die Juden taten oder nicht taten. Die Herbert-Baum-Gruppe in Berlin wusste genau, was die Deportierten erwartet. Und trotzdem versuchten sie nicht die Schienen zumindest vorläufig in die Luft zu sprengen sondern eine Ausstellung… Die Frage müsste also sein: Wenn die Palästinenser wüssten, dass man vorhätte, sie alle, ausnahmslos und bedingungslos, zu ermorden – würden sie dann weniger oder eher noch mehr Widerstand leisten als heute?

      • „Aber es war keine “Drohung”. Es hing gar nicht davon ab, was die Juden taten oder nicht taten.“

        Das stimmt. Es war objektiv so. Doch um von Schmach sprechen zu können, muß man jemandem vorwerfen können, die Lage schuldhaft falsch eingeschätzt zu haben. Ich halte es für Besserwisserei der Nachgeborenen, hier belehren zu wollen. Einiges liegt auf der Hand, z. B. daß es möglich gewesen wäre, dem Nationalsozialismus entgegenzutreten, als der noch nicht sehr mächtig war, und da kann man vielen Juden in Deutschland einen Vorwurf machen, so wie den meisten der gegen den Nationalsozialismus eingestellten nicht-jüdischen Deutschen auch (aber kann man es auch den Juden in Osteuropa vorwerfen?). Der Vorwurf ist aber, in einer völlig aussichtslosen Lage, also ohne dadurch den Nationalsozialisten nennenswert schaden zu können, nicht zu den Waffen gegriffen zu haben; d. h. der Vorwurf ist, nicht den Heldentod statt des Opfertodes gewählt zu haben, und das scheint mir unangebracht.

        • “der Vorwurf ist, nicht den Heldentod statt des Opfertodes gewählt zu haben” – das ist eine Reduktion, die zwar ein Stückchen Wahrheit enthält, aber in einer sehr vereinfachten Form. Im September 1941 erschossen die Deutschen in Babi Jar bei Kiew binnen 36 Stunden knapp 34 Tausend Juden, die in Reihen anstanden und auf ihren Tod warteten. Hätten sie überleben können, wenn sie sich nicht an die deutsche Ordnung gehalten hätten? Manche vielleicht, aber die meisten wohl nicht. Doch den Deutschen und ihrer Effizienz hat der jüdische Gehorsam sehr geholfen.

          Babi Jar ist ein – erst im Nachhinein natürlich – sehr bekannt gewordenes Beispiel, war aber damals keine Ausnahme. Gerade hierin besteht das Erstaunliche: Dass die jüdischen Massen bis auf wenige Ausnahmen fast überall ziemlich weitgehend mit ihren Mördern kooperierten. Der Ausruf “Nicht wie Schafe auf die Schlachtbank!” ist nicht erst nach dem Krieg entstanden, sondern während dessen. Beherzigt haben ihn allerdings die wenigsten.

  4. Mir hat Dein Beitrag sehr gut gefallen, vielen Dank.

    Es kann viele Gründe geben, warum die Gesellschaften in Mittel- und Südamerika untergingen, aber bestimmt nicht, weil sei “keine Kriegergesellschaften” waren. Die waren sehr, sehr kriegerisch.

    Die Problemfrage lässt sich vielleicht nicht generalisierend lösen
    Ich vermute, dass es sich auch um eine Gruppendynamik gehandelt haben könnte, wann Menschen zum Widerstand griffen oder nicht. Eine passive Gruppenumgebung lähmt auch den Einzelnen. Wenn dieser “Bann” gebrochen ist, ist auch Widerstand möglich, und sei es nur, um aktiv im Kampf zu sterben als passiv ermordet zu werden.

    Die Situation erinnert mich auch an Vorfälle, die immer wieder mal passieren und in der Zeitung stehen. Etwas passiert, jemand ist in Lebensgefahr, man könnte ihm helfen, aber alle drumherum stehen und gaffen, keiner ergreift in der ungewohnten Situation die Initiative.

    Du gehst etwas in diese Richtung mit deinem Satz:

    “Vor allem ist hier die jüdische Führungsschicht gemeint. Wo diese sich den Deutschen zur Verfügung gestellt hat (Deutschland, Polen, Ungarn etc.), waren die Überlebenschancen relativ sehr niedrig.”

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  6. “Es kann viele Gründe geben, warum die Gesellschaften in Mittel- und Südamerika untergingen, aber bestimmt nicht, weil sei “keine Kriegergesellschaften” waren. Die waren sehr, sehr kriegerisch.”

    Eine Kriegergesellschaft ist etwas ganz anderes als eine kriegerische Gesellschaft. Eine Gesellschaft kann immerzu Kriege führen und doch keine Kriegergesellschaft sein. In einer solchen sind alle Männer Krieger, es sind nicht etwa die meisten Bauern, denen das Waffentragen verboten ist. Die oft kaum glaubliche Stärke mancher kleinen Gruppen hat darin natürlich nicht ihren einzigen Grund, aber doch einen Hauptgrund. Und ein derartiges Selbstverständnis ist mit einiger Sicherheit nicht irrelevant für die Frage, ob Widerstand gegen Unterwerfung geleistet wird.

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