Das jüdisch Deutsche

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Wien. Heidelberg. Berlin: ein israelischer Blick auf Deutschland
un/zugehörig

In dem letzten Text habe ich am Beispiel von Franz Kafka versucht, meine Vorstellung von Deutsch als jüdischer Sprache darzulegen. Nun möchte ich diese Perspektive weiter ausführen.

Jeder weiß, wie viel Juden von Moses Mendelssohn bis Theodor Adorno auf Deutsch geschrieben und veröffentlicht haben. Normalerweise spricht man ja von den “großen Leistungen” und davon, was die Juden alles “beigetragen” haben. Dem aufmerksamen Leser wird nun auffallen, was ich eben weggelassen habe. Denn fast immer heißt es “Leistungen für die deutsche Kultur” und “Beitrag zur deutschen Literatur” etc.

Diese Sichtweise möchte ich nicht grundsätzlich ablehnen, aber doch infrage stellen und durch eine andere korrigieren.


In der Neuzeit haben sich viele Juden in Mittel- und Osteuropa das Deutsche (aber nicht unbedingt das Deutschtum!) zu Eigen gemacht. Sie haben (unter anderem) auf Deutsch und mit dem Deutschen gedacht, gearbeitet, geschrieben – manchmal an andere Juden, manchmal an Nichtjuden, manchmal an beide, an sich selbst oder an die ganze Welt.

Wenn wir dieses Schaffen (d.h. das Was) in deutscher Sprache (das Wie) vornehmlich im Rahmen des Deutschen, im Hinblick auf die Kultur der Deutschen, betrachten, weisen wir den Schaffenden notwendigerweise eine gewisse Randposition zu, denn in dieser Konstellation waren die Juden eine Minderheit, das Jüdische ein Exotikum, niemals die Leitkultur (ob man es begreifen wollte oder auch nicht, war man stets etwas “daneben” – bald mehr, bald weniger. Sie waren alle irgendwie entwurzelt, entortet, wie gestrandete Fische, die ihre Lage verkennen. Nicht nur Franz Kafka war Kafka – sie alle waren Kafka, ein jeder auf seine Art und Weise, zerrissen und verloren zu sein).

Die Wahrnehmung der jüdischen Leistungen vor dem Hintergrund des Deutschen ist zwar üblich, aber nicht notwendig. Denn diese Leistungen lassen sich genauso gut, ja vielleicht auch besser, im Kontext des Jüdischen würdigen, nämlich als Beiträge zur jüdischen Kultur, Philosophie, Literatur etc. Dann nehmen die Schaffenden keine Randstellung als Minderheit ein, vielmehr entfaltet sich dann die ganz zentrale Rolle, die sie – wohl nicht in der deutschen, dafür aber in der jüdischen Kultur – tatsächlich spielten.

In dieser Sichtweise wird das Medium dieser Schaffenden, nämlich die deutsche Sprache (das Wie, von dem das Was bzw. das Schaffen getragen und vermittelt wird) nicht als fremd, als “im Prinzip nichtjüdisch” angesehen. Im Gegenteil. Die Juden haben sich ja – wenn auch relativ spät – das Deutsche zu Eigen gemacht, es für sich beansprucht, damit also ungefähr das getan, was die Christen mit der Bibel taten. Nun erscheint uns das Deutsche als die Sprache (mindestens?) zweier Völker, die Sprache zweier Kulturkreise. Es ist sowohl die Sprache der Deutschen wie auch eine Sprache der Juden.

Nicht die jüdische Sprache, freilich – dafür aber eine jüdische Sprache, eine durchaus jüdische Sprache.


Zugegebenermaßen ist meine Sichtweise ziemlich rückwärtig, denn heutzutage ist das Deutsche kaum noch eine wirklich jüdische Sprache. Es erfüllt heute in der jüdischen Welt wohl ungefähr dieselbe Funktion, die das Spanische für die Juden um 1900 innehatte – es wird von manchen verwendet, ist aber für das Jüdische nicht mehr so bedeutungsvoll wie früher. An die Stelle des Deutschen ist nunmehr zweifelsohne das Englische getreten, das neue Zu-Eigen-Gemachte. Ich möchte also nicht behaupten, dass das Deutsche heute noch eine aktive jüdische Sprache ist, sondern dass es während einer kurzen Blütezeit eine aktive jüdische Sprache war und dies auch grundsätzlich sein kann. Im Gegensatz zum (sagen wir mal) Chinesischen wird das Deutsche im Jüdischen niemals eine fremde Sprache sein.

Das war und ist eine grundsätzliche Entwicklung des Deutschen, die Juden den gleichberechtigten Anspruch auf dieses (m. E. wunderbare) Wie ermöglicht. Es gibt nun – und, solange unser Kulturbewusstsein fortbesteht, für alle Zeiten – ein jüdisch Deutsches, das zu gleicher Zeit und ohne Widerspruch sowohl richtig jüdisch, als auch richtig deutsch ist (also nicht »Jiddisch« oder »Judendeutsch«).

Mit anderen Worten: Deutsch war (ist?) nicht nur die Sprache der Täter, sondern auch die Sprache der bzw. mancher Opfer – aber nicht, weil diese Opfer “Deutsche” gewesen wären (das ist der Unterschied zwischen Wahn und Realität), sondern obwohl sie keine Deutschen waren. Deutsch ist grundsätzlich auch die Sprache der Opfer, weil diese Juden waren.


Es geht mir also ums Grundsätzliche und das hat einen Grund, einen ganz persönlichen, der zugleich auch den langjährigen Hintergrund für meine hiesigen Texte bildet. Es geht nämlich (auch) um mich als Außenseiter, als Nichtdeutschen, ja als Juden. Denn mein Weg ins Deutsche war für mich kein Weg ins Fremde, sondern vor allem ein Weg ins Eigene.

Für die Deutschen bin ich ein Außenseiter, in Deutschland bin ich ein Fremder, ja, aber nicht im Deutschen. Ein feiner, aber wichtiger Unterschied. Denn im jüdisch Deutschen sind die Deutschen Außenseiter, gleichsam Californians in London.

Ich weiß nicht, inwieweit Deutsche dies wirklich verstehen können. Deutsche erachten das Deutsche für gewöhnlich als ihre Sprache und sind es nicht gewohnt, im Deutschen selber Außenseiter zu sein, doch für das Deutsche im jüdischen Sinne sind sie genau das. Hamburger in Wien.

Ich beanspruche für mich also nicht bloß das »Deutschsprachige« (eine Missbildung, die ich hier oft kritisiert habe), sondern geradezu das Deutsche – unter Herausforderung der Inanspruchnahme des Deutschen im heutigen Einheits- und Einstaatswahn.

Veröffentlicht von

www.berlinjewish.com/

Mancherorts auch als der Rebbe von Krechzn* bekannt, heißt der Autor von "un/zugehörig" eigentlich Yoav Sapir. Er ist 5740 (auf Christlich: 1979) in Haifa, Israel, geboren und hat später lange in Jerusalem gelebt, dessen numinose Stimmung ihn anscheinend tief geprägt hat. Nebenbei hat er dort sein M.A.-Studium abgeschlossen, während dessen er sich v. a. mit dem Bild des Juden im Spielfilm der DDR befasst hat. Seit Sommer 2006 weilt er an akademischen Einrichtungen im deutschsprachigen Mitteleuropa: anfangs in Wien, später in Berlin und dann in Heidelberg. Nach einer Hospitanz im Bundestag arbeitet er jetzt selbstständig in Berlin als Autor, Referent und Übersetzer aus dem Hebräischen und ins Hebräische. Nebenbei bietet er auch Tours of Jewish Berlin. * krechzn (Jiddisch): stöhnen; leidenschaftlich jammern.

7 Kommentare

  1. “Deutsch ist grundsätzlich auch die Sprache der Opfer, weil diese Juden waren.”

    Hoppla – im nun “freiheitlichen” Wettbewerb um … gibt es PRINZIPIELL Opfer (“selig sind die geistig armen”), aber GRUNDSÄTZICH und nachweisbar sind wir alle mehr oder weniger Täter eines kreislaufend-menschenunwürdigen / entmenschlichenden Systems!!!

    Meine Wenigkeit (im Laufe dieser Geschichte von Bewußtseinsentwicklung auch (oder vor allem?) einige wirklich-wahrhaftige Juden) will diesen grundsätzlichen Zustand der heuchlerisch-verlogenen Oberflächlichkeit mit Konzentration auf und durch eindeutige Wahrheit aller vernunftbegabten Philosophien beenden – Die UNWAHRHEIT der Konfusion in Überproduktion von systemrationalen KOMMUNIKATIONSMÜLL ein “gott”gefälliges und menschenwürdiges Ende.

    • Horst, jetzt im Ernst: Ich habe keine Ahnung, was du willst. Vielleicht liegt es an mir und meinem begrenzten Verständnisvermögen. Also bitte, versuch dich klarer auszudrücken, wenn du willst, dass ich deine Kommentare freischalte. Denn normalerweise schalte ich keine Kommentare frei, die ich überhaupt nicht verstehen kann.

  2. Die Deutschen haben generell ein Problem damit, endlich zu begreifen, daß sie (und auch ihre Sprache) das Produkt eines anderthalb Jahrtausende währenden Vermischungsprozesses sind. Rund um Berlin trifft man Zehntausende französischer Namen (die Hugenotten), überall und vor allem im Ruhrgebiet polnische (Schimanski usw.), in Bayern und im Erzgebirge italienische (die ausgewanderten Glasbläser). Und so weiter und so fort.

    In der deutschen Sprache gibt es haufenweise jiddische Lehnworte (meschugge, Chuzpe usw.), wobei das Jiddische selbst eine Variante des Hochmitteldeutschen ist, und daneben reden wir ständig französisch (Karton, Majonäse [brrr]), russisch (Troika) und ungarisch (Gulasch), et cetera.

    Insofern ist die ganze Konzeption hinter dem Begriff “deutsch” eine merkwürdige – ja, ich weiß, die Konstruktion einer Nation als Reaktion auf Kleinstaaterei und Napoleon. Manchmal glaube ich fast, es hat nicht funktioniert.

    • Bisher wurden nur die Kräfte und Bedingungen im / für den nun “freiheitlichen” Wettbewerb um … gebündelt, was immer auf Kosten der Menschlichkeit / eindeutig-zweifelsfreier, bzw. wirklich-wahrhaftiger Kommunikation geht!

  3. Sehr spannender Text!
    Zunächst sehe ich mich selber als ein Hybrid. Vielleicht ist das jüdische Kultur die einzige die sich mit recht als endogam oder unvermischt aufzufassen vermag, weil sie eine unglaublich lange, ungebrochene sich abgrenzende mündliche und schriftliche Überlieferung tradiert? Das möchte ich nicht beurteilen.
    Als aufgeklärter adogmatischer deutscher Christ sehe ich mich bezüglich der deutschen Kultur als Legierung, als aus fruchtbaren Einmischungen generiertes. Da sind hellenistische, romanische, germanische, slavische, jüdische und anscheinend sogar phönizische Wurzeln. Sind das alle? Ich sehe keine dominante Leitkultur, sondern ein zusammenraufen und ringen.
    Jedenfalls sehe ich das jüdische nicht als etwas mir fremdes. Das christliche hat sich vom jüdischen in Vielem entfremdet, sich abgegrenzt, aber nicht in Allem. Vorallem in 19-ten und 20-ten Jahrhundert gab es zudem unglaublich viele bedeutende Juden im Deutschen. Das hatte mit dem Christentum nichts und mit dem Deutschen aber sehr viel zu tun. Es waren Deutsche und Juden. Kein Widerspruch! Martin Buber und Elias Canetti haben mich sehr beeinflusst.
    Ich freue mich, dass dies auch als zu tiefst Jüdisches und Deutsches gesehen werden kann. Beide auch das Deutsche kann nur davon profitieren.
    Es ist (nicht nur mir) schmerzhaft und ja ekelhaft die Kultur der Täter zu repräsentieren. Davon können wir uns aber nicht distanzieren. Auch wenn meine eigenen Vorfahren vielleicht nicht beteiligt waren, entlastet das keineswegs. Aber die Anerkennung des Ekels vor sich selbst, kann vielleicht ein Schritt zur Heilung werden. Die Homogenisierer haben einen nie gut zu machenden Schaden, nicht nur für das Ansehen des Deutschen ausgeübt. Wir müssen diesen Schrecken, (gleich dem Ashokas auf dem Schlachtfeld gegen Magada), in unserer Tradition kultivieren. Nur so können wir hoffen in Zukunft öfter das Richtige zu tun.
    Kulturellen Reichtum gewinnen wir nur aus der Anerkennung der Tatsache, dass es das Deutsche nicht gibt, oder es gerade und nur dadurch gibt, dass wir Bereicherung in der Heterogenität gewinnen und immer gewonnen haben.
    Ich erkenne, dass wir Menschen, vielleicht vor allem wir Deutschen, Einheit nur in der Mensch­lichkeit, im Aufsuchen des schlechthinigen Mensch­seins gewinnen können. Die Figuration des jüdischen, agnostischen Gottes, hilft manchen diese nicht manipulierbare Basis des Menschseins aufzusuchen.

    Ihr Text integriert doch auch einen starken Dialog und unhintergehbaren gegenseitigen Einfluss von jüdichscher und deutscher Kultur. Oder?

    Danke nochmal für Ihren Beitrag.

  4. Mit anderen Worten: Deutsch war (ist?) nicht nur die Sprache der Täter, sondern auch die Sprache der bzw. mancher Opfer – aber nicht, weil diese Opfer “Deutsche” gewesen wären (das ist der Unterschied zwischen Wahn und Realität), sondern obwohl sie keine Deutschen waren. Deutsch ist grundsätzlich auch die Sprache der Opfer, weil diese Juden waren.

    Es gibt Opfer, die Juden waren und Deutsch sprachen, es gibt Opfer, die Juden waren und nicht Deutsch sprachen, es gibt Opfer, die nicht Juden waren aber Deutsch sprachen, und es gibt Opfer, die weder Juden waren noch Deutsch sprachen. Sie alle wurden Opfer völlig unabhängig davon, ob sie Deutsch sprachen, Deutsch dachten, Deutsch aßen oder ob sie die Reichsangehörige waren.

    Es geht mir also ums Grundsätzliche

    Um was eigentlich genau? Mir ist das nicht klar.

    Für die Deutschen bin ich ein Außenseiter, in Deutschland bin ich ein Fremder,

    Manche fühlen sich fremd, andere fühlen sich wie als Fremde behandelt, andere sind objektiv fremd. Noch andere verhalten sich bewusst fremdartig und beklagen sich dann, dass sie dementsprechend behandelt werden.

    Was darf’s denn bei Ihnen sein?

    Um als Fremder behandelt zu werden brauchen Sie sich nur eine rote Gockelfrisur wie der Lobo machen lassen. Mitunter reicht es schon, sich einfach nur einen Hut aufzusetzen und damit in der Öffentlichkeit herumzulaufen. Die Castingshows und Dschungelcamps sind ja voll von solchen Außenseitern.

    ja, aber nicht im Deutschen. Ein feiner, aber wichtiger Unterschied. Denn im jüdisch Deutschen sind die Deutschen Außenseiter, gleichsam Californians in London.

    Aus jeder Perspektive der Andersartigen (‚Parallelgesellschaft‘) erscheinen die anderen als Außenseiter. Das steckt ja in der Definition schon drin.

    Ich beanspruche für mich also nicht bloß das »Deutschsprachige« (eine Missbildung, die ich hier oft kritisiert habe), sondern geradezu das Deutsche – unter Herausforderung der Inanspruchnahme des Deutschen im heutigen Einheits- und Einstaatswahn.

    Mir erscheint es absurd, etwas, das man schon ist oder das man bereits hat, zusätzlich noch zu beanspruchen.

    • Es geht ums Geistige. Nicht jeder kann das wahrnehmen, nicht jeder ist in dieser Hinsicht “musikalisch”.

      Du schreibst aus einer Perspektive, die mich fast materialistisch vorkommt . Das ist in Ordnung, aber ich glaube nicht, dass du diese Notizen so auch nachvollziehen könntest, deren Sinn du am falschen Ort oder auf der falschen Ebene suchst.

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