Das Brachjahr zu unserer Zeit

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Wien. Heidelberg. Berlin: ein israelischer Blick auf Deutschland
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Das letzte Jahr, 5768, war in Israel ein Sabbat- bzw. Brachjahr (vgl. Ex. 23:10-11, Lev. 25:1-7 und ebd. v.18-24 sowie Deut. 15:1-11), das in Israel von viel innerjüdischer Streiterei begleitet worden ist, ausgelöst vor allem durch machtpolitische Momente. Nun ist alles vorbei und es stellt sich die Frage: Was bleibt?

Um die Frage zu beantworten, muss man sich zunächst erklären, was das Brachjahr für ihn bedeuten soll, d.h. die Grundidee festlegen, die man dahinter vermutet. Wir begeben uns also auf die Suche nach der Essenz dieser biblischen Vorstellung. Aber woher soll diese herausgeschöpft werden? Das biblische Brachjahr weist verschiedene Aspekte auf: die Hoheit Gottes über das Land und dessen Gebrauch; die vorläufige Gleichheit bei der Fruchtziehung aus dem damals wichtigen Besitz, dem Land; die Ruhezeit, die dem Land als eigenständigem Wesen gewährt wird; sowie der Schuldenverzicht, der anscheinend auf die Brachlegung der wirtschaftlichen Grundlage zurückgeht (die »Nationalversammlung« im darauf folgenden Jahr gehört zunächst nicht zum Brachjahr als solchem dazu). Doch welche dieser Aspekte können uns nun wirklich dienen, um dem Brachjahr einen Sinn zugrunde zu legen, und welche kommen eher am Rande noch hinzu?

Vielleicht bringt Gott seine Hoheit über das Land und dessen Gebrauch durch das Brachjahr zum Vorschein; aber liegt die Hoheit nicht stets bei Gott? Und erstreckt sie sich nicht über die ganze Erde bzw. die ganze Schöpfung? Auch mit der vorläufigen Gleichheit kommen wir nicht weiter: Wenn es wirklich um eine weitere Unterstützung der Bedürftigen geht, warum also nur alle sieben Jahre? Auch der Schuldenverzicht wäre nicht nötig, würde den meisten Berufstätigen ihre Lebensgrundlage, der Ackerbau, nicht entzogen. Auf dem Tisch bleibt also nur noch die Verselbständigung des Landes, das sich, wie Gott nach dem Schöpfungsakt, ausruhen darf.

Wird das Land in den Mittelpunkt des Brachjahrs gerückt, so wird ihm eine besondere Qualität beigemessen. Weil das cisjordanische Land, für das die Vorstellung vom Brachjahr gilt, sich in wahrnehmbarer Weise jedoch kaum von Transjordanien unterscheidet, handelt es sich notwendigerweise um die Zuschreibung einer metaphysischen Qualität, die man gemeinhin als »Heiligkeit« bezeichnet. Das heißt also, dass das Land selbst in diesem Fall als heilig erachtet wird. In dieser Heiligkeit soll dann auch die Notwendigkeit des Brachjahrs begründet sein, sodass die Vorstellung vom Brachjahr derjenigen vom Land unterliegt. Diese Position hat etwa Awraham Jizchak HaCohen Kuk vertreten (auf die spezifischen Beweggründe können wir hier nicht eingehen).

Verselbständigen kann man jedoch nicht nur das Land, sondern auch das Gesetz, welches das Land absondert. Will sagen: Möglicherweise besteht der Sinn des Brachjahres nicht in diesem oder jenem Spezifikum, sondern in der bloßen Gesetzgebung durch Gott, also in der Tatsacke, dass es landbezogene Gesetze gibt (von denen wir allerdings mehrere haben, nicht nur in Bezug auf das Brachjahr). Steht das Gesetz im Mittelpunkt des Brachjahrs steht, so wird die besondere Qualität in das Gesetz hineinprojiziert, d.h. es ist das göttliche Gesetz, das an und für sich heilig ist. Erst durch das Gesetz wird das sonst ganz normale Land geheiligt. Diese Position hat etwa Jeschajahu Leibowitz vertreten.

Diese beiden Betrachtungsweisen haben sie über viele Generationen hinweg bewährt. Sie verfügen jeweils über eine intellektuelle Grundlage, die sie tragfähig macht und dafür sorgt, dass sie uns auch weiterhin begleiten. Indes möchte ich eine weitere Betrachtungsweise zur Diskussion stellen, die sich – ähnlich der vorläufig gleichen Fruchtziehung – ebenfalls auf das Soziale im Brachjahr bezieht, allerdings ohne Berücksichtigung der Bedürftigen, für deren Problem das Brachjahr eigentlich keine tragfähige Lösung darstellen kann. Gemeint ist hier die Wirkung des Brachjahres auf das gemeine Volk, d.h. auf den ganz normalen Bauer, der inmitten aller Sonderregelungen oft verloren gegangen zu sein scheint.

Die besagte Wirkung erschließt sich erst bei näherer Betrachtung des geschichtlichen Zusammenhanges, in den die Vorstellung vom Brachjahr ursprünglich hingehört. Es handelt sich hierbei um das antike Israel, das eine durchaus landwirtschaftliche Gesellschaft war. In diesem Zusammenhang nahm das Brachjahr ein Ausmaß an, das wir uns heute kaum vorstellen können. Wo alle gänzlich auf das Land angewiesen und die Mehrheit der Bevölkerung selber für dessen Urbarmachung verantwortlich war, war das Brachjahr ein Massenphänomen im wahrsten Sinne des Wortes. Möglicherweise könnte man es heutzutage mit einem siebenjährlich einjährigen Verzicht auf Telekommunikation oder auf alle benzinabhängige Verkehrsmittel.

Das bedeutet also, dass beinahe jeder seinem eigentlichen Beruf nicht nachgehen konnte. An dieser Stelle müssen wir die Situation »midraschisieren«, um eine auffallende Lücke zu schließen, zu der die Bibel keine Anweisungen erteilt: Was hat man das ganze Jahr lang wohl gemacht?

Wir dürfen uns keinen Massenurlaub vorstellen, in dem sich das Volk nur noch mit geistigen Angelegenheiten beschäftigt; denn so etwas hätte keine antike Gesellschaft überstanden. Geschweige denn eine automatische Verdopplung der Ernte im sechsten Jahr, die ins Mystische hingehört. Wenn das Brachjahr nicht erst als eine nachträgliche Vorstellung entstand, sondern zu biblischen Zeiten wirklich in die Tat umgesetzt wurde, dann müssen wir davon ausgehen, dass man während des Brachjahres andere Arbeiten durchführte, andere Berufe ausübte und dabei weitere, neue Fertigkeiten erlernte. Nur so kann man rational nachvollziehen, wie die sonst unausbleibliche Auflösung des gesellschaftlichen Zusammenhaltes vermieden – und stattdessen vielleicht sogar eine Verbesserung der gesellschaftlichen Verhältnisse erzielt werden konnte.

Das Brachjahr hatte also eine tief greifende Wirkung: Alle sieben Jahr befreite sich die Mehrheit des Volkes vom Arbeitszyklus, wandte sich beruflichen Alternativen zu und entwickelte sich dabei fort. Vor diesem Hintergrund enthüllen sich der allgemeine Schuldenverzicht und die vorläufig bessere Versorgung der Bedürftigen als Begleiterscheinungen, die vom Brachjahr zwar abhängig sind, aber nicht von seinem Sinn herrühren und daher jeweils einer separaten, ausdrücklichen Regelung im Pentateuch bedürfen (notabene in unterschiedlichen Zusammenhängen: Während das Brachjahr selbst in Levitikus behandelt wird, erwählt die Bibel die Bedürftigenversorgung und den Schuldablass in Exodus bzw. Deuteronomium).

Nunmehr scheinen viele der heutigen Diskussionen über, geschweige denn die zahlreichen Streitereien rund ums Brachjahr am Eigentlichen vorbeizugehen: In unserem Zeitalter, wo relativ nur sehr wenige der in Israel lebenden Juden Ackerbau betreiben (ganz zu schweigen von den vielen im Ausland), kann das Brachjahr, wenn auf das Land oder das Gesetzt zurückgeführt, höchstens eine bleiche Nachahmung der biblischen Umwälzung sein. Was kann man also heutzutage doch noch aus dem Brachjahr herausschöpfen?

Ansätze eines nicht landwirtschaftlich bedingten Sabbatjahres gibt es schon in mehreren Ländern, etwa in Deutschland und Israel, vor allem im Erziehungs- und Bildungswesen. Es handelt sich hierbei um Hochschul- und Universitätsprofessoren, in einem eingeschränkten Maße auch um Schullehrer. Allerdings ist es oft so, dass der Professor sein »Sabbatical« nutzt, um noch ein wissenschaftliches Werk zu schreiben, also um seinem Beruf erst recht nachgehen zu können, was zur Wirkung des biblischen Sabbatjahres im Gegensatz steht.

Will man die biblische Vision vom Sabbatjahr aber richtig umsetzen, so muss man sich an zwei Grundsätzen orientieren: 1. Es sollte ein allgemeines Sabbatjahr sein, auf das jeder Berufstätige zurückgreifen könnte. 2. Beim Sabbatjahr sollte die Möglichkeit angeboten werden, sich einem anderen Beruf zuzuwidmen, um sich dabei fortzuentwickeln.

Ich könnte mir also vorstellen, dass der Staat Berufstätigen im sechsten konsekutiven Arbeitsjahr die Möglichkeit anböte, sich im darauf folgenden Jahr neue Arbeitsfelder zu erschließen. Finanziert würde das Jahr durch den Staat: Normalerweise bis zur Hälfte des sonstigen Gehalts, bei Geringverdienern gänzlich. Ein Bauer dürfte sich dann in die Bildhauerei einführen lassen, ein Universitätsprofessor sich wiederum mit der Viehzucht bekannt machen. Bei beiden würde dabei der Horizont erweitert, neue Denkweisen vielleicht eröffnet.

Inwiefern ein solches Gesellschaftsmodell im heutigen Wirtschaftssystem durchführbar bzw. tragfähig wäre, ist tatsächlich eine schwierige Frage, die dem vorhandenen System freilich auch zum Vorwurf gemacht werden könnte. Was uns vom Brachjahr bleibt, ist also wenigstens die Erkenntnis, dass es sich bei dieser Vorstellung nicht nur um das Land oder das Gesetz handeln kann, sondern auch um eine gesellschaftliche Vision, die heute noch genauso revolutionär erscheint wie sie in der Antike war.

 

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Mancherorts auch als der Rebbe von Krechzn* bekannt, heißt der Autor von "un/zugehörig" eigentlich Yoav Sapir. Er ist 5740 (auf Christlich: 1979) in Haifa, Israel, geboren und hat später lange in Jerusalem gelebt, dessen numinose Stimmung ihn anscheinend tief geprägt hat. Nebenbei hat er dort sein M.A.-Studium abgeschlossen, während dessen er sich v. a. mit dem Bild des Juden im Spielfilm der DDR befasst hat. Seit Sommer 2006 weilt er an akademischen Einrichtungen im deutschsprachigen Mitteleuropa: anfangs in Wien, später in Berlin und dann in Heidelberg. Nach einer Hospitanz im Bundestag arbeitet er jetzt selbstständig in Berlin als Autor, Referent und Übersetzer aus dem Hebräischen und ins Hebräische. Nebenbei bietet er auch Tours of Jewish Berlin. * krechzn (Jiddisch): stöhnen; leidenschaftlich jammern.

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