Wissenschaftsgeschichte ist sexy

BLOG: Uhura Uraniae

Ko(s)mische Streifzüge durch Zeit und Raum
Uhura Uraniae

Wissenschaft ist das, was Wissen schafft – also das, was auch der Unterricht tun will. Wissenschaftsgeschichte ist eine Geschichte der Menschen, die Wissen schaff(t)en und sie ist eine Forschungsdisziplin. Geschichtsforschung hat wenig zu tun mit Märchenerzählung – das macht die Literaturwissenschaft. Es geht auch nicht um Rekordlisten wie “erster”, “klügster”, “schönster”, “meistprämierter”, … (dafür sind die Kollegen im Sport zuständig), sondern es geht darum, Zusammenhänge zu verstehen und nachzuvollziehen, auf welchen Riesen-Schultern wir Zwerge stehen. Vor allem geht es auch um die Einsicht, wie Wissenschaft & Forschung funktionieren, um Beobachtungen, wie die Forschenden und Lehrenden als Subjekte mit ihren zu erforschenden Objekten wechselwirken und wie sie einander inspirieren. Drei der systematischsten und konsequentesten Fragen der Wissenschaftsgeschichte sind also:

Erstens

 Woher kommt das (naturwissenschaftliche) Wissen, das wir in der Schule pauken? Ist das glaubwürdig? Wen zitiert unser Lehrer? Wer hat historisch von wem abgeschrieben oder wissenschaftlicher formuliert: Was sind die Quellen?

Als ich acht oder neun Jahre alt war, machte meine Familie in Prag Urlaub. Wir wohnten in einer Ferienwohnung am Stadtrand, die ziemlich hoch an einem Hang lag. Neben der Straße floss auf der einen Seite ein munteres kleines, silberhelles Bächlein. Es ist eine meiner schönsten Kindheitserinnerungen, dass mein Vater dann eines Tages auf die Idee kam “kommt, Kinder, wir suchen die Quelle” und Vater mit allen drei Kindern über den Berg tobte, bis ich den Ursprung des Erquicklichen gefunden hatte. Was ich mit dieser Analogie sagen will: sowas macht einfach Spaß!

Man findet mit derartigen Methoden in der Geschichtsforschung sehr viel über Menschen heraus. Man lernt, wer ehrlich ist und wer nicht und man bekommt ein Gespür dafür, wie Wissenschaft funktioniert: Oberflächlich betrachtend meinen viele Lehrkräfte im Schulunterricht, dass z.B. die großen Gelehrten der Antike wie Hipparch oder Ptolemaios (natürlich) selbst beobachtet haben, da sie ja auch Geräte beschreiben, mit denen man den Himmel beobachten kann. Das ist aber zu ungenau hingeguckt: Insbesondere Hipparch hat wahrscheinlich nicht selbst beobachtet, sondern seine Liste von ca. 800 Sternen, die man uns in der Schule oft als erstens Sternkatalog verkauft, aus babylonischen Quellen abgeschrieben. Diese These liegt nahe, da es bei manchen hellen Sternen große astrometrische Abweichungen gibt – d.h. falls Hipparch wirklich mit den angegebenen Instrumenten (deren Messgenauigkeit wir ja kennen) beobachtet hätte, würde er nicht so große Fehler in seinen Listen haben. Unterstellen wir Hipparch einfach mal halbwegs gute Augen und akribische wissenschaftliche Methoden, dann kommen wir zu dem Schluss, dass er eben nicht selbst beobachtet hat, sondern nur wusste, wie das Beobachten geht und die astrometrischen Daten abgeschrieben hat. Wenn man nun schaut, in welchen babylonischen Tafeln es die gleichen Abweichungen gibt, haben wir die Quelle von Hipparch gefunden.

Zweitens

Man kann mit den Methoden der Geschichtsforschung z.B. auch alte Funde datieren, was eine geistige Herausforderung sein kann.

Wieder ein Beispiel: In einem Schulmuseum einer zentraldeutschen Kleinstadt befindet sich ein altes Tellurium aus einer schulischen Physikdidaktiksammlung. Niemand von den zuständigen Pädagogen (die keine Naturwissenschaftler sind) wusste mehr genau, was das eigentlich war und wie alt überhaupt und man warf die Frage auf, ob es historisch korrekt ist, wenn man es in ein nachgebildetes Klassenzimmer für Rollenspiele zur Schule der 1910er Jahre stellt? Das Gerät landete auf meinem Schreibtisch, weil ich es reparieren sollte und den Pädagogen vorschlagen wollte, wie man es inszenieren könnte. Durch genaue Bildbetrachtung datierte ich es anhand der politischen Karte auf dem Globus auf ein Baujahr zwischen 1947 und 1949 … also definitiv nach 1920 (z.B. weil Russland nicht als Zarenreich, sondern als Räterepublik eingezeichnet war uvam). Eigentlich ist dies eine absolut naheliegende und einsichtige Methode, aber die Pädagogen, deren Forschungsmethoden ja eher statistische Auswertung von Fragebögen sind, waren einfach nicht drauf gekommen. Gut, dass es eben noch die Geschichtsforschung gibt. 🙂

Solche Quellenanalysen und -interpretationen sind klassische Kernaufgabengebiete der Geschichtswissenschaft. In diesem geschilderten Fall ist unsere Quelle eben ein Visualisierungsinstrument, also ein bestimmtes Gerät, das früher im Physikunterricht zur Veranschaulichung von Prozessen eingesetzt wurde.

Drittens

Der Wert der Wissenschaftsgeschichte als Methode im Physikunterricht liegt meines Erachtens vor allem im Nachvollziehen historischer Experimente. Viele der historischen Versuche sind hinreichend einfach, dass man mit ihnen relativ schnell die jeweiligen Aspekte unseres Weltbildes belegen kann, die man einzusehen wünscht.

Ich selbst habe als Schülerin z.B. bei einer Klassenfahrt nach Griechenland die Größe der Welt vermessen und für mich einsichtig belegt, dass die Erde wirklich einen Äquatorumfang von ca. 40 000 km hat. Es kommt dabei nicht auf den Meter an, also nicht auf beliebig viele Nachkommastellen, denn dazu ist die Methode zu ungenau – aber man kann fundiert belegen, dass die Größenordnung stimmt es eben nicht nur vierhundert Kilometer sind.
 
FAZIT

  1. Geschichtsforschung ist wahrscheinlich eine der ehrlichsten Wissenschaften, denn sie findet auf der Suche nach den Quellen und Ursachen für Prozesse und Entwicklungen mitunter sogar Wahrheiten, die der Juristerei der Zeit entgehen mussten. Sie sollte mithin einem der fundamentalsten Idealbilder von Wissenschaft genügen: Wissenschaft auf der Suche nach Wahrheit (Link zu Wahrheitssong im Tanz der Vampire: so wird Wissenschaft inszeniert).
  2. Geschichtsforschung datiert Ideen und Entwicklungen – nicht, um herauszufinden, wer der erste, schnellste oder beste war (das machen die Sportler), sondern zum Kontextuieren und Inszenieren eines modernen Weltbildes. Damit legt sie übrigens nicht nur den Grundstein für die Physik, sondern arbeitet hier auch am Engsten mit der Physik zusammen: Physik ist (genau wie Kunstwissenschaft) eigentlich Bildinterpretation – das und moderne Labor- und Analysemethoden (z.B. C14) nutzt die Geschichtsforschung.
  3. Geschichtsforschung stellt historische Experimente und Beobachtungen nach. Das hat zwar durchaus etwas theatralisches, aber man lernt auch sehr viel dabei – z.B. lernt man etwas über die Welt und man lernt auch, was von Opas Abendmärchen Seemannsgarn ist oder nur “kleine Kinder” ruhig stellen sollte und was aber auch der wahre Kern der Stammtisch-Plauderei ist.

 


Geschichtsforschung zwischen Theater und Textlektüre. Geschichtsforschung ist – wie ich in meiner zweiten Diplomarbeit metaphorisch einleitend schrieb – ein bißchen wie Detektiv-Geschichten: Man will einfach wissen, wer es wie gewesen ist, warum, mit welchem Motiv und mit welchem Werkzeug …  naja, und solche Geschichten liest man doch gerne. 🙂

Avatar-Foto

Veröffentlicht von

"physics was my first love and it will be my last physics of the future and physics of the past" Dr. Dr. Susanne M Hoffmann ist seit 1998 als Astronomin tätig (Universitäten, Planetarien, öffentliche Sternwarten, u.a.). Ihr fachlicher Hintergrund besteht in Physik und Wissenschaftsgeschichte (zwei Diplome), Informatik und Fachdidaktik (neue Medien/ Medienwissenschaft) als Weiterqualifikationen. Sie ist aufgewachsen im wiedervereinigten Berlin, zuhause auf dem Planeten Erde. Jobbedingt hat sie 2001-2006 in Potsdam gelebt, 2005-2008 saisonal in Mauretanien (winters) und Portugal (sommers), 2008-2009 und 2013-'15 in Berlin, 2010 in Hamburg, 2010-2012 in Hildesheim, 2015/6 in Wald/Österreich, 2017 in Semarang (Indonesien), seit 2017 in Jena, mit Gastaufenthalten im Rahmen von Forschungskollaborationen in Kairo+Luxor (Ägypten), Jerusalem+Tel Aviv (Israel), Hefei (China)... . Ihr fachliches Spezialgebiet sind Himmelskarten und Himmelsgloben; konkret deren Mathematik, Kartographie, Messverfahren = Astrometrie, ihre historische Entwicklung, Sternbilder als Kulturkalender und Koordinatensystem, Anomalien der Sternkarte - also fehlende und zusätzliche Sterne, Sternnamen... und die Schaustellung von alle dem in Projektionsplanetarien. Sie versteht dieses Blog als "Kommentar an die Welt", als Kolumne, als Informationsdienst, da sie der Gesellschaft, die ihr das viele studieren und forschen ermöglichte, etwas zurückgeben möchte (in der Hoffnung, dass ihr die Gesellschaft auch weiterhin die Forschung finanziert).

Schreibe einen Kommentar