babylonische Entdeckung: “astronomische Zahlen”…

BLOG: Uhura Uraniae

Ko(s)mische Streifzüge durch Zeit und Raum
Uhura Uraniae

… sind nicht schon immer riesengroß! Auch sie haben klein angefangen. 🙂 Dass es ein Astronom war, der nun auf Tontafeln die bisher größten Zahlen des Altertums entdeckt hat, ist hingegen eher Zufall, denn im alten Babylon waren solche Zahlen eher ein Resultat hochentwickelter Mathematik.

Die heutige Redensart, dass “astronomisch” metaphorisch für “(gehoben) unermesslich; (bildungssprachlich) exorbitant; (oft emotional) riesig; (umgangssprachlich emotional) kolossal, sagenhaft” (Zitate aus dem Duden) zu nutzen, entspringt ganz offensichtlich dem modernen Denkstil von einem riesengroßen Universum, unvorstellbar gigantischen Entfernungen und 3D-Himmelskörpern, die aus Sternpünktchen des Firmamentes Objekte mit hundert oder tausendfachem Erddurchmesser machen…

In der modernen Astronomie reden wir von – übertrieben gesprochen – “unendlichen(?) Weiten” und so haben die Astronomen der letzten paar Jahrhunderte kurios anmutende, sich dem Alltag entziehende Einheiten wie Parsec [Parallaxensekunde] oder Rotverschiebung für Entfernungsangaben ersonnen, damit die Zahlen klein und somit für Menschenhirne halbwegs verwaltbar bleiben. Die Lebenszeit eines Astronomen ist schließlich zu kostbar, um sie mit dem Schreiben von Nullen zu verbringen; also macht man die Einheit entsprechend groß, damit sie Zahl klein bleibt: Sie geben ja auch nicht die Fläche Ihres Gartens in Quadrat-Atomdurchmessern an, sondern in Quadratmetern, Hektar oder so…. damit die Zahl eben handlich bleibt.

Insofern ist es schon sehr fraglich, wozu man überhaupt große Zahlen “braucht”. Vielleicht hauptsächlich für mathematische Höhenflüge, d.h. ein Mathematiker würde diese Zahlen einfach fürs intellektuelle Vergnügen betrachten. Mein Großvater soll z.B. immer zu sagen gepflegt haben: “wenn ich eine Zahl sehe, dann rastet bei mir im Kopf der Computer ein” und mir selbst geht das auch oft so: Wenn ich eine Zahl sehe und das Hirn gerade auf Leerlauf ist (z.B. wenn man im Zug sitzt oder mit dem Auto im Stau steht), dann fängt mein Hirn unwillkürlich an, die große Zahl in Primfaktoren zu zerlegen oder aus den Ziffern irgendwelche Zahlenspielchen zu machen (oder historische Daten darin wiederzufinden, insbes. bei vierstelligen Zahlen – aber das ist wohl eher die Historikerin in mir)… einfach zur Freude und intellektuellen Bespaßung. So ähnlich wird wohl auch das Hirn der Menschen vor dreitausend Jahren schon funktioniert haben. Aber letztlich entzieht sich völlig unserer Kenntnis, was genau die Leute damals im alten Babylon mit einer Zahl von dreißig Stellen gemacht haben könnten.

Die babylonische Astronomie beschränkte sich ja auf die Beschreibung von Positionsangaben am Himmel, also welcher Planet steht gerade neben welhem Stern, wo wird er morgen stehen und wo in acht Jahren … sowas halt. Uns ist nicht überliefert, ob die babylonische Astronomie in irgendeiner Weise versuchte, ein “Weltbild” zu formen, also Fragen gestellt hätte wie “sind die Planeten Körper oder Flächen?” oder “wie weit ist es zur Sonne” oder “welchen Durchmesser hat der Mond im Vergleich zu Erde” und “wie groß ist die Erde überhaupt und welche Geometrie hat sie”. Wir kennen keine Antwort auf solche Fragen aus Babylon oder Uruk und nehmen daher an, dass derartige Fragen vielleicht einfach nicht wissnschaftlich gestellt wurden.
Das aber bedeutet, dass ein babylonischer Astronom in seinem Alltag Zahlen brauchte wie 1 bis 360 (das sind – modern gesprochen – die Anzahl der Grade (babylonische Zeiteinheiten usch), um die sich der Himmel in einem Tag dreht) und für langpreriodische Phänomene wie Saroszyklus oder Planetenumläufe eben Zahlen von 18-19 Jahren, oder vielleicht mal 76 Jahre … aber jedenfalls keine 946 … denn man hat – so weit wir wissen – diese langperiodischen Phänomene in Anzahlen der Jahre oder Monate angeben und nicht in kleineren Einheiten.

Neun hoch sechsundvierzig, 946 = (9 mal 9 mal 9 mal 9 … mal 9) eben 46 mal.  d.i. die größte Zahl auf der kuriosen Tontafel, die Mathieu Ossendrijver letztes Jahr im British Museum zusammengepuzzlet hat. Die Pressemeldung der HU Berlin zeigt ein Bild aus seiner vor wenigen Wochen erschienenen Publikation im jährlichen Journal of Cuneiform Studies.

Bei JStor kann man den frischen Artikel übrigens für ein paar Euronen erstehen und bei arXiv.org gibt’s wenigstens ein Abstract.

Unabhängig von der spannenden Frage nach dem Nutzen wolcher Zahlen, ist aber hieran auch wunderbar ersichtlich, wie Effektiv Wissenschaft arbeitet: Aus einem winzigen Keim von Wissen als Input – hier: ein paar Fragmente von Tontafeln mit Teilen von Zahlen – kann ein Wissenschaftler den Rest der Information induktiv ergänzen – hier: die restliche Zahl – und daraus neue Erkenntnisse für unser Gesamtbild der Welt generieren. Mit einem selbstprogrammierten Fortran-Code hat der Wissenschaftler die fehlenden Stellen und Tontafel-Stücke ergänzt, denn wenn man den Inhalt einmal verstanden hat, braucht man ja nur noch alle Zahlen von 9² bis 946 zu berechnen (was vllt. sogar mancher Taschenrechner könnte) und dann diese Zahlen nicht in unserem dekadischen Zahlensystem auszugeben, sondern umzurechnen in “Ziffern” des Sexagesimalsystems, das auf der 60 beruht (wie unsere Stundeneinteilung in Minuten und Sekunden). Diese Ziffern kann dann ein Altorientalist in Keilschriftzeichen übersetzen und also rekonstruieren, was auf der Tafel als Ganzes einmal gestanden haben mag. Glücklicherweise ist Mathieu Ossendrijver beides – ein guter Philologe und ein guter Naturwissenschaftler – so dass er dieses Ergebnis letztes Jahr sehr schnell nach seinem Besuch im Londoner British Museum erzielen konnte.

Das Ergebnis sind die Bilder, die auch auf der HU-Webseite für Presse zur Verfügung gestellt werden:

Abb. 1 und Abb. 2

Man sieht in dem oben genannten Bild, dass die ursprüngliche Tontafel wohl offenbar recht groß war:

  • jede Zeile war eine Zahl.
  • unten steht die Eins
  • oben stehen die Ziffern von 946

Nimmt man plausiblerweise an, dass eine Tontafel von oben nach unten beschrieben wurde, dann ist der babylonische Schreiber also mit einer riesigen Zahl gestartet und bei Eins angekommen. Darum, spekuliert Mathieu Ossendrijver, liest es sich wie eine Hausaufgabe für Mathe-Studis, wo der Meister dem Lehrling die Aufgabe stellt: Beweise, dass dies die Zahl 946 ist und der Beweis durchgeführt wird, indem der Junior-Gelehrte Zeile für Zeile eine Division durch Neun durchführt. Wenn er alles richtig gemacht hat, kommt er unten bei Eins raus.

Allerdings sieht die Tafel nicht so aus, als würde sie einem Schulkontext entspringen und noch dazu gibt’s eben keine denkbare Anwendung, die uns spontan einfallen würde. Hier sind also noch viele Fragen offen.

Das gibt also Hoffnung für viele weitere spannende Forschungen – und faszinierende Perspektiven für Nachwuchswissenschaftlerlinge. 🙂

ANDERE BEITRÄGE hierzu

SpiegelOnline

Der Standard (Wien)


GIMMICK

Übrigens gibt’s den Autor auch selbst akustisch: Zum Nachhören bei Kulturradio des rbb (sorry, man muss leider etwas runterscrollen: ich kann leider nicht den Einzelbeitrag verlinken). Es ist ein 5min-Interview vom Dienstag Vormittag dieser Woche.

Wer noch mehr wissen will über diese alte Zeit, dem sei ganz herzlich ein Besuch des Pergamonmuseums auf der Berliner Museumsinsel empfohlen: Die derzeitigen Aktionen und Öffnungszeiten kann man den Internet-Auftritten der Staatlichen Museen Berlin entnehmen.

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"physics was my first love and it will be my last physics of the future and physics of the past" Dr. Dr. Susanne M Hoffmann ist seit 1998 als Astronomin tätig (Universitäten, Planetarien, öffentliche Sternwarten, u.a.). Ihr fachlicher Hintergrund besteht in Physik und Wissenschaftsgeschichte (zwei Diplome), Informatik und Fachdidaktik (neue Medien/ Medienwissenschaft) als Weiterqualifikationen. Sie ist aufgewachsen im wiedervereinigten Berlin, zuhause auf dem Planeten Erde. Jobbedingt hat sie 2001-2006 in Potsdam gelebt, 2005-2008 saisonal in Mauretanien (winters) und Portugal (sommers), 2008-2009 und 2013-'15 in Berlin, 2010 in Hamburg, 2010-2012 in Hildesheim, 2015/6 in Wald/Österreich, 2017 in Semarang (Indonesien), seit 2017 in Jena, mit Gastaufenthalten im Rahmen von Forschungskollaborationen in Kairo+Luxor (Ägypten), Jerusalem+Tel Aviv (Israel), Hefei (China)... . Ihr fachliches Spezialgebiet sind Himmelskarten und Himmelsgloben; konkret deren Mathematik, Kartographie, Messverfahren = Astrometrie, ihre historische Entwicklung, Sternbilder als Kulturkalender und Koordinatensystem, Anomalien der Sternkarte - also fehlende und zusätzliche Sterne, Sternnamen... und die Schaustellung von alle dem in Projektionsplanetarien. Sie versteht dieses Blog als "Kommentar an die Welt", als Kolumne, als Informationsdienst, da sie der Gesellschaft, die ihr das viele studieren und forschen ermöglichte, etwas zurückgeben möchte (in der Hoffnung, dass ihr die Gesellschaft auch weiterhin die Forschung finanziert).

6 Kommentare

  1. Angesichts des Kapitalmarktes spreche ich bei sehr großen Zahlen lieber von “ökonomischen” statt von “astronomischen” Zahlen. Zumindest hier haben sich die Menschen seit Babylon geändert.

  2. Streng genommen scheint die Astronomie die Benennung von bestimmten Verstreuungen zu meinen, die am Himmel festgestellt werden können, wobei sozusagen die Höhe der Beobachtung wieder als Metaphorik für die Unermesslichkeit von Zahlen herangezogen worden ist.
    Manche meinen auch, dass sich der Ursprung des “Astro” im Germanischen findet.

  3. Googol ist eine englischsprachige Bezeichnung für die Zahl 10^{100}. Diese Zahl entspricht einer 1 mit 100 Nullen, ausgeschrieben:
    Ein Googol ist kleiner als 70! Das bedeutet, dass es mehr als ein Googol Möglichkeiten gibt, 70 Objekte verschieden zu ordnen
    Als Googolplex wird die Zahl 10^{\mathrm{Googol}} = 10^{(10^{100})} bezeichnet. Ein Googolplex ist also eine 1 mit 10^{100} Nullen.

    Bemerkung: Von Googol leitet die Suchmaschine Google ihren Namen ab, angelehnt an das Bestreben, möglichst viele Internetseiten zu indizieren

    Kultur gewinnt vor Mathematik
    Schon die alten Griechen waren von grossen Zahlen fasziniert, besonders Archimedes, der in seinem Sand Rechner auch den Bezug um Universum machte. (Zitat) “The Sand Reckoner (Greek: Psammites) is a work by Archimedes in which he set out to determine an upper bound for the number of grains of sand that fit into the universe. “ Dazu erfand er ein Stellenwertsystem mit der Basis 10^8
    Bemerkenswert finde ich folgende Wikipedia-Eintrag dazu:

    Archimedes’ system is reminiscent of a positional numeral system with base 10^8, which is remarkable because the ancient Greeks used a very simple system for writing numbers, which employs 27 different letters of the alphabet for the units 1 through 9, the tens 10 through 90 and the hundreds 100 through 900.
    Archimedes also discovered and proved the law of exponents, 10^a 10^b = 10^{a+b}, necessary to manipulate powers of 10.

    Bemerkenswert finde ich das, weil es zeigt, dass die Schreibweise von Zahlen z.B. im alten Rom oder Griechenland oder bei den Arabern kulturbasiert ist. Es folgt einer Tradition, nicht unbedingt mathematischer Notwendigkeit. Ein Mathematiker wie Archimedes erkannte, dass es aus mathematischer Sicht eine andere Notation bräuchte. Doch diese andere Notation konnte sich nicht durchsetzen. Es braucht einen kulturellen Umbruch, damit dies geschieht.

    Abschliessende Bemerkung zum kulturbedingten Umgang mit Zahlen: Noch heute werden die deutschsprachigen Zahlworte für zweistellige Zahlen verkehrt herum gesagt: Mit dreiundzwanzig meint man 23. Das ist eine bekannte Fehlerquelle. Im chinesischen ist es anders, was den chineschischen Kindern den Umgang mit Zahlen erleichtert.

  4. “dem Alltag entziehende Einheiten wie Parsec”

    Dann frag ich mich: Warum baut man diese Einheit in eine Zahlenangabe ein, wo sie überflüssig ist wie ein Kropf und wohl nur den einen Zwecke hat, eine leicht verständliche Wachstumsrate so zu verschlüsseln, dass man sich nichts mehr drunter vorstellen kann.

    67,11 km/s/Megaparsec, was soll das???

    Im Zähler und Nenner 2 verschiedene Längeneinheiten!!!

    Die kürz ich mal raus und übrig bleibt im Nenner die Sekunde. Den Bruch noch mit 31 557 600 erweitert und im Nenner steht das Jahr:

    6.8634*10^-11/Jahr

    Jetzt könnten wir noch den Kehrwert bilden und es mal etwas unmathematischer formulieren.

    Abstände im Universum vergrößern sich pro Jahr um ca. den 14,57 Milliardstel Teil.

    Bezogen auf den Erddurchmesser hieße das. Würde die Erde bei der Expansion mitmachen, so würde ihr Durchmesser jährlich um 0,87 Millimeter wachsen.

    Also: 0,87mm/Jahr/Erddurchmesser

  5. Die Faszination für “astronomisch, unermesslich grosse Zahlen ist so alt wie die Beschäftigung der Menschen mit der Idee der Zahl überhaupt. Auch ich als kleiner Kind habe aus reiner Faszination Zahlen miteinander multipzliziert, die jede für sich mehr als eine Zeile eines Heftblattes benötigte.
    Archimedes von Syrakus hat den Sand Reckoner ganz deutlich aus dieser Faszination für grosse Zahlen geschrieben. Dort liest man

    From this we can prove further that a sphere of the size attributed by Aritarchus to the spere of the fixed stars would contain a number of grains of sand less than 10^63
    ….
    I conveive that these things, king Gelon, will appear incredible to the great majority of people who have not studied mathematics, …

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