Zeit und Ewigkeit in den Weltreligionen

BLOG: Theologie im Dialog

Naturwissenschaften, Kultur und Religion
Theologie im Dialog

Im Zeitalter der Globalisierung ist Kommunikation unabdingbar geworden, um den "Clash of Cultures", von Samuel Huntigton vorausgesagt, zu verhindern. Diese Kommunikation gilt vor allem auch für den Bereich der Religionen, zumal es sich hier um einen besonders sensiblen und konfliktanfälligen Bereich handelt. Zugleich ist es absolut notwendig, dass sich alle Weltreligionen in einen konstruktiven Dialog mit den weltlichen Wissenschaften begeben, von dem beide auf kreative Weise nur profitieren können. Was nicht passieren darf, ist ein Abgleiten der Religionen in einen voraufklärerischen Fundamentalismus (ID, Kreationismus) und eine szientistische verengte, ideologieanfällige Wissenschaft. Die Wirklichkeit – zumal Gottes – ist weiter als das, was mit der Wissenschaft erfasst werden kann. Aber die Wahrheitsansprüche von Religionen und der Theologie müssen sich auch immer wieder dem Diskurs mit den Wissenschaften stellen. Es geht um konstruktiven Dialog und das Herausarbeiten von Gemeinsamkeiten. Und solche Gemeinsamkeiten gibt es auch zwischen verschiedenen Religionen.

Bei allen unabänderlichen Differenzen zwischen den Religionen ist es daher erfreulich, dass es offenbar einen Bereich in den Religionen gibt, auf den sich alle verständigen können, weil er in allen Weltreligionen, sei es als untergründige Strömung, sei es als Hauptelement, vorkommt. Dieser Bereich ist die Mystik. Was aber ist Mystik? Sicher ist, dass sie erfahrungsbezogen ist. Wie kann man sie aber sinnvoll definieren, ohne zugleich von einer wertenden theologischen Voreingenommenheit geleitet zu sein? Es bietet sich eine religionswissenschaftliche Definition an. Eine solche religionswissenschaftliche Definition stammt von dem Münchener Religionswissenschaftler Michael von Brück. Er schreibt in diesem Sinne im Lexikon "Religion in Geschichte und Gegenwart" (Abk. RGG, 4. Auflage):

"Mystische Erfahrung kann spontan eintreten oder durch Reizentzug (Schweigen, Dunkelheit, Fasten), koordinierte Reizüberflutung (Trommeln, Tanz, Schreien), psychophysische Koordination (Atem, Körperhaltung [Körpertechniken]), Konzentration (Gebet, Meditation), oder durch Drogen (Peyote-Kult) methodisch induziert werden. Ein Aufhören der normalen Denkvorgänge (Deduktion, Unterscheidung, Rationalisierung, Spekulation usw.) oder ihre Substitution durch eine qualitativ verschiedene Wirkungsweise des Intellekts (z.B. Intuition) gehört oft zur mystischen Erfahrung."

In dieser Definition herrscht der methodische Zugang zur Besonderheit der Erlangung mystischer Erfahrungen vor, ohne dass allerdings Elemente dieser Erfahrung – abgesehen von der Intuition –  besonders hervorgehoben werden. Zur Besonderheit der mystischen Erfahrung gehört aber mit Sicherheit die Erfahrung der Ewigkeit als Zeitlosigkeit. Dieses allen Weltreligionen gemeinsame Erbe der Erfahrung mystischer Zeitlosigkeit soll nun anhand verschiedener Beispiele verdeutlicht werden, bevor ich eine Deutung dieser Erfahrung vorschlage.

Sehen wir uns zunächst die Mystik im Christentum an. Dazu scheint vor allem Meister Eckhart geeignet, denn er hat sich zur Ewigkeitserfahrung in seinen Predigten besonders deutlich geäußert. In der Predigt Nr. 38 über Lukas 1, 26 ("In illo tempore …") sagt Eckhart Folgendes über Zeit und Ewigkeit:

"Das ist das Nû der Ewigkeit, in dem die Seele alle Dinge in Gott neu und frisch und gegenwärtig erkennt und in der gleichen Lust, wie ich diejenigen Dinge erkenne, die ich im Augenblick jetzt gegenwärtig vor mir habe."

Zeit und Ewigkeit werden also bei ihm nicht diametral entgegengesetzt, sondern aufeinander bezogen, und zwar in einem Moment der Zeit, den Eckhart als das Nû (mhd) kennzeichnet. Es vermittelt also zwischen Zeit und Ewigkeit, es ist Teil der Zeit, der vergehenden Zeit und es ist Teil der Ewigkeit. In diesem Nû begegnen sich Zeit und Ewigkeit, beide sind in ihr präsent. Ferner ist wichtig festzuhalten, dass dieses Nû als ein besonderer Ort der Seele angesehen wird, genauer gesagt, es ist der Gipfel der Seele, ihr höchster Ort, Eckhart spricht auch vom Seelenfünklein. Hier in diesem Seelenfünklein treffen sich im menschlichen Erleben Zeit und Ewigkeit – Ewigkeit als Zeitlosigkeit. Offenbar gibt es im Menschen einen Ort, eine seelische Schicht, in der eine solche Ewigkeitserfahrung als Erfahrung von Zeitlosigkeit gemacht werden kann. Mehr noch, wird der Mensch einer solchen Erfahrung teilhaftig, dann ist dies für ihn mit einer bemerkenswerten Kraftzufuhr verbunden. In diesem Sinne sagt er in Predigt 2 über Lukas 10, 38 Intravit Jesus in quoddam castellum:

"Ich habe auch öfter schon gesagt, dass eine Kraft in der Seele ist, die weder Zeit noch Fleisch berührt; sie fließt aus dem Geiste und bleibt im Geiste und ist ganz und gar geistig. […]. Denn Gott ist in dieser Kraft wie in dem ewigen Nun."

Entscheidend ist, dass Eckhart hier von einem ausgezeichneten Punkt der Zeit spricht, dem Nun, in dem sich Zeit und Ewigkeit treffen.

Eine solche Ewigkeitserfahrung wird nun interessanterweise auch in den mystischen Strömungen anderer Religionen bezeugt. Und jede dieser Religionen hat im Sinne der oben genannten religionswissenschaftlichen Definition von Mystik eine bestimmte an leiblichen Vollzügen orientierte Methode entwickelt, zum mystische Bewusstsein und damit zur mystischen Ewigkeitserfahrung durchzubrechen.

Schauen wir uns zunächst den Islam an. Im Islam ist es vor allem der Sufismus, der die mystische Frömmigkeit pflegt. Die Methode ist der sich an Intensität kontinuierlich steigernde Tanz. Auch hier ist von einem solchen besonderen Zeitpunkt die Rede, in dem sich die normale Zeiterfahrung in einem Nun zur Ewigkeitserfahrung erhebt. Dieser Moment hat auch im Islam einen besonderen Namen, er heißt waqt. Ein Sufimeister, der diesen Moment erlebt, also die Ewigkeitserfahrung gemacht hat, heißt entsprechend im Islam Ibn al-waqt, also Sohn der Ewigkeit. Die große Islamforscherin Annemarie Schimmel schreibt über diesen waqt:

"Es ist das Wort waqt, wörtlich Zeit, das dann den gegenwärtigen Moment, den Augenblick, da dem Sufi ein gewisser Zustand geschenkt wird, ja, geradezu den kairos bezeichnen kann – oder in mittelalterlicher Terminologie das Nu."

Schimmel analogisiert also die christlich mittelalterliche Ewigkeitserfahrung mit der der Sufis. Für den Sufismus ist die Methode der Tanz, die diese Erfahrung des Nu der Ewigkeit hervorruft.

Für den Buddhismus ist nach einer Anekdote des Buddha die Zeiterfahrung der Vergänglichkeit so ähnlich wie wenn man von einem vergifteten Pfeil getroffen wird. Dann will man diesen Pfeil so schnell wie möglich loswerden. Entsprechend gilt für den Buddhismus der Primat der Erfahrung vor der theoretischen Spekulation. Denn es ist die Erfahrung, die uns die verschiedenen Formen der Zeit zugänglich machen kann. Vor allem der Zen-Buddhismus hat eine entsprechende Praxis der konzentrativen Meditation und der Bewusstseinslenkung entwickelt, die diesen Übergang von Zeit zu Ewigkeitserfahrung bewirken kann. Hier ist das Hauptwerk des japanischen Zenmeisters Dogen (1200-1253), das Shobogenzo, eine Fundgrube. Ähnlich wie bei Heidegger ist in dieser religionsphilosophischen Schrift Zeit und Sein eng miteinander verbunden. Das Shobogenzo spricht von Sein-Zeit, von "U-ji". Sein und Zeit sind in diesem U-ji im menschlichen Bewusstsein miteinander verbunden. Aber auch dieses U-ji kann sich zur Ewigkeit hin öffnen, wenn die meditative Tiefe aufscheint. Dann ist jener Moment erreicht, der den Umschlag markiert. Dogen nennt ihn Nikon. Hier begegnet sich horizontale und vertikale Zeiterfahrung. In diesem Sinne schreibt Masao Abe:

"We are always living at the intersection of the horizontal and vertical dimension, that is, between temporality and tran-temporality. Nikon, the absolute now, is nothing but the now realized in this intersection."

Im Buddhismus ist es also vor allem die Zenmeditation, die diese Erfahrung vermittelt.

Im Hinduismus ist es der Yoga in seinen verschiedenen Spielarten des Hatha Yoga, Jnana Yoga, Kriya Yoga, Bhakti Yoga, Raja Yoga, der die methodische Anleitung gibt, das mystische Bewusstsein zu entwickeln. Gerade in Yoga ist es die Verbindung von Atemführung (Pranayama) und Zeiterfahrung, die interessant ist. In diesem Sinne schreibt der spanisch-indische Religionsphilosoph und Chemiker Raimundo Panikkar:

"The important point is that respiration corresponds to an internal time, and it is the mastering of this internal rhythm, especially in Yoga, that leads to the transcending of time – both externally and internally. […]. The purpose of this and similar practices is patiently to succeed in discovering the unreality of time, and eventually to transcend time."

Atemregulation ist also der Weg zur Durchbruchserfahrung der zeitlosen Ewigkeit, wenn das Bewusstsein gewissermaßen einen kritischen Wert erreicht hat. Dann können sich die diskreten Elemente, er spricht von time-atoms ( = ksana) der subjektiven Bewusstseinskonstitution zu einer Ewigkeitserfahrung hin öffnen. Reimundo Panikkar:

"The continuity of time in consciousness is a mere illusion, according to Shankhya. […]. A specific feature of this point of view is, that in deep meditation a time-atom which is perceived with highest consciousness can open up to a kind of timeless view of all being, in which no traces of the illusion of past, present and future are left over. This is expressed in the Patanjali Sutra […] III, 52-64."

Im Hinduismus ist es also der Begriff ksana, der jenen Moment des Übergangs von Zeitfolge zur zeitlosen Ewigkeit markiert.

Zusammengefasst heißt das, dass es in den vier genannten Religionen eine fundamentale Analogie in der Ewigkeitserfahrung gibt, das Nu Eckharts, das Waqt der Sufis, Nikon bei den Zen-Buddhisten und das Ksana im Yoga des Hinduismus. Es scheint also so zu sein, dass diese Erfahrungsmöglichkeit im Menschen angelegt ist und durch verschiedene Methoden erreicht werden kann. Dafür spricht auch, dass diese Erfahrung in nichtreligiösen Kontexten gemacht werden kann. So z. B. im Bereich der ästhetischen Erfahrung der Kunst. Von William Blake, einem englischen Dichter stammt folgendes wunderschöne Gedicht, das ebenfalls diese Erfahrung thematisiert:

"To see a world in a grain of sand.
And heaven in a wild flower.
Hold infinity in the palm of your hand.
And eternity in an hour."

Was aber wird in diesem Moment der zeitlosen Ewigkeit eigentlich erfahren? Gott, das Sein, das Selbst oder eine Verbindung von allem? Meine These ist, dass es sich um eine menschliche Gipfelerfahrung des Selbst handelt. Dafür spricht, dass es eines besonderen methodischen Trainings bedarf, um diese Erfahrung zu machen, eines Trainings leiblicher, psychischer und spiritueller Selbstoptimierung. Diese methodisch induzierten Selbstoptimierungsprozesse mit ihren zahlreichen leiblichen Komponenten vom Tanz über die Atmung, den Asanas und der Bewusstseinsschulung des Zen müssen daher auch Beziehungen zu den Humanwissenschaften haben. Insbesondere legt sich nahe, die Verbindungen zu den Neurowissenschaften und der Chronobiologie zu herzustellen. Ein Interpretation der zeitlosen Ewigkeitserfahrung im Kontext der Chronobiologie (Synchronisierung aller internen Zeitgebersysteme?) oder Hirnforschung (Aufhebung der zeiträumlichen Lateralität?) wäre ein lohnendes Unterfangen. Aber das ist wieder ein neues Thema.

Wolfgang Achtner, Transscientia Institut

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Wolfgang Achtner ist Professor für Systematische Theologie an der an der Justus Liebig Universität Giessen, sowie Gründer und Direktor der Transscientia Instituts für interdisziplinäre Wissenschaftsentwicklung, Philosophie und Religion. Prof. Dr. Wolfgang Achtner

42 Kommentare

  1. Begriff der Wirklichkeit

    Sie schreiben:

    “Die Wirklichkeit – zumal Gottes – ist weiter als das, was mit der Wissenschaft erfasst werden kann.”

    Können Sie bitte Ihren Begriff von Wirklichkeit erläutern, insbesondere den der “Wirklichkeit Gottes”?

  2. Wer profitiert von wem?

    “Zugleich ist es absolut notwendig, dass sich alle Weltreligionen in einen konstruktiven Dialog mit den weltlichen Wissenschaften begeben, von dem beide auf kreative Weise nur profitieren können.”

    Inwiefern kann Wissenschaft von einem Dialog mit den Weltreligionen profitieren? Das verstehe ich nicht. Vielleicht hängt das davon ab, was Sie unter einer “weltlichen Wissenschaft” verstehen, oder?

  3. Zeit u Ewigkeit – universell passende Begrifflichkeit?

    Danke für Ihre theologische Präsenz jetzt auch in ChronoLogs. Nun, Mystik ist nicht mein Fall – muss ja auch nicht. Um so besser, dass Sie dies vertreten.
    Meine Frage dazu:
    “Was aber wird in diesem Moment der zeitlosen Ewigkeit eigentlich erfahren? Gott, das Sein, das Selbst oder eine Verbindung von allem?”
    Was mich interessieren würde: Da werden ja schon Begriffe vorausgesetzt: Zeit u Ewigkeit. Werden diese mystischen Erfahrungen (menschliche Gipfelerfahrung des Selbst) quer durch die Religionen mit einigermaßen entsprechenden Begriffen (Zeit/Ewigkeit) benannt? Oder ist das, was Sie aus anderen Religionen berichten, mit diesen Begriffen schon in einer christlich-abendländischen Weise gedeutet?!

    Hermann A.

  4. Wirklichkeit

    Ich möchte antworten mit einem Vergleich von Eddigton, einem englischen Physiker, der die allgemeine Relativitätstheorie Einstein durch seine Messungen experimentell bestätigte. Er sagte: Man stelle ich einen Ichyologen, d.h. einen Fischforscher vor. Er konstruiert ein Netz, um Fische zu fangen. Jede Masche hat einen Durchmesser von 5 cm. Er geht auf Fang. Er holt den Fang ein. Dann stellt er fest, dass es keinen Fisch gibt, der kleiner ist als 5 cm. Er schreibt einen wissenschaftlichen Artikel an Nature und gibt seine experimentell gefundenen Ergebnisse bekannt, dass es keine Fische gibt, die kleiner sind als 5 cm. Soweit Arthur Eddigton. Er wollte damit sagen, dass die Wirklichkeit größer ist, als das, was wir mit den begrifflichen Netzen der Theorien entdecken kann. Wenn das schon der der “normalen” Wirklichkeit so ist, um wieviel mehr ist dies der Fall mit Gott, dessen Wirklichkeit (Glaube vorausgesetzt) unsere Sinne und unseren Verstand übersteigt! Was ist Wirklichkeit Gottes? Von der Wirklichkeit Gottes kann man sicher nicht in einem wissenschaftlich definierten Sinne reden. Man kann sie auch nicht wissenschaftlich beweisen. Zweierlei kann man aber sagen. Erstens kann man daran glauben (Einstein wollte sie sogar erkennen) und zweitens gibt es Zeugnisse von Menschen, die meinten dieser Wirklichkeit begegnet zu sein.
    Aber das ist ein neues und weites Feld

  5. Weltliche Wissenschaft profitiert

    Dazu zwei Beispiele aus der Wissenschaftsgeschichte.
    1. Darwin: Darwin hat seine zentralen biologsichen Begriffe (adaptation, fitness) aus der Theologie von William Paley. Siehe dazu mein Artikel “William Paley – Darwin’s theological father” im englichen Teil des Spektrum Blogs
    2. Unendlichkeit: Der Unendlichkeitsbegriff (aktuale Unendlichkeit) kommt aus der Theologie. Er wurde in der Mathematik von Georg Cantgor äußerst konstruktiv aufgenommen und zur Basis der modernen Mengenlehre gemacht. Viele weitere Beispiele hält die Wissenschaftsgeschichte bereit.

  6. Zeit-Ewigkeit

    Gute Frage. Soweit ich dies in anderen Religionen nachvollziehen kann, handelt es sich um analoge Erfahrungen, wobei natürlich keiner in den anderen hineinschauen kann, um zu sehen, was der Betreffende erfährt. Aber waqt im arabischen ist schon ein Zeitbegriff und Nikon im Japanischen auch.

  7. @ Wolfgang: Willkommen!

    Lieber Wolfgang,

    herzlich willkommen auf den Chronologs! Du siehst, hier wird viel geboten und Du wirst alle Chancen der Diskussion haben! 🙂

    Danke auch für den ersten, schönen Beitrag! Zu Deiner Hypothese, mystische Erfahrung habe mit der Modellierung des Selbst zu tun, passen übrigens auch einige Befunde der neueren Hirnforschung:
    http://www.chronologs.de/…ge-nach-hirngespinsten

    Freue mich auf mehr!

    Herzliche Grüße, Michael

  8. Flow

    Der Bewusstseinszustand und das Erlebnis, das hier mit Nu, waqt, Nikon und Ksana benannt wird und den Charakter der zeitlosen Ewigkeit hat, hat gewisse Änlichkeiten mit dem, was man in der Psychologie als Flow bezeichnet. Flow meint allerdings nicht einen meditativen Zustand in Stille und Versenkung, sondern ein völliges Aufgehen in einer Tätigkeit. Auch beim Flow verschwindet das Zeitempfinden und es gibt den dazu passenden Spruch “Dem Glücklichen schlägt keine Stunde”. Von Flow spricht man, wenn Handlung und Bewusstsein verschmelzen, die Aufmerksamkeit auf einen beschränkten Umweltabschnitt gerichtet ist, das Zeiterleben beeinträchtigt ist und ein glatter, flüssiger Handlungsablauf erreicht wird. Es ist dalso das Ergebnis des reinen Aufgehens in der Tätigkeit. Dabei können Stunden zu Minuten werden oder auch umgekehrt.

    Es gibt natürlich auch klare Unterschiede zwischen Flow und dem hier beschriebenen Erlebnis des Nu. Anstatt in einer Tätigkeit aufzugehen, scheint es hier ein Aufgehen im leeren, aber mit grösster Bewusstsein empfundenen Augenblick zu sein, so dass der Augenblick zur Ewigkeit wird. Dennoch scheint es Überschneidungen zu geben, wird doch im Yoga die Konzentration auf das Atmen und im Sufismus der Tanz praktiziert.

  9. Clash of Cultures across cultures

    “Im Zeitalter der Globalisierung ist Kommunikation unabdingbar geworden, um den “Clash of Cultures”, von Samuel Huntigton vorausgesagt, zu verhindern.”

    Ähnliche mystische Erfahrungen in verschiedenen Weltreligionen sind tatsächlich eine Chance für den Erfahrungsaustausch und das gegenseitige Verständnis. Zwischen Zen und Christentum gab und gibt es diesen Austausch sporadisch. So besuchen Zen-Mönche etwa europäische Klöster oder umgekehrt unterwerfen sich Mönche und christliche Kursleiter für kurze Zeit dem strikten Tagesablauf in einem Zen-Kloster. Das hat natürlich damit zu tun, dass die Zen-Erfahrung (und der Buddhimsus an und für sich) keinen Auschliesslichkeitsanspruch hat.

    Es gibt die mystische Erfahrung also in ganz unterschiedlichen Religionen und Menschen, die sich dieser Erfahrung hingeben, haben vieles gemeinsam – ja sie haben vielieicht mehr gemeinsam mit ihren “Brüdern im Geiste” als mit der Gemeinschaft der Gleich-Gläubigen.

    Mystik und Orthodoxie sind Gegensätze und Orthodoxie gibt es im Islam, Christentum (vor allem katholischer Ausprägung) und Judentum. Orthodoxe Juden und Muslime, die sich auf den Islam des 7. Jahrhunderts berufen, können sich aber schwer verständigen und werden sich gegenseitig kaum anerkennen.

    Mystik wird allerdings immer nur kleine Gruppen von Menschen zusammenbringen, denn die dahintersteckende Erfahrung ist sehr individuell – über längere Zeit taugt sie kaum zur Gruppenbildung. Mystisches Erleben wird allerdings öfters als Initiation benutzt – um junge Menschen an eine Sekte zu binden.

    Orthodoxie und Fundamentalismus dagegen schaffen eine Gemeinschaft von Rechtgläubigen, die sich klar abgrenzt von den Ungläubigen oder denen im falschen Glauben.

    Es gibt also den Kulturzusammenprall innerhalb einer Glaubensgemeinschaft. Orthodoxe und Fundamentalisten gegen Menschen, die die transpersonale Erfahrung suchen.

    Und man findet Verwandte, die nicht verwandt und nicht am gleichen Ort sind.

  10. @M. Holzherr

    Daß Mystik und Orthodoxie Gegensätze bilden, weil die Funktion der Mystik darin besteht, die Toleranz zwischen Religionen zu fördern, ist aber ein bißchen weit hergeholt, oder?

  11. Wirklichkeit des Ichthyologen

    Verwendet der religiöse Ichthyologe denn ein feinmaschigeres Netz als der säkulare oder wissenschaftliche Fischforscher?

    Ich habe das Bild von der Maschenweite des Fischernetzes weniger als unzureichende “begriffliche Netze der Theorien” verstanden, sondern vielmehr als naturgegebene Grenzen unseres Erkenntnisvermögens. Und die zu Überschreiten dürfte keinem Menschen möglich sein.

  12. Profitierende weltliche Wissenschaft

    » 1. Darwin: Darwin hat seine zentralen biologsichen Begriffe (adaptation, fitness) aus der Theologie von William Paley. «

    Zunächst hat doch William Paley für seine Natur-Theologie die weltlichen wissenschaftlichen Kenntnisse seiner Zeit genutzt. Dann wurden seine Vorstellungen vom “Uhrmacher” als Konstrukteur der Arten von Darwin widerlegt.

    Ich finde, das ist kein sehr überzeugendes Beispiel dafür, wie weltliche Wissenschaft von theologischen Vorstellungen profitieren kann. Außer vielleicht als Inspirationsquelle.

  13. @W. Achtner, Zugang zum Thema

    Mit der Mystik haben Sie das faszinierendste Thema aufgegriffen, das die Religionen zu bieten haben, Herr Achtner.
    Man kann es wissenschaftlich aber nicht wie andere Themen behandeln, und das liegt m.E. am Wesen der Mystik, an der Eigenart des mystischen Erkenntnisprozesses. Dieser ist primär irrational, eine rationale Auswertung des Erlebten erfolgt erst nachrangig.
    Daraus folgt, daß der Versuch, das Phänomen wissenschaftlich rational anzugehen (selbst durch die Kombination rationaler Ansätze unterschiedlicher Disziplinen) bedeutet, das Pferd vom Schwanz aufzuzäumen, womit man unweigerlich scheitert.
    Ich sehe zwei Wege, sich der Mystik zu nähern:
    1. eigene mystisch-religiöse Erfahrungen zu machen, was sich nur bedingt trainieren, keineswegs erzwingen läßt,
    2. die von H. Aichele in seinem Blog beschriebene irrational-bildhaft-religiöse Sprache zu verstehen,
    3. vergleichende und beschreibende Betrachtungen anzustellen, wie Sie es in Ihrem Artikel so anschaulich tun – ohne die Erwartung, des Rätsels Lösung zu finden.
    Ich bin sehr gespannt, was sich in der Diskussion noch ergibt.
    (Auf die Zeit möchte ich in einem zweiten Kommentar eingehen; an ihr mangelt es mir im Moment.)

  14. Die Zeit des Erwachens

    Auch in der buddhistischen Philosophie gab es etwas unterschiedliche Vorstellungen über den Begriff „Zeit“. In Dogens Werk, dem Shobogenzo, wurden diese Vorstellungen weiterentwickelt.

    Sehr gut beschrieben in dem Buch von Rolf Elberfeld: „Phänomenologie der Zeit im Buddhismus. Methoden interkulturellen Philosophierens“

    Hier eine Rezension: http://lit.polylog.org/6/rbk-de.htm

  15. @ Mona

    Der Kommentar ist zuerst im Spam gelandet. Das passiert bei neuen Blogs, wie dieses eines ist, anfangs häufig, weil der Spamfilter erst rainiert werden muß. Als ich den Kommenatr aus dem Spam befreitet, verlinkte ich auch auf die Rezension, aber ich habe eine spitze Klammer vergessen. Deshalb wurde er nicht angezeigt. Nun ist alles ok.

  16. Zeit

    Ist doch lustig, was der Zeitmangel so bewirkt: Verdoppelung der Ereignisse und Identitätswechsel der Kommentatoren 🙂
    Das Schöne ist aber, daß es nur die profane Zeit ist, die dem Menschen fehlen kann, nicht die heilige. Erstere verrinnt nämlich unaufhaltsam, letztere ist ewig und deshalb nicht zu verlieren. Der Religiöse tritt im Ritus und zu festgesetzten heiligen Zeiten mit der göttlichen Welt in Verbindung, tritt dabei aus der profanen Zeit heraus und findet Anschluß an die Ewigkeit. Die liturgische Zeit verläuft kreisförmig und vollzieht dabei immer von neuem die Kosmogonie. Dieser Grundgedanke eines turnusmäßigen Neuanfangs war in den vormosaischen Religionen so ausgeprägt, daß er sich auch später hielt. Damit meine ich im jüdisch-christlichen Glauben, der mit der historischen Gestalt Jesus Christus eine Veränderung im religiösen Zeiterleben hervorbrachte, da seine Biographie plötzlich im Vordergrund stand und einen zeitlichen Bezug bildete.
    Zeit und Ewigkeit in den Religionen bedeutet für den Gläubigen: Strukturierung seines Lebens nach religiösen zeitlichen Vorgaben, wobei die heiligen Feste die Orientierungspunkte bilden, sowie Teilhabe an der göttlichen Welt, Ewigkeit und damit Unsterblichkeit.
    Die säkulare Zeit dagegen ist eine sich verkürzende, unaufhaltsam zum Tode führende Strecke, die aussichtslos endet.

  17. @W. Winedrake

    Mystik ist ein anderer Zugang zur Religion. Er betont Erfahrungen während Orthodoxie die richtige Lehre und den richigen Glauben sucht (oder schon gefunden zu haben glaubt). Für Orthodoxe weichen Andersgläubie vom rechten Weg ab. In der Mystik werden verschiedene Wege stärker akzeptiert – können doch verschiedene Wege und Methoden zur gleichen oder ähnlichen Erfahrung fürhren.

  18. Flow+Mystik , Holzherr

    Ja, diese Analogie zum Flow sehe ich auch. Ursprünglich hatte ich vor, das auch noch im Artikel zu verwenden, aber dann wäre er zu lange geworden. Danke für den Hinweis! Ich stimme zu, dass Mystik immer etwas für eine Minderheit ist.

  19. Paley Wissenschaft Religion

    Paley steht selbst in einer theologischen Tradition, die bis zu dem ersten Präsidenten der Royal Society zurückgeht, dem anglikanischen Bischof John Wilkins. Er hat in seinem Buch “Of the Principles and Duties of Natural Religion” die entstehenden Naturwissenschaften als Möglichkeit begriffen, die Naturtheologie auszubauen. In diesen naturtheologischen Sinne wurden dann auch die Naturwissenschaften betrieben (siehe dazu meine Artikelserie im englischen Blog (Science and Religion): Paley, Steno, Wilkins, Ray etc.). Paley stellt den Endpunkt dieser Entwicklung dar. Von dieser Tradition hat Darwin profitiert, ihm verdankt er die Begriffe adaptation und fitness. Dass er dann diese Theologie durch seine neue Deutung der Adaption aus den Angeln gehoben hat, ist richtig.

  20. Mystik – Irrationalität

    Dass Mystik irrational ist, möchte ich so nicht sagen. Sie ist sicher mehr als Rationalität, schließt sie mit ein. Das sieht man schon daran, dass bedeutetende Naturwissenschaftler (z.B. Eddigton) eine starke mystische Ader haben. Ich würde eher von Transrationalität sprechen. Eine Rationalität, die über unser begriffliches Erkennen hinausgeht und auch emotionale Elemente einschließt. Insofern ist der Hinweis auf bildhafte Sprache, das ist ja die Sprache der Emotionen, angemessen!

  21. Wunderbar

    Einfach wunderbar, hier so etwas zu lesen, vielen Dank. Die Zukunft findet statt! 🙂

    Ich habe nicht viel zu ergänzen, ausser vielleicht, dass Hingabe an ein Musikinstrument eine weitere (und v.a. Ideologiefreie) Methode sein kann, in diese Welten vor zu dringen. Zumindest für mich persönlich bin ich der Ansicht, dass meditatives (sprich seriöses) Üben von Kindesbeinen an mein Wegbereiter war für meinen frühen Zugang zu Meditation, mystischen Erfahrungen und meiner Sensitivität.

    Mag sein, dass Mystik nur für eine Minderheit ist. Dennoch sehe ich darin das einfachste Mittel, unsere Welt langfristig und nachhaltig ins Lot zu rücken. Das Einzige, was es dazu braucht, ist Aufgeschlossenheit, etwas Anweisung, etwas Aufmerksamkeit und schnell löst sich der Augenblick in Ewigkeit auf. Auf die eine oder andere Weise ist ja jeder schon mal – mindestens “zufällig” – dem Augenblick begegnet.

    Der Andere muss nicht im Unrecht sein, damit man selber Recht haben kann. Freue mich auf mehr!

  22. Transrationalität

    In meinem ersten Kommentar habe ich Mircea Eliades Überlegungen zum religiösen Zeiterleben aufgegriffen. Er beschreibt in “Das Heilige und das Profane” (wurde in M. Blumes Block empfohlen) im Grunde die Wirkungen einer vertikalen Ausrichtung des Bewußtseins Religiöser (auch wenn er es nicht so nennt). Zeit- und Raumerleben werden dadurch beeinflußt, aber auch das Erleben von Sinn und Bedeutung. Eliade macht deutlich, wie fast jeder Lebensbereich durch einen religiösen Bezug eine (vertikal orientierte), religiösen Vorgaben entsprechende Bedeutung erlangt.

    Nun zur Mystik und Transrationalität. Ein Geisteszustand, der die gewöhnliche Rationalität übertrifft, verbunden mit emotionalen Anteilen? Wohl richtig. Ich versuche, das zu ergänzen, und zwar mit einem Begriff aus der Psychiatrie, dem “Bedeutungsbewußtsein”.
    Es ist Bestandteil des menschlichen Bewußtseins, kann unterschiedlich stark ausgeprägt sein und sich unter bestimmten Bedingungen verstärken. Bei schizophrenen Psychosen beeinträchtigt diese Verstärkung den Patienten, weil die Dinge, die ihm plötzlich bedeutungsvoll erscheinen, bedrohlichen Charakter haben. (Er empfindet z.B. eine Bedrohung durch die sich im Kaffee verteilende Milch, wodurch ihm etwas mitgeteilt, angedroht wird.) Im gesunden Erleben kennen wir alle Situationen, in denen das Bedeutungsbewußtsein erhöht ist: z.B., wenn wir in jedes Wort, jede Geste desjenigen, in den wir uns verliebt haben, eine gewichtige Bedeutung legen und sie auf uns beziehen.
    Im mystischen Erleben findet genau diese Steigerung des Bedeutungsbewußtseins statt; sie fällt nur noch extremer aus. Vielleicht sollte man mal überlegen, ob ein gesteigertes Bedeutungsbewußtsein (antrainiert oder ererbt) allen Religiösen zueigen ist. Mir kommt es so vor. Zur Transrationalität beim mystischen Erleben gehört es jedenfalls zweifellos.

  23. @ Wolfgang Achtner: Unendlichkeit

    2. Unendlichkeit: Der Unendlichkeitsbegriff (aktuale Unendlichkeit) kommt aus der Theologie. Er wurde in der Mathematik von Georg Cantgor äußerst konstruktiv aufgenommen und zur Basis der modernen Mengenlehre gemacht.

    Das Konzept der aktualen Unendlichkeit war von den christlich-religösen Denkern ursprünglich aber auch nur aus der griechischen Philosophie übernommen worden, und dies weitestgehend unter dem Motto infinitum actu non datur. Als geistiger Wegbereiter für Cantor dürfte am ehesten Bernard Bolzano in Betracht kommen, der u.a. auch den Mengenbegriff in die mathematische Terminologie eingebracht hat. Bolzano war zwar ausgebildeter Theologe, aber primär doch ein excellenter Mathematiker und entschiedener Querdenker mit Ideen, die seiner Zeit weit voraus waren.

    Es erscheint mir insgesamt doch recht fraglich, ob dies als ein wirkliches Beispiel für einen Ideentransfer von der Theologie zur Mathematik gelten kann. Auf der anderen Seite, beispielsweise schätzen Anton Zeilinger und der Dalai Lama den wechselseitigen Gedankenaustausch meines Wissens sehr. Irgendwie profitieren wohl beide davon, nur darf man halt nicht erwarten, dass dabei der eine Patentrezepte für die Lösung der Probleme des jeweils anderen präsentieren kann, das wäre dann doch zu simpel.

  24. Religion, Weltbild und Wissenschaft

    Zitat: “Zugleich ist es absolut notwendig, dass sich alle Weltreligionen in einen konstruktiven Dialog mit den weltlichen Wissenschaften begeben, von dem beide auf kreative Weise nur profitieren können.”

    Bestimmte religiös motivierte Auffassungen prallen ja mit der Wissenschaft zusammen und es gibt auch Wissenschaftler, die der Überzeugung sind, dass immer mehr Wissen immer weniger für die Religion übriglässt (Carl Sagan: “Für einen Schöpfer bleibt nichts zu tun.”). Judentum, Christentum und Islam scheint vor allem die Schöpfung der Welt und der Glaube an Gott als Person in Konflikt mit der Wissenschaft zu bringen.

    In allen Religionen scheinen sich aber die Gläubigen viel schwerer mit der Wissenschaft zu tun als die Theologen. Zur praktischen Gläubigkeit gehört nämlich oft die Sicherheit eines festen Weltbildes. Gerade die Evolutionstheorie mit ihrem zufälligen und willkürlichen Schalten und Walten stört dann die Vortstellung einer persönlichen Beziehung zwischen Schöpfer und Erschaffenen.

    Theologen und heutige Religionsführer sind dagegen eher bereit, eine mit den wissenschaftlichen Erkenntnissen in Einklang stehende, komplexere Welt zu akzeptieren. George Coyne, der frühere Astronom des Vatikans (siehe http://en.wikipedia.org/wiki/George_Coyne), lehnte Intelligent Design ab und vertrat die Auffassung, die Vorstellung eines Gottes, der an seinen Geschöpfen herumdoktere, sei für ihn intellektuell nicht befriedigend. Er wurde allerdings kurz darauf durch einen anderen Astronomen ersetzt.
    Der derzeitige Dalai Lama erklärte kürzlich seine Bereitschaft, alles aus seiner Auffassung von Buddhismus zu streichen, was in Widerspruch zur Wissenschaft stehe. Dies ist insoweit etwas besonderes, als es in der Geschichte ja oft umgekehrt war und religiöse Autoritäten etwas aus der Wissenschaft streichen wollten, was nicht zur Religion passte.

  25. Musik – Samuel

    Nicht nur in der Musik, auch beim Joggen kann man derartige Erfahrungen machen. Es kommt eben vor allem darauf an, dass man seinen Geist in der Tätigkeit für die Absorption offen hält, bzw. eben ganz in einer Tätigkeit aufgeht. Dann stellen sich entsprechende Erfahrungen ein.

  26. Bedeutungserleben – Isadora

    Der Hinweis auf das Bedeutungserleben ist sehr interessant. Dass es mit einer Bewusstseinssteigerung einhergeht scheint mir auch plausibel. Mir fällt daszu noch ein, dass bei religiösen Bekehrungserlebnissen (Luther, Augustinus, Calvin, Zwingli) dieses Bedeutungserleben extrem ausgeprägt war.

  27. Unendlichkeit – Chrys

    Das Thema Unendlichkeit in der Mathematik und Theologie ist sehr komplex. Die Anmerkung, dass die christliche Theologie den Unendlichkeitsbegriff auch nur aus der griechischen Philosophie übernommen habe, ist so nicht richtig. Aristoteles hatte den Begriff der potenziellen Unendlichkeit eingeführt. Die aktuale Unendlichkeit hingegen geht auf Augustinus und auf Grogor von Nyssa zurück. Beide beziehen die aktuale Unendlichkeit auf Gott, meinen aber, genaueres könnte man darüber nicht sagen. Cusanus hat sich dann intensiv mit dem Unendlichkeitsbegriff beschäftigt udn versucht, ihn anschaulich zu machen. Cantor kannte diese theologische Tradition und hat mit einigen katholischen Theologen auch darüber korrespondiert. Natürlich kannte er auch Bolzanos Werk, er zitiert ihn in seinen Grundlagen. Es geht eben um die Denkbarkeit des Unendlichen. Und das hat Cantor als erster geleistet – theologisch inspiriert. Warum sollte man nich auch von der Theologie inspiriert werden? Schließlich gibt es doch auch den Heiligen Geist!

  28. Religion + Weltbild – Holzherr

    Das sehe ich genauso. Vor dem Dalai Lama kann man da nur den Hut ziehen. Es zeugt von wahrer Größe. Zum Glauben: Der Glaube hat eine existenzielle und eine intellektuelle Komponente. Beide sind immer aufeinander bezogen, sonst droht hohler Rationalismus oder enggeführter Fideismus. Ein wunderbares Beispiel für die Verbindung von existenziellem Glauben und intellektuellem Glauben ist die Abhandlung von Anselm von Canterbury über den ontologischen Gottesbeweis. Her beginnt seinen streng logischen Beweis mit einem ergreifenden Gebet. Die Lektüre dieses Beweises + Gebet sei jedem empfohlen.

  29. Training

    Mir fällt zum Thema “methodisches Training” ein, daß es auch eine christliche Trainingsmethode gibt, die den Zugang zum mystischen Erleben ermöglicht: das JESUSGEBET.
    Es ist besonders in der orthodoxen Kirche vor allem in Rußland, neuerdings aber auch im deutschsprachigen Raum zu finden und basiert auf der Einübung eines Mantras. Unter Wikipedia “Jesusgebet” findet man die Beschreibung und die gesundheitlichen Aspekte: körperlich die positive Beeinflussung des Herz-Kreislaufsystems, psychisch als Unterstützung von Psychotherapien.
    Es wird auch Herzensgebet genannt.
    http://www.sonntagsblatt-bayern.de/…0/woche6.htm

  30. Jesusgebet+Isadora

    Ja, das stimmt. Das Jesusgebet ist kommt aus der Orthodoxie, genauer gesagt von den Wüstenvätern, die ihren Glauben mit einer Art experimenteller Psychologie verbanden. Man kann sich gut über das Jesusgebet informieren in dem Buch eines bis zum heutigen Tag anonymen russischen Mönchs. Das Buch heißt: “Aufrichtige Erzählungen eines russischen Pilgers”. Auch die Bücher von Emmanuel Jungclaussen sind in dem Zusammenhang sehr gut. Was die psychologische Wirking betrifft, so kann ich dies aufgrund einer gerade abgeschlossenen Pilotstudie, die ich in Kooperation mit dem BION in der Universität Giessen abgeschlossen habe (www.bion.de und Dr. Ulrich Ott), bestätigen. In dieser Studie, in der Studierende der Uni Giessen, Frankfurt und Darmstadt teilgenommen haben, wurde MBSR, Kundalini Yoga und Jesusgebet miteinander in ihren psychologischen Auswirkungen verglichen. Ergebnis: Das Jesusgebet schnitt am besten ab! Auch Michael Blume hat zu diesen Dingen einiges Erhellendes zu sagen.

  31. Jesusgebet

    Vielen Dank, Herr Achtner, für die weiterführenden Informationen zum Jesusgebet. Ich würde sehr gerne wissen, ob irgendetwas dagegen spricht, daß man es alleine erlernt (wie in wikipedia angedeutet); es kommt mir in den Beschreibungen doch gar nicht schwierig vor.

  32. Jesusgebet+Isadora

    Im Prinzip kann man die Anfangsgründe alleine lernen. Wenn man zu den höheren Kontemplationsstufen aufsteigt, empfiehlt sich aber, sich einen geistlichen Begleiter zu suchen. Wer sucht der findet!

  33. @ Wolfgang Achtner

    Nun, nach der mir bekannten Literatur zum Thema hat Aristoteles insbesondere die konzeptionelle Unterscheidung zwischen potentieller und aktualer Unendlichkeit eingeführt, vgl. etwa [1, p.3]:

    In order to avoid these actual infinites that seemed to threaten the orderliness of his a priori finite world, Aristotle invented the notion of the potentially infinite as opposed to the actually infinite.

    Demnach bestand für die Theologen kein Bedarf an einer neuen Begriffsbildung. Die Frage war dann lediglich, wie man sich aus christlicher Sicht zur aktualen Unendlichkeit positionieren soll. Und die Scholastiker hatten hier eine ganz andere Antwort als die Kirchenväter.

    Hier ist noch ein Zitat zu Georg Cantor [1, p.7]:

    Although Cantor was a thoroughgoing scholar who later wrote some very interesting philosophical defenses of the actual infinite, his point of entry was a mathematical problem having to do with the uniqueness of the representation of a function as a trigonometric series.

    Cantors Korrespondenz mit den katholischen Theologen fällt schon in die Zeit nach seinem Zusammenbruch, da war er in jeder Hinsicht schon fix und fertig. Immerhin ist es bemerkenswert, dass sich die Theologen hier aufgeschlossen und interessiert zeigten, während so einige Mathematiker, namentlich Leopold Kronecker, nur ein hässliches Beispiel an borniertem Dogmatismus abgeliefert haben.

    Es spricht prinzipiell überhaupt nichts dagegen, sich von der Theologie inspirieren und motivieren zu lassen. Es spricht bei näherer Betrachtung nur eigentlich auch nichts dafür, dass dies bei Cantor oder bei Bolzano so passiert ist, obwohl der eine zeitlebens ein religiöser Mensch und der andere sogar ein geweihter Prister war. In seiner kreativen Schaffensphase war Cantor jedenfalls noch nicht davon besessen, dass ihm die Mengenlehre als göttliche Offenbarung zuteil wurde, das kam erst später.

    [1] R. Rucker. Infinity and the Mind. PUP, 2005.

  34. Unendlichkeit und Cantor – Chrys

    Es stimmt, dass Cantor zu seinem aktualen Unendlichkeitsbegriff in der Mathematik durch ein konkretes mathematisches Problem kam. Ich empfehle dazu das Buch von Hans Bandmann: “Die Unendlichkeit des Seins. Cantors transfinite Mengenlehre und ihre metaphysischen Wurzeln.” Es ist also richtig, dass Cantor keinen direkten Transfer aus der Theologie in die Mathematik vorgenommen hat. Ich würde sagen, dass die in der Theologie vorhandene Lehre von der Unendlichkeit Gottes (Bei Cantor dann das nur intuitiv zu schauende Tau) für Cantor einen katalytischen Effekt hatte, sich der Denkbarkeit des mathematisch Unendlichen zuzuwenden. Er hoffte auf die Unterstützung der Theologen, denn wie Sie richtig sagen, war Kronecker im Gefolge von Gauss, der in der U. nur eine “Facon de parler” sah, ein erbitterter Gegner Cantors. Die Protestanten haben ihn nicht verstanden, deswegen versuchte er es mit den Dominikanern. Diese ganze Debatte ist vorbildlich aufgearbeitet von Christian Tapp in seinem Buch “Kardinalität und Kardinäle” mit allen historischen details und Briefwechseln. Aristoteles hat in der Tat das Apeiron der Vorsokratiker im KOntext seiner Philosophie der Potentialität und Aktualität und damit des Endlichen und Unendlichen neu interpretiert. Dabei ist nur die Klasse der Potentiellen Unendlichkeit sinnvoll, die der Aktualen Unendlichkeit ist sinnlos. Die Theologen der Patristik habe sich aber im Sinne des Gottesgedankens, der engen Metaphysik des Aristoteles entwunden und in Bezug auf Gott die aktuale Unendlichkeit für sinnvoll erklärt, auch wenn die Denkbarkeit des Aktual Unendlichen für sie ein unlösbares Problem blieb und sie nur den Ausweg der apophatischen Theologie sahen.
    Ob Cantor seine religiösen Überzeugungen erst nach seinem Nervenzusammenbruch bekommen hat, wage ich zu bezweifeln.
    Alle Guten Wünsche

  35. @ Wolfgang Achtner: Literatur

    Vielen Dank für Ihre Literaturhinweise, die Bücher von Hans Bandmann und Christian Tapp sind mir beide nicht bekannt.

    Unabhängig davon hatte ich jetzt noch in “Georg Cantor: His Mathematics and Philosophy of the Infinite” von Joseph W. Dauben geblättert. Ganz interessant ist dabei, dass Dauben zufolge dem Theologen Constantin Gutberlet offenbar eine gewisse Schlüsselrolle zukommt. Gutberlet hatte in einer theologischen Publikation von 1886 auf Cantor verwiesen um seine eigene Auffassung zur aktualen Unendlichkeit darzulegen, und seine Sicht der Dinge war ebenfalls attackiert worden. Auf p. 144 schreibt Dauben:

    Gutberlet thus called upon Cantor’s analysis of the infinite to defend his own use of actually infinite numbers. In the process he encouraged Cantor’s interest in the philosophical and theological aspects of his work. That Gutberlet was prepared to argue the objective possibility of the transfinite numbers on the basis of the infinite intellect of God must have appealed to the mind of a religious man like Cantor. It was also a complementary approach to Cantor’s own Platonism, in which the legitimacy of the actual infinite was established in the immanent world of the mind by virtue of the consistent forms of reason alone.

    So gesehen führte die Situation sogar zu einem wechselseitigen Austausch von Gedanken und Anregungen, allerdings existierte Cantors Konzept der transfiniten Zahlen zu diesem Zeitpunkt bereits als zitierfähiges Resultat.

  36. Cantor + Chrys

    Ja, die Causa Cantor ist noch nicht finita. Vor allem scheint mir auch von rein mathematischer Seite die logische Konsistenz der Menge aller Alephs (also das Tau) im HInblick auf die Potenzmengen noch nicht ganz klar. Jedenfalls ist Cantors Berufung auf die Intuition meines Erachtens nicht überzeugend. Der Unendlichkeitsbegriff ist auf jeden Fall eine Crux für den menschlichen Verstand. Und der Austausch, den Cantor mit den Theologen aufgenommen hat, sollte auch fortgesetzt werden. Das wird er auch. Ende 2010/oder Anfang 2011 kommt in Cambridge University Press ein Sammelband zum Unendlichkeitsbegriff heraus “New Frontiers in Infinity”. Den historisch theologisch-mathematischen Teil habe ich verfasst, ansonsten zahlreiche andere interessante Theologen und Mathematiker, u.a. der Papst der Unendlichkeitsmathematik Hugh Woodin. The games must go on! Das Buch von Dauben ist sehr gut, ich schätze es.
    Gruss
    WA

  37. @ Wolfgang Achtner

    Vielen Dank auch für diesen weiteren Literaturhinweis, den Titel habe ich mir notiert.

    Tatsächlich wird der Mengenbegriff erst im Rahmen der axiomatischen Mengenlehre auf eine widerspruchsfreie Weise spezifiziert. Cantor war aber bereits vorsichtig genug, bei der aktualen Unendlichkeit zwischen metaphysischem, physikalischem, und mathematischem Kontext zu unterscheiden. Für Theologen, die sich auf Cantor beziehen wollen, bleibt hierdurch also eine gewisse Interpretationsfreiheit, die es möglicherweise ja erlaubt, im metaphysischen Kontext einen anderen Ausweg zu ersinnen.

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