Wörterwahl nach Wutsherrenart

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Ich habe ja nie ein Geheimnis daraus gemacht, dass ich wenig Begeisterung für die Wahl von Wörtern zum Wort, Unwort, Jugendwort oder überflüssigsten Wort des Jahres oder Monats, zum schönsten ausgewanderten oder eingewanderten oder zum schönsten Wort überhaupt aufbringen kann. Ich habe ja nichts gegen Wörter. Viele meiner besten Freunde sind Wörter. Aber, das wird man ja wohl noch sagen dürfen, auszeichnen sollte man keins von ihnen. Wörter sollen ihre Arbeit erledigen, nämlich, uns beim Reden zu helfen, und davon abgesehen sollen sie uns in Ruhe lassen.

Das gilt natürlich auch für das gestern von der Gesellschaft für deutsche Sprache zum „Wort des Jahres 2010“ gekürte Wutbürger. Aus sprachwissenschaftlicher Sicht ist das Wort ohnehin völlig uninteressant; es ist ein ganz normales Nominalkompositum, von denen das Deutsche eins pro Sekunde prägen könnte, wenn es nur wollte. Und es wollte schon oft: ich nenne nur bespielhaft Ehrenbürger, Schildbürger, Spießbürger, Weltbürger, Bundesbürger, Erdenbürger, Netzbürger, Pfahlbürger, Cheesebürger und Staatsbürger.

Nein, aus sprachwissenschaftlicher Sicht wäre das auf einem abgeschlagenen sechsten Platz gelandete schottern deutlich interessanter gewesen, dessen ungewöhnliche strukturelle und semantische Eigenschaften meine Kolleg/innen Alexander Lasch und Juliana Goschler schon im November in unserem Nischenblog „Konstruktionsgrammatik“ diskutiert haben.

Aber der Gesellschaft für deutsche Sprache geht es bei der Wörterwahl ja (leider) auch gar nicht darum, der Öffentlichkeit die Eigenheiten, oder von mir aus auch die Schönheit der deutschen Sprache näherzubringen. Stattdessen versucht man dort alljährlich, auffällige gesellschaftliche Strömungen des zu Ende gehenden Jahres an einem Wort festzumachen. Warum, das habe ich nie ganz verstanden. Soll damit die betreffende Strömung noch einmal gewürdigt oder an den Pranger gestellt werden? Oder will man uns zeigen, dass neue Dinge — welche Überraschung — neue Wörter brauchen und bekommen?

Wie dem auch sei, beim Wutbürger, das sei noch gesagt, hat die Gesellschaft nicht sehr genau hingesehen. Hier die Begründung für die Auszeichnung:

Als Wort des Jahres wurde Wutbürger gewählt. Diese Neubildung wurde von zahlreichen Zeitungen und Fernsehsendern verwendet, um einer Empörung in der Bevölkerung darüber Ausdruck zu geben, dass politische Entscheidungen über ihren Kopf hinweg getroffen werden Das Wort dokumentiert ein großes Bedürfnis der Bürgerinnen und Bürger, über ihre Wahlentscheidung hinaus ein Mitspracherecht bei gesellschaftlich und politisch relevanten Projekten zu haben.

Das ist, sagen wir es mal so, eine sehr positive Sicht darauf, wozu „zahlreiche Zeitungen und Fernsehsender“ das Wort verwenden. Tatsächlich hat es in der populärgewordenen aktuellen Verwendung der Spiegel-Autor Dirk Kurbjuweit ins Spiel gebracht, und der hat es verwendet, um eine wenig nachvollziehbare Parallele zwischen Sarrazin-Unterstützern und Stuttgart-21-Gegnern zu ziehen, indem er beide als „buhende“, „schreiende“ und „hassende“, „konservative“ und über die Politik „zutiefst empörte“ Gestalten darstellt — so eine Art deutsches Analog zur amerikanischen „Tea-Party-Bewegung“.

Auch in der Folge hat die Presse das Wort dann hauptsächlich verwendet, um relativ undifferenziert über die Proteste um den Stuttgarter Kopfbahnhof und ein paar andere mehr oder weniger vergleichbare Protestsituationen zu schreiben. Dabei ging es weniger darum, ein „Bedürfnis“ nach „Mitspracherecht“ darzustellen, sondern vielmehr darum, die Protestierenden pauschal abzuurteilen (womit ich gar nicht sagen will, dass unter diesen nicht tatsächlich ein paar Wutbürger zu finden sind).

Den „überwiegend polemischen Sinn“, so schreibt taz-Autor Benno Schirrmeister heute in der taz Bremen „hat die GfdS nicht erfasst“. Und da muss man ihm Recht geben. Schirrmeister ist in der ganzen Diskussion um das Wort bisher sowieso zu kurz gekommen, denn tatsächlich ist er, und nicht Dirk Kurbjuweit, der Schöpfer dieses Wortes: Seit dem 20. November 2007 verwenden er und die Bremer taz das Wort als (ebenfalls polemisierende) Kurzform für die Schill-Nachfolgepartei „Bürger in Wut“, die in der Bremer Bürgerschaft und in der Stadtverordnetenversammlung Bremerhaven vertreten ist und mit der Stuttgarter Abneigung gegen einen zeitgemäßen Hauptbahnhof wenig zu tun hat.

Schirrmeister fordert aufgrund der falschen Bedeutung, mit der die GfdS den Ausdruck Wutbürger versehen hat, einen Widerruf der Wahl zum „Wort des Jahres“. Aber das wäre irgendwie auch gemein. Ich weiß aus gut unterrichteten Kreisen, dass diese unerwartete Auszeichnung dem Selbstwertgefühl des geschundenen Wortes sehr gut getan hat, und dass es einen Teil des Preisgeldes schon als Anzahlung für ein hübsches Plätzchen in der nächsten Auflage des Duden verwendet hat. Es will nämlich endlich aus seiner engen Worthülse ausziehen und ein ganz neues Leben anfangen.

 

© 2010, Anatol Stefanowitsch

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Nach Umwegen über Politologie und Volkswirtschaftslehre habe ich Englische Sprachwissenschaft und Sprachlehrforschung an der Universität Hamburg studiert und danach an der Rice University in Houston, Texas in Allgemeiner Sprachwissenschaft promoviert. Von 2002 bis 2010 war ich Professor für Englische Sprachwissenschaft an der Universität Bremen, im August 2010 habe ich einen Ruf auf eine Professur für anglistische Sprachwissenschaft an der Universität Hamburg angenommen. Mein wichtigstes Forschungsgebiet ist die korpuslinguistische Untersuchung der Grammatik des Englischen und Deutschen aus der Perspektive der Konstruktionsgrammatik.

11 Kommentare

  1. Das Wort Wutbürger habe ich das erste Mal gehört, als es zum Wort des Jahres gekürt wurde. So viel zu seiner Verwendungshäufigkeit…

  2. Schlag- und Modewörter

    Ich hatte Wutbürger (und auch das neuntplatzierte Femitainment) vorher auch noch nicht gehört oder gelesen und erwarte das auch zukünftig nicht zu tun.

    Tatsächlich geht es bei der „Wahl“ zum „Wort des Jahres“ nicht um Wörter an sich, sondern bestenfalls um Schlagwörter, schlechtestenfalls um (deren Obermenge) Modewörter, die Neologismen sein können, aber nicht müssen. Beide Typen sind natürlich auch für (Polito-/Sozio-)Linguisten interessant, nicht so sehr, wenn man sich nur mit Morphologie und Konsorten beschäftigt.

    Wenn man sich mal die Nachrichten-Spalte im Google Zeitgeist anschaut – bei Twitter habe ich nichts DE-spezifisches gefunden –, sieht man, dass immerhin ein paar Begriffe der GfdS-Liste (indirekt) auftauchen:

    2. Stuttgart 21 auf Platz 4.
    7. Aschewolke ebenfalls Platz 7, daneben Haiti als weitere Naturkatastrophe auf 9.
    8. Vuvuzela, die Fußball-WM war Topsuchthema 2010 weltweit.

    PS: Ich habe absolut keine Ahnung, wer Menowin Fröhlich und Daniela Katzenberger sind oder was in (FC) Bayern besonderes los war.

  3. Ich kenne nur Gutmensch

    Gutbürger habe ich bewusst noch nicht gelesen und ich lese viel. Ist Gutbürger die neue Form von Gutmensch?
    Aber warum die Gesellschaft das macht, kann ich beantworten, Medienaufmerksamkeit.

  4. Wörterwahl

    “Nein, aus sprachwissenschaftlicher Sicht wäre das auf einem abgeschlagenen sechsten Platz gelandete schottern deutlich interessanter gewesen…”

    Nicht nörgeln, sondern mitmachen, könnte man darauf antworten. Die Laienschar der Gesellschaft für deutsche Sprache könnte ein paar ausgewiesene Fachleute sicherlich noch gut gebrauchen.

  5. Bürger in Wut

    Nur mal so zur Richtigstellung: Die „Bürger in Wut“ sind erstens keine Partei, sondern eine Wählervereinigung. Zweitens handelt es sich bei „Bürger in Wut“ auch nicht um eine Nachfolgeorganisation der Schill-Partei, sondern allenfalls um eine Abspaltung. Denn die „Bürger in Wut“ wurden schon 2004 gegründet, die Partei Rechtsstaatlicher Offensive (vulgo Schill-Partei) aber erst im Oktober 2007 aufgelöst.

  6. Zum “Spiegel”

    Es ist bezeichnend, dass der Spiegel-typische Begriff zum Wort des Jahres gewählt wurde. Sind doch die Zeiten, als der Spiegel ein kritisches Nachrichtenblatt war, lange vorbei. Derzeit liest man dort nur noch Hetzpamphlete gegen Klimaschützer, Castor-Gegner und eben gegen S21-Gegner.

    Da wird dann ein relativ sachlicher Artikel abgedruckt, in dem auch die Argumente der Kopfbahnhofbefürworter gut zur Sprache kommen, und dann wird in einer seitenlangen “Meinung” dargelegt, dass das doch alles nur maulende Meckerfritzen wären, die die Probleme nur woanders, aber nicht bei sich selbst haben wollen.

    Dass dieses Schundblatt weiterhin als seriöses Nachrichtenmagazin wahrgenommen wird, ist das traurige daran.

  7. Ruhestand

    ist eine gute Anregung: Die Wahlanfechtung war so ‘ne bremische Anspielung, weil die Wutler seinerzeit ihr Mandat in der dortigen Bürgerschaft (Landtag), nachdem sie zunächst mit kuriosen 4.9981956 Prozent die Fünfprozenthürde in Bremerhaven gerissen hatten – das ist so ähnlich wie bei Mensch-ärger-dich-nicht auf dem Feld vorm Häuschen rausgeschmissen zu werden – aufgrund einer erfolgreichen Wahlbeschwerde und einer Wiederholungswahl in einem Stimmbezirk errungen haben. Zur Präzisierung: Wahlvereinigung ist korrekt. Und: Der oberste Wutler war Bremer Landesvorsitzender der Schill-Partei..

  8. Was soll das – außer PR?

    Ich frage mich bei solchen Wahlen immer, wer denn diese Juroren sind. Da erklärt eine Gruppe selbsternannter Experten einen Begriff, der von Journalisten oder Politikern geprägt wird, zum Wort oder Unwort des Jahres, und die Medien berichten darüber wie über den Nobelpreis. Es wurde ja hier schon dargelegt, wie weit ab von der Realität diese Entscheidungen im Falle der angeblichen “Jugend-Wörter” liegen. (Man könnte eigentlich auch selbst ein paar neue Wörter erfinden und sie dann auch gleich premieren.) Aber offenbar brauchen die Medien solche Wahlen, und die Journalisten behaupten wie immer dreist, die Leser/Zuschauer/Zuhörer wollen das so. Es wird ja auch überall eilfertig darüber bereichtet, wenn irgend ein Klatschblatt die immer gleichen Promis zum schönsten, erotischsten, best- oder schlechtestangezogenen Stars kürt. Also lohnt es sich aus PR-Sicht auch, solche Wahlen zu veranstalten.

  9. ‘schottern’

    Schottern war für mich immer ein stinknormaler, tagtäglicher Begriff aus dem Garten- und Landschaftsbau bzw. Straßenbau, Tiefbau.
    Er bedeutet, auf dem ausgehobenen Untergund bei Baumaßnahmen das Aufbringen der Tragschicht aus, taraaaa ‘Schotter’. Beispielsweise einem Mineralgemisch aus Hartkalkstein der Korngröße 0 bis 45 mm oder einem Recyclingmaterial der selben Korngöße. Kurz HKS 0/45 oder RCL 0/45.
    Damit war für mich als Landschaftsgärtner immer das ‘Aufbringen’ oder ‘Auftragen’ von Schotter gemeint. Weshalb mich das ‘Castor schottern’ welches das ‘Abtragen’ oder ‘Entfernen’ von Schotter meinen soll von Anfang an stark irritierte.