Keine Wissenschaft ohne Mathematik

BLOG: Sprachlog

Alle Sprachgewalt geht vom Volke aus
Sprachlog

In einem meiner ersten Beiträge hier im Sprachlog ging es um die Frage, ob das Deutsche als Wissenschaftssprache an Bedeutung verliert, und wenn ja, ob das schlimm wäre. Meine Antwort auf die erste Frage, das wird niemanden überraschen, war ein klares „Ja“. Meine Antwort auf die zweite Frage ist differenzierter. Für die Wissenskultur in Deutschland, Österreich und der Deutschschweiz wäre es ein Verlust, wenn das Deutsche völlig aus der Wissenschaft verschwände. Gesellschaftliche und kulturelle Prozesse werden in diesen Ländern in deutscher Sprache verhandelt, und eine Wissenschaft, die an diesen Prozessen beteiligt sein will, kann auf die deutsche Sprache nicht verzichten.

Zumindest in der Kommunikation nach außen muss Wissenschaft also in der jeweiligen Landessprache vermittelbar bleiben, und dafür ist es sicher von Vorteil, wenn auch ein Teil der Kommunikation unter Wissenschaftler/innen in dieser Landessprache stattfindet. Der große Teil der internen Wissenschaftskommunikation muss aber in einer Sprache stattfinden, die von anderen Wissenschaftlern weltweit verstanden und verwendet wird. Der einzige Kandidat für eine solche Sprache ist derzeit Englisch, und deshalb findet die Kommunikation unter Wissenschaftlern (der Ideenaustausch in Fachpublikationen, auf Kongressen und natürlich auch in den häufig international zusammengesetzten Arbeitsgruppen einzelner Lehrstühle und Institute in englischer Sprache statt. Das ist gut so, und es ist für die deutschsprachige Wissenschaft und die deutschsprachigen Sprachgemeinschaften völlig unproblematisch.

Warum erzähle ich das alles im Zusammenhang eines „Bloggewitters“ zum Thema „Mathematik, Sprache, Wissenschaft“? Nun, weil ich in dem betreffenden Beitrag den emeritierten Frankfurter Literaturprofessor Klaus Reichert zitiert habe, der einen Zusammenhang zwischen den Eigenschaften einzelner Sprachen und den in diesen Sprachen ausdrückbaren Ideen postuliert:

Noch fataler ist es, wenn deutsche Geisteswissenschaftler (Philosophen, Literaturwissenschaftler) glauben, die Sprache wechseln zu sollen. Jede Sprache hat ihre eigenen Denkformen und -stile entwickelt – was in einer Sprache denkbar und sagbar ist, ist es nicht in einer anderen, oder nur mit erheblichen Verlusten und Verfälschungen. Ein englischer Hegel ist ein anderer als der deutsche („Phenomenology of the mind“ oder „of the spirit“ – weder das eine noch das andere deckt sich mit dem deutschen Wort ‘Geist’.) Nach einem alten Wort bedingen Denken und Sprache einander. [Reichert 2010]

Dieser Idee habe ich widersprochen und dabei Folgendes gesagt:

Aus wissenschaftlicher Sicht ist es völlig egal, in welcher Sprache der Ideenaustausch stattfindet. Wissenschaftliche Modelle sollen die Wirklichkeit abbilden und dazu ist jede Sprache in gleicher Weise geeignet. Wenn sich ein wissenschaftliches Modell nur in einer einzigen Sprache adäquat formulieren lässt, ist das ein sicherer Hinweis darauf, dass es das Papier nicht wert ist, auf dem sein/e Schöpfer/in es formuliert hat (davon abgesehen ist eine Wissenschaft, deren Ergebnisse sich nicht in die universelle „Sprache“ der Mathematik übersetzen lassen, ohnehin noch weit von ihrem Ziel entfernt). [Stefanowitsch 2010]

Dass ich mit dieser Aussage, die ja weder besonders originell, noch besonders neu ist, unter Geisteswissenschaftler/innen (etwa in den Literatur- und Kulturwissenschaften und Teilen der Philosophie und der Geschichtswissenschaften) auf Protest stoße, überrascht mich nicht. Ich habe Ähnliches Dutzende von Malen in Gesprächen mit Kolleg/innen aus diesen Disziplinen geäußert und bin dabei immer auf Empörung (wegen meiner Herabwürdigung der Geisteswissenschaften) oder Spott (wegen meines „naiven Positivismus“) gestoßen — nicht nur wegen der Aussage zur Mathematik, sondern auch wegen meiner Annahme, es gäbe eine abzubildende Wirklichkeit.

Ich will deshalb noch einmal etwas genauer erklären, was ich mit meiner Aussage meine und warum ich damit keiner Disziplin ihre Existenzberechtigung entziehen will. Dazu muss ich zunächst klarstellen, was ich mit „Wissenschaft“ und was ich mit „Mathematik“ meine.

Das Wort Wissenschaft ist im Deutschen auf ungünstige Art und Weise mehrdeutig. Nicht, weil es, wie oft bemerkt wird, das, was im Englischen science heißt, ebenso abdeckt, wie das, was dort humanities heißt. Sondern, weil es den Unterschied zwischen der Wissenschaft als Erkenntnisprozess und der Wissenschaft als Institution verwischt.

Mit Wissenschaft als Institution bezeichne ich die äußere Form, innerhalb derer bestimmte Wissensbereiche bearbeitet werden. Die Physik ist in diesem Sinne ebenso eine Wissenschaft wie die Literaturwissenschaft, denn für beide gibt es universitäre Institute und Studiengänge, Fachzeitschriften und Fachkonferenzen, Berufsverbände, usw. Für diese Verwendung des Wortes Wissenschaft möchte ich im Folgenden das Wort Fach verwenden.

Was ich in der oben zitierten Passage (und eigentlich immer, wenn ich das Wort verwende) mit Wissenschaft meine, ist aber der Prozess der Wissenschaft, also eine spezielle Art, Erkenntnisse über die Wirklichkeit zu sammeln und zu Modellen dieser Wirklichkeit zusammenzufügen. Dieser Prozess besteht für mich (dabei folge ich, wiederum wenig originell, Wissenschaftsphilosophen wie Karl Popper und Percy Bridgman) daraus, dass man Ausschnitte der Wirklichkeit so definiert, dass sie objektiv und nachvollziehbar messbar werden (das nennt man „Operationalisierung“), dass man dann darüber spekuliert, wie die Messgrößen zusammenhängen (dass man also Hypothesen aufstellt), und dann mit geeigneten Methoden in durch systematische Beobachtungen und Experiments versucht, diese Hypothesen zu widerlegen. Solange sie nicht widerlegt werden (bzw., und da weiche ich vielleicht ein wenig von Popper ab, solange sich aus den Beobachtungen und Experimenten keine näherliegenden Hypothesen ergeben), gelten die Hypothesen als vorläufige Fakten, die in ein Modell der Wirklichkeit eingebaut werden können.

Mit Mathematik bezeichne ich jedes unzweideutige, formell und algorithmisch auf seine interne Stimmigkeit hin untersuchbare Instrument zur Repräsentation von tatsächlichen oder theoretischen Größen, also Mathematik im eigentlichen Sinne ebenso wie Prädikatenlogik und andere auf die Mathematik zurückführbare Darstellungssysteme.

Wenn man sich meine Definition für Wissenschaft (also Wissenschaft als Prozess) ansieht, wird klar, warum jeder Aspekt dieses Prozesses in der „Sprache“ der Mathematik ausdrückbar sein muss: Wäre er es nicht, wäre nicht feststellbar, ob er messbar und prinzipiell widerlegbar wäre.

Das bedeutet nicht, dass die gesamte Fachdiskussion in einem Fach — egal, ob Physik oder Literaturwissenschaft — der Anforderung der mathematischen Formalisierbarkeit genügt: ein gewisser Teil jeder Fachdiskussion ist nämliche immer „vorwissenschaftlich“. Bevor ein wissenschaftlicher Erkenntnisprozess in Gang gesetzt werden kann, muss viel gedankliche Vorarbeit geleistet werden: Es müssen Ausschnitte der Wirklichkeit bestimmt werden, die man opreationalisieren will, es muss über angemessene Operationalisierungen gestritten und verhandelt werden, es müssen Hypothesen aufgestellt werden, usw. Diese vorwissenschaftlichen Diskussionen können natürlich vieles enthalten, das sich mathematisch ausdrücken ließe, aber sie müssen es nicht — sie bieten auch Platz für vage Ideen, Intuition, Bauchgefühl, Geistesblitze usw.

Es ist also klar, dass kein Fach pauschal als „Wissenschaft“ bezeichnet werden kann. Jedes Fach führt Mischung aus vorwissenschaftlicher und auf wissenschaftlicher Diskussion fort. Allerdings variieren die Anteile stark. Grob vereinfacht würde ich sagen, dass der Anteil an wissenschaftlichen Diskussionen in Fächern wie Physik, Chemie und Biologie höher ist als in Fächern wie Soziologie, Psychologie und Linguistik, wo er wiederum höher ist als in der Literaturwissenschaft oder Philosophie (wo er insgesamt gegen null tendiert).

Diese Unterschiede ergeben sich aus unterschiedlichen Gründen. Sie ergeben sich zum Beispiel daraus, dass einige Disziplinen (z.B. die Physik) schon seit einigen hundert Jahren wissenschaftliche Methoden verwenden, andere (z.B. die Psychologie oder die Lingistik) erst seit einigen Jahrzehnten. Es ist deshalb nicht verwunderlich, dass die Modelle der Physik ausgereift und umfassend sind und dass sich damit alle Diskussionen in der Physik umfassender auf diese Modelle beziehen können und weniger vorwissenschaftliche Diskussionen nötig sind als in der Psychologie oder Linguistik, in denen mühsam daran gearbeitet wird, überhaupt erst einmal Modellvorstellungen für kleine Teilbereiche zu entwickeln.

Unterschiede ergeben sich auch aus der Fassbarkeit des Untersuchungsgegenstandes. Die Sozial- und Geisteswissenschaften haben ständig damit zu kämpfen, dass sie menschliches Verhalten (mit)untersuchen müssen. Menschliches Verhalten ist aber sehr viel flexibler, formbarer und veränderlich als natürliche Prozesse und es ist deshalb schwerer, Gesetzmäßigkeiten zu erkennen.

Schließlich spielt aber natürlich auch die Bereitschaft eine Rolle, mit der sich eine Disziplin auf wissenschaftliche Methoden einlässt. In den Geisteswissenschaften gibt es diese Bereitschaft häufig nicht. Begründet wird das oft damit, dass der betreffende Untersuchungsgegenstand sich mit wissenschaftlichen Methoden nicht fassen ließe. Ich kann das oft nicht nachvollziehen. Nehmen wir Klaus Reichert zu Ehren das Beispiel Literaturwissenschaft. Eine typische Definition dieser Disziplin ist die folgende:

Literaturwissenschaft bezeichnet … eine Wissenschaftsdisziplin, deren Gegenstand der gesamte Prozess der textlichen Ausformung (Verbreitung, Rezeption, Wirkung und Bewertung von Literatur) ist, und sie setzt die Literatur dabei in ein Verhältnis zu Wirklichkeit und Gesellschaft, also zu den Wert-, Wissens- und Überlieferungssystemen in Geschichte, Religion, Philosophie, Kunst usw., in denen eine Zeit ihr Selbstverständnis ausbildet und zum Ausdruck bringt. [Allkemper und Eke 2004, S. 26]

Ich sehe in dieser Definition keinen Bereich, in dem es unmöglich wäre, eindeutige, mathematisch formalisierbare Aussagen zu machen. Natürlich sind Verbreitung, Rezeption, Wirkung und Bewertung von literarischen Texten extrem komplexe Prozesse; erst recht gilt das, wenn man dazu auch noch die Wechselwirkung dieser Prozesse mit „Wirklichkeit und Gesellschaft“ untersuchen will.

Aber wenn man vor einer komplexen Aufgabe steht, wäre es eine angemessene Reaktion, diese Aufgabe in kleinere Teilaufgaben aufzuteilen und diese dann Stück für Stück zu bearbeiten. Es kann viele hundert Jahre dauern, bis sich aus den Ergebnissen ein halbwegs vollständiges Bild zusammenfügt. Für meine Disziplin, die Linguistik, werde ich das vermutlich nicht mehr erleben. Aber wenn man von etwas fasziniert ist, dann ist auch ein unvollständiges Verständnis eine lohnenswerte Erfahrung. Und eine Alternative gibt es nicht: Man kann einen komplexen Gegenstandsbereich nicht bearbeiten, indem man erklärt, sie sei mit wissenschaftlichen Mitteln nicht zu bearbeiten und man müsse deshalb auf anderem Wege Erkenntnisse über ihn gewinnen.

Denn es gibt keinen anderen Weg zur Erkenntnis als den der Wissenschaft. Und es gibt keine Wissenschaft ohne Mathematik. Das bedeutet nicht, dass Wissenschaftler ständig und in jedem Bereich in Formeln reden müssen. Sie müssen nur so reden, dass sich das, was sie sagen, in Formeln übersetzen lässt, wenn es darauf ankommt.

ALLKEMPER, Alo und Norbert Otto EKE (2004) Literaturwissenschaft. Paderborn: Wilhelm Fink. [Google Books (Eingeschränkte Vorschau)]

REICHERT, Klaus (2010) Weltverständnis auf Deutsch. DW-World.de, 25. Januar 2010. [Link].

STEFANOWITSCH, Anatol (2010) Unverständnis auf Deutsch. Sprachlog (WissensLogs), 26. Januar 2010. [Link]

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Nach Umwegen über Politologie und Volkswirtschaftslehre habe ich Englische Sprachwissenschaft und Sprachlehrforschung an der Universität Hamburg studiert und danach an der Rice University in Houston, Texas in Allgemeiner Sprachwissenschaft promoviert. Von 2002 bis 2010 war ich Professor für Englische Sprachwissenschaft an der Universität Bremen, im August 2010 habe ich einen Ruf auf eine Professur für anglistische Sprachwissenschaft an der Universität Hamburg angenommen. Mein wichtigstes Forschungsgebiet ist die korpuslinguistische Untersuchung der Grammatik des Englischen und Deutschen aus der Perspektive der Konstruktionsgrammatik.

27 Kommentare

  1. Beweisbarkeit der Widerspruchsfreiheit

    Sehr geehrter Herr Stefanowitsch, wenn sie sagen

    “Mit Mathematik bezeichne ich jedes unzweideutige, formell und algorithmisch auf seine interne Stimmigkeit hin untersuchbare Instrument [..].”,

    so sprechen sie von etwas zweifelsfrei mathematischem. Es gibt jedoch viel Mathematisches, dem sie dann nicht den Namen Mathematik zugestehen. Der erste Goedelsche Unvollstaendigkeitssatz sagt uns (Zitat von Wikipedia):

    “In jedem formalen System der Zahlen, das zumindest eine Theorie der Arithmetik der natürlichen Zahlen () enthält, gibt es einen unentscheidbaren Satz, also einen Satz, der nicht beweisbar und dessen Negierung ebenso wenig beweisbar ist. (1. Gödelscher Unvollständigkeitssatz).”

    Mit anderen Worten: Selbst im System der Arithmetik natuerlicher Zahlen laesst sich nicht jeder Satz (algorithmisch) auf seine Wahrheit pruefen, in groesseren Systemen erst recht nicht.

  2. Math. Repräsentation des Wissenskerns

    Denn es gibt keinen anderen Weg zur Erkenntnis als den der Wissenschaft. Und es gibt keine Wissenschaft ohne Mathematik.

    Es gibt sicher keine Wissenschaft ohne Fachsprache und jede Fragestellung sollte inerhalb eines Systems von Konzepten und Begriffen erfolgen.

    Das kann dann einen Formalismus ergeben, im allgemeinen aber nicht im gleichen Sinne wie in der Physik, wo ein physikalischer Sachverhalt auf ein bestimmtes Gebiet der Mathematik abgebildet wird.

    Natürlich können viele mathematische Methoden (z.B. die Prädikatenlogik) auch in geisteswissenschaftlichen Fächern als Untersuchungsmittel verwendet werden.

    Im Text oben geht es aber darum, ob jedes wissenschaftliche Gebiet eine mathematische Repräsentation hat. Das könnte sein. Entscheidend ist aber, ob die mathematische Repräsentation einen zusätzlichen Erkenntnisgewinn bringt oder mindestens die Kommunikation erleichtert.

    Eine Mathematisierung kann aber auch Wissenschaftlichkeit vortäuschen oder nur bestimmte Phänomene adäquat beschreiben, nicht aber das Wesen der Fragestellung.

    Zum Verhältnis von Mathematik und Ökonomie in der mathematischen Ökonomie hat sich Karl Popper kritisch geäussert: “Popper asserted that an economic model could either have verifiable assumptions and produce no new information or have unverifiable assumptions and sacrifice formalism for scope”

    Noch kritischer sieht Robert Heilbroner den Einsatz von Formeln in der Ökonomie: “.. the sheer equations, and the sheer look of a journal page, bears a certain resemblance to science…That one central activity looks scientific. I understand that. I think that is genuine. It approaches being a universal law. But resembling a science is different from being a science.”

    Die obigen Zitate stammen aus http://en.wikipedia.org/wiki/Mathematical_economics

    Selber glaube ich, dass es ein grosser Glücksfall ist, wenn ein Teilgebiet einer Geisteswissenschaft eine adäquate mathematische Repräsentation hat und das es sehr viel Anstrengung kosten kann, eine solche zu finden.

    Das gilt sogar für die Physik. Einstein hat mehrere Jahre gebraucht um die allgemeine Relativitätstheorie zu entwickeln und einen grossen Anteil dieser Zeit war der Suche nach einer mathematischen Repräsentation gewidmet.

  3. Mehr als die Teile

    Lieber Herr Stefanowitsch!

    Im Großen und Ganzen denke ich zu verstehen, wie sie es meinen und ich sehe die Wissenschaft und ihre Methoden ähnlich.

    Über einen Satz gegen Ende bin ich gestolpert:

    “Aber wenn man vor einer komplexen Aufgabe steht, wäre es eine angemessene Reaktion, diese Aufgabe in kleinere Teilaufgaben aufzuteilen und diese dann Stück für Stück zu bearbeiten.”

    Das muss nicht immer funktionieren, es wird in der Tat fast nie funktionieren, komplexe Systeme in kleine Probleme zu zerlegen, ohne etwas zu verlieren. Auch das ist aber ein Problem, welches sich mit Mathematik lösen lässt.

    Beste Grüße
    Markus Dahlem

  4. Nur eine Kleinigkeit

    … ebenso wie Prädikatenlogik …

    … oder Philosophie (wo er insgesamt gegen null tendiert)

    Das passt nicht so recht zusammen. Sicherlich ist die europäische – ich korrigiere: kontinental-europäische – Philosophie geprägt von Geschwätzigem, konzentriert sich mit Vorliebe auf vage Thesen in eher wabernden Disziplinen. Das macht aber nicht die gesamte Philosophie mathematisch unfassbar. Immerhin gehören Logik und Epistemologie dazu.

  5. Wie Elmar Diederichs in diesem “Bloggewitter” zeigt, ist es keinesfalls sicher, ob die Mathematik als Beschreibungssprache universell ist und aus diesem Grund eine erkenntnistheoretisch einmalige Stellung hat. Es ist zudem so, dass jede Wissenschaft auf nicht mathematischen Konzepten beruht. Die physikalischen Grundkräfte lassen sich z. B. nicht aus der Mathematik ableiten. Sie benötigen einen menschlichen Beobachter und damit die menschliche Kognition. Dieser zu entkommen ist alleine aus diesem Grund schon unmöglich. Erschwerend kommt hinzu, dass sich alles mathematische immer auch sprachlich ausdrücken lässt. In diesem Sinn ist Mathematik – wie jede andere Plansprache auch – ein Teil der menschlichen Kognition. Die Frage nach Entdeckung/Erfindung wird dann zur Frage nach biologischen/kulturellen Grundlagen. Kaum umstritten dürfte sein, dass die Mathematik ein Werkzeug ist, das wir bisher haben und dass uns zu Exaktheit und Nachvollziehbarkeit zwingt. Wissenschaften profitieren also von der Mathematik, weil sie zu Exaktheit und Nachvollziehbarkeit zwingt. Es ist aber nicht einzusehen, weswegen dies nur die Mathematik leisten können soll.
    Es muss auch nicht jeder Formalismus, der derartiges leisten kann, in die Sprache der Mathematik überführbar sein. Siehe den Kommentar vor meinem – jeder widerspruchsfreie und hinlänglich komplexer Formalismus muss unvollständig sein.
    Man sollte daher eher bescheiden sein und Mathematik als das sehen, was sie ist: Ein hervorragendes Werkzeug, dass zu Exaktheit und Nachvollziehbarkeit zwingt – vielleicht das beste Werkzeug, das wir bisher haben. Es gibt aber keinen Grund zu glauben, es sei grundsätzlich das einzige.

    Der Drang den Wissenschaftsbegriff auf der Mathematik aufzubauen ist vor dem Hintergrund was bisher ohne Mathematik so getrieben wurde und wird ohne Weiteres nachzuvollziehen. Wissenschaftstheoretisch dürfte es aber nur schwer zu begründen sein.

  6. @stefanp

    Es muss auch nicht jeder Formalismus, der derartiges leisten kann, in die Sprache der Mathematik überführbar sein. Siehe den Kommentar vor meinem – jeder widerspruchsfreie und hinlänglich komplexer Formalismus muss unvollständig sein.

    In der folgenden Passage kommt m.E. (jedenfalls, wenn wir das “algorithmisch” ausklammern) ein so weit gefaßter Mathematikbegriff zum Ausdruck, daß vermutlich alles, das man als Formalismus bereit wäre zu bezeichnen darunter subsumiert werden könnte:

    Mit Mathematik bezeichne ich jedes unzweideutige, formell und algorithmisch auf seine interne Stimmigkeit hin untersuchbare Instrument zur Repräsentation von tatsächlichen oder theoretischen Größen, also Mathematik im eigentlichen Sinne ebenso wie Prädikatenlogik und andere auf die Mathematik zurückführbare Darstellungssysteme.

    Überführbarkeit eines Formalismus in die Sprache der Mathematik wäre dann überflüssig, denn als Formalismus wäre er bereits Mathematik.

    Worauf gründet sich im Übrigen der Schluß von der Notwendigkeit der Unvollständigkeit gewisser Systeme auf Inkommensurabilität unterschiedlicher Systeme (i.S.v. Nichtübertragbarkeit)?

  7. @Stefanowitsch: Korrektheitstandards

    Damit ich sicher bin, daß mein Kommentar den Punkt Ihres Artikels trifft, stelle ich meine Kurzfassung (aber in ihrem Vokabular) an den Anfang:

    i) Mathematik ist jedes wohldefinierte, formalisierbare und dadurch auf deduktive Korrektheit ablaufendes, algorithmische Verfahren.

    ii) Wissenschaft ist nur derjenige argumentative Prozeß der Wissensansammlung über die Wirklichkeit, der im weitesten Sinne mathematisch ist. Insbesondere muß jedes in der Wissenschaft akzeptierte Argument formalisiert werden können, damit Entscheidbarkeit gewährleistet bleibt.

    iii) Der wissenschaftliche Gehalt ist in Fächern wie Physik, Chemie und Biologie höher ist als in Fächern wie Soziologie, Psychologie und Linguistik, wo er wiederum höher ist als in der Literaturwissenschaft oder Philosophie wo er insgesamt gegen null tendiert.

    Ich möchte jetzt dafür argumentieren, daß jeder dieser Punkte falsch ist.

    zu i): Wenn ich die Principia Mathematica richtig verstanden habe, dann ist das Ergebnis von Russell und Withehead – salopp formuliert -, daß Mathematik=(Logik+etwas Mengenlehre+einige merkwürdige Axiome). Wenn wir annehemen, daß ihre Axiomatisierung stimmt, dann ist (meine) Mathematik ein ganz spezielles formales System und ihre Redeweise von “Mathematik” verbietet sich. Stattdessen sollte man für ein formales System in Ihrem Sinne die Bezeichnung “QMathematik” einführen – dagegen wäre nichts einzuwenden und ich werde von nun an der Frage nachgehen, ob Wissenschaft ohne QMathematik möglich ist.

    zu ii): Wenn wir QMathematik betrachten, dann ist der Hinweis auf Gödels Theoreme nicht uninteressant. Gödels Resultat war aber etwas anders, als hier behauptet wurde: Er wies 1935 nach, daß man für alle formalen Systeme einer gewissen sprachlichen Reichhaltigkeit die Wahl hat zwischen zwei unangenehmen Zuständen: Entweder man gibt zu, daß nicht alle wahren Formeln auch ableitbar sind aus den gegebenen Axiomen des Systems (Unvollständigkeit oder auch: Nichtexistenz eines konsistenten Akgorithmus) oder man gibt zu, daß man von der vollständigen Axiomatisierung mit den Mitteln des formalen Systems nicht nachweisen kann, daß sie konsistent ist (die für Hilberts Formalismus tödliche Unentscheidbarkeit). Daß Widerspruchsfreiheitsbeweise unmöglich sind, wird nicht behauptet.

    Also: Aufgrund des Fehlens konsistenter Algorithmen und dem notorischen Mangel an Widerspruchsfreiheitsbeweisen QMathematisierung ist kein Garant für Wissenschaftsfortschritt, sondern allenfalls für Transparenz. Aber natürlich stimme ich Ihnen zu, daß hohe Standards der deduktiven Korrektheit in Argumenten immer eine tolle Sache ist.

    Selbst wenn wir einmal annehmen würden, daß wir konsistente Algorithmen hätten, dann würde ihr Gebrauch keinen zusätzlichen Gehalt an Realismus oder Wirklichkeitstreue erzeugen: Anders zu reden (z.B. formal via konsistente Algorithmen), bedeutet nicht, über etwas anderes zu reden. Die unter Physikern und Mathematikern sehr praktische Redeweise von Modellierung und Abbildung ist mir gut vertaut, aber sie sollte philosophisch nicht allzu ernst genommen werden. Es mag sein, daß Poppers Basissatzmetaphysik hier anderes suggeriert, aber wir können uns nicht einfach damit genügen, uns auf sein Wissenschaftsverständnis zu berufen und z.B. die Folgen von Quines “Two Dogmas of Empiricism” ignorieren. (Man müßte das gesondert diskutieren, hier habe ich nicht genug Platz -> Danke für die Anregung zu einem neuen post!)

    zu iii) Von den Fächern, die bei Ihnen in Sachen Wissenschaftlichkeit schlecht wegkommen, kenne ich nur die Philosophie ein wenig. Mein Eindruck unterscheidet sich von Ihrem gewaltig. Obwohl ich für den Lagerkampf zwischen Analytikern und der Kontinentalphilosophie Sympathie habe, wird z.B. in der Kontinentalphilosophie sehr wohl mit aller Kraft um schlüssige Argumente gerungen. Der Unterschied ist der, daß keine formalen Mittel zur Kontrolle eingesetzt werden. Aber daraus folgt nicht, daß z.B. bei Kant oder Descartes nur Blödsinn steht. Und wenn ich mir die Geschichte der Physik seit Newton ansehe, so sehe ich eine Folge – wenn auch ungeheuer erfolgreicher – aber eben auch grandioser Irrtümer: Unter Physikern grassiert der Witz, daß das einzige Beispiel, wo die Physik wirklich verstanden wurde, der harmonische Oszillator ist. Ich hoffe, hier lesen noch andere Physiker mit, die das bestätigen.

    Auch die Geschichte der Mathematik, die nie ohne formale Mittel betrieben wurde, ist keineswegs immer so überirdisch hell, wie Sie es darstellen. Zu Gauß Zeiten, waren die im Prinzip richtigen Beweise in vielen Fällen nicht korrekt aufgeschrieben und um das wirklich effektiv die Korrektheit mathematischer Argumentation zu kontrollieren, wurden zuletzt von Frege große Anstrengungen unternommen – 1893. Nebenbei erfand er nebenbei die Sprachphilosophie und setzte den Startpunkt der letzten Grundlagenkrise der Mathematik – das letzte, was er als Mathematiker wirklich intendiert haben dürfte.

    Also: Formeln können ungeheuer nützlich sein. Aber auch die formalisierten Fächer wie Mathematik, Physik und QMathematik ringen selbst um wissenschaftliche Seriosität.

    Insgesamt hätte ich es besser gefunden, wenn Sie einfach zugegeben hätten, daß Sie in der Initiationspolemik dieses bloggewitters schlicht zu weit gegangen sind. Und als mutig würde ich ihre pauschale Abqualifizierung der sog. weichen Wissenschaften auch nicht bezeichnen. Zumindest in einigen Fällen geht es ganz simpel um Unwissenheit.

  8. David:
    Mein Anliegen ist, dass man dazu eben keine Aussage machen kann und dies ein weiterer Grund dafür ist, Wissenschaft nicht über die Verwendung von Mathematik zu definieren. Das Argument bleibt aber, dass Mathematik lediglich die Formulierung, also die äußere Form vorgibt. Über den Inhalt sagt das noch lange nichts. Oder um es konkreter zu machen: Man kann mit Mathematik auch wunderbar Pseudowissenschaft betreiben, z. B. Zahlenmystik. Mathematik ist ein großartiges Werkzeug in den Wissenschaften, das eine bestimmte nützliche Form und auch Arbeitsweise erzwingt.
    Es ist aber in der Praxis nicht die einzige Arbeitsweise, die zentrale wissenschaftliche Ansprüche wie Überprüfbarkeit und Objektivität erfüllen kann. Fragestellungen in z. B. der Geschichte müssen zwangsweise auf nicht-mathematischen Vorgehensweisen beruhen, so dass eine Operationalsierung mit Messgrößen kaum eine sinnvolle Form ist. Experimente dürften sich auch reichlich schwer gestalten. Das heißt aber nicht, dass man keine überprüfbaren und objektiven Aussagen über die Geschichte machen könnte.

    Und um damit wieder zum Anfang des Kommentars zu kommen: Nur weil sich ein Vorgehen nicht klassisch mathematisch ausdrücken lässt, ist es noch lange nicht unwissenschaftlich. Die Praxis, aber auch die Theorie – eben der Unvollständigketissatz – zeigt, dass die Beschränkung auf eine äußere Form problematisch ist. Die Form sollte offen sein – die inhaltlichen Anforderungen dagegen nicht.

  9. Gödels Resultat war aber etwas anders, als hier behauptet wurde: Er wies 1935 nach, daß man für alle formalen Systeme einer gewissen sprachlichen Reichhaltigkeit die Wahl hat zwischen zwei unangenehmen Zuständen: Entweder man gibt zu, daß nicht alle wahren Formeln auch ableitbar sind aus den gegebenen Axiomen des Systems (Unvollständigkeit oder auch: Nichtexistenz eines konsistenten Akgorithmus) oder man gibt zu, daß man von der vollständigen Axiomatisierung mit den Mitteln des formalen Systems nicht nachweisen kann, daß sie konsistent ist (die für Hilberts Formalismus tödliche Unentscheidbarkeit). Daß Widerspruchsfreiheitsbeweise unmöglich sind, wird nicht behauptet.

    Nein. Der erste Unvollständigkeitssatz besagt genau das, was hier behauptet wurde, daß er besage: Jedes widerspruchsfreie rekursive formale System, das mindestens die Arithmetik der natürlichen Zahlen enthält, ist unvollständig in dem Sinne, daß es notwendigerweise unabhängige Sätze gibt, also Sätze, die innerhalb des Systems weder beweisbar sind noch widerlegbar.

    Der zweite Unvollständigkeitssatz besagt, daß kein widerspruchsfreies formales System dieser Art seine eigene Widerspruchsfreiheit beweisen kann.

    Solche Systeme sind also unvollständig und nicht in der Lage, ihre eigene Konsistenz zu beweisen. Das ist ein Sowohl-als-auch, kein Entweder-Oder.

    Was Sie mit “Nichtexistenz eines konsistenten Algorithmus” meinen, erschließt sich mir übrigens gar nicht.

  10. Gute Diskussion

    @Martin Holzherr:

    Entscheidend ist aber, ob die mathematische Repräsentation einen zusätzlichen Erkenntnisgewinn bringt oder mindestens die Kommunikation erleichtert.

    Dem stimme ich zu. Mir ging es ja ursprünglich darum, dass Aussagen eindeutig sein müssen, dass sie also nicht von der Sprache abhängen dürfen, in der sie formuliert sind. Die Mathematisierbarkeit sollte das nur sicherstellen. Ein zusätzlicher Erkenntnisgewinn entsteht nicht unbedingt, sicher aber dann, wenn sich herausstellt, dass eine Aussagen NICHT mathematisierbar ist.

    Eine Mathematisierung kann aber auch Wissenschaftlichkeit vortäuschen oder nur bestimmte Phänomene adäquat beschreiben, nicht aber das Wesen der Fragestellung.

    Beim Vortäuschen stimme ich Ihnen zu. Beim „Wesen der Fragestellung“ vielleicht, ich bin mir nicht sicher genug, was Sie damit meinen.

    @Markus Dahlem:

    Ja, ein guter Hinweis. In der Tat merkt man ja auch oft erst dann, wenn man die Teile wieder zusammensetzt, dass man beim Bearbeiten der Einzelteile völlig auf dem Holzweg war.

    @Dierk

    Vielleicht so (nicht, dass das meine ernsthafte Meinung wäre):

    (Wissenschaftlichkeit der Philosophie) – (Prädikatenlogik) = 0

    Ich sage ja nicht, dass die Philosophie (oder die Literaturwissenschaft, oder …) keine Wissenschaften sein könnten. Sie müssten es halt nur ernsthaft versuchen. Als Linguist weiß ich nur zu gut, dass das schwer und oft deprimierend ist, dass man dabei oft auf Umwege und in Sackgassen gerät, dumme (und manchmal natürlich auch kluge) Fehler macht, und dass man nicht weiß, ob man irgendwo ankommen wird. Für mich ist das trotzdem befriedigender als daneben zu stehen und klug daherzureden.

    @Stefanp:

    „Zeigen“ ist vielleicht zu optimistisch formuliert. Sagen wir mal, er „behauptet“ es (oder wiederholt die Behauptungen von Lakoff“).

    Man sollte daher eher bescheiden sein und Mathematik als das sehen, was sie ist: Ein hervorragendes Werkzeug, dass zu Exaktheit und Nachvollziehbarkeit zwingt – vielleicht das beste Werkzeug, das wir bisher haben.

    Das ist sehr schön formuliert, dem kann ich mich nur anschließen. Genau darum geht es mir.

    Es gibt aber keinen Grund zu glauben, es sei grundsätzlich das einzige.

    Ich sage mal: Es ist das einzige, von dem wir wissen.

    @Elmar Diederichs:

    zu i) Nein, ich habe nicht gesagt „Mathematik ist…“ sondern „Mit Mathematik bezeichne ich…“. Das war eine Präzisierung meines Sprachgebrauchs im Zusammenhang meiner Blogbeiträge.

    zu ii) Dass Mathematik ein Garant für Wissenschaftsfortschritt (oder sonst irgendetwas) ist, habe ich nicht behauptet. Was ich gesagt habe, ist, dass die Abwesenheit von Mathematisierbarkeit ist ein Garant für die Abwesenheit von Wissenschaftsfortschritt ist. Das ist nicht dasselbe, denn aus ¬p -> ¬q folgt ja nicht p -> q. Im Übrigen bezeichne ich an keiner Stelle die Mathematik als „überirdisch hell“ — das überirdisch Helle überlasse ich Michael Blume. Und über die Geschichte der Mathematik sage ich gar nichts.

    zu iii) Ich sehe in Ihren Ausführungen nichts, was mich überzeugen würde, dass meine Aussage vom Anteil an Wissenschaftlichket (im von mir angenommenen Sinne) in den verschiedenen Disziplinen falsch wäre. Wie Sie so schön sagen, ist die Geschichte der Physik eine Geschichte grandioser Irrtümer. Ich kann Ihnen da nur beipflichten, füge aber hinzu: Die Geschichte der Literaturwissenschaft ist dagegen eine Geschichte von Aussagen, von denen es sich unmöglich sagen lässt, ob es sich um Irrtümer handelt, oder nicht.

    Insgesamt hätte ich es besser gefunden, wenn Sie einfach zugegeben hätten, daß Sie in der Initiationspolemik dieses bloggewitters schlicht zu weit gegangen sind. Und als mutig würde ich ihre pauschale Abqualifizierung der sog. weichen Wissenschaften auch nicht bezeichnen.

    Tja, sehen Sie, stattdessen habe ich versucht, meine Initiationspolemik zu erläutern. Dass das „mutig“ war, habe ich nirgends gesagt und ich verstehe ehrlich gesagt auch nicht, was Mut hier für eine Rolle spielen könnte. Allerdings habe ich jetzt tatsächlich etwas Angst vor meinen literaturwissenschaftlichen Kolleg/innen (hier ein ausdrücklicher Gruß an Uwe S.), aber die kennen meine Meinung sowieso und es ist ja auch nicht so, als ob sie keine Gemeinheiten über die Linguistik im Ärmel hätten…

  11. @Stefanowitsch: Keine Frage des Fachs

    “Das war eine Präzisierung meines Sprachgebrauchs im Zusammenhang meiner Blogbeiträge.”

    Wie auch immer – was sie als Mathematik ausgeben – und diese wollen wir ja diskutieren – ist eher eine Charakterisierung jeder kalkülartigen, formalen Sprache.

    “Was ich gesagt habe, ist, dass die Abwesenheit von Mathematisierbarkeit ist ein Garant für die Abwesenheit von Wissenschaftsfortschritt ist.”

    Ich weiß. Ich sagte das ja auch. Dennoch ist Ihre These einfach schon durch die Geschichte der Mathematik, die selbst mal als schlampig und unseriös galt, widerlegt – von meinen anderen Argumenten einmal abgesehen.

    “Ich sehe in Ihren Ausführungen nichts, was mich überzeugen würde, dass meine Aussage vom Anteil an Wissenschaftlichket (im von mir angenommenen Sinne) in den verschiedenen Disziplinen falsch wäre.”

    Das tut mir leid. Welche Passage kann ich Ihnen noch einmal erläutern, um mehr Klarheit zu schaffen?

    “Die Geschichte der Literaturwissenschaft ist dagegen eine Geschichte von Aussagen, von denen es sich unmöglich sagen lässt, ob es sich um Irrtümer handelt, oder nicht.”

    Das kann ich leider nicht beurteilen. Aber ich bin mir ziemlich sicher, daß es nicht am Verzicht auf formale Mittel liegt. Beispiele dafür gibt es in der Philosophie genug. Die formalen Mittel selbst sind auch noch viel zu unreif, um die großen Aufgaben, die Sie ihnen zumuten wollen, auch zu absolvieren.

    “Tja, sehen Sie, stattdessen habe ich versucht, meine Initiationspolemik zu erläutern.”

    Offenbar habe ich Sie falsch verstanden: Ich hatte den Eindruck, daß Sie sich mit dem durchsichtigen Trick der Reformulierung des Ausdrucks “Mathematik” aus der Affaire ziehen wollten.

  12. David: Nachschlagen

    “Solche Systeme sind also unvollständig und nicht in der Lage, ihre eigene Konsistenz zu beweisen. Das ist ein Sowohl-als-auch, kein Entweder-Oder.”

    Es ist möglich, daß ich das falsch in Erinnerung habe. Ich werde noch einmal nachlesen und dann berichten. Es wird aber sicher bis morgen dauern.

    “Was Sie mit “Nichtexistenz eines konsistenten Algorithmus” meinen, erschließt sich mir übrigens gar nicht.”

    Das ist war eine facon de parler.

  13. @Elmar Diederichs LOL, wenn jemand nicht Ihre merkwürdige “Definition” von Mathematik verwendet, will er sich aus der “Affaire” ziehen, aber wenn Sie (als Mathematiker) mathematischen Stuss reden, ist das eine “facon de parler”. Immerhin haben Sie es geschafft, auf alberne Überschriften in falschem Englisch zu verzichten und die Schuld an allem ausnamhsweise nicht den Gender Studies zu geben.

    Zum eigentlichen Beitrag: Ich bin mir nicht sicher, ob der “wissenschaftliche Prozess” der einzige Weg zur Erkenntnis ist. Es scheint mir beispielsweise keine wissenschaftlihce Begründung für moralische Aussagen zu geben, aber trotzdem scheinen mir manche wahr (“Sei nett zu anderen”) und manche falsch (“Sei gemein zu anderen”).

  14. @Elmar Diederichs

    Hallo. Sie sagen:

    “Daß Widerspruchsfreiheitsbeweise unmöglich sind, wird nicht behauptet.”

    Was behauptet wird, ist dass die Frage nach der Widerspruchsfreiheit eines genuegend aussagenreiches System nicht innerhalb dieses Systems beantwortet werden kann.

  15. @Stefanp

    Hallo, Sie sagen:

    “Man kann mit Mathematik auch wunderbar Pseudowissenschaft betreiben, z. B. Zahlenmystik”

    Das nun wieder ist sicherlich keine Mathematik. Mathematische Konstrukte zu betrachten und unmathematisch ueber sie zu diskutieren. Worum es hier (d.h. in der Behauptung, ohne Mathematik gaebe es keine Wissenschaft) geht, ist Strukturen zu betrachten und ueber sie mathematisch zu diskutieren, also gerade das Gegenteil

  16. @Stefanp

    Hallo, Sie sagen

    “Die Praxis, aber auch die Theorie – eben der Unvollständigketissatz – zeigt, dass die Beschränkung auf eine äußere Form problematisch ist. Die Form sollte offen sein – die inhaltlichen Anforderungen dagegen nicht.”

    Das ist nicht, was der Unvollstaendigkeitssatz suggeriert. Wollen wir die Frage beantworten, ob die Mathematik widerspruchsvoll ist. Nun gut, das geht mathematisch nicht. Beantworten wir sie also anders. Wie? Dafuer brauchen wir einen Apparat, innerhalb dessen wir argumentieren koennen. Warum sollte es einen Apparat geben, der einerseits maechtig genug ist, ueber die ganze Mathematik (und somit die Peano-Arithmetik) Aussagen faellen zu koennen, aber andererseits klein genug, um sie (die P.A.) nicht zu beinhalten?

  17. Frank:
    “Wie du mir so ich dir”. Ein soziales Wissen – das heißt ein Wesen, das auf andere angewiesen ist, weil es alleine schlechte Überlebenschancen hat – ist immer gut beraten nett zu anderen zu sein. So paradox es klingt, bereits aus purem Überlebenstrieb ist es sinnvoll nett zu anderen zu sein.
    Wissenschaftlich gesehen sieht man Regeln des Zusammenlebens bei allen sozialen Lebewesen, bei solchen mit mehr Hirn auch komplexere mit individuellen Freiheiten. Und bei Menschenaffen immer ähnlicher dem menschlichen Verhalten, so dass man dort bereits versucht ist von Moral zu sprechen. Woher das alles evolutionär kommt ist also klar.
    Man kann das ganze aber auch spieltheoretisch durchrechnen und erhält dann als Ergebnis, dass eine Population sich nur dann in einem Gleichgewicht befindet, wenn ein kleiner Prozentsatz schmarotzt und die Mehrheit sich korrekt verhält. Ist der Anteil der Schmarotzer zu groß, ist die Population nicht überlebensfähig. Ist der Anteil der Schmarotzer zu klein, sind die Kontrollmechanismen nicht mehr notwendig und werden abgebaut. Das macht die Population wiederum anfällig für zufällig entstandene Schmarotzer. Stabil ist es also nur, wenn die Kontrollen aufgrund einer kleinen Anzahl Schmarotzer notwendig sind, die Anzahl der Schmarotzer aber klein genug ist, um der Population nicht zu schaden. Im stabilen Fall wirst du also soziale Wesen haben, die sich in der Mehrheit korrekt verhalten, aber auch das Potential zum nicht-korrekten Verhalten haben.
    Du kannst da wissenschaftlich also einiges machen. Es gibt von daher keinen Grund Moral für wissenschaftlich nicht erfassbar zu erklären.

  18. replies

    @Anonym:

    “Was behauptet wird, ist dass die Frage nach der Widerspruchsfreiheit eines genuegend aussagenreiches System nicht innerhalb dieses Systems beantwortet werden kann.”

    Völlig richtig. Hatte ich das nicht ausreichend klar gesagt?

    @Frank

    “wenn jemand nicht Ihre merkwürdige “Definition” von Mathematik verwendet, will er sich aus der “Affaire” ziehen, aber wenn Sie (als Mathematiker) mathematischen Stuss reden, ist das eine “facon de parler”.”

    Ich habe immer ein offenes Ohr, wenn mich jemand kritisiert. Soweit ich weiß, wir die Frage der Unvollständigkeit manchmal als Frage nach der Existenz konsistenter Algorithmen bezeichnet. Bitte korrigieren Sie mich, wenn das nicht stimmen sollte.

    Abgesehen davon, daß ich selbst keine Definition von Mathematik gebe, sondern mich am Ergebnis von Russell/Whitehead orientiere, würde mich Ihre Definition interessieren. Auch sonst wäre ich dankbar, wenn Sie mich über meinen mathematischen Stuss aufklären würden.

    “Es scheint mir beispielsweise keine wissenschaftlihce Begründung für moralische Aussagen zu geben, aber trotzdem scheinen mir manche wahr (“Sei nett zu anderen”) und manche falsch (“Sei gemein zu anderen”).”

    Eine schwierige Frage, die ich nicht pauschal beantworten kann. Aber glücklicherweise diskutieren wir in diesem bloggewitter ja auch Wissenschaft im Hinblick auf Erkenntnis der Realität. Aber vielleicht sind Sie ja der Meinung, daß normative, ethische Aussagen einen Teil der Realität darstellen?

  19. Anonym:
    Bei der Zahlenmystik wäre der untersuchte Gegenstand z. B. die Cheops-Pyramide. Sie stellen eine Theorie auf, wonach sich irgendwelche astronomische oder sonstige interessanten Konstanten in den Maßen finden lassen. Sie operationaliseren, Sie vermessen die Pyramide. Zuhause nehmen Sie ein Polynom, setzen gemessene Werte ein und variieren die Parameter so lange vollautomatisch bis Sie den Wert einer interessanten Konstante erhalten. Sie können sich mit diesem Wissen natürlich schönere, plausiblere Formeln basteln, bevor Sie ihr Buch darüber schreiben. Inwiefern bei dieser “Entdeckung” jedoch das Vorgehen nicht mathematisch war, müssen Sie genauer erklären.

    Zum Unvollständigkeitssatz:
    Dasselbe habe ich hier bereits beantwortet. Ich sage nicht, dass es tatsächlich eine Alternative gibt. Es mag sie geben oder auch nicht. Das spielt keine Rolle. Denn das Argument, eine mathematische Formulierung garantiere Entscheidbarkeit, ist durch den Unvollständigkeitssatz hinfällig und nicht haltbar.

  20. Ich komme nochmal darauf zurück, weil es jenseits der Kundgabe dessen, was ich ohnehin schon weiß, ja ganz interessant ist, darauf einmal basale Logik anzuwenden.

    Entweder man gibt zu, daß nicht alle wahren Formeln auch ableitbar sind aus den gegebenen Axiomen des Systems (Unvollständigkeit oder auch: Nichtexistenz eines konsistenten Akgorithmus) oder man gibt zu, daß man von der vollständigen Axiomatisierung mit den Mitteln des formalen Systems nicht nachweisen kann, daß sie konsistent ist (die für Hilberts Formalismus tödliche Unentscheidbarkeit).

    Entschiede man sich in diesem Bild für die Vollständigkeit, so hieße das nichts anderes, als daß für jede Aussage A in der Sprache der Arithmetik entweder A beweisbar sein müßte oder die Negation davon. Setzt man für A jetzt “Wid” ein, die Aussage: “Die Arithmetik ist widerspruchsfrei” so ist demnach entweder Wid beweisbar oder die Negation von Wid. Aus der Entscheidung für Vollständigkeit folgt also, daß das formale System seine eigene Widerspruchsfreiheit entweder beweist oder widerlegt, und zugeben, “daß man von der vollständigen Axiomatisierung mit den Mitteln des formalen Systems nicht nachweisen kann, daß sie konsistent ist” könnte man nur noch sinnvoll, wenn das System inkonsistent wäre.

  21. @David: Abgleich

    Ich habe mir die Gödelschen Theoreme noch einmal angesehen und hier ist mein – auf das wesentliche reduziertes Resultat:

    Def.: Ein formales System S (mit gewissen Eigenschaften) heiße vollständig genau dann, wenn für jede Formel F von S gilt, daß es für F oder nicht-F in S einen Beweis gibt.

    Dann zeigt Gödel zweierlei:

    i) Ist S konsistent, dann ist S nicht vollständig.

    ii) Es gibt eine Formel F in S, die genau dann wahr ist, wenn sie in S nicht beweisbar ist.

    Stimmen wir hierin überein?

  22. Zum ersten Punkt: Habe ich ja geschrieben.

    Das wird bewiesen, indem man einen Satz konstruiert, der nicht beweisbar ist uns dessen Negation ebenfalls nicht beweisbar ist.

    Zum zweiten Punkt:

    Aus der Konstruktion dieses Satzes ergibt sich ziemlich direkt, daß er im Standardmodell der Arithmetik (den natürlichen Zahlen also) wahr sein muß (falls dieses überhaupt existiert).
    Wenn in diesem Zusammenhang von “wahr” die Rede ist, ist in der Regel auch Wahrheit im Standardmodell gemeint, und insofern ist das im Großen und Ganzen richtig.

    Die Unbeweisbarkeit der Widerspruchsfreiheit von S in S unter Voraussetzung der Konsistenz von S taucht in Ihrer Darstellung nicht auf, ist aber der Inhalt des 2. Unvollständigkeitssatzes.

  23. @David. ok

    Wenn das

    “Die Unbeweisbarkeit der Widerspruchsfreiheit von S in S unter Voraussetzung der Konsistenz von S taucht in Ihrer Darstellung nicht auf, ist aber der Inhalt des 2. Unvollständigkeitssatzes.”

    Ihr Punkt ist, dann haben Sie natürlich recht. So explizit hatte ich das beim ersten Mal nicht hingeschrieben.

    Danke für den Hinweis.

  24. Etwas nachträglich:

    Sie fassen hier den Begriff “Wissenschaft” sehr eng.
    Tatsächlich entspricht Ihrer Definition von Wissenschaft eben nur jener Teilbereich, den wir “Natur-” oder “exakte Wissenschaften” nennen.

    Das Problem ist, daß Geisteswissenschaften ganz andere Probleme und Fragestellungen angehen.
    Geisteswissenschaften an sich versuchen eben nicht, zu beschreiben, wie die Dinge sind, sondern sie versuchen, den menschlichen Anteil an unserer Welt zu verstehen und hermeneutisch zu interpretieren. Dabei kann es kein wahr oder falsch geben, sondern nur unterschiedliche Perspektiven – und solche, die vielleicht schlüssiger oder weniger erscheinen, weil sie versuchen am Text (ob jetz Roman, Gedichte, historische Quellen, Notentexte, …) zu argumentieren oder eben nicht.
    Klar kann eine Geisteswissenschaft von exakter Methodik profitieren, doch eine statistische Auswertung bestimmter Konstruktionen in verschiedenen Texten von Autoren des 14. Jh. ist für einen Geisteswissenschaftler erst das Material, woraus er seine Erkenntnisse formulieren soll, und nicht das endgültige Ergebnis.

    Definiert man “Wissenschaft” so eng wie Sie, heißt das im Endeffekt, daß für unsere Welt nur die “objektive” Betrachtungsweise von Bedeutung ist. Das ist sie aber nicht – und das wäre ein Verlust – genau so wichtig ist der immer wieder von vorne beginnende und nie enden wollende Prozeß, unsere Welt zu “verstehen”, bzw. herauszufinden, was andere Menschen gedacht haben.

    Nun ist eine Wissenschaft wie die Linguistik eben keine prototypische Geisteswissenschaft, etwa so wie die Literatur- oder Musikwissenschaft. Deswegen hat sie eben gewisse Bereiche, die zumindest theoretisch formalisierbar und exakt erfoschbar sind (die rein deskriptive Sprachbeschreibung, z.B., oder Felder wie die Psycho- und Soziolinguistik), aber auch noch einige, die durchaus sehr geisteswissenschaftlich funktionieren, allen voran die Ethnolinguistik.

    Nicht zuletzt, selbst wenn sie es wollte (und daß sie es nicht will, ist ja der Punkt), KANN die Geisteswissenschaft meist gar nicht Naturwissenschaft sein. Letztere ist ja davon abhängig, daß Experimente wiederholbar sind. In der Geschichte z.B. wiederholt sich nichts – man kann so nie zweifelsfrei beweisen, welche Faktoren genau z.B. für den Fall der Berliner Mauer zuständig waren, nur Hypothesen, die plausibel erscheinen. In der Physik hingegen ist es ziemlich gut (wenn auch hier nicht perfekt) möglich, Fremdvariablen zu kontrollieren, in den meisten Geisteswissenschaften ist das so gut wie unmöglich.

  25. Mathematik ist mathematisch begrenzt

    Die Einteilung in vorwissenschaftliche und wissenschaftliche (= mathematisierbare) Diskussionen halte ich vom Ansatz her zunächst für richtig. Was allerdings im weiteren nicht berücksichtigt wird, ist die (naturgegebene) Begrenzung der Mathematik an sich. Viele in der Natur auftretende Probleme lassen sich auch mathematisch nicht genau lösen, z.B. Differentialgleichungen 3. Grades oder nichtlineare Systeme. Hier sind auch mathematisch nur Näherungslösungen möglich, was selbst wiederum mathematisch beweisbar ist. Nichtlineare Systeme haben die Eigenschaft, dass die Genauigkeit der (mathematischen) Näherung abnimmt, je weiter man im Ereignishorizont voranschreitet. Bei nichtlinearen Systemen funktioniert zudem Reduktionismus nicht, d.h. auch wenn man die mikroskopisch wirksamen Gesetze genau kennt, vermag man das makroskopische Verhalten des Systems nicht vorauszuberechnen. Solche Systeme sind dummerweise in der Natur eher die Regel als die Ausnahme. Mit der – quasi naturgegebenen – Ungenauigkeit kann man auf zweierlei Weise umgehen: man kann resignieren und bleibt allein auf der mikroskopischen Ebene, wo mathematisch prüfbare Aussagen noch möglich sind. Oder man akzeptiert die Ungenauigkeiten und arbeitet mit mehr oder weniger guten Näherungen auf makroskopoischer Ebene. Die Annahme, z.B. die Psychologie habe sich nur noch nicht lange genug mit mathematisch operablen Modellen beschäftigt, verkennt, dass die von der Psychologie untersuchte Wirklichkeit viel zu komplex für eine Mathematisierung ist. Meistens enden solche Versuche mit äußert banalen statistischen Zusammenhängen. Will man mehr Erkenntnis gewinnen, bleibt nur eine – dann nicht mehr rein mathematisch beschreibbare – Interpretation. Die Beschränkung auf Mathematik eng den Entscheidungsraum zu sehr auf die Kategorien wahr und falsch ein; menschliche Erkenntnis erlaubt aber auch “höhere” Wertungen, die – auch wenn sie sich einer exakten Beurteilung entziehen – einen erkenntnistheoretischen Nutzen haben.