Der Name der Eiche

BLOG: Sprachlog

Alle Sprachgewalt geht vom Volke aus
Sprachlog

EichenblattNeben interessanten Anregungen in vielen Gesprächen habe ich auf unserem Bloggertreffen den SciLogs-Preis 2011 erhalten, mit dem die SciLogs-Blogger/innen alljährlich einen aus ihrer Mitte auszeichnen und mit dem vor mir schon Helmut Wicht, Michael Blume und Lars Fischer ausgezeichnet wurden. Bei der (relativen) Mehrheit meiner Mitblogger/innen, die für mich gestimmt haben, möchte ich mich hier noch einmal bedanken. Den anderen sage ich: Ihr könnt versuchen, nachts ruhig zu schlafen, aber denkt daran: Ich weiß, wo eure Blogs wohnen.

Nominiert für den Preis hat mich Josef Zens, Pressesprecher der Leibniz-Gemeinschaft (und Forschungspressesprecher des Jahres 2010). In seiner sehr klugen und wohlwollenden Laudatio fragte er sich unter anderem, ob seine Muttersprache Bairisch dem Englischen näher sei als dem Hochdeutschen — als mögliche Belege führte er unter anderem die lautliche Ähnlichkeit zwischen dem bairischen Oach („Eiche“) und dem englischen oak an. Die Überlegungen zu den Verwandtschaftsverhältnissen waren natürlich nicht ganz ernstgemeint — anders als die dahinterstehende Frage, woher die größere lautliche Nähe des Bairischen und Englischen im Vergleich zum Hochdeutschen in diesem Fall kommt. Die konnte ich nicht unmittelbar beantworten, zum einen, weil ich die Sprachgeschichte des Deutschen, zumal unter Einbeziehung dialektaler Variation, nur aus der Ferne kenne, zum anderen, weil die Erklärung von Lautwandelprozessen im Fall von Vokalen auch dann ein ziemlicher Brocken ist, wenn man die Geschichte einer Sprache aus der Nähe kennt. Während Konsonanten sich eher langsam und systematisch verändern und in den Orthografien der europäischen Sprachen relativ nachvollziehbar dargestellt werden, verändern sich Vokale schnell, eher unsystematisch (bzw. abhängig von den lautlichen Zusammenhängen, in denen sie auftreten), und orthografisch werden sie durch Variationen und Kombinationen von nur fünf Symbolen (‹a›, ‹e›, ‹i›, ‹o›, ‹u›) dargestellt, die mit der tatsächlichen lautlichen Form oft nur wenig zu tun haben. Es ist also nicht ganz einfach, die Aussprache von Wörtern in älteren Sprachstufen zu rekonstruieren, was die Beschreibung und Erklärung von Veränderungen in diesem Bereich natürlich umso schwerer macht.

Ich möchte mich aber für Josefs Nominierung meines Blogs bedanken, indem ich wenigstens versuche, ihm seine Frage hier zu beantworten.

Wir können zunächst feststellen, dass es sich bei Oach/Oak/Eiche nicht um einen Einzelfall handelt, sondern dass es eine Reihe von Wörtern gibt, die im Bairischen mit [oɑ] und im Englischen mit [oʊ] (oder [əʊ]), im Hochdeutschen jedoch mit [ɑɪ] ausgesprochen werden:

Bairisch Englisch Hochdeutsch
Stoan stone Stein
hoam home Heim
Goaß goat Geiß
Loab loaf Leib
Boa bone Bein
Loam loam lehm
broad broad breit

Die naheliegende Erklärung wäre, dass diese Wörter früher alle mit einem [oɑ]- oder [oʊ]-artigen Vokal ausgesprochen wurden und die Aussprache sich im Hochdeutschen dann zu [ɑɪ] weiterentwickelt hat. Das Englische und das Bairische wären in diesem Szenario tatsächlich enger miteinander verwandt als mit dem Hochdeutschen.

Diese Erklärung ist aber falsch. Fangen wir am Anfang an. Die Wörter für „Eiche“ in den germanischen Sprachen gehen allesamt auf die proto-germanische Form *aiks zurück: Neben den bereits erwähnten englischen, bairischen und hochdeutschen Wörtern sind das zum Beispiel das niederländische eik, das schwedische ek und das Dänische eg. Weiter lässt sich das Wort nicht zurückverfolgen, es könnte mit dem griechischen αἰγίλωψ (aigilops) und/oder dem lateinischen aesculus zusammenhängen, beides Wörter für bestimmte Unterarten der Eiche. Der eigentliche indoeuropäische Stamm für „Eiche“ ist *derwo-/*dreu — der die Quelle z.B. für das englische tree und das russische drevo (Baum, Holz) darstellt, seine Bedeutung hier also erweitert hat. Im Walisischen bedeutet das verwandte derwen immer noch „Eiche“ (auch J.R.R. Tolkiens Kunstsprache Sindarin hat mit doron übrigens ein von *derwo-/*dreu abgeleitetes Wort für die Eiche).

Aber zurück zum proto-germanischen *aiks. Das klingt ja schon sehr nach dem hochdeutschen Eiche, was nahelegt, dass das Englische und das Bairische sich hier stärker verändert haben als die Dialekte, aus denen das Hochdeutsche hervorgegangen ist. Das ist aber verwirrend, denn räumlich waren das Englische und das Bairische ja genau durch die Vorläufer des heutigen Hochdeutschen voneinander getrennt, sodass eine gemeinsame Entwicklung schwer vorstellbar ist.

Und tatsächlich hat es eine gemeinsame Entwicklung nicht gegeben. Sehen wir uns die Sache Schritt für Schritt an.

Die Wörter, die im Proto-Germanischen (und auch im Gotischen noch) ein [ɑɪ] hatten, haben im Altenglischen ein [ɑː]. Das gilt nicht nur für *aiks, das zu āc [ɑːk] wurde, sondern auch für stains [stɑɪns], haims [hɑɪms], usw. (hier in der gotischen Form zitiert), die zu stān [stɑːn], hām [hɑːm], usw. wurden.

Im Althochdeutschen wurden diese Wörter aber zur selben Zeit mit einem [eɪ] ausgesprochen (wie in Hey, nicht wie in Ei, das ja [ɑɪ] ausgesprochen wird): eich [eɪç], stein [steɪn], heim [heɪm], usw.

Im Mittelenglischen entwickelte sich diese Aussprache zu einem [oː] weiter: ok [oːk], stōn [stoːn], hōm [hoːm], usw. Diese wurden dann zu dem [oʊ], das sich heute noch im amerikanischen Englisch findet, während es sich im britischen Standardenglisch zu [əʊ] weiterentwickelte.

Zur selben Zeit entwickelte sich im deutschen Sprachraum, auch im Gebiet des heutigen Bayern, das [eɪ] zum [ɑɪ] weiter, wie es sich bis ins heutige Hochdeutsch erhalten hat. Auf dem Gebiet der heutigen bairischen Dialekte spielte sich aber in der Folge ein umfassender Lautwandel ab, der zwar teilweise auch in die Vorläuferdialekte des heutigen Hochdeutschen überging, teilweise aber auch nicht. Unter den Neuerungen, die auf das heutige Bayern/Österreich beschränkt blieben, war auch die Weiterentwicklung von [ɑɪ] zum heutigen [oɑ], das zu Oach, Stoan, Hoam, usw. führte.

Wie diese Entwicklung genau vor sich ging, lässt sich nur schwer sagen, es ist aber möglich, dass hier ein ähnlicher Umweg über ein langes [ɑː] genommen wurde, wie er auch im Altenglischen zu beobachten ist, denn im Bairischen, Österreichischen und Fränkischen finden sich auch Formen wie Ach/Ach’n, Stan, usw.

Es ist also in gewisser Weise ein reiner Zufall, dass das Englische und das Bairische sich hier heute an einem ähnlichen Punkt befinden, der sich vom Hochdeutschen klar unterscheidet. Völlig zufällig ist es nicht, weil Lautwandelprozesse eben doch bestimmten allgemeinen Gesetzen folgen, sodass sich ähnliche Prozesse an verschiedenen Orten zu verschiedenen Zeiten beobachten lassen. Aber diese Gesetze sind optional, sie müssen nicht greifen. Stattdessen kann auch einfach gar nichts passieren, oder es kommt ein anderes Gesetz zur Anwendung (wie in den skandinavischen Sprachen, wo aus [eɪ] ein einfaches [e] wurde.

Es lässt sich also nicht vorhersagen, wie sich eine Sprache verändern wird. Nur eins wissen wir sicher: dass sie sich verändern wird. Dabei kann sie sich von eng verwandten Sprachen entfernen und später auf verschlungenen Wegen wieder annähern und erneut entfernen. Sprachfamilien sind da nicht anders als andere Familien.

Barber, Charles (2000) The English language: a historical introduction. Cambridge: Cambridge University Press [Google Books].

Clark Hall, John R. (1916) A concise Anglo-Saxon dictionary for the use of students. Zweite Auflage. New York: Macmillan [Link]

Harper, Douglas. (2001–2010) Online Etymological Dictionary. [Link]

Rowley, Anthony (2011) Bairische Dialekte, in: Historisches Lexikon Bayerns [Link].

OED (2010) Oxford English Dictionary. Dritte Auflage.

© 2011, Anatol Stefanowitsch

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Nach Umwegen über Politologie und Volkswirtschaftslehre habe ich Englische Sprachwissenschaft und Sprachlehrforschung an der Universität Hamburg studiert und danach an der Rice University in Houston, Texas in Allgemeiner Sprachwissenschaft promoviert. Von 2002 bis 2010 war ich Professor für Englische Sprachwissenschaft an der Universität Bremen, im August 2010 habe ich einen Ruf auf eine Professur für anglistische Sprachwissenschaft an der Universität Hamburg angenommen. Mein wichtigstes Forschungsgebiet ist die korpuslinguistische Untersuchung der Grammatik des Englischen und Deutschen aus der Perspektive der Konstruktionsgrammatik.

27 Kommentare

  1. Vorhersagen

    Es lässt sich also nicht vorhersagen, wie sich eine Sprache verändern wird.

    Auch wenn ich kein Experte bin, so würde ich da doch erstmal widersprechen. Was ist mit den Ergebnissen der Culturomics-Leute (http://www.wissenslogs.de/…romics-genug-zu-lesen). Gerade die Vorhersage, welche unregelmäßigen Verben im Englischen als beackerte Aussterben werden, fand ich recht beeindruckend.

    Oder meinst du etwas anderes, mit der Vorhersage?

  2. @Bastian

    Es gibt natürlich eine Reihe von Prinzipien, denen Sprachwandelprozesse folgen, und die kann man sich zunutze machen, um den Verlauf bereits begonnener Prozesse vorherzusagen. Das ist auch bei der von dir verlinkten Studie der Fall (das die Häufigkeit einer Form die Wahrscheinlichkeit beeinflusst, dass sie einen Sprachwandelprozess mitmachen, ist z.B. allgemein bekannt). Der Punkt ist aber, dass sich schwer bis gar nicht vorhersagen lässt, welche Prozesse überhaupt ablaufen werden. Man kann also mit einer gewissen Genauigkeit vorhersagen, welche unregelmäßigen Verben am längsten unregelmäßig bleiben werden, aber man hätte vor Beginn der Regularisierung nicht sicher vorhersagen können, dass, wann und wie eine solche überhaupt stattfinden würde.

  3. Das ist aber verwirrend, denn räumlich waren das Englische und das Bairische ja genau durch die Vorläufer des heutigen Hochdeutschen voneinander getrennt, sodass eine gemeinsame Entwicklung schwer vorstellbar ist.

    Aber die Sachsen lebten nahe bei den Bayern, bevor sie auswanderten. Doch das ist wohl zu lange her.

    Ich finde, die Sachsen haben eine ähnliche Betonung wie die Engländer. Ich müßte mal einen Sachsen Englisch sprechen hören. Vielleicht spricht er ja akzentfrei Englisch? 😉

  4. skandinavische Sprache

    Danke für diesen interessanten Beitrag.
    Eine Sache möchte ich aber anmerken (auch wenn es nur einen Randaspekt Ihres Artikels betrifft; aber der Vollständigkeit halber..)

    Gewöhnlich gibt es für die skandinavischen Sprachen zwei Unterklassifikationen:
    Festland- (Dänisch, Schwedisch, beide Norwegischs) vs. Inselskandinavisch (Färöisch, Isländisch (Norn(?)), also eine Unterscheidung nach geographischen Kriterien, die allerdings mit linguistischen zusammenfallen.
    Die zweite Klassifikation ist die von Ost- (Dänisch, Schwedisch, Norwegisch/Bokmål) und Westnordisch (Isländisch, Färöisch, Norwegisch/Nynorsk), und fußt auf linguistischen Kriterien, zu denen u.a. die zwischen “alten” Dipthongen und Monophthongen zählt.
    Dä: Løbe Isl: Hlaupa, Dt. Laufen
    und eben auch:
    Dä: Ek Isl: Eik Dt. Eiche.

    Daher wäre es angemessener gewesen, von ostnordischen Sprache zu sprechen.

    Danke dennoch für Ihren Beitrag.

  5. Bayern spricht Bairisch

    Gratulation zum SciLogs-Preis 2011. Ja, wir Bayern haben halt einen Sinn für Qualität. 🙂

    Danke auch für den Beitrag über die bairische Sprache (Dialekt hören wir nicht so gerne, bei uns heißt es Mundart). Da es immer wieder Missverständnisse wegen der Schreibweise gibt, hier eine kurze Erklärung: Bis zum 20. Oktober 1825 waren wir Baiern, aber neun Tage nach seiner Thronbesteigung fiel es Ludwig I. König von Baiern ein, das i in Baiern durch ein y zu ersetzen, da der König eine Leidenschaft für die antike griechische Kultur hatte, dies sollte sich im Namen seines Staates widerspiegeln. Seitdem sind wir nun Bayern, sprechen aber weiterhin Bairisch, dieses wird aber auch nur in Altbayern gesprochen, d.h. in den Bezirken Oberpfalz, Niederbayern und Oberbayern, der Rest spricht Fränkisch oder Schwäbisch.

  6. Hannöversch als Missing Link?

    Das ist aber verwirrend, denn räumlich waren das Englische und das Bairische ja genau durch die Vorläufer des heutigen Hochdeutschen voneinander getrennt, sodass eine gemeinsame Entwicklung schwer vorstellbar ist.

    Vielleicht ist die Trennung doch nicht so ausgeprägt. Immerhin wird das hochdeutsche [ɑɪ] in der Gegend um Hannover und Braunschweig [ɑː] ausgesprochen (Stein – [stɑːn], Eile – [ɑːlɘ]). Andererseits kann das eine völlig eigenständige Entwicklung sein, die nur (zufällig oder aufgrund bestimmter Gesetzmäßigkeiten) in eine ähnliche Richtung geht wie die (vermutlich voneinander völlig unabhängigen) Entwicklungen des Bairischen und des Englischen.
    Da ich selbst nicht hannöversch spreche kann ich nicht einmal sagen, ob diese Aussprache in allen Fällen auftritt, in denen Bairisch und Englisch parallel laufen.

  7. Gratulation & Anregung!

    Lieber Anatol,

    von mir – als vorhergehendem Preisträger 🙂 – einen ganz herzlichen Glückwunsch zu der Auszeichnung, die sich auch in Form einer schönen “Medaille” auf Deinem Blogheader (deutsch: “Blogoberbalken”?) niederschlagen wird.

    Klasse fand ich auch unser kurzes, aber schon recht erfreuliches Gespräch und wollte die Gelegenheit nutzen, eine Anregung zu formulieren: Viele Evolutionsforscher haben leider keine Ahnung, dass die Wurzeln dieses großen Unternehmens (von der Praxis der rekonstruierten Stammbäume bis zur Verwendung von Worten wie “Evolution” und “Gen”) aus der frühen Sprachwissenschaft stammt! Es wäre großartig, wenn es dazu einmal einen Post geben könnte – und ich denke, er dürfte auch wiederum auf breiteres Interesse stoßen. Ist ja ein interdisziplinär hoch spannendes Detail der Wissenschaftsgeschichte!

    Dir alles, alles Gute und weiterhin viel Spaß beim Bloggen!

  8. @Martin Huhn

    Also ich spreche als Sachse kein akzentfreies Englisch (Allerdings bin ich auch im Erzgebrige aufgewachsen…)

    Das Erzgebirgische, was ja irgendwie näher am Bairischen dran sein soll als am osterländischen, hat [ɑɪ] übrigens zum [ɛː] weiterentwickelt (Obwohl „Heimat“ [haːmɪt] ausgeschrochen wird… komischerweise…)

  9. @Martin Huhn

    Die Sachsen, die nach Britannien emigrierten und mit ihrer Sprache das Altenglische prägten, lebten bestimmt nicht in der Nähe irgendwelcher Bayern oder Baiern. Und viele von ihnen hätten einen oberdeutschen Dialekt sicher auch nicht verstanden.

    Die, die man heute als Sachsen bezeichnet, haben mit ihrer thüringisch-obersächsischen Mundart sicherlich keinen relevanten Einfluss auf das Englische gehabt, auch wenn das Haus Windsor früher mal Sachsen-Coburg-und-Gotha hieß.

  10. Korinthenkackerei

    Baum/Holz heißt in Russischen nicht „drevo“ sondern „derevo“ (дерево). Im Russischen herrscht das Gesetz der „Polnoglasie“ („Volllaut”). In süd- und westslawischen Sprachen entfallen Vokale vor bestimmten Konsonanten, Stadt heißt z. B. „grad“ (hrad, grod) wie in „Belgrad“, oder auch im Russischen altertümelnd „Leningrad“) während es Russisch „gorod“ („Nowgorod“) heißt. Das gilt für die Lautfolgen oro, olo, ere, und elo. (moloko/mleko = Milch)

  11. @ Gregor: Noch eine Korinthe

    Im Russischen können aber beide Formen desselben Stammes parallel vorkommen, wobei die vollautende Form meist auf die konkrete Bedeutung zurückgreift und die andere auf übertragene Bedeutungen. Das einzige Beispiel, das mir aus dem Stand einfällt, ist молоко – Milch; молочный завод – Molkerei vs. млечный путь – Milchstraße.

  12. Ähnlichkeiten

    Beim Deutschen (sowohl Dialekten als auch der Hochsprache) und dem Englischen gibt es ohnehin erstaunliche parallele Entwicklungen. Das Englisch hat früh /ö/ und /y/ entrundet; ebenso die meisten deutschen Dialekte. Im Englischen gibt es eine Diphthongierung des langen /i:/ und /u:/ zu /ai/ und /au/, ebenso wie im Standarddeutsch und vielen Mundarten (iis zu Eis/ice, muus zu Maus/mouse). Im Englischen beginnt der Schwund des nicht-prävokalischen /r/ im 17.(?) Jahrhundert, im Deutschen vollzieht sich ein ähnlicher Schwund, wohl von Norden kommend. Und im hohen Norden bin ich immer wieder fasziniert, wie sehr in der Sprache älterer Leute das /a/ in dat dem Laut im englischen that ähnelt und wie nahe bei denselben Sprechern die Langvokale /e:/ und /o:/ den englischen Diphthongen /ei/ und /ou/ kommen.

  13. @gnaddrig Stimmt, interessanter Punkt. Beim Gebrauch von “-grad” ist es wohl der Umstand, daß sich das in zusammengesetzten Städtenamen leichter aussprechen läßt. “Selenograd” ist kürzer als “Selenogorod”, wobei es (meiner Beobachtung nach) oft künstlich geschaffene Städtenamen sind. Mir fällt noch “короткий”/”крaткий” (kurz), wobei “короткий” mehr im direkten Sinn gebraucht wird (ein kurzer Weg) und крaткий im übertragenen (kurze Einführung).

  14. Apropos Korinthenkacken…

    Im Englischen gibt es eine Diphthongierung des langen /i:/ und /u:/ zu /ai/ und /au/, ebenso wie im Standarddeutsch und vielen Mundarten (iis zu Eis/ice, muus zu Maus/mouse). Im Englischen beginnt der Schwund des nicht-prävokalischen /r/ im 17.(?) Jahrhundert, im Deutschen vollzieht sich ein ähnlicher Schwund, wohl von Norden kommend.

    Es handelt sich zwar in beiden Fällen um eine Diphthongierung, aber die Diphthonge sind keineswegs identisch. Man erkennt einen deutschen Akzent im Englischen sofort an Wörtern wie “mouse”. Im Englischen (z.B. RP) hat man in der Tat /aɪ/ und /aʊ/, im Deutschen aber keineswegs (auch wenn das leider an vielen Stellen immer und immer wieder wiederholt wird), sondern /ae/ und /ao/. Hört man gut, wenn man die Diphthonge in die Länge zieht, also z.B. einfach die erste Silbe von heiser und sauber

  15. @Gareth

    Phonetisch vollständig identische Lautungen in unterschiedlichen Sprachen kann man wohl auch kaum erwarten. Das gilt auch für stone / Stoa etc.

  16. @ Gareth:

    Die Diphtonge sind im Deutschen aber auch nicht einheitlich. In Norddeutschland hört man tatsächlich [ae] und [ao] (z.B. [ˈaoto] und [ˈaeçə]. Im Schwäbischen und Alemannischen sind die Diphtonge dagegen deutlich i- bzw. u-lastiger. Da wird eher das a verkürzt, und das i ist ein echtes i und deutlich länger als in norddeutschen Diphtongen. Für das u gilt entsprechendes.

    Das hört sich natürlich auch anders an als die englischen Diphtonge…

  17. Die Diphtonge sind im Deutschen aber auch nicht einheitlich.

    Logischerweise. Wenn man über das Lautinventar spricht, geht man aber ja normalerweise von Standardlautung aus. Und da haben wir im Deutschen /ae/ und /ao/. Im Englischen hat auch nicht jeder Dialekt /aʊ/ in mouse, der angenommene Standard schon.

  18. @ Gareth

    Stimmt. Und wie hört sich die (theoretische) Standardaussprache des Deutschen an? Die würde ich relativ nahe an der Schreibweise vermuten, also mit i und u statt e und o, aber das ist jetzt nur Spekulation meinerseits.

  19. Stimmt. Und wie hört sich die (theoretische) Standardaussprache des Deutschen an? Die würde ich relativ nahe an der Schreibweise vermuten, also mit i und u statt e und o, aber das ist jetzt nur Spekulation meinerseits.

    Wenn die Schreibweise verlässlich Auskunft gäbe, müssten Sie /eɪ/ sagen. Dass da i und u stehen, will nichts heißen. Bei eu steht schließlich auch nicht für /eʊ/.

    Die Standardlautung von z.B. heiser und sauber ist [ha͡ezɐ] und [za͡obɐ].

  20. @ Dirk Geßner @ Martin Huhn

    “Die Sachsen, die nach Britannien emigrierten und mit ihrer Sprache das Altenglische prägten, lebten bestimmt nicht in der Nähe irgendwelcher Bayern oder Baiern,” schreibt Dirk Geßner.

    Doch, auch die späteren Bayern kommen aus der Gegend (Unterelbe und Umgebung), aus der die nach Britannien auswandernden Sachsen kamen, sie zogen halt in eine andere Richtung. Jedenfalls behaupten das, soweit ich weiß, die zuständigen Forscher. Die Frage ist nur, ob das irgendetwas an sprachlichen Ähnlichkeiten erklärt. Immerhin ist das einige Jahre her.

  21. @Patrick Schulz

    “Das Erzgebirgische, was ja irgendwie näher am Bairischen dran sein soll als am osterländischen, …”

    Im Erzgebirge gibt es keinen einheitlichen Dialekt. Im Osten spricht man Sächsisch, im Westen, zum Vogtland hin, Fränkisch und in Teilen auch ein dem Oberpfälzischen verwandtes Bayerisch (oder “Bairisch”) oder irgendein Gemisch. Zumindest behaupten das die Dialektkarten. Historisch sollen die Sachsen, die in dieser Gegend leben, wie die Sachsen in England, von Elbgermanen abstammen, die Franken von Wesergermanen, so wie z. B. die Hollämder und die Luxemburger auch. Aber die Umwege, Mischungen, Beeinflussungen durch Nachbarn usw. waren derart groß, daß das mit ziemlicher Sicherheit für die Frage von heutigen Sprachähnlichkeiten ziemlich belanglos ist.

  22. Aussprache von “Heiliger Geist”

    Ich hätte gehofft, dass in dem Artikel auch der “heilige Geist” erklärt wird. Denn der müsste sich im Bairischen eigentlich “hoaliga Goast” aussprechen. Wie ja auch im Englischen “holy ghost”.
    Die allgemeine Erklärung dafür lautet, dass in den Kirchen nicht bairisch, sondern deutsch gesprochen wurde. Und da hieß es dann: “Und der heilige Geist ist Fleisch geworden…” Fleisch wird im Bairischen auch “falsch” ausgesprochen.

    Stimmt diese Erklärung? Ich halte sie für logisch, aber ich habe es auch mal für logisch gehalten, dass die Eskimos mehr Wörter für Schnee haben als die Deutschen.

  23. @ Monika Hendlmeier

    Das gilt übrigens auch für alle mir vertrauten hessischen und pfälzischen Dialekte. Heiliger Geist bleibt Heiliger Geist, egal ob der Dialekt hier etymologisch betrachtet eher ein aa, oa, ee oder ää verlangen würde.

    Und mit dem Kaiser verhält es sich ebenso.

  24. Im Russischen können aber beide Formen desselben Stammes parallel vorkommen, wobei die vollautende Form meist auf die konkrete Bedeutung zurückgreift und die andere auf übertragene Bedeutungen.

    In jedem Fall ist dabei die Form ohne ostslawischen “Volllaut”, z. B. -grad für Städtegründungen in sowjetischer Zeit, aus dem Altkirchenslawischen entlehnt, und das war bereits eine südslawische Sprache. Diese Formen werden oft in Fachausdrücken benutzt.

    Wenn man über das Lautinventar spricht, geht man aber ja normalerweise von Standardlautung aus. Und da haben wir im Deutschen /ae/ und /ao/.

    Bullshit. Diese bizarren Diphthonge hat der Siebs für seine Bühnenaussprache erfunden, weil er geglaubt hat, das hört man besser als [aɪ] und [äʊ]. (…Die beiden Punkte sollen andeuten, dass es sich um den zentralen offenen Vokal handelt, nicht um den vorderen, im Unterschied zum Standard-englischen, steirischen etc. [aʊ] und zum im-Moment-noch-nicht-ganz-Standard-Britisch-englischen [æʊ].)

    Übrigens ist ei/ai in der österreichischen Schriftsprache [ɛ̞ɪ]. Das ist der Laut, den manche, aber bei weitem nicht alle in Österreich gesprochenen Dialekte für diejenigen Fälle von ei/ai verwenden, die vom mittelhochdeutschen /iː/ kommen.

    Historisch sollen die Sachsen, die in dieser Gegend leben, wie die Sachsen in England, von Elbgermanen abstammen

    Nein, die Sachsen in Niedersachsen und England sollen wie die Friesen und offenbar die Angeln und Jüten Nordseegermanen sein und “immer schon” annö Waterkant gesessen sein, zumindest, seit die Kelten aus Dänemark weg sind.

    Stimmt diese Erklärung?

    Muss sie. In meinem Stadtdialekt sind haufenweise seltenere Wörter ausgestorben und durch Importe aus der Schriftsprache ersetzt worden: nicht nur heilig, Geist und Fleisch, sondern auch Eiche und sogar Reifen.

    Und mit dem Kaiser verhält es sich ebenso.

    Trotzdem soll der in Österreich auffallend häufige Familienname Kaiser eine Fehlinterpretation von “Kaser” sein, von dem, der Kas (Käse bzw. Topfen/Quark) macht.

    Beim Deutschen (sowohl Dialekten als auch der Hochsprache) und dem Englischen gibt es ohnehin erstaunliche parallele Entwicklungen.

    Schon, aber zu verschiedenen Zeiten:

    Das Englisch hat früh /ö/ und /y/ entrundet;

    Ersteres so bald, dass es schriftlich gar nicht belegt ist; letzteres zwischen Alt- und Mittelenglisch.

    ebenso die meisten deutschen Dialekte.

    Vermutlich erst nach dem Mittelhochdeutschen.

    Im Englischen gibt es eine Diphthongierung des langen /i:/ und /u:/ zu /ai/ und /au/, ebenso wie im Standarddeutsch und vielen Mundarten (iis zu Eis/ice, muus zu Maus/mouse).

    Das ist weltweit häufig und ist im Deutschen früher als im Englischen passiert – in Kärnten war diese “neuhochdeutsche Diphthongierung” schon im 12. Jhdt. fertig durchgeführt, also zu Beginn des Mittelhochdeutschen, während sie im Englischen unter Great Vowel Shift fällt (allerdings anscheinend als zweite Stufe). Im Englischen und Niederländischen wurden vorher alle kurzen Vokale in offenen Silben verlängert und liegen daher jetzt als Diphthonge vor (engl. bible, tiger), im Deutschen erst nachher (Bibel, Tiger; liegen und Vieh mit unetymologischem e).

    Im Englischen beginnt der Schwund des nicht-prävokalischen /r/ im 17.(?) Jahrhundert, im Deutschen vollzieht sich ein ähnlicher Schwund, wohl von Norden kommend.

    Wenn er von Norden gekommen ist, wieso sind dann die teilweise rhotischen Dialekte ziemlich weit im Nordwesten?

    Im Englischen hat es übrigens lange gedauert. Noch im mittleren 19. Jhdt. hat sich die Oberschicht darüber lustig gemacht. Inzwischen sind die meisten britischen Dialekte weiter als das Deutsche (hinter mehreren Vokalen – im Deutschen höchstens hinter /a/ und /aː/ – ist das /r/ komplett weg, die ehemaligen Diphthonge sind mit den ähnlichsten Monophthongen verschmolzen, sodass stork und stalk Homophone sind; Versuche, eine amerikanische Aussprache zu imitieren, führen zu zufallsverteiltem /r/), und South Care-uh-lahn-uh lässt /r/ wie das Dänische sogar vor unbetonten Vokalen weg.

  25. Noch eine Parallelentwicklung: Scouse, der Dialekt von Liverpool, macht im Moment die hochdeutsche Konsonantenverschiebung nach – /pʰ tʰ kʰ/ werden zu [pɸ ts kx~xkx~xː], sodass hook als [uːxː] auftreten kann.