Die zwei Gesichter des Immunsystems

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Ein Artikel von BIOSS-Blogger Martin Becker. Er forscht seit Oktober 2012 am Max-Planck-Institut für Immunbiologie und Epigenetik in der Arbeitsgruppe von BIOSS-Sprecher Michael Reth und arbeitet jetzt an seiner Doktorarbeit. Hier beschäftigt er sich hauptsächlich mit der Rolle des Zytoskeletts bei der Signaltransduktion in B-Zellen.

Martin Becker aus der AG Reth, BIOSS / MPI
Martin Becker. Foto: Brian Mullen

Was denken Sie: Welches ist wohl das wichtigste Organ unseres Körpers? Was würden Sie auf diese Frage antworten? Zu den häufigsten Antworten zählen mit großer Wahrscheinlichkeit das Herz und auch unser Gehirn. Das Herz, als die zentrale Pumpe in unserem Körper, versorgt uns ununterbrochen mit Blut. Bis in die letzte Fingerspitze sichert es so die Grundversorgung aller weiteren Organe. Das Gehirn wird gerne als Schaltzentrale betrachtet: Es steuert alle Prozesse in unserem Körper direkt oder indirekt und ist somit unverzichtbar. Außerdem ist es unser Lernapparat. Es verarbeitet Einflüsse die wir von unserer Umwelt erhalten, speichert sie ab und behält sie im Gedächtnis.

Ich möchte an dieser Stelle aber auf ein anderes Organ eingehen, welches oft unterschätzt wird: unser Immunsystem. Überraschenderweise hat unser Immunsystem viele Gemeinsamkeiten mit unserem Gehirn. Es verarbeitet zum Beispiel auch „Einflüsse“, die wir von unserer Umwelt erhalten. Im Vergleich zu unserem Gehirn handelt es sich hierbei aber nicht um beispielsweise optische oder akustische Reize, sondern um Keime, Bakterien, Viren, Pilze und allerlei andere Substanzen. Wie das Gehirn kann auch unser Immunsystem ein Gedächtnis entwickeln. Wenn es einen Virus schon einmal gesehen hat, läuft die Erkennung beim zweiten Kontakt wesentlich schneller ab. Diese Eigenschaft machen wir uns zum Beispiel zunutze, wenn wir uns impfen lassen. Zusätzlich erbringt unser Immunsystem noch eine wesentliche und sehr wichtige Leistung. Es kann nicht nur die bereits genannten Arten von Krankheitserregern erkennen und im Gedächtnis behalten. Es hat auch noch die Fähigkeit, sie von körpereigenen Zellen oder sogar von Bakterien zu unterscheiden, die uns nicht schaden, sondern sogar nützlich für uns sind. Intelligenz findet sich also nicht nur im Gehirn, sondern auch im Immunsystem.

Von diesen Abläufen bekommen wir in der Regel nichts mit. An unser Immunsystem denken wir nur, wenn wir einmal krank sind. Betrachtet man das Immunsystem aber einmal genauer, kommen einige erstaunliche Erkenntnisse zum Vorschein. Und genau diese möchte ich in diesem Blogartikel besprechen und fragen: Wie genau kann unser Immunsystem all diese Leistungen eigentlich erbringen? Der Mechanismus, der hierzu von der Natur verwendet wird, ist beeindruckend. Gleichzeitig birgt er aber auch Gefahren, die in der Entstehung von Krebserkrankungen enden können. Ich möchte diese zwei Gesichter des Immunsystems hier am Beispiel der B-Lymphozyten (oder auch B-Zellen) aufzeigen.

B-Zellen Tumor
Zellen aus einem B-Zell-Tumor. Die DNA der B-Zellen ist aufgrund einer chromosomalen Translokation mutiert. Foto: Arbeitsgruppe Reth/BIOSS

B-Lymphozyten gehören zu den weißen Blutkörperchen und sind diejenigen Zellen in unserem Körper, die Antikörper produzieren. Antikörper sind kleine raffinierte Moleküle, die theoretisch jede molekulare Struktur erkennen und somit als Krankheitserreger für andere Immunzellen kennzeichnen können. Man kann sich das wie eine kleine Fahne vorstellen, die auf einem Erreger platziert wird. Diese Fahne kennzeichnet ihn deutlich und sorgt dafür, dass andere Immunzellen den Erreger entsorgen. In unserem Körper haben wir mehrere Milliarden B-Lymphozyten, von denen jeder einzelne einen ganz spezifischen Antikörper produzieren kann. Die Zellen tragen diesen Antikörper als Rezeptor auf ihrer Oberfläche. Sie werden aktiviert, sobald der Rezeptor seine passende molekulare Struktur erkennt, welche zum Beispiel auf einem Virus zu finden sein kann. Der Rezeptor ist quasi eine Antenne für die B-Zelle, über welche sie feststellen kann, ob sich in ihrer Umwelt ein Krankheitserreger befindet. Nimmt die B-Zelle einen Krankheitserreger wahr, produziert sie große Mengen von Antikörpern.

Um diesen Teil unserer Immunantwort zu verstehen, müssen zwei zentrale Fragen beantwortet werden: Die nach der Entstehung dieser Rezeptoren und wie es möglich ist, dass jeder Rezeptor ein anderes Ziel erkennt. Wäre ein Rezeptor einfach das Produkt eines Gens, wäre das riesige Spektrum an Spezifitäten, das unsere B-Zellen aufweisen, nicht erreichbar. Heute weiß man, dass wir Menschen etwa 25.000 Gene besitzen. Würde jedes dieser Gene für einen bestimmten B-Zell-Rezeptor stehen, könnte unser Immunsystem also 25.000 verschiedene Rezeptoren herstellen. Gleichzeitig hätten wir jetzt aber keine Gene mehr übrig, um all die anderen Funktionen zu erfüllen, welche die Zellen unseres Körpers erbringen müssen. Hinzu kommt, dass wir Milliarden verschiedener Rezeptoren (und nicht nur einige Tausend) auf unseren B-Zellen haben. Für seine Antwort auf diese Frage erhielt der Japaner Susumu Tonegawa im Jahr 1987 den Nobelpreis. Tonegawa entdeckte, dass die Rezeptoren in einem Zufallsprozess entstehen, bei dem verschiedene Gensegmente neu zusammengesetzt werden. Man kann sich das vorstellen wie eine Schnur mit vielen Perlen. Die ersten Perlen sind alle rot, die nächsten sind gelb und die letzten sind alle blau. Das Ziel ist es, drei Perlen – eine von jeder Farbe – direkt nebeneinander zu setzen. Die Auswahl der Perlen erfolgt zufällig, aber jede Farbe ist einmal vertreten. Somit bekommen wir aus wenigen Perlen viele Kombinationsmöglichkeiten. Um diese Zusammensetzung zu ermöglichen, müssen wir unsere Schnur allerdings an manchen Stellen durchschneiden, ein paar Perlen entfernen und die Schnur dann wieder zusammenknoten. Wenn wir dieses Bild jetzt wieder auf die Ebene der Gene zurückführen, müssen wir uns die Perlen als DNA-Abschnitte vorstellen. Die Schnur ist der gesamte Strang an DNA, der als Chromosom im Zellkern unserer B-Zelle vorliegt. Nach diesem Prinzip entsteht in jeder einzelnen B-Zelle eine andere Zusammensetzung von Gensegmenten. Dies führt dazu, dass jede B-Zelle schließlich einen einzigartigen Rezeptor besitzt. Da es sich hierbei aber, wie bereits erwähnt, um einen Zufallsprozess handelt, können die so entstandenen Rezeptoren alles Mögliche erkennen. Das bedeutet, dass zu diesem Zeitpunkt auch Rezeptoren vorliegen, die körpereigene Strukturen erkennen. Diesen Zustand gilt es unbedingt zu vermeiden, da das Immunsystem sonst den eigenen Körper angreifen würde: Eine Autoimmunerkrankung wäre die Folge. Vielmehr greift aber an diesem Punkt die Intelligenz des Immunsystems, denn die Natur hat einen Mechanismus entwickelt, um die B-Zellen auszusortieren, die körpereigene Strukturen erkennen. Diese Zellen verändern entweder ihren Rezeptor oder sterben. Erst wenn dieser „Qualitäts-Check“ erfolgt ist, darf die B-Zelle ihre Patrouille durch den Körper beginnen.

Bis jetzt haben wir also gesehen, wie unser Immunsystem äußere Einflüsse (nämlich Krankheitserreger) erkennen kann. Wir haben auch gesehen, wie es seine Cleverness nutzt, um körpereigene und –fremde Substanzen zu unterscheiden.

Um das Bild zu vervollständigen fehlen jetzt noch der Lernprozess und die Gedächtnisfunktion. Diese beiden Funktionen übt unsere B-Zelle aus, nachdem ihr Rezeptor aktiviert wurde, beispielsweise durch einen Virusbaustein. Die aktivierte Zelle ist lernfreudig. Das bedeutet, dass sie ihren Rezeptor noch verbessern möchte, um den Virus noch genauer und besser zu erkennen. Hierzu greift die B-Zelle wieder auf die zuvor ausgewählten Gensegmente (vgl. Perlenkette) zurück. In der sogenannten Keimzentrumsreaktion aktiviert sie jetzt ein Enzym, welches gezielt Mutationen in die DNA einfügt, die ihren Rezeptor codiert. Den neuen, veränderten Rezeptor testet die Zelle dann auf seine Reaktion mit dem Virus. Schließlich selektiert das Immunsystem die Zellen, deren Rezeptor auf diese Weise maßgeblich verbessert wurde. Die Zellen, die jetzt dazugelernt haben, durchlaufen einen letzten Entwicklungsschritt und werden zu langlebigen Gedächtniszellen. Ihr verbesserter Rezeptor wird später, bei einer neuen Infektion mit dem gleichen Virus, dafür sorgen, dass der Krankheitserreger schneller und effizienter bekämpft wird.
Unser Immunsystem steckt also voller faszinierender Eigenschaften, die es zu einem unglaublich leistungsfähigen und überlebenswichtigen Teil unseres Körpers machen. Alleine die Tatsache, dass wir sehr selten krank werden, obwohl wir täglich mit Milliarden von Erregern bombardiert werden, zeugt von der Überlegenheit unserer Verteidigung.

Allerdings bringen die beschriebenen Mechanismen auch ein paar Nachteile mit sich. Wenn wir uns die Prozesse, die während der Entwicklung der B-Zellen ablaufen, noch einmal genau anschauen, fällt auf, dass die Zelle mehrfach ihre DNA zerschneiden muss. Das passiert zum Beispiel, wenn sie die Gensegmente für Ihren Rezeptor neu anordnet. Dies ermöglicht einerseits die hohe Diversität von Rezeptoren. Auf der anderen Seite ist es aber sehr gefährlich, wenn in diesem Prozess ein Fehler unterläuft. Wenn es passiert, dass die Zelle beim Zusammensetzen der DNA-Enden einen Fehler macht oder die DNA an einer falschen Stelle zerschnitten wird, kann dies zu gravierenden Mutationen führen. In vielen Fällen können diese Mutationen zur Entstehung von Krebs bzw. Leukämien führen. Ein häufiges Beispiel hierfür ist der Fall, in dem die zerschnittene DNA mit einem falschen anderen DNA Stück verbunden wird. Man spricht hier von einer chromosomalen Translokation. Das kann zur Folge haben, dass plötzlich ein Gen hyperaktiv wird. Wenn dieses Gen beispielsweise die Zellteilung reguliert, fängt die betroffene Zelle an, sich ununterbrochen zu teilen – ein Hauptcharakteristikum von Krebszellen. Ähnliche Mutationen können auch im Lernprozess der B-Zelle entstehen. Wenn die Zelle versucht Ihren Rezeptor durch gezielte Mutationen zu verbessern, ist auch dieser Prozess zu einem gewissen Grad fehleranfällig. Auch hier können in der Folge Mutationen entstehen, die es der Zelle erlauben, sich unendlich zu teilen. Die Natur hat also letztendlich einen Handel betrieben: Sie hat ein System entwickelt, welches es unseren Immunzellen ermöglicht jede Art von Krankheitserreger zu erkennen und in der Folge zu bekämpfen. Der Preis, den sie dafür bezahlen muss, ist ein gewisser Grad an Anfälligkeit für ungewollte Mutationen, die Krankheiten wie beispielsweise Leukämien hervorrufen können.

Der Fakt, dass sich unser Immunsystem im Laufe der Evolution so etabliert hat, wie es ist, zeigt, dass der Deal zwischen Schutzfunktion und Gefahr aufgeht und die positiven Aspekte überwiegen. Das zweite Gesicht des Immunsystems ist der Preis, den wir für den ausgeprägten Schutz bezahlen müssen.

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Martin Becker hat in Braunschweig Biotechnologie und in Rhode Island/USA Zell- und Molekularbiologie studiert. Nach seiner Masterarbeit, in der er sich mit der Immunogenität von Zeckenspeichel beschäftigt hat, begann Martin seine Promotion in Freiburg. Hier forscht er seit 2012 in der Arbeitsgruppe von Michael Reth am Max-Planck-Institut für Immunbiologie und Epigenetik und wird auch durch BIOSS gefördert. Der Fokus seiner Arbeit liegt auf der Aktivierung von Antikörper-produzierenden B-Zellen und darauf, welche Rolle das Zytoskelett in diesem Prozess spielt. Martin ist Mitglied der Graduiertenschule IMPRS des Max-Planck-Instituts sowie des TransRegio 130 „B cells and beyond“, in dem er über seine Forschungstätigkeit hinaus als Doktorandensprecher fungiert.

2 Kommentare

  1. Ein frei gewählter Genmix scheint nicht nur im Immunsystem sondern auch bei Erinnerungen eine zentrale Rolle zu spielen wie der der Artikel Brain Cells Break Their Own DNA to Allow Memories to Form berichtet.

    Damit wird auch der folgende Satz aus dem obigen Artikel bestätigt: “Überraschenderweise hat unser Immunsystem viele Gemeinsamkeiten mit unserem Gehirn. Es verarbeitet zum Beispiel auch „Einflüsse“, die wir von unserer Umwelt erhalten.”

  2. Pingback:Thema Tierversuche – Ein Mangel an Diskurs » SignalBlog » SciLogs - Wissenschaftsblogs

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