Wieviele Physiklehrer gibt es in Deutschland?

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… aber nicht einfacher
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Das Haus der Astronomie, an dem ich arbeite, ist ein Zentrum für astronomische Bildungs- und Öffentlichkeitsarbeit. Insbesondere bieten wir auch Lehrerfortbildungen an (oder tragen zu Lehrerfortbildungen anderer Veranstalter bei) und produzieren Material, das im Physikunterricht oder in Verbundfächern wie “Naturwissenschaft und Technik” eingesetzt werden kann – geleitet von der Erfahrung, dass Schüler eine ganze Reihe von Themen der astronomischen Forschung hochinteressant finden (eine Querverbindung zum vorigen Blogbeitrag Wissenschaft ohne Faszination?), und dass sich solche Themen in lebendigen und interessanten Unterricht umsetzen lassen. Wir sind natürlich bei weitem nicht die einzigen, die versuchen, auf diese Weise Forschung in die Schulen zu bringen (weitere Links gibt es z.B. auf den Seiten der Bildungskommission der Astronomischen Gesellschaft).

Als Wissenschaftler ist man gewohnt (und gehalten!), quantitativ zu denken. Ich hatte den Nutzen von Überschlagsrechnungen auf diesem Blog ja auch schon mehrmals thematisiert. Jüngst habe ich eine Überschlagsrechnung gemacht, die ich mir schon länger vorgenommen hatte. Wieviele Physiklehrer gibt es eigentlich? Anders gesagt: Wieviele potenzielle Adressaten gibt es für Outreach-Aktionen, mit denen Wissenschaftler in die Schulen gehen?

Die Antwort zu finden ist gar nicht so leicht. Genauer: eine offizielle Statistik zu dem Thema konnte ich auch nach gehörigem Herumsuchen nicht online finden (wobei ich, zugegeben, keine gebührenpflichtigen Angebote ausprobiert habe). Das statistische Bundesamt bietet zwar einiges an Material dazu, wieviele Lehrer es insgesamt gibt, bzw. etwas genauer: eine Tabelle Lehrkräfte der allgemeinbildenden und beruflichen Schulen insgesamt sowie Anteil der weiblichen Lehrkräfte nach Schularten und Beschäftigungsumfang. Aber die führt eben nur auf – nun ja, der Name sagt es ja bereits. Eine Aufgliederung nach Fächern wird da nicht geboten. Die Deutsche Physikalische Gesellschaft, die 2010 einen ausführlichen und hochinteressanten Arbeitsmarktreport vorgelegt und dabei u.a. die Mikrozensus-Daten ausgewertet hat, stellte damals ebenfalls fest: “Für im Rahmen eines Physik-Lehramtsstudiums ausgebildete Personen liegen in den im Rahmen dieser Analyse verwendeten amtlichen Statistiken keine separaten Daten vor.”

Daher habe ich selbst versucht, eine Abschätzung vorzunehmen. Das ist etwas verwickelt, weil es verschiedene Schularten gibt. (Die Hauptschule und Skihauptschule, auf die ich beim Googlen stieß, war zwar nicht deutsch, sondern österreichisch, aber ohne sie war die Vielfalt verwirrend.) Aber bei einer Abschätzung wie dieser sind sinnvolle Vereinfachungen sowieso das A und O. Das hier sind meine:

Ich habe mir eine Reihe Webseiten von Schulen angeschaut, die ihr Kollegium, nach Fächern aufgeschlüsselt, ins Netz gestellt haben. Dazu habe ich auf Google nach den Stichworten Gymnasium plus Kollegium plus Fächer gesucht (und für Real- und Hauptschule entsprechend). Ich nehme an, dass das Google-Ranking Schulen mit besonders vielen oder besonders wenigen Physiklehrern weder bevor- noch benachteiligt, so dass meine Stichproben repräsentativ sind. Auf diese Weise habe ich die Webseiten von 30 Gymnasien, 12 Realschulen und 6 Hauptschulen ausgewertet, auf denen die Mitglieder des Kollegiums jeweils mit ihren Unterrichtsfächern aufgeführt sind (Hauptschul-Webseiten sind gar nicht so einfach zu finden.)

Werte ich diese Webseiten aus, dann komme ich auf die folgenden prozentuale Anteile von Lehrern und Lehrerinnen, die Physik unterrichten:

  • Gymnasium: (9,2 +/- 0,5) %
  • Realschule: (12,5 +/- 1,6) %
  • Hauptschule: (11,1 +/- 0,9) %

Angegeben sind dabei jeweils Durchschnittshäufigkeit und Standardfehler; beide ergeben sich aus den in der Stichprobe ermittelten Einzelhäufigkeiten. Meine Daten und Rechnungen gibt es hier als Excel-Datei.

Das sind natürlich nur drei aus einem guten Dutzend Schulformen in diesem unserem föderalen Land. Andererseits weichen die Prozentzahlen nicht allzu sehr voneinander ab. Das ermutigt mich, auf Basis dieser Prozentzahlen und anhand der Gesamtlehrerzahlen des Statistischen Bundesamts zu extrapolieren.

Grundschulen, Kindergärten, Förderschulen und berufsbildende Schulen lasse ich dabei ganz außen vor. Schulartunabhängige Orientierungsstufen, Schularten mit mehreren Bildungsgängen und Integrierte Gesamtschulen teile ich gerecht zwischen den drei von mir erfassten Schularten auf. Waldorfschulen schlage ich den Gymnasien zu, auch wenn das nur in Erinnerung an die subjektive Stichprobe mir bekannter Waldorfschüler geschieht. Viel Spielraum, es genauer zu machen, aber wie gesagt: So unterschiedlich sind die Prozentzahlen der drei von mir betrachteten Schularten sowieso nicht.

Damit komme ich auf

  • Gymnasium: 220935 Lehrer/innen insgesamt, (20326 +/- 1105) Physik
  • Realschule: 102366 Lehrer/innen insgesamt, (12796 +/- 1638) Physik
  • Hauptschule: 75597 Lehrer/innen insgesamt, (8391 +/- 680) Physik.

Die genauen Zahlen sind dabei vor allem für Leser gedacht, die meine Rechnung überprüfen wollen; eingedenk der hier getroffenen Vereinfachungen, sollte man auch das Ergebnis gerundet angeben: ich komme auf 20.000 Physiklehrer an Gymnasien, 13.000 an Realschulen, 8.000 an Hauptschulen, also rund 41.000 Physiklehrende insgesamt.

Falls jemand Daten (z.B. für einzelne Bundesländer) kennt, mit denen man diese Zahlen vergleichen kann, wäre ich für einen Hinweis in den Kommentaren dankbar!

Wie jedesmal bei einer Größenordnungsschätzung sollte man auch das Bauchgefühl befragen. Das stimmt hier aber durchaus zu: 100.000 Physiklehrer klingen nach zu viel, 1.000 nach zu wenig.

Die Zahlen zeigen, vor welcher Herausforderung man steht, wenn man bestimmte unterrichtstaugliche Inhalte – in unserem Falle sachgerecht aufbereitete astronomische Forschung – flächendeckend zugänglich machen möchte. Eine Lehrerfortbildung mit mehr als 100 Teilnehmern, wie sie z.B. die Kollegen aus Jena jedes Jahr mit der Bundesweiten Astronomischen Lehrerfortbildung auf die Beine stellen (hier das PDF für 2013), ist ein beachtlicher Aufwand. Aber selbst wenn sich nur die Hälfte der Physiklehrer für astronomische Themen interessieren lässt, wäre man nach diesen Zahlen hier alleine für das Gymnasium mit zehn solcher Fortbildungen und jährlich wechselnder Besetzung zehn Jahre zugange, um alle Lehrerinnen und Lehrer versorgt zu haben.

Der Umstand, dass die angebotenen Lehrerfortbildungen typischerweise nicht um einen Faktor 100 überbucht sind, zeigt wiederum, wie hoch der Prozentsatz an Lehrern ist, die entweder nichts von diesen Fortbildungen wissen oder sich nicht dafür interessieren.

Um breiter zu wirken sind für uns natürlich vor allem diejenigen Lehrer interessant, die nichts von den angebotenen Möglichkeiten wissen, oder die sich nur oberflächlich nicht dafür interessieren, aber im Prinzip durchaus zu begeistern wären. Die Frage, wie man möglichst viele von diesen Lehrerinnen und Lehrern erreicht, ist für uns – ebenso wie für andere Gruppen in ähnlicher Situation – natürlich sehr spannend.

Welchen Aufwand müsste man treiben, um zumindest einen Lehrer pro Schule zu erreichen? Diese Zahlen, nämlich die Anzahl der allgemeinbildenden Schulen, gibt es beim Statistischen Bundesamt, nämlich hier. Damit kommt man auf

  • 7500 Gymnasien plus integrierte Schulen, Gesamtschulen etc.
  • 2700 Realschulen
  • 3600 Hauptschulen.

Das sind die Größenordnungen, die man erreichen muss, damit zumindest an jeder Schule mindestens ein Lehrer Bescheid weiß. Oder die Chance hätte, Bescheid zu wissen, denn ob man z.B. mit einem Brief oder einer Broschüre tatsächlich etwas erreicht, oder ob das eigene Informationsmaterial in der Flut sonstigen zugeschickten Materials untergeht, ist dann noch eine ganz andere Frage.

(Der Vollständigkeit halber: Insgesamt gibt es in den allgemeinbildenden Schulen knapp 9 Millionen Schüler. Das entspricht ja ungefähr dem, was man erwarten würde: 80 Millionen Einwohner, 10 Jahre Schule, 80 Jahre Lebenserwartung gibt grob überschlagen 10 Millionen im schulpflichtigen Alter.)

Ich nehme aus diesen Zahlen und weiteren Erfahrungen jedenfalls mit: Die Größenordnungen sind riesig. Je mehr Wissenschaftler sich engagieren, ihre Forschung in die Schulen zu bringen, umso besser. Es sind mehr als genügend zu erreichende Lehrerinnen und Lehrer für alle da. Angesichts solcher Zahlen stellt sich natürlich auch die Frage, wieviele Lehrer man überhaupt persönlich erreichen kann – immer die beste Situation – und wo stattdessen z.B. Videos oder online verfügbare Materialien sinnvoll zum Einsatz kommen können oder sogar müssen.

Und es stellt sich die Frage, wie man die potenziell interessierten Lehrerinnen und Lehrer überhaupt auch nur annähernd flächendeckend erreichen kann. Vor diesem Hintergrund ist doppelt schade, dass z.B. ein Projekt wie Fobinet, ein bundesweites Netzwerk für Physikfortbildungen, nicht fortgeführt wurde.

Es gibt noch viel zu tun. 

 

 

 

 

 

 

 

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Markus Pössel hatte bereits während des Physikstudiums an der Universität Hamburg gemerkt: Die Herausforderung, physikalische Themen so aufzuarbeiten und darzustellen, dass sie auch für Nichtphysiker verständlich werden, war für ihn mindestens ebenso interessant wie die eigentliche Forschungsarbeit. Nach seiner Promotion am Max-Planck-Institut für Gravitationsphysik (Albert-Einstein-Institut) in Potsdam blieb er dem Institut als "Outreach scientist" erhalten, war während des Einsteinjahres 2005 an verschiedenen Ausstellungsprojekten beteiligt und schuf das Webportal Einstein Online. Ende 2007 wechselte er für ein Jahr zum World Science Festival in New York. Seit Anfang 2009 ist er wissenschaftlicher Mitarbeiter am Max-Planck-Institut für Astronomie in Heidelberg, wo er das Haus der Astronomie leitet, ein Zentrum für astronomische Öffentlichkeits- und Bildungsarbeit, seit 2010 zudem Leiter der Öffentlichkeitsarbeit am Max-Planck-Institut für Astronomie und seit 2019 Direktor des am Haus der Astronomie ansässigen Office of Astronomy for Education der Internationalen Astronomischen Union. Jenseits seines "Day jobs" ist Pössel als Wissenschaftsautor sowie wissenschaftsjournalistisch unterwegs: hier auf den SciLogs, als Autor/Koautor mehrerer Bücher und vereinzelter Zeitungsartikel (zuletzt FAZ, Tagesspiegel) sowie mit Beiträgen für die Zeitschrift Sterne und Weltraum.

11 Kommentare

  1. ich muß suchen, aber

    früher war alles besser, in der 11. Abiturklasse gab’s bei mir/uns 1 Jahr Astronomie, lang is’ses her.

    • Herr Senf,
      bei mir war’s so:
      Mein Bruder ist jünger als ich und er hatte Astro schon in der 9. Klasse, ich erst in der 12. (wegen Lehrplanwechsels). So kam es, daß ich bei Beginn der 12. schon alles wußte.
      Ich erinnere mich voller Lust an die arktis-artige Januarnacht, als wir vom Training kamen, durch den schmalen Gang im tiefen Schnee nach Hause stapften und über uns unglaublich prachtvoll der Orion in der brüllenden Stille mit seiner Schönheit angab. Er konnte mir alles erzählen und es stellten sich uns die Nackenhaare auf. Den Namen Betaigeuze kenne ich heute noch. 🙂

  2. schulphysik.de

    Als Physiklehrer finde ich es umso schlimmer, dass eine Webseite wie Schulphysik.de, die Ressourcen für Physiklehrer anbieten soll, voll in Händen wissenschaftlich unseriöser Klimaskeptiker ist:
    http://www.schulphysik.de/klima.html
    Schon der erste Artikel dort hat den programmatischen Titel: Es ist die Sonne und nicht der Mensch.

  3. @V. Brunkhorst

    Die Seite, die Sie da verlinken, ist ja in der Tat ziemlich schauerlich. Gut: Dass es bei den Fortbildungsangeboten irgendeine Qualitätskontrolle geben sollte, ist natürlich unabhängig von der Quantitätsfrage wichtig…

  4. Ich habe bei der Servicestelle der Landesschulbehörde in Niedersachsen nachgefragt innerhalb von wenigen Stunden eine genaue Zahl für den Regionalbezirk Osnabrück bekommen (brauchte die Zahl für eine Arbeit). Die Schulbehörden der anderen Bundesländer müssten ebenfalls über solche Zahlen verfügen.

  5. Ich denke, es sind lediglich 40.999 Physiklehrer, denn Unzicker gehört nicht dazu, obwohl er auf der Liste steht.
    Die Anzahl der Physiklehrer sagt aber auch aus, daß pro Jahr im Durchschnitt reichlich 1000 ausgebildet werden müssen. Hoffentlich läuft das.

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