Maßlose Übertreibungen und resistente Keime via Correctiv/Spiegel

BLOG: RELATIV EINFACH

… aber nicht einfacher
RELATIV EINFACH

Dank Internet ist es einfacher denn je, das, was einem an Meldungen begegnet, mit einigen Klicks zumindest grob nachzuprüfen. Ich habe mir das inzwischen angewöhnt: Finde ich eine Wissenschaftsmeldung interessant, dann schaue ich mir oft auch direkt den Fachartikel dazu an – auch bei Meldungen außerhalb meines eigenen Fachgebiets (Physik/Astrophysik). Gestern habe ich genau das getan, aber mit unerwarteten Konsequenzen: bei einer Meldung über resistente Keime und maßlose Übertreibung auf Correctiv (deutsch, englisch) in Zusammenarbeit mit dem Spiegel (dieser Text hier) und dem Independent (dieser Text hier).

(Falls jemand Correctiv nicht kennen sollte: das ist “das erste gemeinnützige Recherchezentrum im deutschsprachigen Raum”, finanziert über Stiftungen und Spenden; die Artikel werden dann in der Regel in Zusammenarbeit mit herkömmlichen Medien veröffentlicht, hier eben Spiegel und Independent. Ich lese deren Beiträge gerne und häufig, und ich unterstütze Correctiv auch mit einer regelmäßigen Spende.)

Resistente Keime und ihre Studien

Auch um solche Antibiotika ging es in der Studie, die Correctiv / Spiegel harsch kritisieren.
Skelettformel für Penicillin. (Gemeinfrei, via Wikimedia Commons.)

Worum es in den erwähnten Artikeln geht, ist schnell erklärt: Dass immer mehr Keime resistent gegen die üblichen Therapien werden, etwa Bakterien gegen Antibiotika, ist ein bekanntes Problem. Ende November haben die drei Wissenschaftler Marlieke E. A. de Kraker (Universität Genf), Andrew J. Stewardson (Austin Health, Heidelberg, Australia) und Stephan Harbarth (Uni Genf) in PLOS Medicine ein Essay veröffentlicht, in dem sie kritisch eine Zahl untersuchen, die in diesem Zusammenhang offenbar häufig genannt wird: die Möglichkeit, dass es ab 2050 weltweit 10 Millionen Tote pro Jahr durch resistente Keime geben könnte.

Die Zahl stammt aus einer Studie des Wirtschaftsprüfungs- und Beratungsunternehmens KPMG für den Review on Antimicrobial Resistance, die ich im folgenden kurz AMR-Studie nenne. Der Review war eine Kommission im Auftrag der britischen Regierung unter Leitung des Wirtschaftswissenschaftlers Jim O’Neill, tätig von Sommer 2014 bis Sommer 2016.

Die Autoren des PLOS-Essays kommen zu dem Schluss, die Zahl 10 Millionen stehe auf unsicheren Füßen. Zweifellos seien die zukünftigen Auswirkungen resistenter Keime groß (“large clinical and public health burden”), aber es gebe derzeit keine hinreichend guten Daten, um die Auswirkungen quantitativ in Form von Zahlen dazu auszudrücken, wieviele Menschen betroffen werden und wieviele sterben würden (“but it is challenging to quantify the associated excess morbidity and mortality”). Die Autoren des PLOS-Essays warnen daher davor, auf heutiger Datenbasis mit zu vereinfachten Modellen zu extrapolieren. Wo doch Zahlen genannt werden, sollte unbedingt deren Unsicherheit angegeben und auch quantifiziert werden.

Die Correctiv/Spiegel/Independent-Artikel, verfasst von den Journalisten Hristio Boytchev und Victoria Parsons, berichten über genau dieses PLOS-Essay.

Correctiv & Spiegel: Übertreibungen oder nicht?

In der deutschen Fassung des Artikels (auf Spiegel bzw. Correctiv) hat die O’Neill-Studie aber noch einen schwereren Makel als bloß unsicher zu sein: Alles deute darauf hin, dass die Zahl von 10 Millionen “maßlos übertrieben” sei, schreiben die beiden Journalisten. Der Untertitel der Spiegel-Online-Version fasst zusammen: “Eine neue Analyse zeigt: Die Autoren [der AMR-Studie, MP] haben mächtig übertrieben.”

Deswegen habe ich mich nicht schlecht gewundert, als ich den zugehörigen Fachartikel las, also die erwähnte “neue Analyse”. Da habe ich nämlich nichts über maßlose Übertreibungen gefunden. Die PLOS-Autoren halten sich im Gegenteil an dieser Stelle sehr zurück. Aus dem Fachartikeltext heraus ist das für mich durchaus logisch: kämen sie mit eigenen, geringeren Zahlen an, dann würden die Autoren ihrer Hauptaussage widersprechen, derzeitige quantitative Abschätzungen seien nicht informativ und zuverlässigere Daten würden benötigt.

Ein Fachartikel über Unsicherheiten

Dementsprechend geht es in dem Fachartikel ganz zentral um die Unsicherheiten solcher Abschätzungen. An verschiedenen Beispielen zu den Schritten der Argumentationskette der AMR-Studie wird beschrieben, wo Unsicherheiten ins Spiel kommen. Aber zu quantitativen Auswirkungen der Unsicherheiten halten sich die Autoren bedeckt.

Einige der Unsicherheiten dürften in der Tat eher auf eine zu hohe Abschätzung führen, wenn auch unklar ist, wie groß die entsprechenden Effekte wären. Bei anderen ist mir gar nicht so recht klar, in welche Richtung die Korrrektur letztlich ginge. Wie wirkt sich etwa aus, wenn bestimmte Infektionsraten von Europa auf den Rest der Welt extrapoliert werden? Insbesondere mit Blick auf die Zukunft – was ja immerhin die Frage einschließt, inwieweit sich welche Länder in punkto Gesundheitssystem und anderem an europäische Verhältnisse angleichen?

Klar könnten bestimmte Leser des PLOS-Artikels nach der Lektüre vermuten, dass die Zahlen der AMR-Studie übertrieben seien. Man kann Fachartikel ja immer auch als Ausgangspunkt für eigene Überlegungen nehmen. Aber man kann auch den Autoren des PLOS-Artikels folgen und als wesentliche Botschaft einfach mitnehmen: die entsprechenden Zahlen sind nicht gesichert.

Anders ausgedrückt, und so steht es auch in dem PLOS-Essay: Die 10 Millionen, die da angegeben werden, haben vermutlich einen beachtlichen Vertrauensbereich. In Wirklichkeit liefert die Abschätzung, um die es da geht, nur die Aussage, dass die wahren Zahlen für 2050 in einem Bereich zwischen (10-X) Millionen und (10+Y) Millionen liegen dürften. Die Bereichsspanne dürfte recht groß sein. Allerdings trifft das PLOS-Essay eben keine Aussage der Art: Y ist auf alle Fälle Null (oder negativ). Keine Aussage, die Gesamtzahl von 10 Millionen sei auf alle Fälle überschätzt worden. Geschweige denn “maßlos”.

Wissenschaftliches Ergebnis oder Meinung

Woher also kommt die Behauptung der Übertreibung, gar der maßlosen Übertreibung? Ich habe direkt nach meiner Lektüre des PLOS-Essays kurz per Twitter nachgefragt (T verlinkt auf den entsprechenden Tweet):

Markus Pössel (MP) (T): Aber, wie gesagt: kann im PLOS-Artikel kein “exaggerated” finden. Wer hat das dazugepackt?
Hristio Boychev (T): Interviews.
MP (T): Klingt wie das, was ihr dem AMR-Review vorwerft: über wiss. Literatur hinausgehen. Nein?
Correctiv (CO) (T): Nein. Wir sind Journalisten, geben nicht vor Studie[n] zu machen. Und Wissjournalismus ist nicht nur Studie wiedergeben.
MP (T1, T2): Aber Wissjournalismus ist u.a.: Studienergebnisse und darüber hinausgehende Meinung der Wissenschaftler unterscheiden, oder? (Bzw. solche Unterschiede – was ist wie gesichert – Lesern zu vermitteln.)
CO (T): “Alles deutet darauf hin, dass die Zahl maßlos übertrieben ist.” Ist klar unterschieden. Im Indy[-]Artikel auc[h]. Schönen Abend noch
MP (T1, T2): Ähem: Der Satz “Alles deutet…” folgt direkt auf “Seine Analyse im Fachblatt ‘Plos Medicine’ zeigt”. Klar unterschieden ist was anderes. Aber ja, wenn euch so was gar nicht kratzt: Schönen Abend noch.

Die Sätze aus dem Correctiv-Text, um die es dabei ging:

Allein – wie stichhaltig ist die alarmierende Prognose? Das hat jetzt ein Team um die Infektionsforscherin Marlieke de Kraker am Uni-Klinikum Genf untersucht. Seine Analyse im Fachblatt „Plos Medicine“ zeigt: Die Vorhersage hält einer wissenschaftlichen Überprüfung nicht stand. Alles deutet darauf hin, dass die Zahl maßlos übertrieben ist.

Wie jemand diese Sätze lesen und so interpretieren kann, “Alles” im letzten Satz sei “klar unterschieden” von der einzigen Quelle im Kontext, nämlich der (im Text direkt verlinkten!) Analyse, kann ich nicht nachvollziehen. Für mich liest sich “Alles deutet…” als Fortführung der Ergebnis-Beschreibung der Studie – wie denn auch sonst? Ich lese keinen Bericht über ein mysteriöses, undefiniertes “Alles”, sondern über eine konkrete Studie, und dass z.B. alle in der Studie aufgeführten Argumente auf eine Übertreibung hindeuteten wäre ja nicht überraschend, wenn es in der Studie denn überhaupt um Übertreibung ginge.

Daher führe ich mich als Leser an dieser Stelle irregeführt. Ohne Blick auf den Originalartikel wäre bei mir vermutlich hängengeblieben (meine eigenen Worte): “Neuer Fachartikel zeigt: AMR-Zahl 10 Millionen maßlos übertrieben.” Also eine Aussage, die so schlicht nicht stimmt.

Englische versus deutsche Version

Zur Ehrenrettung des Independent: Im englischen Correctiv-Text und in der Online-Version des Independent-Texts klingt die Sache an einigen wichtigen Stellen anders. Dort finde ich tatsächlich nur das “unreliable”, aber keine englische Entsprechung von “mächtig/maßlos übertrieben”.

Bei den interviewten Wissenschaftlern wird sogar extra dazu gesagt: “But neither scientist would provide their own estimates, saying there were too many uncertainties and not enough data.”

Eine Möglichkeit, Unterschiede zwischen der englischen und deutschen Fassung zu erklären: die Texte sind durch unterschiedliche Redaktionen gelaufen, hie Spiegel, da Independent.

Ist das überhaupt wichtig?

Aus meiner Sicht schon. Eine Studie auf unsicherer Datenbasis ist etwas deutlich anderes als eine Studie, die ihr Ergebnis maßlos übertreibt. Was davon mit welcher Sicherheit behauptet wurde, ist der Knackpunkt an dieser ganzen Angelegenheit, wie an so vielen wissenschaftlichen Ergebnissen.

Wird im Fachartikel selbst für eine Übertreibung, erst recht für eine große Übertreibung der Zahlen argumentiert, ist das die eine Sache. Behaupten die Wissenschaftler im späteren Interview eine Übertreibung, haben das aber in ihrem Fachartikel wohlweislich nicht so geschrieben, liegt die Sache bereits deutlich anders. Wäre die Übertreibungsbehauptung erst durch die Journalisten ins Spiel gekommen, wäre das noch etwas anderes.

Alle drei Quellen für eine Einschätzung können interessant sein: was im Fachartikel steht, was Wissenschaftler darüber hinaus noch meinen und was ein erfahrener Wissenschaftsjournalist daraus macht. Aber ich als Leser möchte bitte schön wissen, was was ist. In dieser Hinsicht fühlte ich mich bei dem hier besprochenen Correctiv/Spiegel-Text sehr schlecht bedient.

 

 

Avatar-Foto

Markus Pössel hatte bereits während des Physikstudiums an der Universität Hamburg gemerkt: Die Herausforderung, physikalische Themen so aufzuarbeiten und darzustellen, dass sie auch für Nichtphysiker verständlich werden, war für ihn mindestens ebenso interessant wie die eigentliche Forschungsarbeit. Nach seiner Promotion am Max-Planck-Institut für Gravitationsphysik (Albert-Einstein-Institut) in Potsdam blieb er dem Institut als "Outreach scientist" erhalten, war während des Einsteinjahres 2005 an verschiedenen Ausstellungsprojekten beteiligt und schuf das Webportal Einstein Online. Ende 2007 wechselte er für ein Jahr zum World Science Festival in New York. Seit Anfang 2009 ist er wissenschaftlicher Mitarbeiter am Max-Planck-Institut für Astronomie in Heidelberg, wo er das Haus der Astronomie leitet, ein Zentrum für astronomische Öffentlichkeits- und Bildungsarbeit, seit 2010 zudem Leiter der Öffentlichkeitsarbeit am Max-Planck-Institut für Astronomie und seit 2019 Direktor des am Haus der Astronomie ansässigen Office of Astronomy for Education der Internationalen Astronomischen Union. Jenseits seines "Day jobs" ist Pössel als Wissenschaftsautor sowie wissenschaftsjournalistisch unterwegs: hier auf den SciLogs, als Autor/Koautor mehrerer Bücher und vereinzelter Zeitungsartikel (zuletzt FAZ, Tagesspiegel) sowie mit Beiträgen für die Zeitschrift Sterne und Weltraum.

14 Kommentare

  1. Eer Artikel ( oder ein ähnlicher) wurde auch im Tagesspiegel Nr 22 974 vom 19.12.2016 S. 23 “Die Mär von den zehn Millionen Toten”
    veröffentlicht.
    Wenn ich das richtig sehe sind die anstößigen Sätze auch hier enthalten. Wahrscheinlich ist das der selbe Text.

    • Ja, das scheint der Correctiv-Artikel zu sein – Correctiv wird unten ja auch klar genannt.

      Hier ist die Zuschreibung allerdings deutlich: “Die Vorhersage hält einer wissenschaftlichen Überprüfung nicht stand und dass die Zahl maßlos übertrieben ist, zeigt die Analyse im Fachblatt „Plos Medicine“.” Nix mehr mit Interviews, sondern ganz klar auf die Studie bezogen.

  2. Eine Aussage wie

    dass es ab 2050 weltweit 10 Millionen Tote pro Jahr durch resistente Keime geben könnte.

    muss der Zeitungsleser zuerst einmal in Beziehung zu einer Referenz setzen, um nur schon folgern zu können, 10 Millionen Tote pro Jahr durch Ursache X, sei eine grosse Zahl. Nimmt man die WHO-Website The top 10 causes of death als Bezug, findet man dort die Aussage, dass im Jahr 2012 weltweit 56 Millionen Menschen gestorben sind, davon 23% an

    Communicable, maternal, neonatal and nutrition conditions collectively were responsible for 23% of global deaths

    Daraus kann man schon einmal folgern, dass im Jahr 2012 weniger als 12 Millionen Menschen an Infektionskrankheiten (communicable disease) gestorben sind. Weiter unten liest man dann noch, dass 1/10-tel aller Todesfälle auf Rauchen zurückgeführt werden können (das wären 5.6 Millionen Tote durch Rauchen 2012) und dass im Jahr 2012 1.5 Millionen Menschen an HIV/AIDS gestorben sind und 900’000 an Tuberkulose. Da HIV/AIDS-Kranke nicht mit Antibiotika behandelt werden können, folgere ich, dass im Jahr 2012 weniger als 10.5 Millionen Menschen weltweit an Infektionskrankheiten gestorben sind, die mit Antibiotika potenziell therapierbar wären. Die meisten der Todesfälle durch Infektionskrankheiten passieren zudem in Entwicklungsländern (und sind dort untertherapiert) wie man dem WHO-Bericht entnehmen kann. Wie kommt man nun (wie extrapoliert man) von den Zahlen für 2012 auf die Zahlen für 2050? Nun, im Jahr 2012 betrug die Weltbevölkerung etwa 7 Milliarden, im Jahr 2050 wird es etwa 9 Milliarden Menschen geben, was einer Zunahme von etwa 30% entspricht. Vergrössert man alle obigen Zahlen um 30% kommt man zur Schlussfolgerung: Wenn im Jahr 2050 10 Millionen Menschen an resistenten Keimen sterben, dann sterben im Jahr 2050 etwa soviel Menschen an resistenten Keimen wie im Jahr 2012 insgesamt an Infektionskrankheiten gestorben sind, woraus man folgern kann, dass dies bedeutet, dass im Jahr 2050 Resistenzen in deutlich mehr als der Hälfte der zum Tode führenden Infektionskrankheiten vorliegen würden.
    Schlussfolgerung: 10 Millionen Tote durch resistente Keime im Jahr 2050 würde bedeuten, dass resistente Keime im Jahr 2050 der Normalfall wären.

    • Ganz so ist es nicht, weil die O’Neill-Studie ja ausdrücklich nicht nur Antibiotika betrachtet; damit werden die Zahlen noch etwas höher. Aber ja: Der schiere Bevölkerungsanstieg, den Sie erwähnen, ist ein Grund, warum mir die auf 2050 bezogene Zahl von 10 Millionen rein vom Überschlagen her so übertrieben nicht schien.

  3. Der SPON-Artikel Die Mär von den zehn Millionen Toten bei dem man im Untertitel liest:

    Die Autoren haben mächtig übertrieben.

    baut diese Beurteilung (“übertrieben”) in folgenden Sätze auf (Zitat aus SPON):

    Das hat jetzt ein Team um die Infektionsforscherin Marlieke de Kraker am Uniklinikum Genf untersucht. Seine Analyse im Fachblatt “Plos Medicine” zeigt: Die Vorhersage hält einer wissenschaftlichen Überprüfung nicht stand. Alles deutet darauf hin, dass die Zahl maßlos übertrieben ist.

    Doch gemäss obigem Artikel von Markus Pössel und meiner eigenen Lektüre des Artikels in “Plos Medicine” enthält der Forschungsartikel die Aussage “Alles deutet darauf hin, dass die Zahl maßlos übertrieben ist.” überhaupt nicht.
    Die SPON-Autoren haben also eine Aussage in einen Fachartikel hineingelegt, die es dort gar nicht gibt. Ein Journalist sollte so etwas nicht tun. Dennoch kann ich mir gut vorstellen, dass die Autoren des Fachartikels den Journalisten gegenüber genau das gesagt haben, dass sie also von Übertreibung gesprochen haben. Zumal meine eigene Abschätzung der Zahl von jährlich 10 Millionen Toten wegen resistenten Keimen ergibt, dass das eine sehr hohe Zahl wäre, wenn man sie mit der Gesamtzahl der heute jährlich und weltweit an Infektionen Sterbenden vergleicht.

    Ich kann auch gut verstehen, warum die SPON-Autoren den ganzen Artikel um die Hauptaussage der “Übertreibung” herum gebaut haben. Ganz einfach: Sie wollten den Leser mit Wissen ausstatten, mit Mehrwissen. Hätten sie dagegen nur geschrieben, die Plos-Studie habe die Unsicherheit über die Anzahl der zu erwartenden Toten wegen resistenten Keimen, erhöht, dann wäre der Leser nicht mit mehr Wissen aus dem Lesen hervorgegangen, sondern mit weniger Wissen. So etwas kann man an der nächsten Party beim Smalltalk nicht benutzen. Für den Smalltalk eignet sich dagegen die Aussage “Die Studien-Aussage ‘Zehn Millionen Toten durch resistente Keime’ ist wieder mal so ein Wissenschaftler-Furz” recht gut.

    • Dazu, woher die Aussage kommt, haben wir ja die Twitter-Aussage von Hristio Boychev: Interviews. Daran ist ja auch nichts schlimmes; wie ich oben auch schreibe: Auch über den Fachartikel hinausgehende Aussagen können interessant sein. Man muss nur klar unterscheiden, was aus der Analyse in dem Fachartikel kommt und was darüber hinaus gehende Meinung ist.

      • Zustimmung, ein Journalist sollte keine falschen Zuschreibungen machen. Bei der SPON-Wissenschaftsberichterstattung muss man zudem fragen, was die SPON-Reporter neben dem Wissen an gesellschaftlich/politischen Aussagen und an Diskurs-Material transportieren wollen. Im Spiegel geht es oft um eine Story, ein Narrativ und das Anstossen eines Diskures und nicht allein um den Transport von Wissen. Die gelegentlichen klima-skeptischen Berichte, die ab und an im SPON auftauchen, interpretiere ich beispielsweise als Taktik um den Diskurs wach zu halten und nicht unbedingt als Ausdruck der Überzeugung des entsprechenden Autors.

    • Dass da nur besseres Smalltalk-Futter geliefert werden sollte, scheint mir doch recht zynisch; das würde ich den beteiligten Journalisten nicht unterstellen. Ich würde den Umstand, dass da nicht sauber zwischen Fachartikelaussagen und weiteren Informationsquellen unterschieden wurde, jetzt auch gar nicht durch Spekulationen über die Motive oder Hintergründe verwässern wollen.

  4. Danke für die Analyse. Mir ist schon vorher aufgefallen, dass Hristio Boychev das Problem der resistenten Keime anscheinend als nicht so wahnsinnig dramatisch sieht und dabei gelegentlich für meinen Geschmack etwas sehr selektiv argumentiert. Der Spiegel scheint auch bei Wissenschaftsthemen tendenziell eine Contrarian-Linie zu fahren, wenn’s um “politische” Themen geht. Passt also ins Bild.

    • Hm. Kann man das wirklich so verallgemeinern? Die weiteren Artikel auf Correctiv zu resistenten Keimen, von Boytchev und anderen, schienen mir eigentlich recht vernünftig. Insofern wäre ich jetzt durchaus bereit, das als (nicht-trivialen) Einzelfall einzustufen…

  5. Was ich hier weniger als Problem sehe, ist dieser eine konkret nachgewiesene journalistische Fehler. Ich stimme Markus Pössel definitiv zu, dass der wissenschaftlichen Publikation falsche Inhalte untergeschoben wurden. Fehler (dürfen) passieren, ob halb-bewusst (via confirmation bias) oder zufällig.

    Was ich als kritisches Problem sehe, ist die aus der Twitter-Kommunikation ersichtliche fehlende Reflektionsfähigkeit bzw. Unwilligkeit des Journalisten, eigene Fehler einzusehen oder zu verbessern. Wer nicht kritikfähig oder offen für Verbesserungen ist, wer glaubt er sei über jeden Zweifel erhaben, wird in Zukunft keine gute Arbeit abliefern.
    (Wahrscheinlich ist der Journalist grundsätzlich kritik- und reflektionsfähig, aber er könnte das noch etwas ausbauen.)

    • Ja, das fand ich auch ärgerlich. Wobei man gerade bei Twitter nicht zuviel hineinlesen sollte; vielleicht ist Herr Boytchev im Prinzip durchaus selbstkritikfähig, war aber in diesem speziellen Falle aus anderen Gründen genervt und daher kurz angebunden.

  6. Diese “Boulevardisierung” greift im Journalismus leider immer mehr um sich, man bemüht sich, mit irgend etwas Reißerischem Leser anzulocken. Manchmal ist es nur eine Übertreibung in der Überschrift, manchmal aber auch mehr. Ich halte es genau so wie der Autor und suche bei Artikeln mit für mich interessante Informationen nach Quellen wie den Originalstudien oder den Abstracts dazu.
    Diese Tendenz gibt es aber im nichtwissenschaftlichen Bereich noch viel ausgeprägter. Im öffentlichen Dokumentenverzeichnis des Bundestages findet man eine Unmenge an Protokollen, Studien und Gesetzentwürfen, wenn man da die Presseberichterstattung mit dem Inhalt der Dokumente vergleicht, dann scheint das auch manchmal nichts miteinander zu tun zu haben. Und wenn diese Interpretation dann noch von dpa oder einer anderen Agentur stammt, dann flutet diese die deutsche Presse- und Medienlandschaft.

Schreibe einen Kommentar