Offener Brief Naturwissenschaften in den Bildungsplänen 2016 (Entwurf)

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… aber nicht einfacher
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In den letzten Wochen hatte ich mich hier mehrmals mit dem neu veröffentlichten Anhörungsentwurf für den Bildungsplan 2016 beschäftigt (Kein Blick über den kosmischen Tellerrand in Baden-Württemberg, Bildungsplan Naturwissenschaft und Technik 2016 in BW: Kontext-Korsett und Durchmarsch der Techniker).

Ceterum censeo: Jeder, der sich für astronomische Inhalte und dafür einsetzen möchte, dass die Technik das Fach “Naturwissenschaft und Technik” nicht komplett dominiert sollte dem Kultusministerium Baden-Württemberg entsprechende Rückmeldung geben – noch ist nichts final!

Und wer die Möglichkeit hat (ich habe sie leider nicht), am 1. Oktober nachmittags zum MNU-Symposium nach Stuttgart zu kommen (bitte online anmelden) sollte dies tun – einige Mitglieder der Bildungsplankommission sind dort direkt ansprechbar.

In der Zwischenzeit gilt es, zu kommunizieren, Briefe zu schreiben – und ich möchte auch wieder einen Offenen Brief schicken. (Einen ersten Offenen Brief hatten wir mit rund 60 Lehrer/innen, Wissenschaftler/innen und anderen im Februar ans Kultusministerium geschickt.) Hier der Entwurf – mit dem Versuch, alles kurz und prägnant zu halten. Feedback jeder Art bitte in den Kommentaren! (Und hier noch eine PDF-Version des Entwurfs.)

Offener Brief: Naturwissenschaften im Bildungsplan 2016

Naturwissenschaften liefern grundlegendes Wissen über unsere Welt. Zwei Schlüsselerkenntnisse der letzten Jahrhunderte sind unsere Einbettung in die Gesamtheit der lebenden Wesen (Evolution) und unsere Verortung im größen räumlichen Ganzen: der Umstand, dass wir auf einem eher kleinen Planeten im großen, weitgehend lebensfeindlichen Weltall leben.

Während die Evolution in den neuen Bildungsplänen eine wichtige Rolle spielt, wurden die Verweise auf unsere Stellung im Kosmos so gut wie komplett entfernt. In der Version von 2004 war die Grundstruktur des Sonnensystems ein selbstverständlicher Teil der Geographie, in allen Versionen des Physikunterrichts standen Weltbilder und Modelle (mit dem Sonnensystem als Beispiel) auf dem Unterrichtsplan; Teil des Faches “Naturwissenschaft und Technik” war, dass sich die Schülerinnen und Schüler der “Stellung des Menschen im System Erde und im Weltall bewusst”, und selbst in der Grundschule boten Überlegungen zur Unendlichkeit des Raums Anknüpfungspunkte zum Nachdenken über unseren Platz im Weltall. Diese Verweise sind in den Bildungsplänen 2016 ersatzlos gestrichen.

Es gibt im physikalischen Themenbereich keine eindringlichere Möglichkeit, die Leitperspektiven nachhaltige Entwicklung (BNE) einerseits, Toleranz und Akzeptanz von Vielfalt (BTV) andererseits zu vermitteln, als mit dem Blick auf die Erde als Planet in den Weiten des Alls. Im astronomischen Kontext wird so unmittelbar deutlich wie nirgends sonst, wie sehr wir auf unser “Raumschiff Erde” angewiesen sind – dass der Globus in der Bildersprache des Umweltschutzes eine zentrale Rolle spielt, ist alles andere als ein Zufall. Beim Blick aus dem All verschwinden die Ländergrenzen und in den Vordergrund rückt, was wir bei all unserer Verschiedenheit gemeinsam haben. Beides haben viele der Bilder, die der in Baden-Württemberg geborene Astronaut Alexander Gerst 2014 von der Internationalen Raumstation ISS aus aufgenommen und u.a. über die sozialen Medien verbreitet hat, eindrücklich gezeigt. Der derzeitige Entwurf lässt die Chancen ungenutzt, die Leitperspektiven BNE und BTV auf diese Weise in Sachkunde, Geographie, Physik und NwT umzusetzen.

Im Bildungsplan Gymnasium von 2004 war das Fach “Naturwissenschaft und Technik” (NwT) ein echtes Verbundfach, das in vier Betrachtungsbereichen Mensch, Umwelt, Erde und Weltraum, Technik Möglichkeiten schuf, wissenschaftliche Themen interdisziplinär zu behandeln. Im Bildungsplan 2016 ist NwT ganz auf die Technik und ihre Anwendungen ausgerichtet worden – Naturwissenschaft kommt dort fast nur als Zulieferer von technikrelevantem Hilfswissen vor. Was engagierte Lehrerinnen und Lehrer in den letzten zehn Jahren an Unterrichtseinheiten z.B. zu Astronomie, Klimawandel oder Medizintechnik entwickelt haben, ist nur noch eingeschränkt nutzbar und im schlimmsten Falle Makulatur.

Die Lehr-/Lernforschung der letzten Jahrzehnte hat aufgezeigt, wie wichtig Kontext für das Lernen naturwissenschaftlicher Themen etwa in Physik oder Biologie sind. Die seit 2004 möglichen Kontexte treten im neuen Bildungsplan NwT sämtlich gegenüber dem Kontext “Wie funktionieren technische Anwendungen?” zurück. Unterricht in den Schülerinnen und Schüler den Studien nach interessantesten Kontexten (u.a. menschlicher Körper, Astronomie) wird dadurch erschwert. Der Kontext technische Anwendungen, dementlang NwT jetzt strukturiert ist, stößt nachweislich bei Schülerinnen auf besonders geringes Interesse – entgegen dem Ziel einer für Schülerinnen und Schüler gleichermaßen attraktiven Unterrichtsgestaltung.

Wir begrüßen ausdrücklich den Umstand, dass es zu den Bildungsplänen Rückmeldungsmöglichkeiten und ein Anhörungsverfahren gibt. Angesichts der genannten Probleme bitten wir die zuständigen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im Kultusministerium dringend:

  • Nehmen Sie den inhaltlichen Kompetenzbereich wissenschaftliche Weltbilder / Erde und Weltraum wieder in die Bildungspläne für NwT, Physik, Geographie und Sachkunde auf – im Sinne der Leitprinzipien BNE und BTV.
  • Schaffen Sie im Bildungsplan NwT Raum für Kontexte wie Astronomie und Klimawandel, die für Schülerinnen und Schüler gleichermaßen interessant sind.
  • Lassen Sie im Bildungsplan NwT die Wissenschaften gleichberechtigt neben die Technik treten, damit NwT ein echtes Verbundfach wird.

Kolophon

Ergänzungs- und Verbesserungsvorschläge zu dem obigen Text bitte in den Kommentaren hinterlassen! Wenn sich bis Ende kommender Woche ein Konsens abzeichnet, würde ich dann (auch hier) beginnen, die Unterzeichner zu erfassen.

Mein derzeitiger Plan ist, dass der Offene Brief sowohl direkt als Rückmeldung beim Kultusministerium eingereicht wird, dass aber, wer den Brief unterstützt, unbedingt auch eine individuelle Stellungnahme (wie gesagt: hier sind die Informationen zum Anhörungsverfahren) abgeben und dabei auf den Offenen Brief verweisen sollte.

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Markus Pössel hatte bereits während des Physikstudiums an der Universität Hamburg gemerkt: Die Herausforderung, physikalische Themen so aufzuarbeiten und darzustellen, dass sie auch für Nichtphysiker verständlich werden, war für ihn mindestens ebenso interessant wie die eigentliche Forschungsarbeit. Nach seiner Promotion am Max-Planck-Institut für Gravitationsphysik (Albert-Einstein-Institut) in Potsdam blieb er dem Institut als "Outreach scientist" erhalten, war während des Einsteinjahres 2005 an verschiedenen Ausstellungsprojekten beteiligt und schuf das Webportal Einstein Online. Ende 2007 wechselte er für ein Jahr zum World Science Festival in New York. Seit Anfang 2009 ist er wissenschaftlicher Mitarbeiter am Max-Planck-Institut für Astronomie in Heidelberg, wo er das Haus der Astronomie leitet, ein Zentrum für astronomische Öffentlichkeits- und Bildungsarbeit, seit 2010 zudem Leiter der Öffentlichkeitsarbeit am Max-Planck-Institut für Astronomie und seit 2019 Direktor des am Haus der Astronomie ansässigen Office of Astronomy for Education der Internationalen Astronomischen Union. Jenseits seines "Day jobs" ist Pössel als Wissenschaftsautor sowie wissenschaftsjournalistisch unterwegs: hier auf den SciLogs, als Autor/Koautor mehrerer Bücher und vereinzelter Zeitungsartikel (zuletzt FAZ, Tagesspiegel) sowie mit Beiträgen für die Zeitschrift Sterne und Weltraum.

4 Kommentare

  1. Ich unterrichte an der Realschule und bin auch in der Hector-Akademie für Grundschüler. Es ist nicht nachzuvollziehen, weshalb gerade die Astronomie so geringschätzig im neuen Bildungsplan nahezu auf Null wegrationalisiert worden ist. Meines Erachtens ist es unverantwortlich, denn die Schüler sind sehr interessiert an der Astronomie und es ist erstaunlich, wie sie durch die Astronomie auch Quereinstiege in ihrem Interesse in die Naturwissenschaften und die Technik entwickeln. Meine Erfahrungen zeigen, dass ich die Astronomie-AG immer teilen muss, weil ich zuviel Interessenten habe und ich keinen Schüler zurückweisen möchte. Aber ich bin auch der Meinung, dass man die Astronomie nicht auf AG’s beschränken darf, denn alle Schüler sollen in astronomischen Themen geschult werden. Die AG’s dienen in der Regel dazu erweitertes Wissen anzubieten. Wenn Themen der Astronomie nicht im Bildungsplan in den verschiedenen Schularten und Schulstufen verankert sind, ist es eine Frage der Zeit, dass dieser wichtige wissenschaftliche Zweig aus der Schule total verschwindet. Das kann nicht das Ziel des neuen Bildungsplanes bezogen auf die MINT – Bildung unserer Schüler sein.

  2. Folgender Satz aus Ihren obigen Anmerkungen
    “Der Kontext technische Anwendungen, dementlang NwT jetzt strukturiert ist, stößt nachweislich bei Schülerinnen auf besonders geringes Interesse…” scheint mir besonders wichtig. Eine Verdeutlichung des “nachweislich” wäre sicher hilfreich.

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