Ein Blick für die Anreize

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… aber nicht einfacher
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Eines der Bücher, die ich letztes Weihnachten geschenkt bekommen habe, ist Freakonomics von Steven D. Levitt und Stephen J. Dubner. Das Buch ist inzwischen schon etwas älter, und ich hatte bereits früher davon gehört; Anlass für den Weihnachtswunsch war dieser Blogartikel hier von Alexandre Afonso zur akademischen Karrierestruktur im Vergleich mit der Karrierestruktur in Drogendealerbanden.

Und damit – mit dem Anlass, nicht den Dealerbanden – sind wir auch schon beim Thema, denn Steven Levitt, seines Zeichens Ökonomie-Professor an der Universität Chicago, interessiert sich (wie andere Ökonomen auch) sehr dafür, warum Menschen so und nicht anders handeln, und insbesondere dafür, welche Anreize das Handeln der Menschen in welcher Weise beeinflussen.

Den Reiz des Buches macht dabei aus, dass Levitt, unterstützt von Dubner, durch diese Brille Daten zu einer ganzen Reihe von Alltagsthemen anschaut, die ihn interessieren – davon, welchen Einfluss Eltern auf ihre Kinder haben über die Faktoren, die Verbrechensraten beeinflussen über das Verhalten von Immobilienmaklern bis hin zu mogelnden Lehrern und Sumoringern.

Ein schönes Beispiel findet sich direkt in Kapitel 1. Da wird von einer Kindertagesstätte berichtet, die Probleme mit Eltern hatte, welche ihre Kinder zu spät abholten, nämlich nach Ende der Betreuungszeit. Die Betreiber dachten sich: Da muss ein Anreiz her. Sie führten eine Geldstrafe ein: drei Dollar für jedes Mal, dass ein Kind mehr als 10 Minuten nach der vereinbarten Zeit abgeholt wurde.

Die Zahl der Eltern, die ihre Kinder zu spät abholten, ging daraufhin nach – oben. Das liegt zum einen daran, dass der Geldbetrag nicht sehr hoch lag. Aber vor allem schienen die Eltern das Zuspätkommen offenbar mit der neuen Regelung von einem ganz anderen Blickpunkt aus zu sehen. Hatte es sich vorher noch um ein moralisches Problem gehandelt (samt hoffentlich schlechten Gewissens, die Erzieher/innen länger arbeiten zu lassen), verwandelte der Geldbetrag das Zuspätkommen in eine wirtschaftliche Transaktion. Prompt war das schlechte Gewissen verschwunden, denn man hatte sich die Verlängerung ja durch die Geldstrafe quasi erkauft – und 18 Dollar pro Stunde Kinderbetreuung sind recht günstig.

Als die Geldstrafe später wieder abgeschafft wurde, veränderte sich die Zahl der zu spät abholenden Eltern nicht. Anscheinend war die Perspektive nach wie vor die gleiche. Zu spätes Abholen war weiterhin kein Grund zu schlechtem Gewissen, sondern eine wirtschaftliche Transaktion, wenn jetzt auch eine deutlich günstigere (kostenlose Verlängerung der Betreuungszeit)!

Ein schönes Beispiel für die Bedeutung von Perspektiven und dafür, dass das mit den Anreizen durchaus auch daneben gehen und das Gegenteil der erhofften Wirkung haben kann.

Dass solche Überlegungen in der Politik ganz entscheidend sind – von der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit bis zu den jüngsten Diskussionen über die straffreie Selbstanzeige bei Steuerhinterziehung und die “Frühpensions-Arbeitslosigkeit”-Nebeneffekte der Rente ab 63 – liegt auf der Hand. Mich hat der Fall vor allem an ein ähnliches Beispiel hier im Haus der Astronomie erinnert. Wir haben hier im letzten Februar erstmals den Astronomiekurs für Lehramtsstudierende Physik-Gymnasium durchgeführt. Eine kurze Beschreibung gibt es hier; der Kurs ist für die Lehramtsstudierenden ein Pflichtkurs; koordiniert wird er von HdA- und SciLogs-Kollegin Carolin Liefke.

Insgesamt hatten wir den Eindruck, dass der Kurs bei den Studierenden sehr gut ankam, und durchaus gewürdigt wurde, was wir in die Vorbereitung und Durchführung investiert hatte. Nur an einer Stelle schlug die Stimmung um. Wenn für Kurse Leistungspunkte vergeben werden – und das ist bei einem Pflichtkurs wie unserem der Fall – dann muss es auch einen individuellen Leistungsnachweis geben. In jenem Jahr hatten wir uns für Übungsaufgaben entschieden, welche die Studierenden rechnen sollten. Wir hatten die Übungsaufgaben so gewählt, dass sie den vermittelten Stoff des Kurses direkt vertiefen würden, in der Hoffnung, dass die Aufgaben eben nicht als lästige Pflicht gesehen werden würden, sondern als nützliche Ergänzung zu den Vorlesungen des Kurses.

Letzteres war, inzwischen wissen wir’s natürlich auch, deutlich zu optimistisch. Der Effekt dürfte genau analog zu dem bei der Kindertagesstätte gewesen sein: Sobald es um die Vergabe von Punkte geht, werden Übungsaufgaben von vielen Studierenden offenbar aus einer ganz anderen Perspektive gesehen – nicht als ein Angebot, sein Wissen zu vertiefen, sondern eben als Aufgabe, die zum Bestehen des Kurses nötigen Punkte zusammenzubekommen. Aus dieser Perspektive sind effizienzsteigernde Maßnahmen – Aufteilen der Aufgaben zwischen mehreren Studierenden, Aufgaben nur dann machen, wenn man zum Bestehen noch Punkte benötigt, im Extremfall auch Abschreiben – durchaus sinnvoll, selbst wenn sie dem Zweit-Zweck der Aufgaben (Wissen für jeden der Kursteilnehmer/innen vertiefen) direkt entgegenstehen.

Wo die Prioritäten lagen, zeigte sich besonders deutlich bei Nachbesprechungen. Rückfragen, um den der Korrektur nach offenbar nicht richtig verstandenen Stoff doch noch zu begreifen, erinnere ich gar keine. Diskussionen und Feilschen um die Punktzahlen gab es eine ganze Menge.

Wie bei der Tagesstätte machte sich bemerkbar, dass Menschen die Dinge, die sie betrachten, in Schubladen einordnen – und dass das Einordnen in zwei Schubladen gleichzeitig ähnlich selten ist wie bei wirklichen Schubladen. Hat man die Übungsaufgaben in die Schublade “Ziel: Punkte bekommen” eingeordnet, dann läuft man Gefahr, dass die Übungsaufgabe als Möglichkeit, das eigene Wissen zu vertiefen, allenfalls noch Nebensache ist.

Durch die Bepunktung hatten wir auch in diesem Falle und zumindest bei einigen Studierenden das, was wir mit den Aufgaben eigentlich bewirken wollen – vertiefte Beschäftigung zum besseren Verständnis -, eher noch behindert. Ein ungünstig gewählter Anreiz eben. Dementsprechend versuchen wir es dieses Jahr anders: Mit individuellen mündlichen Prüfungen als Leistungsnachweis, und mit Übungsaufgaben als maßgeschneiderte Vorbereitung auf eben diese mündlichen Prüfungen.

Mal schauen, ob das so klappt, wie wir es uns vorstellen. Ich fand Freakonomics jedenfalls durchaus lohnenswert. Und gehe jetzt hoffentlich mit offeneren Augen durchs Leben, was Anreize angeht – und das, was dabei schiefgehen kann.
(P.S.: Der Folgeband Superfreakonomics fiel dagegen leider etwas ab – das betrifft auch, aber nicht nur, den Umgang mit der Klimawandel-Problematik; einige kritische Stimmen dazu z.B. hier, hier und hier.)

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Markus Pössel hatte bereits während des Physikstudiums an der Universität Hamburg gemerkt: Die Herausforderung, physikalische Themen so aufzuarbeiten und darzustellen, dass sie auch für Nichtphysiker verständlich werden, war für ihn mindestens ebenso interessant wie die eigentliche Forschungsarbeit. Nach seiner Promotion am Max-Planck-Institut für Gravitationsphysik (Albert-Einstein-Institut) in Potsdam blieb er dem Institut als "Outreach scientist" erhalten, war während des Einsteinjahres 2005 an verschiedenen Ausstellungsprojekten beteiligt und schuf das Webportal Einstein Online. Ende 2007 wechselte er für ein Jahr zum World Science Festival in New York. Seit Anfang 2009 ist er wissenschaftlicher Mitarbeiter am Max-Planck-Institut für Astronomie in Heidelberg, wo er das Haus der Astronomie leitet, ein Zentrum für astronomische Öffentlichkeits- und Bildungsarbeit, seit 2010 zudem Leiter der Öffentlichkeitsarbeit am Max-Planck-Institut für Astronomie und seit 2019 Direktor des am Haus der Astronomie ansässigen Office of Astronomy for Education der Internationalen Astronomischen Union. Jenseits seines "Day jobs" ist Pössel als Wissenschaftsautor sowie wissenschaftsjournalistisch unterwegs: hier auf den SciLogs, als Autor/Koautor mehrerer Bücher und vereinzelter Zeitungsartikel (zuletzt FAZ, Tagesspiegel) sowie mit Beiträgen für die Zeitschrift Sterne und Weltraum.

5 Kommentare

  1. Die Sache mit dem Anreiz spricht ein Symptom an , das sich wie ein Virus ausbreitet , das Ende der Freiwilligkeit , eine Ideologie , die glaubt , Menschen würden etwas nur dann tun , wenn man ihnen ordentlich in den Allerwertesten tritt , ein gefährlicher Irrweg , den wir in allen Bereichen der Gesellschaft seit einiger Zeit beschreiten , vom kommunalen Kontrollwahn über Hartz 4 bis hin zur Bologna – “Reform”.

  2. Neben dem Anreiz gibt es noch den nudge, also eine Form des libertären Paternalismus mit dem man Leute dazu verführt das Richtige zu tun. Das Buch Nudge widmet sich vor allem dem Gesundheits- und Essverhalten und bringt als Beispiel etwa, dass mehr Früchte und weniger reine Süssigkeiten gegessen werden, wenn man die Früchte im Selbstbedienunsrestaunt leichter erreichbar platziert. Man könnte dieses Rezept auch auf Übungsaufgaben anwenden indem man beispielsweise bei den von den Autoren als besonders wichtig erachteten Übungsaugaben erwähnt, dass diese Übung nicht nur viel Punkte gibt, sondern auch bestens auf die mündliche Prüng vorbereite. Aber in diese Richtung gehen die obigen Überlegungen ja schon.

  3. Die Wirkung von “Bußgeld” fürs Zuspätkommen in der Kita kenn ich schon. Man hat sich eben tatsächlich freigekauft, weshalb nicht die Motivation stimmuliert wurde, sich zu bessern, sondern das Gewissen entlastet. Umgangspragmatisierung.

    Hier ist also ein sogenanntes “Bußgeld” Auslöser zur Korrumpierung des Menschen. Sich freikaufen zu können, war schon Luthers Kritik am Katholizismus seiner Zeit. Wir kennen das alle. Und kaufen uns überall frei. Im Strassenverkehr, vor Gerichten, auch bei Dienstleistungen ist es entfernt ein “Freikaufen” von der Pflicht, sein Ding zu machen (und nicht andere zu belasten). Der Zins gehört auch noch dazu.

    So ist der Begriff “Bußgeld” plötzlich ein Euphemismus.

    Und aber weil das so ist, … es dieses Freikaufen gibt, entsteht eine weitere Ebene der Schuldigkeit und der Sünde oberhalb der wahren Schuldigkeit. Blöd ausgedrückt. Aber es führt dazu, dass durch das Freikaufen trotzdem ein Gewissenkonflikt entsteht, der sich aber auf andere Lebensbereiche auswirkt. Das ist die Ursache von Fundamentalismus, von Überinterpretation und von Übererfüllung (eben in anderen Bereichen). Das “Sündenkonto” hat seinen Spielraum, der dann aber anderweitig um so mehr verteidigt wird (durch Erstreiten oder durch größere Mühen der Erfüllung).

    So entstand eben das “Bagatelldelikt”… Kavaliersdelikt – und ist auch noch produktiv. Bei Prüfungsaufgaben geschieht ähnliches. Pflicht und Kür werden hier ethisch gesehen dadurch vertauscht , dass das Vertragsverhätlnis eingeführt wurde (im Szenario der Bewertungsstrategie / Benotung).

    Ansich auch Grundstruktur der Spezialisierung in Hochkulturen. Man geht davon aus, dass aufgrund der Fülle an Alltagskomplikationen nicht mehr alle alles jederzeit wissen und sich danach verhalten können. Es aber einerseits nicht geduldet werden kann und andererseits eben ein Hebel zur speziellen Verbesserung in anderem Bereich sei.

    Interessant wird es aber erst richtig, wenn das Bezahlen der Geldstrafe zur Kür wird, weil man es sich leisten kann.
    Geldstrafen also müssten niedrig sein, damit diese Systematik funktioniert. Und sich möglichst viele das leisten können (o.k., das ist spekulativ und wohl ohne verlässlichkeit – aber hohe Strafen führen sicher auch zur Demoralisierung – in der relativen Straffreiheit bei Selbstanzeige zu Steuerhinterziehung steckt die selbe Systematik). Daher gibts ja wohl auch die individuellen Tagessätze im Gerichtswesen, die an die wirtschaftlichen Verhätlnisse angepasst werden. Sozusagen damit die Versuchung siegt, sich diesem System nach zu versündigen und in anderen Lebensbereichen das Gewissen zu bereinigen (also ein besserer Mensch zu werden, als bisher und dort mehr zu leisten).

    Diese religiöse Perspektive in der weltlichen Organisation ist nicht umsonst eingebaut oder sowieso existent und stillschweigend “hingenommen”. Da kann man noch so auf Religionen schimpfen, in vielen ontologischen Grundstrukturen hat sie eben doch recht.

  4. Wir hatten die Übungsaufgaben so gewählt, dass sie den vermittelten Stoff des Kurses direkt vertiefen würden, in der Hoffnung, dass die Aufgaben eben nicht als lästige Pflicht gesehen werden würden, sondern als nützliche Ergänzung zu den Vorlesungen des Kurses.

    Durch die Bepunktung hatten wir auch in diesem Falle und zumindest bei einigen Studierenden das, was wir mit den Aufgaben eigentlich bewirken wollen – vertiefte Beschäftigung zum besseren Verständnis -, eher noch behindert.

    Ich glaube, das liegt aber grundsätzlich eher im System Hochschule begründet, wie es seit Bologna ist. Nach dem, was ich bisher so darüber gelesen habe, haben die meissten Studenten doch gar nicht mehr die Zeit, sich wirkich intensiv mit dem Stoff auseinander zu setzen, selbst wenn er sie interessiert, weil sie zu viel in zu kurzer Zeit bewältigen müssen. Deshalb diese Konzentration auf die nötigen Punkte. – Steht da nicht auch noch irgendwas mit Sanktionen im Hintergrund? – Wer pro Semester nicht mindestens soundsoviele Punkte erreicht, “darf” das Studium beenden, oder so ähnlich?
    Von daher, und jetzt komm ich zur Ökonomie, geht es den meissten doch erst mal nur darum, das Pflichtprogramm zu erfüllen, damit die ökonomischen Forderungen erfüllt sind, also die nötigen Punkte erreicht werden. Wenn dann noch Zeit ist, kann man evtl. noch über eine Kür nachdenken. Aber auch erst dann und nicht vorher. Das hat zwar mit Humbold (Humboldtsches Bildungsideal) nichts mehr zu tun und wirkt Volkswirtschaftlich über grosse Zeiträume betrachtet sicherlich eher als Innovationsbremse statt als Innovationsmotor, aber das ist ein anderes Thema, dass man einigen Leuten aus Berlin und insbesondere einigen aus Gütersloh klar machen muss. – Aber gerade bei letzteren scheint es mir eher vergeblich zu sein, bzw. die wissen es wahrscheinlich ganz genau, wollen aber aus ideologischen Gründen dabei bleiben; – sie haben es ja auch aus ideologischen Gründen eingeführt, bzw. einführen lassen. Aber damit wären wir bei der Politik…

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