Ein Diagramm sagt mehr als 183,487 Bilder

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… aber nicht einfacher
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Im Vergleich mit astronomischen Bildern (ich hatte ja in meiner Serie Astronomisches Grundwissen eine ziemlich repräsentative Auswahl gezeigt) haben es Diagramme, Plots und Graphen schwer. Schönen Bildern kann jeder sofort etwas abgewinnen. Diagramme offenbaren ihre Schönheit erst, wenn man sie lesen kann – dann sagen sie aber meist viel mehr als Bilder. Astronomische Bilder zeigen einzelne Himmelsregionen, eine Auswahl individueller Objekte, mitunter auch nur ein einziges Objekt im Detail. Astronomische Diagramme dagegen können in kompakter Form Teile unseres Wissens darüber ausdrücken, was es mit diesen Objekten auf sich hat.

Hier ist ein Diagramm, in dessen Visualisierung ich letzte Woche einige Zeit investiert habe. Die Daten und die Originalversion des Diagramms stammen aus diesem Artikel von Michael Blanton et al. 2003; es dürfte das erste halbwegs vollständige Examplar seiner Art sein. Dargestellt ist, wie häufig verschiedene mögliche Farben bei Galaxien vorkommen.

Hier ist erst einmal eine pädagogische Version mit Hilfslinien, gedacht für Leser, die nicht gewohnt sind, mit Diagrammen dieser Art (“Histogrammen”) umzugehen

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Die Bildfläche wird hier durch viele vertikale Linien unterteilt. Die Abteilungen kann man sich als Behälter vorstellen, etwa als durchsichtige Glaskolben, die hier sämtlich von der Seite zu sehen sind. Um das Diagramm zu füllen, haben sich die Astronomen eine Vielzahl von Galaxien in einem bestimmten Himmelsbereich angesehen, nämlich Galaxien, die bei einer Durchmusterung namens Sloan Digital Sky Survey (SDSS) erfasst wurden.

Diese Galaxien sind in der Mehrzahl so weit entfernt, dass die Bilder davon eher verwaschen und nicht sehr detailreich sind. Hier sind ein paar Beispiele, deren Bilder ich mit dem SkyServer Tool des SDSS geholt habe; Galaxien, deren Licht 1,3 Milliarden Jahre braucht, um uns zu erreichen:

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Auch wenn man keine Details erkennen kann: Deutlich wird schon an diesem Bild, dass man jeder Galaxie so etwas wie eine Farbe zuordnen kann. Welche Farben das sind, zeigen die gefüllten Portionen der Abteilungen des Histogramms oben an. In unserem Bild mit den nebeneinander aufgestellten Glaskolben würde der Astronom für jede der Galaxien eine genau so gefärbte Murmel nehmen und sie in den richtigen Glaskolben werfen – den Glaskolben für eben diese Farbe.

Die Astronomen haben für dieses Diagramm (und weitere) insgesamt 183,487 Galaxienfarben ausgewertet. Sind alle Galaxien zugeordnet, haben die unterschiedlichen Glaskolben unterschiedliche Füllstände: Hoch, wenn es besonders viele Galaxien der betreffenden Farbe gibt, niedrig, wenn es weniger sind.

Wie häufig jeder der Farbtöne ist, kann man ablesen, wenn man vom Füllstand waagerecht nach links hinüber zur y-Achse geht: Ist der Füllstand z.B. auf der gleichen Höhe wie der mit “4%” markierte Strich, befinden sich gerade 4 Prozent der erfassten Galaxien in dem betreffenden Glaskolben.

Nach diesen Vorbereitungen können wir die senkrechten Hilfslinien auch weglassen. Die Informationen, die das Diagramm liefert – die Breite der Abteilungen und ihr jeweiliger Füllstand – kann man auch ohne sie ablesen. Damit sieht das Diagramm schon eher so aus, wie es z.B. in einem astronomischen Fachartikel erscheinen würde:

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Die Färbung habe ich beibehalten, auch wenn man sie in einem Fachartikel wahrscheinlich nicht finden würde. Für dessen Leserschaft würden die Bezeichnungen unten an der x-Achse ausreichen, um den hier interessierenden Aspekt der Farbe zu beschreiben. Da die Astronomen in punkto Helligkeiten, Färbungen etc. allerdings ein sehr eigenes, gewöhnungsbedürftiges System benutzen, lasse ich diese Details hier weg; orientieren Sie sich einfach weiterhin an den eingezeichneten Farben. 

Und was sagt uns das Ganze? Deutlich ist zu erkennen, dass das Diagramm zwei Maxima (zwei Berggipfel) hat: eines links am bläulichen Ende, eines rechts in der orange-roten Region. Wenn alle Galaxien im wesentlichen die gleiche Farbe hätten, mit einigen Abweichungen in die bläuliche und die rötliche Richtung, würden wir nur ein Maximum erwarten. Zwei Maxima bedeuten, dass es offenbar zwei Klassen von Galaxien gibt: eher bläuliche und eher rötliche. 

Galaxien erhalten ihre Gesamtfarbe weitgehend von ihren Sternen. Eine bläuliche Galaxie enthält hinreichend viele bläuliche Sterne. Die sind heißer als rötliche Sterne. (Man denke an Metall, das erhitzt wird: Zunächst glüht das Metall rötlich, dann orange, dann wird es weißglühend; wenn man es noch weiter erhitzen könnte, würde es bläulich leuchten.)

Heiße Sterne besitzen typischerweise (“auf der Hauptreihe”) mehr Masse als kühlere, und sie sind sehr schnellebig – ab einer gewissen Masse endet ihr Leben bereits nach deutlich weniger als einer Million Jahren. Im Vergleich zu der geschätzten Lebenszeit unserer Sonne von rund 10 Milliarden Jahre ist das nicht mehr als ein kosmischer Augenblick.

Das heißt aber auch: Um bläulich zu leuchten, braucht eine Galaxie immer wieder neue bläuliche Sterne, denn die bereits vorhandenen halten nun einmal nicht sehr lange. Bläuliche Galaxien sind daher solche, in denen Sterne entstehen – natürlich nicht nur bläuliche Sterne, sondern Sterne jeglicher Couleur.

In rötlichen Galaxien entstehen dagegen kaum neue Sterne. Nur so ist zu erklären, dass die Galaxie nicht als Ganzes weißlich oder bläulich leuchtet. Bei solchen Galaxien sind nur die rötlichen Sterne übrig, und die sind typischerweise kühler, dafür dann aber auch sehr, sehr langlebig. Entstehen keine neuen Sterne, dann sind die kurzlebigen Sterne nach entsprechend kurzer Zeit verschwunden, und nur die langlebigeren, sprich: rötlichen bleiben übrig.

Der Umstand, dass es diese beiden Klassen von Galaxien gibt – sternbildend oder “rot und tot” ist eine wesentliche Triebkraft hinter den aktuellen Bemühungen, die Galaxienentwicklung zu verstehen. Wie kommt es zu dieser Zweiteilung? Wovon hängt es ab, ob eine Galaxie das eine oder das andere ist? Welche Faktoren regulieren die Sternentstehung – Materialknappheit? Mechanismen, die Sternentstehung unterdrücken? Können Galaxien vom einen Modus in den anderen “umschalten”, und wenn ja, in eine oder beide Richtungen, und warum? Solche Fragen stecken z.B. hinter Forschung wie dieser hier zum galaktischen Recycling und letztlich wahrscheinlich hinter einem Großteil dessen, was z.B. die Abteilung Galaxien und Kosmologie am Max-Planck-Institut für Astronomie, mit dem unser Haus der Astronomie verbandelt ist, macht.

Das macht Diagramme wie dieses hier zu sehr machtvollen Werkzeugen. In der Regel stehen sie aber im Schatten der astronomischen Bilder. Mit einigen wenigen Ausnahmen – etwa das Hertzsprung-Russell-Diagramm, das für das Verständnis der Sternentwicklung eine ähnliche Rolle gespielt hat wie das hier gezeigte Diagramm für die Galaxienentwicklung, oder das Hubble-Diagramm, das die Expansion des Universums kartiert – sind sie weitgehend unbekannt. Und das ist schade.

Vielleicht kennen einige Leser ja faszinierende astronomische Diagramme, die ebenfalls ein weiteres Publikum verdienen würden? Über entsprechende Hinweise in den Kommentaren würde ich mich freuen!

 


Ein englisches Pendant dieses Blogbeitrags gibt es als Gastbeitrag auf Universe Today. Hintergründe zu meiner Umsetzung des Diagramms von Blanton et al. 2003 und insgesondere zur Systematik der Farbgebung gibt es (auf englisch) hier. Die gleiche Seite enthält verschiedene Versionen zum Herunterladen und das Python-Skript, mit dem ich das Diagramm erzeugt habe. Falls sich jemand fragt, ob die kosmologische Rotverschiebung eine solche Ordnung-nach-Farbe stört: diesen Effekt haben die Astronomen für dieses Diagramm bereits herausgerechnet. Die Farben sind so dargestellt, als würde das Licht der Galaxien 1,3 Milliarden brauchen, um uns zu erreichen, sprich: als befänden sich sämtliche Galaxien bei einer Rotverschiebung z=0,1. Ich danke Kate H.R. Rubin für den Hinweis auf dieses Diagramm und für hilfreiche Diskussionen.

 

 

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Markus Pössel hatte bereits während des Physikstudiums an der Universität Hamburg gemerkt: Die Herausforderung, physikalische Themen so aufzuarbeiten und darzustellen, dass sie auch für Nichtphysiker verständlich werden, war für ihn mindestens ebenso interessant wie die eigentliche Forschungsarbeit. Nach seiner Promotion am Max-Planck-Institut für Gravitationsphysik (Albert-Einstein-Institut) in Potsdam blieb er dem Institut als "Outreach scientist" erhalten, war während des Einsteinjahres 2005 an verschiedenen Ausstellungsprojekten beteiligt und schuf das Webportal Einstein Online. Ende 2007 wechselte er für ein Jahr zum World Science Festival in New York. Seit Anfang 2009 ist er wissenschaftlicher Mitarbeiter am Max-Planck-Institut für Astronomie in Heidelberg, wo er das Haus der Astronomie leitet, ein Zentrum für astronomische Öffentlichkeits- und Bildungsarbeit, seit 2010 zudem Leiter der Öffentlichkeitsarbeit am Max-Planck-Institut für Astronomie und seit 2019 Direktor des am Haus der Astronomie ansässigen Office of Astronomy for Education der Internationalen Astronomischen Union. Jenseits seines "Day jobs" ist Pössel als Wissenschaftsautor sowie wissenschaftsjournalistisch unterwegs: hier auf den SciLogs, als Autor/Koautor mehrerer Bücher und vereinzelter Zeitungsartikel (zuletzt FAZ, Tagesspiegel) sowie mit Beiträgen für die Zeitschrift Sterne und Weltraum.

10 Kommentare

  1. Hubble-Diagramm

    Das Hubble-Diagramm war für die Expansion des Universums unheimlich wichtig. Dies ist aber nicht ganz so unbekannt.

  2. Dunkle Materie

    Ein anderes Beispiel für ein Diagramm wäre die gemessene Abhängigkeit der Umlaufgeschwindigkeit von Sternen in Abhängigkeit vom Galaxienzentrum, siehe z. B.
    hier.

  3. youtube und Nicht-Urknall

    Die Lichtermüdungstheorie aufgefrischt am “7.7.11” als neue/widerlegte Erklärung der Rotverschiebung war schon zuvor nicht plausibel.
    Wie will man die scharfen deep-field-Aufnahmen mit der im Video unterstellten (starken) Compton-Streuung (ungerichtet) erklären? – wir würden gegen einen im optischen milchigen Ereignishorizont blicken, ohne weit entfernte Objekte im Detail zu erkennen, Gravitationslinsen wären eher ungeputzte Brillen.
    Außerdem basiert die Geschwindigkeits- und Entfernungsbestimmung nicht allein auf der Rotverschiebung, das Video unterschlägt schlichtweg die sehr wohl berücksichtigten Einflüsse wie Streuung und Absorption. Aus der Rotverschiebung der Galaxien ergibt sich bereits die Geschwindigkeit, aus der Helligkeit von Supernovae (korrigiert) die Entfernung.
    Die Expansion erkennt man aber auch direkt am Helligkeitsverlauf bzw. an der Lebensdauer weit entfernter Supernovae, die aufgrund der kosmologischen Zeitdilatation größer ist als im Ruhesystem.
    Nach dem Verfallsdatum 7.7.11 widerlegen auch die ersten Ergebnisse von RadioAstron die Behauptungen im Video. Nach bisherigem Veständnis sollten weit entfernte kompakte Quellen aufgrund der Streueffekte im interstellaren und intergalaktischen Medium tatsächlich “aufgebläht” erscheinen. Entgegen den Erwartungen konnten sie aber “punktscharf” aufgelöst werden, das Medium ist durchsichtiger als angenommen, was zukünftig Speckle-Interferometrie im Radiobereich erlauben dürfte. Alles in allem keine Spur von Lichtermüdung zu erkennen.
    Die “Müdemeinung” wird nichtmal mit einfachsten rechnerisch plausiblen Belegen gestützt, 50 Jahre alte Autoritätsmeinungen sind durch die neueren Ergebnisse längst überholt.

  4. Compton-Effekt und Rotverschiebung

    Es wimmelt nur so von Elektronen (oder anderen geladenen Teilchen) im zwischenstellaren Raum. Es ist ganz klar, dass das Licht mit diesen Elektronen oder mit Feldern von diesen wechselwirken muss (wurde bereits vor Jahren von Paul Marmet angesprochen). Die angebliche beschleunigte Expansion ist ebenfalls mit Compton-Effekt voll kompatibel. Auf der anderen Seite widerspricht die beschleunigte Expansion der Theorie vom endlichen Weltall.

  5. wieviel ist Wimmeln oder ab wann

    Im intergalaktischen Medium IGM haben wir so an die 10 Atome/Ionen auf den m³, die sind photoionisiert, nicht stoßionisiert. In den Voids zwischen den baryonischen Strukturen haben wir vielleicht 1 Atom im m³, vielleicht auch dunkle Materie, sonst dunkle Energie oder die kosmologische Konstante. Alles schwer zu messen wegen den schwachen Auswirkungen auf die elektromagnetische Strahlung, weil nichts rumstößt. Schauen wir mal in den Lyman-Alpha-Wald und suchen den Gunn-Peterson-Trog. Plasma schwächelt, ist also keine taugliche Erklärung für die Rotverschiebung, schließlich zeigt auch der CBM trotz seines hohen Alters immer noch Planckverteilung ohne “Falten”.
    Ist Paul Marmet der, von dem die “Kritiker” seine widerlegten Theorien abschreiben meist ohne Quellenangabe?

  6. Bunte Haufen

    Markus Pössel schrieb (09. Mai 2013, 23:20):
    > Die Daten und die Originalversion des Diagramms stammen aus diesem Artikel von Michael Blanton et al. 2003 [The Astrophysical Journal, Volume 594, Issue 1, pp. 186-207 …] Dargestellt ist, wie häufig verschiedene mögliche Farben bei Galaxien vorkommen.

    > Die Astronomen haben für dieses Diagramm (und weitere) insgesamt 183,487 Galaxienfarben ausgewertet.

    Hmm …
    Nach dem Untertitel des Diagramms zu urteilen, wurden wohl (eher) 183’487 beobachtete Galaxien hinsichtlich ihrer Farbe bewertet (wobei das im SciLog-Beitrag gezeigte Histogramm offenbar “nur knapp fuffzig” Farbwerte als “Behälter” bzw. Bins unterscheidet, aber der Artikel ja noch einige andere Farb-Bewertungen beschreibt).

    > Und was sagt uns das Ganze? Deutlich ist zu erkennen, dass das Diagramm zwei Maxima (zwei Berggipfel) hat: eines links am bläulichen Ende, eines rechts in der orange-roten Region.

    Ganz genau betrachtet könnte man durchaus fünf einzelne (relative) Maxima bzw.

    Berggipfel(-chen)” erkennen. Deutlich (d.h. hier vier oder mehr Bins breit zuzuordnen) sind jedenfalls die bläuliche Anhäufung links, die orange-rote Anhäufung rechts, getrennt von einem “Tal” mit durchweg geringeren Fullständen.

    > […] dass es offenbar zwei Klassen von Galaxien gibt: eher bläuliche und eher rötliche.

    Basierend auf dem gezeigten Histogramm kommt sicher auch mindestens eine dritte Klasse in Frage: diejenigen, die sich nicht so spezifisch auf “eher bläulich” oder “eher rötlich” festlegen lassen. Enthält der genannte Artikel quantitative Bewertungen hinsichtlich der Klassifizierung?

    p.s.
    xkcd hat recht vielsagende Bilder zum Thema “Diagramm” gezeichnet …

  7. @Frank Wappler / Diagramme verstehen 😉

    Nun ja, das Diagramm zeigt etwas, das

    […] bestand zum größten Teil aus einem Berg mit zwei Gipfeln, einem hohen und einem, der etwas niedriger war. […] Und oben auf dem Berg zwischen den beiden Gipfeln stand ein Schloß.

    Es handelt sich hier zweifellos um eine graphische Darstellung von Lummerland.

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