Was Higgs-Bosonen nicht können

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Gedanken eines Experimentalphysikers
Quantenwelt

Dass Higgs-Bosonen nicht den Titel Gottesteilchen verdienen, sollte den Leserinnen und Lesern dieses Blogs einleuchten. Teilchenphysiker/innen suchen nicht nach allwissenden und mächtigen Wesen, sondern nach Elementarteilchen mit ganz konkreten Eigenschaften. Diese Teilchen können nicht alles, sie zerfallen nicht beliebig, sondern nach ganz bestimmten Regeln. Alles können sie nicht.

Immer wieder stolpern wir über die Frage, was denn der Large Hadron Collider (LHC) am CERN machen soll, wenn das Higgs-Boson erst einmal zweifelsfrei entdeckt ist und keine weiteren Teilchen auftauchen. Die einfachste Antwort darauf ist natürlich: Weitersuchen. Vielleicht finden sich ja bei näherem Hinsehen – also wenn mehr Daten genommen sind – weitere Teilchen, die noch unscheinbarer sind als das Higgs-Boson.

Ein weiteres Forschungsgebiet des LHC wird es sein, das Higgs-Boson genauer zu untersuchen. Dabei ist nicht nur interessant, was man in den Daten findet, sondern auch, was man nicht findet. In der Zeitschrift Physical Review Letters vom 22. Juni habe ich dazu einen interessanten Artikel entdeckt. Der Artikel steht unter der Creative Commons Lizenz und kann hier frei heruntergeladen werden.

Die zahlreichen Autorinnen und Autoren von A wie G. Aad bis Z wie L. Zwalinski aus 176 Instituten beschreiben auf fünf Seiten, wie die Suche nach einem möglichen Zerfall des Higgs-Bosons aussehen kann und wie man so die Existenz bestimmter Teilchen ausschließen kann. Weitere dreizehn Seiten sind der Autorenliste vorbehalten.

Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der ATLAS-Kooperation, also die Leute um einen der beiden großen Universaldetektoren, besprechen hier die Möglichkeit, dass 120 oder 140 Giga-Elektronenvolt schwere Higgs-Bosonen in ein Paar schwere Teilchen zerfallen könnte, die recht stabil und damit langlebig sind. Solche Teilchen sind im Standardmodell der Elementarteilchenphysik nicht vorgesehen. Schwere Teilchen, die durch eine der bekannten Wechselwirkung entstehen und zerfallen, sollten sehr kurzlebig sein. Wenn es aber eine weitere Wechselwirkung gibt, von der die Physik noch nichts weiß, dann könnte sie sich durch sehr schwere, sehr langlebige Teilchen bemerkbar machen.

Um nachzuweisen, ob eine bestimmte Art von Teilchen existiert, gibt es zwei Möglichkeiten. Entweder man findet ihren Zerfall in den Daten eines Experimentes, oder man weist nach, dass das Experiment exakt genug ist, um eine Teilchenart zu finden, die in den Daten nicht zu sehen ist. Im ersten Fall hat man die Existenz der Teilchen nachgewiesen, im zweiten Fall hat man bewiesen, dass es Teilchen der gesuchten Art nicht gibt. Das vorliegende Experiment ist von der zweiten Art. Es schließt eine Klasse von Teilchen aus. Das ist deswegen physikalisch bedeutend, weil so auch eine Reihe von Theorien wiederlegt sind, die solche Teilchen vorhersagen. Wenn eine Theorie solche Teilchen ergibt, kann man sie also fallenlassen und muss in die Richtung nicht weiterforschen. Bei der Vielzahl von Möglichkeiten, wie das Standardmodell erweitert werden könnte, ist solch eine Erkenntnis wichtig.

Die großen Univeralexperimente ATLAS und CMS bestehen aus vielen komplexen Detektorsystemen. Jeder Detektor ist für den Nachweis bestimmter Arten von Teilchen optimiert. Spurdetektoren stellen fest, auf welchen Bahnen sich Teilchen im Magnetfeld bewegen, Kalorimeter messen die Energie bestimmter Teilchenarten. Um zu überprüfen, ob bestimmten Teilchen in den Experimenten gefunden werden können, haben die Experten Simulationsprogramme geschrieben, die das Verhalten bestimmter Teilchen im Experiment simulieren.

Solche sogenannten Monte-Carlo-Simulationen haben die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler mit vier Kombinationen von Teilchenenergien durchgeführt. Sie haben alle vier Kombinationen überprüft, bei denen die Higgs-Bosonen entweder 120 oder 140 Giga-Elektronenvolt und die schweren, langlebigen Teilchen entweder 20 oder 40 Giga-Elektronenvolt schwer sind. Diese Simulationen werden dann mit derselben Auswertestrategie bearbeitet, mit der auch die tatsächlichen Daten bewertet werden. So können die Physikerinnen und Physiker abschätzen, wie empfindlich das Experiment für die gesuchten Teilchen ist.

Die gesuchten schweren Teilchen selbst wären im Experiment zunächst unsichtbar. Weil sie ungeladen sind und nicht über die bekannten Kernkräfte wechselwirken, hinterlassen sie selbst in den Detektoren keine Spuren. Sie hätten aber eine charakteristische Flugstrecke nach der sie in nachweisbare Elementarteilchen zerfallen. Diese charakteristische Flugstrecke haben die Forscherinnen und Forscher variiert und dabei herausgefunden, dass Teilchen der untersuchten Art mit Zerfallslängen zwischen 1,60 und 15,8 Meter im ATLAS-Experiment während der Betriebsphase 2011 entdeckt worden wären. Die Existenz dieser Teilchen kann man also ausschließen. Sollten die gesuchten Teilchen mit 20 Giga-Elektronenvolt relativ leicht sein, so kann man sogar Zerfallslängen bis hinunter zu einem halben Meter ausschließen und für alle außer der 140/20-Kombination könnte ATLAS Teilchen mit Zerfallslängen von bis über 20 Meter nachweisen. Für die 140/40-Kombination bis zu 26,75 Meter.

Natürlich sollten die Teilchen auch dann zu finden sein, wenn ihr Energie zwischen den untersuchten Werten oder nahe dran liegt.

Ich finde solche Experimente mit negativem Ausgang faszinierend, denn es erfordert eine Zusammenarbeit aus Theorie, Simulation und Experiment um zweifelsfrei nachzuweisen, dass eine Teilchenart nicht existiert. Der Nachweis der Existenz einer Teilchenart ist leichter vermittelbar, weil man sie unmittelbar in den experimentellen Daten sieht. Aber der Erkenntnisgewinn ist auch bei einem negativen Ausgang der Suche erheblich.

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Joachim Schulz ist Gruppenleiter für Probenumgebung an der European XFEL GmbH in Schenefeld bei Hamburg. Seine wissenschaftliche Laufbahn begann in der Quantenoptik, in der er die Wechselwirkung einzelner Atome mit Laserfeldern untersucht hat. Sie führte ihn unter anderem zur Atomphysik mit Synchrotronstrahlung und Clusterphysik mit Freie-Elektronen Lasern. Vier Jahre hat er am Centre for Free-Electron Laser Science (CFEL) in Hamburg Experimente zur kohärenten Röntgenbeugung an Biomolekülen geplant, aufgebaut und durchgeführt. In seiner Freizeit schreibt er zum Beispiel hier im Blog oder an seiner Homepage "Joachims Quantenwelt".

3 Kommentare

  1. Erkenntnisgewinn trotz negativem Blog-Ex

    Joachim Schulz schrieb (01. Juli 2012, 19:41):
    > In der Zeitschrift Physical Review Letters vom 22. Juni habe ich dazu einen
    interessanten Artikel entdeckt. […]

    Vielen Dank für den Hinweis auf diese Veröffentlichung der ATLAS-Kollaboration.
    Erste Versionen dieses Artikels sind offenbar schon mindestens seit dem 07. März öffentlich einseh- und sogar kommentierbar; vgl. http://cpr-hepex.blogspot.de/…collaboration.html

    > Die gesuchten schweren Teilchen […] hätten aber eine charakteristische Flugstrecke nach der sie in nachweisbare Elementarteilchen zerfallen.

    Wohl eher:
    die charakteristische mittlere Lebesdauer der hypothetischen gesuchten Teilchen, die jeweils in einer Simulation zugrundegelegt wurde, bedingt unter der gegebenen experimentellen
    Anordnung eine bestimmte Verteilung der (Längen der) Flugstrecken dieser Teilchen innerhalb des Detektors und darüber hinaus.

    Die im ATLAS-Artikel betrachteten Werte von “Zerfallslängen” (“proper decay lengths”) entsprechen nicht unbedingt charakteristischen, mittleren oder gar minimalen Flugstrecken-Längen, sondern sind jeweils einfach das Produkt aus der (zugrundegelegten bzw. hypothetischen) mittleren Lebesdauer und “c”.

  2. Recht geben & recht machen sind verschie

    Joachim schrieb (02.07.2012, 13:50):
    > Sie haben recht, man kann es auch kompliziert ausdrücken.

    Wenn zwei sich verschieden ausdrücken (und nur einer davon das Privileg genießt, einen SciLog zu gestalten), dann meinen sie noch lang nicht das Selbe (“es“).

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