• Von Joachim Schulz
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Gender: Zu weites Feld um hart und fair zu diskutieren

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Gedanken eines Experimentalphysikers
Quantenwelt

Am 7. September gab es in der ARD eine Diskussionsrunde in der Sendung Hart aber Fair mit dem Titel “Der Gender-Streit: Was darf zu Mann und Frau gesagt werden?”. Es gibt schon viele Kommentare zu dieser Sendung und beinahe alle sind sich einig, dass sie die “Gender-Debatte” eigentlich nicht weitergebracht hat.

Das könnte an der ungünstigen Auswahl von Diskussionsteilnehmern liegen. Zwei von den Gästen scheinen sich nie ernsthaft mit der Fragestellung auseinandergesetzt zu haben. Das ist schade aber kein Beinbruch, wer nichts zur Debatte beiträgt, merken Zuschauerinnen und Zuschauer recht schnell.

Es könnte auch an die voreingenommene Redaktion liegen, die in der voerhergehenden ersten Sendung für Gleichstellungsbemühungen eher randständige Themen wir Unisextoiletten und weibliche Ampelmännchen als typische Beispiele für Gender Mainstreaming herangezogen hat. Damit hat sie das Thema eher lächerlich gemacht. Aber auch das kann von guten Diskussionsteilnehmerinnen richtiggestellt werden. Vertreterinnen und Vertreter des Gender Mainstreaming haben dann eben mit der Redaktion eine Diskussionsgegnerin mehr.

Das eigentliche Problem ist, dass das Thema der Sendung zu unklar oder zu weit gewählt war. Es ging offensichtlich nicht darum, was “zu Mann und Frau gesagt werden” darf. Diese Frage gehört zum Thema Höflichkeit und Respekt und hat mit dem “Gender-Streit” nur am Rande zu tun. Dieser Streit besteht auf zwei Ebenen: Der politischen und der wissenschaftlichen.

Politisch geht es um Gender Mainstreaming. Das ist das Konzept, mit dem Regierungen und Verwaltungen dem Auftrag aus Artikel 3, Absatz 2, Satz 2 des Grundgesetzes Rechnung tragen: “Der Staat fördert die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern und wirkt auf die Beseitigung bestehender Nachteile hin.” steht dort. Gender Mainstreaming bedeutet, dass auf allen Ebenen1 auch Geschlechtergerechtigkeit2 in Augenschein genommen werden soll.

Auch wissenschaftlich ist Gender ein weites Feld. Der Begriff bezeichnet zunächst einfach das soziale Geschlecht in Abgrenzung vom körperlichen Geschlecht (Sex) und vom grammatischen Geschlecht (Genus). Genderwissenschaft ist also wissenschaftliche Untersuchung sozialen Geschlechts. Ich hatte das 2011 im Artikel Gender, Mathematik und Wissenschaft beschrieben.

Genderwissenschaften sind damit vom Ansatz her interdisziplinär, denn Geschlecht spielt in den meisten Sozial- und Geisteswissenschaften eine Rolle. Dem trägt zum Beispiel das Studienangebot der Humboldt-Universität zu Berlin Geschlechterstudien / Gender Studies Rechnung. Geschlechterforschung erstreckt sich von empirischen Studien zu Geschlechterunterschieden in Pädogogik, Psychologie und Soziologie über Sprach-, Literaturwissenschaft und Rechtswissenschaft bis zur Philosophie.

Unter den empirischen Studien finden sich Ursachenforschung zu Geschlechterrollen in der Kita oder auch die erst kürzlich veröffentlichte Übersichtsstudie, die Spektrum unter der Frage Brauchen Schüler mehr Männer als Lehrer? vorstellt. Sprachwissenschaft beschäftigen sich zum Beispiel mit Sprachformen, die Geschlechtsidentitäten besser gerecht werden. Literaturwissenschaft fragt nach Geschlechterrollen in Literatur. Rechtswissenschaft untersucht, ob und wie auch neutral formulierte Gesetze sich in der Praxis unterschiedlich auf Männer, Frauen und Menschen, die sich weder als Mann noch als Frau verstehen, auswirken können. Auch in der Medizin befasst sich die Gendermedizin mit Geschlechterunterschieden.

Aus all diesen Bereichen lassen sich Themen für spannende Diskussionen finden. Auch solche, bei denen Expertinnen und Experten unterschiedlicher Meinung sind. Themen bei denen Menschen mitreden können, die sich nicht tiefer mit den Details befasst haben aber aus Fernsehen und Politik bekannt sind. Und Themen denen Zuschauerinnen und Zuschauer folgen können, auch wenn sie Genderwissenschaften nicht studiert haben. Aber über alle diese Themen auf einmal sprechen zu wollen ist aussichtslos.

In einem Facebook-Kommentar zur oben genannten Sendung habe ich den Hinweis gefunden, all das was ich oben schrieb, sei ja gar nicht Gender. Gender sei doch diese “Ideologie”, die Biologie leugnet. Gemeint hat die Kommentatorin damit Dekonstruktivistische Perspektiven auf Geschlecht. Sicher: Auch das ist Genderwissenschaft, auch darüber lässt sich diskutieren, aber darauf kann Genderwissenschaft nicht reduziert werden.

Ich finde grundlegende Gedanken sehr interessant, die die Unterscheidung zwischen Gender und Sex infrage stellen, und bin froh, dass es auch dafür Raum in der Wissenschaft gibt. Auch in der Physik gibt es mit Stringtheorien und der Schleifenquantengravitation oder auch schon mit der Quantenchromodynamik Themen, die mit Alltagserfahrung wenig zu tun haben. Gesellschaftlich hat der Dekonstruktivismus einen größeren Einfluss als so manche physikalische Theorie.

Anmerkungen:
1. deshalb Mainstreaming
2. daher Gender
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Joachim Schulz ist Gruppenleiter für Probenumgebung an der European XFEL GmbH in Schenefeld bei Hamburg. Seine wissenschaftliche Laufbahn begann in der Quantenoptik, in der er die Wechselwirkung einzelner Atome mit Laserfeldern untersucht hat. Sie führte ihn unter anderem zur Atomphysik mit Synchrotronstrahlung und Clusterphysik mit Freie-Elektronen Lasern. Vier Jahre hat er am Centre for Free-Electron Laser Science (CFEL) in Hamburg Experimente zur kohärenten Röntgenbeugung an Biomolekülen geplant, aufgebaut und durchgeführt. In seiner Freizeit schreibt er zum Beispiel hier im Blog oder an seiner Homepage "Joachims Quantenwelt".