Autos starten durch Relativität

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Gedanken eines Experimentalphysikers
Quantenwelt

Das Faszinierende an der Relativitätstheorie von Einstein sind aus meiner Sicht nicht so sehr die Lehrbucheffekte wie Zeitdilatation, Längenkontraktion oder relativistische Masse. Im täglichen Leben sind diese Effekte messbar aber unspektakulär. (Eine Uhr im GPS-Satelliten würde pro Tag gerade mal achtunddreißig Mikrosekunden vorgehen, wenn man sie nicht korrigieren würde.) Viel spannender ist der Umstand, dass ganz alltägliche Dinge in einer nicht-relativistischen Welt nicht funktionieren würden.

Zum Beispiel die Autobatterie. Ohne Einsteins Relativitätstheorie würden Autos nicht starten. Das bedeutet nun nicht, dass Einstein die Autobatterie erfunden hätte oder dass er selbst die Erklärung gegeben hätte, wie eine solche funktioniert. Es bedeutet auch nicht, dass die Kenntnis der Relativitätstheorie zum Betrieb eines Autos oder dessen Bleiakkus notwendig wäre. Die Natur (und Chemie ist Natur) funktioniert auch, wenn wir sie nicht kennen.

Ich muss also genauer formulieren: Wenn die Struktur unserer Raumzeit so wäre, wie Newton es angenommen hat und wie es Generationen von Physikern für selbstverständlich hielten, dann würden Bleiakkus in unseren Autos keine zwei Volt pro Zelle liefern. Zu diesem Schluss kommen die Autoren des Artikels Relativity and the Lead-Acid Battery, der am 5. Januar in den Physical Review Letters erschienen ist.

Die theoretischen Physiker Rajeev Ahuja, Andreas Blomqvist, Peter Larsson, Pekka Pyykko und Patryk Zaleski-Ejgierd von den Universitäten in Uppsala (Schweden) und Helsinki (Finnland) haben die Reaktionsspannung der in Bleiakkus ablaufenden Reaktionen ausgerechnet und mit der gemessen Spannung von 2,107 Volt verglichen. Genauer gesagt haben Sie die Zustandsdichte (Density of States) der Elektronen in den Festkörpern Blei (Pb), Zinn (Sn), deren Oxide und Dioxide (PbO, PbO2, SnO und SnO2) und Bleisulfat (PbSO4) berechnet.

Diese Rechnungen haben sie jeweils mit verschiedenen unabhängigen Methoden berechnet. Es gibt mehrere Programmpakete, die für solche Rechnungen verwendet werden können und unterschiedliche Vereinfachungen enthalten. Durch Verwendung verschiedener Programmpakete konnten die Autoren sich und uns überzeugen, dass ihre theoretischen Vorhersagen konsistent sind. Die verschiedenen Methoden ergaben Spannungen für eine Bleizelle von 2,02 bis 2,27 Volt in Übereinstimmung mit der tatsächlichen Spannung solch einer Zelle.

Aber nur, wenn man relativistisch rechnet. Die relativistische Struktur der Naturgesetze hat in der Atomphysik zwei wesentliche Konsequenzen. Zum einen kann kein Teilchen Lichtgeschwindigkeit erreichen oder gar überschreiten, zum anderen ist in einer relativistischen Rechnung die Bahnbewegung eines Elektrons nicht mehr von seinem Eigendrehimpuls, dem Spin, entkoppelt. Die Autoren des Artikels haben mit jeder ihnen zur Verfügung stehenden Methode drei Rechnungen durchgeführt: Eine klassische, bei der die Geschwindigkeit der Elektronen nicht begrenzt ist, eine einfach-relativistische, bei der das Tempolimit Lichtgeschwindigkeit eingehalten wird, und eine vollständig relativistische Rechnung, bei der auch die Spin-Bahn-Kopplung berücksichtigt wird.

Das Ergebnis ist, dass die im Bleiakku auftretenden Reaktion bei unbegrenzter Elektronengeschwindigkeit nur 0,2 bis 0,5 Volt betrüge. Bei der einfach-relativistischen Betrachtung wird die Spannung des Akkus mit 2,2 bis 2,5 Volt leicht überschätzt. Nur bei vollständiger Berücksichtigung der Relativitätstheorie kommen die Autoren auf die richtige Akkuspannung.

Und warum haben die Wissenschaftler auch Zinn und dessen Oxide berechnet? Ein Blick auf das Periodensystem der Elemente zeigt, dass Zinn direkt über Blei in der selben Gruppe liegt. Die beiden Elemente Zinn und Blei haben die selbe Konfiguration äußerer Elektronen und sind sich chemisch sehr ähnlich. Beide Elemente gehen also die gleichen Bindungen ein. Und dennoch gibt es keinen Zinn-Akku, der immerhin etwas leichter wäre als die unhandlichen Autobatterien.

Gerade weil Zinn leichter ist, genauer weil es nur fünfzig geladene Protonen im Kern hat während Blei mit stattlichen zweiundachtzig Protonen daherkommt, werden die Elektronen im Zinn weniger starken Kräften ausgesetzt und erreichen nicht so hohe Geschwindigkeiten. Die relativistischen Effekte sind im Zinn somit viel schwächer ausgeprägt als im Blei. Zinn ist nicht-relativistisches Blei. Und ohne Relativität funktioniert ein Bleiakku nicht, wie dieser Artikel zeigt

Was bringt diese Rechnung nun? Die Autoren sind bescheiden: “This insight may not help one to improve the lead battery, but it might be useful in exploring alternatives.” Das könnte sein. Immerhin lernen wir aus diesen Rechnungen, wie wichtig es ist, gerade das schwere Element Blei im Akku zu haben. Aber als Physiker fasziniert mich schon die theoretische Einsicht dahinter: Nur in einer relativistische Raum-Zeit-Struktur kann die Natur wirklich verstanden werden. Ganz unabhängig vom möglichen praktischen Nutzen dieses Wissens.

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Joachim Schulz ist Gruppenleiter für Probenumgebung an der European XFEL GmbH in Schenefeld bei Hamburg. Seine wissenschaftliche Laufbahn begann in der Quantenoptik, in der er die Wechselwirkung einzelner Atome mit Laserfeldern untersucht hat. Sie führte ihn unter anderem zur Atomphysik mit Synchrotronstrahlung und Clusterphysik mit Freie-Elektronen Lasern. Vier Jahre hat er am Centre for Free-Electron Laser Science (CFEL) in Hamburg Experimente zur kohärenten Röntgenbeugung an Biomolekülen geplant, aufgebaut und durchgeführt. In seiner Freizeit schreibt er zum Beispiel hier im Blog oder an seiner Homepage "Joachims Quantenwelt".

11 Kommentare

  1. Ich könnte dem Autor dieses lehrreichen Beitrages (im Ernst: danke!) eine ansehnliche Sammlung von Bleisäureakkus aus meiner Motorradwerkstatt anbieten, deren Spannung pro Zelle durchaus im Bereich von 0,1 bis 0,3 Volt liegt.

    Womöglich schlummert ja in meinen kaputten Batterien eine wissenschaftliche Sensation, ein relativitätstheoretischer Durchbruch, indem sich in ihren die Elektronen überlichtschnell bewegen.

    Ich bezweifle es aber.

  2. Geschwindigkeit der Elektronen ?

    Die relativistische Bahngeschwindigkeit der Elektronen im Bleikern ist also für die hohe Spannung der Bleizelle verantwortlich. Nur: Elektronen belegen doch Orbitale und haben keine klassische Bahngeschwindigkeit? Das verwundert zuerst. Doch die klassischen Grössen wie kinetische Energie, Drehimpuls (Spin) scheinen es alle irgendwie in die Quantenwelt herübergeschafft zu haben, sie müssen nur etwas abstrakter interpretiert werden – oder nicht?

    Der relativistische Effekt scheint auch für das gelbe Glänzen von Gold verantwwortlich zu sein und für viele andere chemische Eigenschaften, wie im Artikel Relativistischer Effekt (siehe http://de.wikipedia.org/…Relativistischer_Effekt ) festgehalten.

  3. Noch mehr RT im Alltag: Spin

    Lieber Joachim

    Es ist schon erstaunlich, wo man die Relativitätstheorie überall finden kann.

    Im Prinzip hält sie schon auf einer sehr fundamentalen Ebene Einzug, nämlich dem Verständnis der gewöhnlichen Materie. Der Spin ist eine quantenphysikalische Eigenschaft von Teilchen. Der Spin der Elektronen bestimmt die Schalenstruktur der Atome und damit die Gestalt des Periodensystems der chemischen Elemente (Paul-Prinzip).

    Den Teilchenspin kann man nur mithilfe der Dirac-Theorie erklären, die aus einer quantenmechanischen Beschreibung unter Berücksichtigung der Speziellen Relativitätstheorie resultiert.

    Platt könnte man sagen: “Wir sind Relativität.”

    Beste Grüße,
    Andreas

  4. drei Antworten

    @Helmut,

    Das Angebot lehne ich dankend ab. Kaputte Bleiakkus sind mir zu schwer um sie von Frankfurt nach Hamburg zu schleppen. Wenn du aber noch ein paar Zinn-Säure-Akkus rumstehen hast…

    @Martin Holzherr,

    Ja, Geschwindigkeit ist ein gefährlicher Begriff in der Quantenmechanik. Auf meiner Homepage würde ich mich hüten, von der Geschwindigkeit der Elektronen im Orbital zu schreiben. Aber Impuls haben die Elektronen in ihren Orbitalen. Und bei hohen Quentenzahlen und Überlagerung vieler Eigenzustände ergeben sich tatsächlich Wellenpakete mit Geschwindigkeiten. Das gute alte
    Korrespondenzprinzip.

    @Andreas

    Stimmt. Der Spin ergibt sich zwanglos aus der relativistischen Quantenmechanik. In die nichtrelativistische muss er künstlich hineingesteckt werden. Das klingt ja in diesem Artikel auch an. Die Autoren geben den Einfluss der Spin-Bahn-Kopplung an. Diese Vermischung der beiden Spinzustände bei schnellen Elektronen ist genau der Grund, warum relativistische Quantenmechanik den Spin fordert.

  5. Zeit und Satelliten

    Die Verringerung der gravitativen Zeitdilatation relativ zur Erdoberfläche beim neutralen Radius kompensiert die kreisbahngeschwindigkeitsbedingte Zeitdilatation beim neutralen Radius von 1,5 Erdradien, das sind 9567 km, oder eine Höhe von 3189 km, sodass die Zeit in einem solchen Satelliten genauso schnell vergeht, wie in auf der Erdoberfläche ruhenden Objekten.

    Bild:

    http://members.chello.at/….bednarik/ZEITDILA.PNG

    Berechnung:

    http://de.wikipedia.org/…xisnahes_Rechenbeispiel

  6. Wäre das dann im weitesten Sinne vergleichbar mit der Situation beim Ladungstransport in Graphene, wo auch nur die relativistische Rechnung zu brauchbaren Resultaten führt?
    Vgl. http://arxiv.org/abs/cond-mat/0509330

    Nicht, dass ich irgendeine Ahnung von Condensed Matter Physics hätte, aber durch den Physik Nobelpreis 2010 ist letzeres ja etwas bekannter geworden, und es gab auch einmal einen “Spektrum” Artikel dazu.

  7. Wirklichkeit der Natur

    *lach* Ich gehe dann mal mit meinen nicht-relativistischen Bleisoldaten spielen 😉 Die detailgetreue Forschung, die zwar wenig Nutzen verspricht, aber doch anzeigt, dass die Einsteinsche Relativitätstheorie mehr Konsistenz verspricht als klassische Modelle ist klar geworden. Sie verspricht eine genauere Vorhersage als andere Modelle.

    Doch dann kommt die Schlussfolgerung:
    “Nur in einer relativistische Raum-Zeit-Struktur kann die Natur wirklich verstanden werden.”

    Das “Nur” würde ich weglassen und das “wirklich” durch “besser” ersetzen. So haben wir nämlich wieder eine überprüfbare Hypothese, die durch die vorliegende Berechnungen tatsächlich gestüzt wird. Die andere Hypothese wäre meines Erachtens eine philophische Frage, deren Beantwortung offen ist 😉

  8. @Fibonaccie: Erkenntnistheorie

    Du hast natürlich recht. Wirklich verstehen können wir die Natur zwar wollen, wir können aber nie überprüfen, ob wie sie wirklich verstanden haben. Manchmal jedoch finde ich solch knackige, philosophisch angreifbare Absolutaussagen einfach schöner als die naturwissenschaftliche Correctness.

    Danke für die Richtigstellung.

  9. @Manuel

    Im MAHAG-Forum habe ich halt in dem User Chief einen großen Fan. Bei dir im AT liest wohl noch niemand regelmässig hier mit. Und ich bin mit Werbung in eigener Sache immer zurückhaltend.

    Schön, dich hier als Leser zu haben. Mein nächster Beitrag wird ein paar Worte zur Realität der Längenkontraktion enthalten.

  10. Naja Fan, aber nicht Leser

    Chief scheint nur die Überschrift gelesen zu haben, er hat anscheinend nicht gemerkt, das das original aus dem Englischen kommt.

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