Intimität vor aller Augen

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Das menschliche Miteinander auf der Couch
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„Von dem Moment an, wo jemand unserem Tun zuschaut, passen wir uns wohl oder übel den Augen an, die uns beobachten, und alles, was wir tun, wird unwahr. Ein Publikum zu haben, an ein Publikum zu denken, heißt, in der Lüge zu leben. Sabina verachtet die Literatur, in der ein Autor alle Intimitäten über sich und seine Freunde verrät. Wer seine Intimität verliert, der hat alles verloren, denkt Sabina. Und wer freiwillig darauf verzichtet, der ist ein Monstrum.“  (Milan Kundera, Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins) (via 4)

Was machst du gerade?

Mit dieser Frage fangen Twitter und andere kluge und dumme, wichtige und unwichtige Gedankenfetzen aus der ganzen Welt ein. Beim zwitschern kann man sich in Halbweisheiten und Nichtigkeiten verlieren. Ab und zu stolpert man über herrliche Wortwechsel und findet spannende Information, doch viele der Textschnipsel sind dermaßen belanglos, dass es mich mehr interessiert, wenn in China ein Sack Reis umfällt. Und „kippte in China ein Sack Reis um, hier könnte man es mitbekommen. Bei Twitter würde es so klingen: »JoJo: Mir ist doch tatsächlich gerade ein Sack Reis umgefallen. Mist! Location: Peking«.“ (1)

Menschen suchen nach Zugehörigkeit. Wir möchten von Menschen, die wir mögen und schätzen auch gemocht und geschätzt werden. Wir suchen Gefühle der Zugehörigkeit und möchten sie aufrechterhalten. Wir wollen positive Beziehungen mit anderen.

Twitter als Ausdruck des menschlichen Strebens nach Zugehörigkeit? Aber ich brauche mir eigentlich über Sinn und Unsinn, Potential und Risiko von Twitter keine Gedanken zu machen. Denn ich ahne zum Zwitschern braucht man Zeit. Und keine Scheu fremden Menschen darüber Auskunft zu geben, was sie im Moment tun, wo sie sich befinden, womit sie sich beschäftigen. 

Die Auseinandersetzung um Datenspeicherung ist brandaktuell. Die Utopien aus 1984, Wir und Kallocain bekommen mit den heutigen Möglichkeiten der digitalen Aufzeichnung eine neue Perspektive. Noch verbringen die potentiellen Verwerter der Datenkraken "viel Zeit damit, einfach nur zu zuschauen", sagt Pearman, Myspace-Vizepräsident für Strategiefragen. Aus den Datenspuren lassen sich Hypothesen zu Vorlieben, Ansichten und Einstellungen ableiten. Mit verbesserten technischen Möglichkeiten steigt auch die Wahrscheinlichkeit von Mißbrauch: der gläserne Mensch für den Kommerz, der Schlüssel zur perfekten digitalen Überwachung?

Zukunftsprognosen bergen immer die Gefahr der Ungenauigkeit, daher überlege mir sehr genau, was ich über mich und mein Umfeld schreibe. Bei Entscheidungsunsicherheiten wähle ich die sprachliche Zweideutigkeit um im Falle eines Falles aus der Hintertür spazieren zu können. Wie genau der Fall des Falles aussehen könnte, ist noch unklar.

Quellen:

(1) Zeit: „Was machst du gerade?“

(2) Stern: "Im Fadenkreuz der Netzwerk-Werber"

(3) WDR: Video über Datenspeicherung 

(4) Kommentar bei der Blogbar

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Veröffentlicht von

Katja Schwab ist Diplom-Psychologin, Kommunikations- und Verhaltenstrainerin, systemische Körperpsychotherapeutin und zur Zeit in Ausbildung zur tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapeutin.

10 Kommentare

  1. Guter Beitrag, guter Einwand

    Wobei ich nicht viel von der allgemeinen Datenspeicherungs-Paranoia halte. Ich kann mir nicht vorstellen, dadurch wirklich meiner Autonomie und Entscheidungsfähigkeit beraubt zu werden. Trotzdem überlege ich mir natürlich, was ich von mir im Internet preisgebe. Gerade in therapeutischen oder beratenden Berufen muss man das besonders reflektieren (was soll mein Patient/Klient von mir wissen düfen?).

    Bei Twitter fehlt mir deshalb ein Feature, dass m.E. das Pendant von Digg.com-Gründer Kevin Rose namens “Pownce” bietet: selektives posten von Nachrichten als “public” – für alle einsehbar oder eben an (selbst definierbare) Listen von Kontakten, unter Ausschluß der Öffentlichkeit.

    Wen’s interessiert:

    pownce

  2. Twitter

    “Denn ich ahne zum Zwitschern braucht man Zeit.”

    Das ist ein Punkt, über den ich mich schon die ganze Zeit wundere: Wenn man sowas macht, kommt man doch zu gar nichts mehr. Mir kommt das vor wie Chatten hoch zehn, und was ich dabei schon an Lebenszeit verdaddelt habe, mag ich gar nicht drüber nachdenken.

  3. Zeit

    “was ich dabei schon an Lebenszeit verdaddelt habe, mag ich gar nicht drüber nachdenken”

    Da hast Du auch gar keine Zeit zu. 😉

  4. Wie ich schon sagte:

    Ich habe keine Freizeit, ich habe zwei Blogs.

    Ich hoffe ja, dass ich mit meiner öffentlichen Präsenz im Netz so viel Material über mich erzeuge, dass eine Auswertung zu aufwendig wird. Aber wahrscheinlich mache ich mir da Illusionen…

  5. Vorlaut

    Persöhnlich gemeintes Sie (Herr Fischer),
    wenn man etwas macht und dabei Lebenszeit verdadellt, dann ist es für mich ein Indiez daß man vielleicht das falsche macht.
    Das hört sich ziemlich arogant und großspurig an, aber irgendwo steckt da ein Körnchen Wahrheit drinn.
    Finde ich jedenfalls.

    Gruß Uwe Kauffman

  6. Web2.0 meets Psychologie

    Hey Katja,

    ich LIEBE deine psychologischen Auseinandersetzungen mit dem Web2.0. Es ist wirklich sehr wertvolle Lektüre für web2.0ige Menschen.

    Gruß Alex

  7. Zeit für online und offline

    Hallo,

    ich kann mich den vorherigen Komentaren nur anschließen: deine Themen sind sehr geistreich und gut geschrieben:)

    Und die Frage, wie man überhaupt diese ganze Zeit aufbringen soll, die die Pflege von Blogs, dutzenden Profilen usw. nun mal braucht, weiss ich nicht!

    Ich habe mal von einem Bekannten eine Sonderausgabe zum Thema “wie baue und pflege ich mein Facebook-Profil” bekommen. Nach dem Lesen war mir klar: wenn ich das alles befolge, sehe ich nie mehr die Sonne, dann bin ich festgenagelt vor dem Rechner!

    Also ist eine der wichtigsten Eigenschaften, die man für die Online-Nutzung braucht – die gesunde Balance zwischen online und offline Aktivitäten. Und eine gehörige Portion Selbstvertrauen zu sagen “nur weil es geht, muss ich es noch lange nicht alles machen”. Auch wenn man dann den ein oder anderen schiefen Blick erntet.

    In diesem Sinne,
    Sonja

  8. Auf eigenes Risiko

    Hallo zusammen,

    ich finde, solche Betrachtungen sind ganz schön interessant, weil sie uns etwas über uns und unsere manchmal recht kruden Verhaltensweisen erzählen.

    Aber eben nur, wenn man auch hinhört und die Widersinnigkeiten erkennt. Nicht so wie der Geschäftsmann im protzigen Cabrio, der mitten in der Stadt an einer belebten Kreuzung steht und sich lautstark per Handy mit Geschäftspartnern unterhält und sich dann über eventuell unsichere Verschlüsselungsmechanismen aufregt .. hab ich schon erlebt 😉

    Ich kann mir also überlegen, ob ich die gleichen Geschichtchen auch gut fände, wenn sie in meiner Personalakte bei meinem Arbeitgeber liegen würden oder bei der Polizei oder in meiner Adress-Datei, die gerade an irgendwelche Adress-Händler vertickt wird oder oder oder …

    Ich kann mir auch überlegen, dass mir das vielleicht im Moment nichts ausmacht, ich aber durchaus in eine Situation geraten könnte, in der solche Informationen schädlich sind.

    Ich kann aber auch einfach die Augen zu machen und die schöne neue Welt 2.0 genießen und chatten und bloggen und zwitschern was das Zeug hält (hab übrigens noch nie davon gehört: Twitter .. leb wohl zu sehr offline).

    Vielleicht ist das aber alles Panikmache und ein kleines Risiko gehört einfach dazu. Die Vorteile der neuen Kommunikation überwiegen. Und letztlich wird man die Blog-Gegner belächeln wie heute die Gegner der Eisenbahn, die vor gut 150 Jahren entsetzt waren über die mörderische und garantiert ungesunde Geschwindigkeit von 50 km/h … gähn.

    Letztlich sollten wir uns vielleicht nur über die Spuren, die wir hinterlassen, bewußt werden. Und uns nicht künstlich aufregen, wenn wir plötzlich maßgeschneiderte Werbung ins Haus kriegen (das ist ja noch die harmlose Variante). Wir haben´s ja schließlich so gewollt, richtig?

    So, genug der Infos, nicht dass morgen mein Chef schon weiß, warum ich so unausgeschlafen aussehe 😉

    Andreas

  9. Fühlen sich die Leute beobachtet?

    Das Kundera-Zitat ist ein toller Einstiegspunkt. “Von dem Moment an, wo jemand unserem Tun zuschaut, passen wir uns wohl oder übel den Augen an, die uns beobachten, und alles, was wir tun, wird unwahr.” Das ist die universale Schauspielerei, in die sich die Menschen kraft ihrer Fähigkeit zur Reflexion immer verstricken. Und das Theater wird umfassender mit der Menge von “Freunden”, nicht unbedingt mit der Anonymität. Im Gegenteil, man fühlt sich oft in anonymen Umfeldern seltsam befreit. Auf New Yorker Straßen fühlt sich auch niemand mehr beobachtet, nicht einmal die Prominenz.

    Der Druck, gut zu schauspielern, um beliebt zu sein oder zu bleiben, könnte gerade unter den so genannten “Freunden” im Internet besonders groß sein, weil dort das Vertrauen gering ist. Man kennt sich ja nicht wirklich. Nur unter wirklich Vertrauten darf die Fassade bröckeln. Je geringer das Vertrauen (das Gefühl gesicherter Beliebtheit), umso mehr “Cocktail-Party”-Effekte. Bei Twitter wird also vieles gezwitschert, was die Beliebtheit aufrecht erhalten soll. Der User fragt sich gleichsam: Was kann ich mitteilen, was meine Beliebtheit erhält? Wie kann ich es originell formulieren?

    Die andere Seite ist der Wunsch nach Wahrgenommenwerden (das ist mehr als Zugehörigkeit)! Die Menschen hungern danach. Sehr gut in Schulen zu beobachten. Schüler, die nicht mehr von den Lehrern angesehen und wahrgenommen werden, flippen mit der Zeit aus (nachvollziehbar). Mit Twitter kann man “Aufmerksamkeit erhaschen”. Glücksgfühle dann, wenn geantwortet wird. Wie auch die Autorin dieses Beitrags glücklich ist, wenn Resonanz kommt (möglichst positiv, aber Hauptsache wahrgenommen).

    Kundera übertreibt natürlich. Der Wahrheitsbegriff ist zu absolut. Ich denke, dass in WEB 2.0 jede Menge Zwischenfiguten zwischen wahr und unwahr zu finden sind – von den total Verlogenen (Kunstidentitäten) bis zu den extrem Offenherzigen (Schamlosen). Auf jeden Fall gilt die alte Schauspielerweisheit: Natürlich ist die schwerste Pose ^^

  10. Kallocain

    Karin Boyes Zukunftsroman “Kallocain” gehört zu meinen Lieblingsbüchern und gefällt mir um längen besser als “1984” oder “Schöne neue Welt”. Leider wird das Buch auf Deutsch nicht mehr aufgelegt, was bedauernswert ist, denn aus der Handlung können wir viel lernen über die Wichtigkeit der Privatsphäre.

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