Erziehungsunterricht

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Das menschliche Miteinander auf der Couch
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Werden Kinder zu kleinen Haustyrannen, wenn ihre Eltern ihnen zu viel Fürsorge und Aufmerksamkeit schenken? Mit dieser These erregte zuletzt der Psychiater Michael Winterhoff Aufsehen. Seine Befürchtung ist nicht neu: »Die Kinder von heute sind Tyrannen. Sie widersprechen ihren Eltern, kleckern mit dem Essen und ärgern ihre Lehrer«, stellte bereits Sokrates fest. Laut Lexikon ist der Tyrann ein Gewaltherrscher, der widerrechtlich Macht inne hat und seine Untergebenen schikaniert. Aber passt diese Beschreibung wirklich auf einen dickköpfigen Dreijährigen oder eine vorlaute Fünfjährige?

Rolf Arnold, Pädagogikprofessor an der Technischen Universität Kaiserslautern, distanziert sich von dieser Vorstellung und dreht den Spieß um: Um zu verhindern, dass die Erziehung die Kinder tyrannisiert, legt er Eltern, Lehrern und Erziehern 29 Regeln ans Herz. Der Autor zielt damit auf die Unsicherheit und Versagensängste der heutigen Elterngeneration: Wie gehe ich mit aggressivem Verhalten um? Wie begrenze ich den Medienkonsum? Wie viel Nähe und Distanz sind gut und nötig?

Arnolds Maßnahmen sind dem autoritativen Erziehungsstil zuzuordnen: partnerschaftlich die Eigenverantwortung des Kindes fördern, aber zugleich das Verhalten lenken und Konsequenz zeigen. Die Basis dafür sei eine gute Beziehung – das ist derzeit Konsens unter Erziehungsexperten. Aber während zum Beispiel der dänische Familientherapeut Jesper Juul den Eltern zu mehr Gelassenheit rät und bewusstes Erziehen für unwirksam oder gar schädlich hält, legt Arnold in seinen Regeln den Fokus auf konsequentes, aber angemessenes und besonnenes Verhalten: »Übe konsequente Erziehung! Vermeide oder korrigiere Überreaktionen! Arbeite mit Ermutigung, vermeide Disziplinierung! Lebe die Werte, die dein Kind (er)leben soll! Schärfe deinen liebenden Blick!« Beispiele vor allem aus dem Schulalltag veranschaulichen den Sinn und die praktische Umsetzung der jeweiligen Regel.

Aussagen wie »Meide die Sackgassen der Erziehung« sind allerdings viel zu allgemein gehalten. Und ob der Autor seine 29 Regeln für Kinder und Jugendliche aller Altersstufen als sinnvoll erachtet, bleibt ebenfalls unklar. Noch dazu hat sich Arnold für die klassische Ratgebersprache entschieden: Wenn-dann-Verknüpfungen, Merksätze und Checklisten etwa für Sanktionen sowie viele Übungen kennzeichnen durchgehend seinen Stil. Damit tut sich der Autor keinen Gefallen, denn der komplexe Inhalt passt überhaupt nicht in die Verpackung einer Gebrauchsanweisung.

Zugleich holt das Buch seine Leser inhaltlich nicht in ihrer Verunsicherung ab – im Gegenteil: Es verlangt zu viel von ihnen. Tritt im Umgang mit Schülern oder dem eigenen Nachwuchs ein echtes Problem auf, dürfte es praktisch unmöglich sein, gedanklich die 29 Regeln durchzugehen, um eine passende Anregung zu finden. Verunsicherten Eltern auf der Suche nach Orientierung täte da eine Anleitung zum gelassenen Umgang mit ihren Kindern besser.

Trotz dieser Wermutstropfen legt Arnold eine ausgewogene Sammlung von Erziehungstipps vor – von konventionellen Ratschlägen etwa zur Regulation kindlichen Medienkonsums bis hin zu neueren Methoden wie Fragen, die Kinder zum Nachdenken anregen anstatt sie zu dirigieren. Dank der zahlreichen Übungen, Checklisten und praktischen Tipps eignet sich das Buch vor allem als Lehrmaterial für Aus-, Fort- und Weiterbildungen.


Rolf Arnold (2011): "Wie man ein Kind erzieht, ohne es zu tyrannisieren – 29 Regeln für eine kluge Erziehung". Heidelberg: Carl Auer Verlag. 172 Seiten.

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Katja Schwab ist Diplom-Psychologin, Kommunikations- und Verhaltenstrainerin, systemische Körperpsychotherapeutin und zur Zeit in Ausbildung zur tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapeutin.

6 Kommentare

  1. Lesetipp

    Im neuen GEO 7/2011 findet sich beim Titelthema ´Wie Kinder die Welt sehen´ auf Seite 142 ein interessanter Vergleich von Erziehungsstil und dessen Auswirkung von Nso-Kindern(Kamerun) und Deutschland.

  2. Regel … – nachlesbar:

    1. BLOG-Regel:

    Zitiere keinen einzigen Satz eines Erziehungspropheten.

    Und die 30. Regel könnte heißen:
    “Das viele Lesen [ich füge ein: von Erziehungsratgebern] hat uns eine gelehrte Barbarei zugezogen.” – Ja: Georg Christoph Lichtenberg

  3. Zu kompliziert !

    Ich muss immer lachen, wenn ich mit dem Arbeitssicherheitsingenieur durch die Firma gehen und er sich rechtfertigt, dass er die Mitarbeiter auf all das an Ergonomnie immer wieder hingewiesen hat, was sie – ganz offensichtlich immer vergessen. Mangelnde Ergonomie kann man nicht mit Ergonomie lösen und Kinderfehler nicht durch Ermahnungen zu den Fehlern.
    Schon das Wort “Erziehungsunterricht” ist ein Unsinn in sich selbst. Entweder unterrichte ich noch, dann fröne ich noch dem Wahn, dass sie die UNTER MIR eines Tages doch noch nach mir RICHTEN werden. Oder ich kann schon ErZIEHung von der üblichen ErDRÜCKung unterscheiden, dann lasse ich mir was einfallen, was ZIEHT. Mit SOGwirkung kann man die Kräfte punktgenau lenken; das weiß in der neuen Ich-kann-Schule jedes Kind – und in der Uni Kaiserslautern noch nicht jeder.
    Ein Kind versteht, dass einem immer die Regel nicht einfällt, die man gerade braucht, wenn man sich 29 merken muss. Drum löst es die Probleme mit EINER IKS-“Regel”: es geht mit den Kräften dessen, von dem es was will, BESSER um als er. Dann mögen es die Kräfte und folgen ihm lieber als ihrem Besitzer.
    Schönen Gruß!
    Franz Josef Neffe

  4. Ich sprach vor Tagen zufällig mit einer Hundebesitzerin, die mir sehr liebevoll und detailliert den notwendigen Umgang mit einem jungen Hund beschrieben hat. Immer wieder versetzte sie sich in das Wesen des Hundes hinein und erklärte das Verhalten des Tieres aus seinem biologischen und psychosozialen Hintergrund. So eine empathische und verstehen wollende Grundhaltung würde ich mir im Umgang mit Kindern wünschen. Diese einfühlsame und analytische Herangehensweise, warum verhält sich mein Kind in dieser Situation so, welche kognitiven, sozialen Bedingungen und emotionalen Konflikte führen zu den kindlichen Reaktionen, kann durch Regeln nicht entwickelt werden. Trotz ihrer klaren Formulierung der Regeln bleibt das Wie unbeantwortet und hinterlässt wohl eher erneute Versagensgefühle.

  5. Kinder > Tyrannen?

    Ich finde, dass, egal wie frech Kinder sind, man sie niemals als Tyrannen bezeichnen kann. Ich habe selbst 2 Kinder und sie sind frech, doch das ist ihr junges Alter. Allerdings habe ich den Rat bekommen, dass Psychologen mit Hilfe ihrer Mittel diese Phase beschleunigen und somit “vermeidbar” ist. Dennoch vielen Dank, ich hab viel durch den Text gelernt.

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