Die Medien über Winnenden

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Das menschliche Miteinander auf der Couch
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Wie viele andere habe ich die Berichterstattung in den Medien über den Amoklauf in Winnenden verfolgt und lange gezögert zu diesem Thema einen Blogpost zu schreiben.

Schauen Sie sich diese Episode von Charlie Brookers „Newswipe“ an:

Die Empfehlungen von Park Dietz, einem forensischen Psychiater und Kriminologen, sind pointiert zwischen reale Medienberichte geschnitten worden:

Wenn ihr nicht dazu beitragen wollt, dass es weitere Massenmorde gibt, fangt Eure Geschichten nicht mit dem Geheul der Sirenen an, zeigt keine Fotos des Mörders, macht daraus keine 24-Stunden-Live-Berichterstattung, vermeidet es soweit wie möglich, mit der Zahl der Toten aufzumachen, stellt den Mörder nicht als eine Art Anti-Helden dar, macht stattdessen aus der Berichterstattung eine lokale Geschichte für die betroffenen Gemeinden und macht den Fall so langweilig wie möglich für alle anderen Märkte. Denn jedesmal, wenn wir ausufernde, intensive Berichterstattung über einen Massenmord haben, erwarten wir ein oder zwei Nachahmungstäter innerhalb einer Woche.

Und es ist in Deutschland nicht anders. Stefan Niggemeier, der die Berichterstattung über den Amoklauf in Winnenden in seinen Artikeln scharf kritisiert, hat einige Beispiele zusammengetragen:

(via Mind Hacks)

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Veröffentlicht von

Katja Schwab ist Diplom-Psychologin, Kommunikations- und Verhaltenstrainerin, systemische Körperpsychotherapeutin und zur Zeit in Ausbildung zur tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapeutin.

4 Kommentare

  1. Schweigen…

    Das mit der “Condemnatio memoriae” hat, soweit ich sagen kann, noch nie geklappt. Wir kennen den Namen des Ruhmsüchtigen, der den Tempel der Diana in Ephesus in Brand gesetzt hat (ich nenn’ den Namen jetzt nicht), obwohl er zu genau dieser Condemnatio verurteilt wurde. Wir wissen, wie der Verräter hiess, der die Perser in Leonidas’ Rücken führte. Eine Namensliste der grössten Drecksäcke der Welt ist leichter und zuverlässiger zu kompilieren als die der grössten Wohltäter…

    In Paris soll’s Anfang des vorvorigen Jahrhunderts eine Selbstmordwelle unter jungen Frauen gegeben haben (als Reaktion auf Goethes Werther, sagt man). Die Remedur: die Stadtverwaltung drohte, die Leichen der Selbstmördinnen nackt zur Schau zu stellen. Soll gewirkt haben.

    Was kann man im Vorfeld tun, um einen Amokläufer zu entmutigen? Vielleicht: ihm klarmachen, dass er, selbst wenn er 40 Leute erschiesst, immer noch ein Würstchen bleibt. Zum wahren Ruhm der Bosheit muss man in anderen Dimensionen arbeiten. Unter 40 Millionen braucht man gar nicht anzufangen: Sollen diese Hanseln sich doch Hitler, Stalin, Pol Pot oder sonstwen zum Vorbild nehmen, dann ist die Wahrscheinlichkeit, dass sie zum Zuge kommen, geringer.

    Amokläufer: Massenmörder en detail, wie erbärmlich.

    (Obacht: dieser Beitrag enthält Sarkasmen)

  2. @ Selbstmordwelle wegen Goethes Werther

    Ich habe im Deutschunterricht gelernt, dass Goethes Werther eine Selbstmordwelle unter jungen Leuten ausgelöst haben soll. Aber Dr. Bendikt Jessing, Germanistikdozent an der Ruhr Universität Bochum ist nicht überzeugt, wie in einer der letzten NEON-Ausgaben zu lesen war: “Doch der Werther-Effekt ist nicht belegt, das zeigen Recherchen in Chroniken und Statistiken. Nur Einzelfälle sind bekannt: So ertränkte sich die 17-jährige Christiane von Laßberg, in ihrer Tasche ein Werther-Exemplar. Doch das war 1778, da war der Roman schon ziemlich out. Vermutlich wurden die Gerüchte um die Massensuizide gezielt gestreut, wohl von protestantischen Geistlichen und der Obrigkeit: Der Werther passte nicht in das Verständnis einer aufgeklärten, pädagogisch wertvollen Literatur. Die Werther-Gegner schafften es 1775, den Roman in Leipzig zu verbieten. Das fanden schon Zeitzeugen lächerlich. Nicht so Goethe. Er glaubte daran und gab sich gern dem Gedanken hin, dass seine Literatur eine so vernichtende Kraft besaß.”

  3. @ Katja

    Schade – eine “urban legend” weniger.

    Aber: die Debatte um den “Werther” erinnert mich schon ein wenig an die über “Killerspiele”: nix genaues weiss man nicht, und was die eine Dame in den Selbstmord treibt, zwingt die andere vielleicht ins Kindbett (Lotte hatte zwölfe…).

  4. Miteinander?!?!

    Die Folgen tödlicher Gewalt berühren uns Menschen sicher auch deshalb so emotional, weil uns damit unsere Grenzen im miteinander Umgehen „hautnah“ vorgeführt werden. Bei aller emotionalen Nähe zu Opfern aktueller Katastrophen kann heute sicher kein Mensch mehr nachvollziehen, wie es denen erging, die in römischen Zirkusarenen Raubtieren vorgeführt wurden oder als Gladiatoren ihr Leben in die Waagschale warfen oder werfen mussten. Und dies alles vor einem vor Begeisterung rasenden Publikum! Wer mag so etwas mit der Gewaltdarstellung in virtuellen Computerspielen vergleichen? Wie war es wohl zu Zeiten, als Hinrichtungen von den Volksmassen auf Volksfesten mit allerlei Vergnügungen drum herum in aller Öffentlichkeit (auch vor Kindern!) vollzogen wurden um dann anschließend das, was von de Hinrichtung übrig bleibt auch noch auf dem Marktplatz lange Zeit auszustellen … und was war mit dem Begehren, die Vollstreckung von Todesurteilen öffentlich und live im Fernsehen zu übertragen. Ein Mangeln an begeisterungsfähigem Publikum war damals keiner der Gründe, woran die Idee letztlich gescheitert ist.

    So gesehen sind auch Videospiele „nur“ der äußere Abklatsch dessen, was bereits in unseren Vorstellungen herumgeistert. Die Akzeptanz ihrer Inhalte, die „Begeisterung“ dafür zeigt nur, dass genügend (meist unbewusste) korrespondierende Veranlagungen in uns existieren.

    Amokläufe, auch weibliche, gab es schon immer. Selbst in der Antike und damit lange vor der Verbreitung irgendwelcher Massenmedien. Sogar im Tierreich sind Amokläufe (vor allem bei domestizierten „Nutztieren“) dokumentiert. So gab es z. B. immer wieder Amok laufende Arbeitselefanten, die in Indien ganze Dörfer verwüstet und auch unzählige Menschen getötet haben. Auch bei Rindern, vor allem bei Wasserbüffeln sind solche Angriffe bekannt. Und sicher gibt es auch Parallelen bezüglich der bekannten „Hundeattacken“ in jüngerer Zeit.

    Ich toleriere oder billige einen Amoklauf in keinster Weise. Ich sehe in einen Amoklauf eine besondere Form des Suizids. Für mich grenzt dies an eine katastrophale Form von Märtyrertum. Mir ist kein Fall bekannt, bei dem der Amokläufer es darauf angelegt hat zu überleben. Deshalb muss auch derjenige bereits als Amokläufer gelten, der z. B. „nur“ seinen Partner und seine Kinder tötet, also sein engstes soziales Umfeld beseitigt und anschließend Selbstmord begeht, damit seine eigene Identität auch noch gelöscht wird.

    Ein Amoklauf ist das tragische Ende einer Eskalation, der Höhepunkt eines ins Chaos gestürzten „Miteinanders“, bei dem es schlussendlich nur einen geben kann! Nach einem, aus Sicht des Amokläufers „erfolgreichen“ Ende bliebe auch niemand mehr übrig, zudem währe ja auch kein Platz auf der Spitze dieses Gipfels (Gipfelerlebnis). Darüber hinaus führt vom Gipfel auch kein Weg weiter (hinauf). Der Suizid ist das absolute finale Erlebnis …

    Ganz besonders traurig finde ich die Tatsache, dass sich nur sehr wenige „Experten“, im Sinne von wissenschaftlich fundierten Meinungsträgern finden (oder zu Wort melden), die es darüber hinaus auch wagen, weit abseits vom eigenen Fachgebiet auch mal im wirklichen Sinn des Wortes interdisziplinär mit völlig fachfremden Wissenschaftlern zusammenzuarbeiten. Mir scheint, die mysteriöse Kluft zwischen Geistes- und Naturwissenschaften behindert immer noch eine vorurteilsfreie Zusammenarbeit.

    Neben medizinischen, psycho- und soziologischen Faktoren gibt es sicher von Seiten der Chaos- und Komplexitätsforschung, … ich wage sogar zu behaupten, auch Seitens der Quantenphysik Erklärungsmöglichkeiten zum komplexen Geschehen eines Amoklaufes. Das mag gewöhnungsbedürftig klingen, was aber niemanden davon abhalten muss, sich selbst „schlau“ zu machen und damit auseinander zu setzen. Der Hintergrund ist, das alle Beteiligten des sozialen Umfeldes eines Amoklaufes ein Makrosystem bilden, welches von außen betrachtet einen scheinbar stabilen Zustand zeigt, obwohl sich das ein oder andere Einzelelement (Mikrozustand) zur Instabilität neigen kann. Eine einzige, winzige Fluktuation kann das ganze System durchaus ins Chaos stürzen (in Analogie zum Mehrkörperproblem in der Physik)! Zudem sind ja die Ausgangsbedingungen des Systems unbekannt und eine sichere Aussage dahingehend, wie sich das System als solches zukünftig verhalten wird wäre unseriös. Problematisch und eben nur durch vergleichbare quantenphysikalische Zustände zu erklären ist, dass „Messungen“ an einem Einzelelement, wenn überhaupt nur unter besonderen Vorkehrungen möglich sind, da ein herauslösen eines Einzelnen aus dem gesamten sozialen Gefüge das „Miteinander“ verändert, bzw. zerstört und bereits Fakten produzieren würde, die unter Umständen das Gesamtbild verfälschen.

    Zugegeben, dass alles klingt vor allem für betroffene Opfer „abgehoben“ und vielleicht sogar entfremdend. Für diejenigen, die sich näher damit beschäftigen zeigen sich aber erstaunliche Einblicke in (scheinbar) verworrene Zusammenhänge. Wer sich hierzu einlesen möchte, dem möchte ich die Veröffentlichungen von Klaus Mainzer, Hermann Haken, Thomas Görnitz oder Achim Stephan empfehlen.

    So gesehen wird es wahrscheinlich ein Wunschgedanke bleiben, einen Amoklauf „vorherzusehen“, oder gar zu verhindern! Wie bei jeder Katastrophe können sicher Maßnahmen im Sinne eines Krisen- und Chaosmanagements erarbeitet werden, die potentiell Betroffenen besser helfen, als banale kurzsichtige Verbote oder theoretisierende wissenschaftliche Abhandlungen. Die Wissenschaft schafft Fakten, heißt es. Es gilt, diese Fakten wertfrei zusammenzutragen und auch wirklich vorbehaltslos zu akzeptieren, auch wenn sie unter Umständen politisch, gesellschaftlich oder wirtschaftlich „leidvolle“ Konsequenzen fordern! Wichtig ist doch, dass Fakten erst einmal in der breiten Öffentlichkeit bekannt gemacht und von politisch, wirtschaftlich und sonstigen Lobbys unabhängigen Meinungsmachern auch konsequent vertreten werden.

    Da jedoch habe ich so meine Bedenken, auch hier zeigt die Vergangenheit, wie wenig sich unser Miteinander an sich verändert hat … das mindeste jedoch, was jedem Einzelnen von uns möglich ist, anders mit Gewalt umzugehen, ist eine einzige, alte Universal-Regel vorzuleben: „ … tue niemanden das an, was Dir selbst niemand antun soll!“ Allein dadurch wäre der Mensch sicher schon ein ganzes Stück friedlicher …

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