Spieltheorie – Mathematik für die Evolutionsforschung (auch zur Religion?)

BLOG: Natur des Glaubens

Evolutionsgeschichte der Religion(en)
Natur des Glaubens

Eigentlich konnte ich mich über mangelnde Resonanz über Artikel wie "Homo religiosus" (in Gehirn & Geist 03/2009, kostenloser Download hier) nie beklagen – mit einer Ausnahme: Obwohl keine wissenschaftliche Perspektive darin so oft zur Sprache kam wie die (experimentelle) Spieltheorie, wurde das nicht einmal bememerkt. Auch als ich letztes Jahr das Kapitel "Religionsbiologie" im Handbuch der Religionen aufbaute, fügte ich einen kurzen Abschnitt zu "Ökonomie und Spieltheorie" (S. 7) ein – bislang ohne Reaktion. Und obgleich die religionsdemografisch-populationsgenetischen Modellrechnungen von Robert "Bob" Rowthorn einiges Aufsehen erregten, lösten auch diese noch keine vertieften Reflektionen aus. Religion und Mathematik scheinen noch immer (zu) weit voneinander entfernt zu sein.

Richtig auf den Geschmack für einen neuen Vorstoß hat mich dann wieder Josef Honerkamp auch in seinem lesenswerten Buch gebracht, in dem er die Mathematik als "Sprache der Physik" vorstellt. Zustimmung – aber wirklich nur der Physik? Oder könnte es sogar sein, dass die Mathematik die universale Sprache für die Natur insgesamt ist – einschließlich der Evolution und auch der (aus ihr hervor gegangenen) Religion?

Heute möchte ich mich – rückbindend auf unser Bloggewitter zu Mathematik, Sprache und Wissenschaft – mit einer klaren Aussage "outen": Ja, ich bin davon überzeugt, dass Mathematik in Form der Spieltheorie auch Evolutionsprozesse der Natur und Kultur beschreiben kann und die Religionswissenschaft der Zukunft auch und grundlegend mit Mathematik arbeiten wird. 

Mathematik, Sprache, Wissenschaft 

Meine letzten, diesbezüglichen Vorbehalte hat ein grandioses, neues Buch ausgeräumt:

"The SuperCooperators" von Martin Nowak mit Roger Highfield

Der gebürtige Österreicher Martin Nowak ist Professor für Mathematik und Biologie an der Universität Harvard und leitet dort das Programm für Evolutionäre Dynamik. Mit einem Mix aus mathematisch-spieltheoretischer Modellbildung, Simulationsrechnungen und deren Abgleich mit empirischen Daten konnte er wegweisende Brücken zur Evolutionsforschung von AIDS-Viren bzw. HIV, zu Krebszellen, Sprachen und der Entstehung von Kooperation im Tierreich schlagen. In "SuperCooperators" vertritt er die Auffassung, dass Evolutionsprozesse als die Entstehung und Durchsetzung von Kooperationsfunktionen beschrieben werden können – angefangen vom ersten Leben bis hin zu Menschen und unseren Religionen.

Fünf Wege zur Lösung kooperativer Dilemma

Nowak identifiziert(e) fünf teilweise aufeinander aufbauender Wege, in denen das klassische Gefangenendilemma (Kooperation wäre für die Beteiligten vorteilhaft, aber einseitiger Betrug noch mehr) gelöst werden kann:

1. Direkte Reziprozität (Gegenseitigkeit) – Direct Reciprocity

2. Indirekte Reziprozität – Indirect Reciprocity

3. Räumliche evolutorische Spiele – Spatial Games

4. Gruppenselektion – Group Selection

5. Verwandtenselektion – Kin Selection

Hat Nowak Recht? Ist Mathematik die Sprache der Natur, Kultur – und auch Religion?

Eine spannende, große Theorie (übrigens sehr lesefreundlich-gelungen präsentiert, hoffentlich auch bald in Deutsch)! Aber haben Nowak und seine mathematisch-biologischen Kolleginnen und Kollegen Recht? Lassen sich nicht nur biologische, sondern auch kulturelle und schließlich religiöse Evolutionsprozesse spieltheoretisch nachvollziehbar beschreiben, simulieren, experimentell testen?

Was die Religion(en) angeht, so meine ich inzwischen – ja. Nowak et al. sind da auf einer heißen Spur. Es wird sicher noch den Mut interdisziplinärer Teams und den Zeiteinsatz von Jahren, vielleicht Jahrzehnten benötigen, aber (auch) die Religionswissenschaft der Zukunft kann ein empirisch-mathematisches Fundament erhalten.

Als kleinen (Start-)Beitrag möchte ich hiermit auf "Natur des Glaubens" die Kategorie Spieltheorie eröffnen, in der spieltheoretische und religionswissenschaftliche Fragestellungen aufeinander bezogen werden sollen. Hinweise und Ermutigungen sind herzlich willkommen!

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Dr. Michael Blume studierte Religions- und Politikwissenschaft & promovierte über Religion in der Hirn- und Evolutionsforschung. Uni-Dozent, Wissenschaftsblogger & christlich-islamischer Familienvater, Buchautor, u.a. "Islam in der Krise" (2017), "Warum der Antisemitismus uns alle bedroht" (2019) u.v.m. Hat auch in Krisenregionen manches erlebt und überlebt, seit 2018 Beauftragter der Landesregierung BW gg. Antisemitismus. Auf "Natur des Glaubens" bloggt er seit vielen Jahren als „teilnehmender Beobachter“ für Wissenschaft und Demokratie, gegen Verschwörungsmythen und Wasserkrise.

18 Kommentare

  1. Das klingt nach einem sehr interessanten Ansatz! Es wird bestimmt spannend sein zu verfolgen, inwieweit mathematische Methoden in der Religionswissenschaft greifen können.
    Für mich als Laien in Sachen Spieltheorie wäre es zunächst interessant einen groben Überblick zu bekommen, was dabei überhaupt erforscht und gemacht wird und was das nun mit Religionswissenschaft zu tun hat.

    Und noch ein paar Anmerkungen zu Mathematik und Physik, soweit ich das bisher mitbekommen und verstanden habe:
    Die Mathematik (als Sprache, Wissenschaft) versteht sich selbst erst einmal als “frei von jeder Realität”; das soll heißen, sie schert sich nicht darum, was sich mathematisch in unserer Wirklichkeit tatsächlich vorfinden lässt, sondern vielmehr darum, was sich logisch herleiten lässt. Sie versteht sich quasi als Kunst der Logik. Darum müssen arme Mathematikstudenten mit n-dimensionalen Vektorräumen rechnen, wobei n=3 (unsere Alltagswelt) ebenso möglich ist wie n=123873489. Einfach deshalb, weil es rein logisch geht. Ebenso hat man die komplexen Zahlen konstruiert, um jedes Polynom eindeutig in Linearfaktoren zerlegen zu können.

    Das Konzept der komplexen Zahlen wird auch in der Physik benutzt, allerdings geht es dabei hauptsächlich um die Vereinfachung von Rechenwegen. Am Ende jeder Rechnung darf man als Ergebnis stets nur den reellen Anteil der komplexen Lösung wählen, da es in der Natur keine komplexen Größen geben kann. Daran kann man auch erkennen, wie es mit der Mathematik als Sprache der Physik (also der physikalischen Naturphänomene) aussieht: Physik ist der Versuch die Vorgänge in der Natur in eine mathematische Sprache zu packen. Das ist so etwas wie die Übersetzung der tatsächlichen Sprache der Natur in die uns verständliche Sprache der Mathematik.
    Das kann man vielleicht noch besser an der Schrödingergleichung der Quantenmechamik erkennen: Diese lässt sich nur für sehr einfache Atome analytisch, d.h. mit “Bleistift und Papier”, lösen. Für jedes kompliziertere Atom und erst recht Molekül, aus denen unsere Natur aufgebaut ist, braucht man rechenstarke Computer, die sehr lange brauchen, um das Ganze numerisch, also angenähert, zu lösen. Solche Probleme, die sich nur numerisch lösen lassen, finden sich in der Physik sehr häufig. Und daher denke ich, dass die Mathematik nicht so etwas wie die tatsächliche Sprache der Natur sein kann, denn dann müssten diese Gleichungen auch tatsächlich analytisch lösbar sein. Es scheint mir logischer die Mathematik als Übersetzung zu verstehen, die eben manchmal nur auf Umwegen passieren kann und die die tatsächliche Sprache nicht identisch wiedergeben kann.
    Und wie man an der Quantenphysik sieht, ist die Übersetzung in die Mathematik auch noch keine Garantie dafür, dass wir das Phänomen wirklich verstanden haben, denn den mathematischen Apparat zur Beschreibung der Quantenphysik haben wir bereits, aber wirklich verstehen tut ihn niemand.
    Vielleicht kann sich ja ein mitlesender, bereits vollständig studierter Physiker auch noch dazu äußern 🙂

    Ich denke jedenfalls, ähnliche Probleme könnte es auch im Feld Spieltheorie und Religionswissenschaft geben… aber das bleibt wohl erst mal abzuwarten 😉

  2. Mathematik und Religion

    Als Theologiestdent denke ich bei solchen ZUsammenstellungen ja auch immer mein Fach mit, also nicht nur die Beschreibung der empirisch vorzufindenden Religionen, sondern auch die Beschreibung Gottes und seiner Lehre innerhalb einer Religion.
    Beim erstebn Nachdenken darüber, vor allem in Zusammenhang mit dem Kommentar von Sebastian Voß, “Mathematik als Sprache der Logik”, scheint es mir durchaus denkbar, nicht nur Kultur mathematisch zu beschreiben, sondern auch innerhalb der Theologie mit Mathematik zu arbeiten, oder auch in der Philosophie.
    Die Frage ist, inwieweit dies praktikabel ist und ob die Formeln nicht allzu viel gleichzeitig darstellen müßten und sehr schnell sehr komplex würden. Aber wie gesagt kann ich mir prinzipiell durchaus vorstellen, daß eines Tages mit Hilfe der Mathematik Dogmatiken oder Ethiken geschreiben werden, um mal Beispiele aus der Systematischen Theologie zu nennen. Bloß inwiefern das etwas vereinfachen sollte, sehe ich in dem Fall noch nicht ganz. Bei der Religionswissenschaft allerdings liegt die Sache wieder ganz anders, gerade wenn es um Demografie geht und um Evolution, also Bereiche, die sonst auch die Mathematik nutzen (zumindest nehme ich an, daß Biologen auch Mathematik-Veranstaltungen belegen müssen).

  3. @Sebastian, Bundesbedträg & Markus

    Vielen lieben Dank für die ermutigenden Rückmeldungen!

    Ja, ich bin selber gespannt, wie weit mathematische Modelle in der Religionswissenschaft tragen und ob sie auch Auswirkungen auf Theologie(n) und Ethik(en) haben werden. Fertige Antworten hat da sicher noch niemand und Überraschungen sind nicht ausgeschlossen – vor allem dann nicht, wenn sich Beteiligte verschiedener Disziplinen zusammentun und gemeinsam Neues schaffen. Bis dahin ist es aber noch ein weiter Weg – der ja bekanntlich erst einmal mit ersten Schritten beginnt. Ich hoffe, noch im Mai den ersten, inhaltlichen Beitrag zum Thema posten zu können.

  4. Mathematik und Gesellschaft

    Sehr geehrter Herr Blume,

    1. Sie überschätzen, so fürchte ich, die Reichweite der spieltheoretischen und mathematischen Ansätze, so wie das bei begeisterungsfähigen Nicht-Naturwissenschaftlern und Nicht-Mathematikern bisweilen anzutreffen ist.

    2. Wenn Sie das fachwissenschaftliche Buch von Herrn Nowak „Evolutionary Dynamics“ studieren, sehen Sie, dass es sich immer um – verglichen mit der Realität – stark vereinfachte phänomenologische Modelle handelt, deren Ergebnisse oft kritisch von frei wählbaren Parametern abhängen und mit denen man vermutlich mehr oder weniger Alles beschreiben kann. Wenn es um Verständnis geht, dann um das relative Gewicht genereller Prinzipien und nicht um Details. Der Begriff der „Erklärung“ in den Naturwissenschaften ist bekanntlich diffizil (siehe z.B. Peter Lipton „Inference to the best explanation“), und Erklärung und Beschreibung sind auf komplizierte Weise verquickt. Dennoch sollte man festhalten, dass viele Erwartungen der Vergangenheit, ein übergreifendes Verständnis etwa durch Synergetik, Chaostheorie usw. zu erreichen, sich selbst in der Physik usw. nicht bestätigt haben. Es sind oft nur Umformulierungen bekannter Ergebnisse herausgekommen, beeindruckend für Laien, aber nach meiner Wahrnehmung nicht wegweisend und fruchtbar für die Forschung (im Extremfall: die Apfelmännchen waren nicht viel mehr als eine Spielerei, und die Fraktalität in der Natur ist oft entweder trivial oder hineinkonstruiert). Natürlich berührt dieses Problem auch den heiklen Begriff der „Emergenz“. Ich glaube, dass man komplexe historische Vorgänge der biologischen und molekularen Evolutionsbiologie tatsächlich mit umfassenden mathematischen Modellen besser verstehen, nämlich mechanistisch überzeugend rekonstruieren kann. Für Phänomene der menschlichen Gesellschaft bin ich nach aller Erfahrung skeptisch, von der Vermutung ganz abgesehen, dass für einen religiös und/oder existenzialistisch orientierten Menschen das Ergebnis der Beschreibung in concreto inhaltlich belanglos sein dürfte, um seinen Weg zu finden; es fügt sich nur seinem allgemeinen Verstehen der Natur bei.

    3. Verständlicherweise neigen auch theologisch orientierte Personen dazu, der Mathematik einen platonischen Status zuzuweisen und zu insinuieren, das Buch der Natur sei in mathematischen Formeln geschrieben, als rationalistisches Korrelat des göttlichen Wirkens. Der praktisch-funktionale Platonismus ist ja auch für Mathematiker durchaus attraktiv. Sinnvoller erscheint es mir allerdings, einen pluralistischen und pragmatischen Standpunkt einzunehmen, wenn man nicht nur die Grundlagenprobleme der Mathematik, sondern auch die ganz konkreten Grenzen ihrer Handhabbarkeit und prüfbaren Sinnhaftigkeit betrachtet. Dies gilt nicht zuletzt dann, wenn komplexe Modelle nur noch numerisch handhabbar sind; das klassisch aufgefasste Verstehen gelangt dann an seine Grenze, und im Extremfall ist das Modell ähnlich undurchschaubar wie die zu beschreibende Realität. Was wir so erreichen können, ist die relative Bedeutung von Mechanismen zu verstehen, vorausgesetzt das Modell stimmt, oder Voraussagen zu ermöglichen. Zur Ernüchterung und Bereicherung empfehle ich die beiden Bücher des Mathematikers E. Brian Davies, Professor am King’s College London, in denen er ebenso wie in Fachartikeln luzide und kenntnisreich gegen den Platonismus in Mathematik und Physik argumentiert, ohne in die zugleich triviale und tückische Falle des Konstruktivismus zu geraten („Science in the looking glass“, „Why beliefs matter“, Cambridge University Press). Einen solchen Autor sucht man in Deutschland vergebens.

    Mit freundlichen Grüßen

  5. @Rudolf Jörres

    Danke für die Warnung! 🙂

    Was Platon betrifft, kann ich schon mal Entwarnung geben: Von ihm halte ich nicht wirklich viel und empirische Gottesbeweise (o.ä.) halte ich für logisch unmöglich. Auch bin ich kein Theologe, sondern Religionswissenschaftler – mich interessiert mithin wissenschaftlich nicht die Gottesfrage sondern die (evolutionäre) Erforschung menschlicher Veranlagungen bzw. menschlichen Verhaltens. Erkenntnistheoretisch habe ich mich in der Arbeit mit Hirnforschung als Konstruktivist geoutet, eher bei Kant denn bei Platon:
    http://www.chronologs.de/…hop.de/artikel/1004739

    Die Spieltheorie fand und finde ich gerade deswegen interessant, weil sie neue Sprach- und Forschungsbrücken auch zwischen den Disziplinen erlaubt, z.B. im Design von Experimenten und der Interpretation von Daten.
    Dass mathematische Modelle stets nur approximative Modelle sein können, sehe ich ganz genau so – das ist bei der Evolutionsforschung doch immer so. Alle Forschungen zu Homo sapiens werden nie in der Lage sein, das konkrete Leben z.B. von Angela Merkel oder Rudolf Jörres zu entschlüsseln – Evolutionsforschung (inkl. der evolutionären Spieltheorie) kann ja bestenfalls allgemeine Aussagen treffen.

    Und selbstverständlich ist es möglich, dass wir irgendwann zu dem Ergebnis kämen, dass die Arbeit mit mathematischen Modellen kaum wissenschaftlichen Ertrag brächte. Ich bin da zwar optimistischer, aber in einem ganz sicher – wir werden es erst herausfinden, wenn wir es versuchen.

  6. ist aber ein doch alter Hut

    Spieltheorie als Fachbereichsbegriff auf Religion, Glaube und Erfolg projiziert klingt modern, ist aber vom Grundsatz her nicht neu.
    Einfache Modelle der Art Erfolgt=F von(genetisches Glaubenspotential, Seriösität der Religion, Reproduktion) ist altbekannt. Eine Ameise hat kein Glaubenspotential, jegliche noch so gute Religion wäre chancenlos, selbst bei den hohen Reproduktionsraten der Ameisen.

  7. @mr.of

    Wären Sie so freundlich, uns einige der Arbeiten in diesem Bereich zu nennen? Es könnte ja durchaus lohnen, diese zu besprechen.

    Und apropos Ameisen: Wussten Sie, dass E.O. Wilson – der weltweit wohl bekannteste Ameisenforscher – sein berühmtes “Sociobiology” mit einem Zitat aus der Bhagavad Gita (einer heiligen Schrift des Hinduismus) einleitete? 🙂

  8. Replik auf die Antwort von Herrn Blume

    Sehr geehrter Herr Blume,

    1. Es ist klar, dass es beim „Verstehen“ immer nur um die (Re-)Konstruktion nach Prinzipien gehen kann, nicht um einen Nachvollzug der historischen, kontingenten und nicht mehr eruierbaren Details. Die Schwierigkeit liegt aber darin, dass dann, wenn man Verallgemeinerungen über die Fachgebiete anstrebt, die verbleibenden Prinzipien oft recht trivialer und eigentlich nichtssagender Natur sind. So ist ja von der einst gefeierten mathematischen Katastrophentheorie in der Anwendung sehr wenig übriggeblieben, ebenso von anderen Disziplinen; ich erwähnte bereits die Synergetik. Auch hat die Fraktaltheorie nach meiner Wahrnehmung etwa in der Medizin einzelne Phänomene in der Regel nur neuartig beleuchten können, nicht aber zu wirklich für die Anwendung fruchtbaren Ergebnissen geführt, denn dazu ist sie zu phänomenologisch. Die populärwissenschaftliche Wahrnehmung und der wissenschaftliche Ertrag scheinen mir hier zu divergieren; ich fühle mich darin bestätigt, indem dies beispielsweise in einem Sammelband zum Gedenken des Mathematikers Felix Hausdorff (der als erster nichtganzzahlige Dimensionen bereits Anfang des 20. Jh. eingeführt hat) seitens eines Mathematikers klar ausgeführt ist.

    2. Der konkrete Gewinn mathematischer Modelle und Simulationen in der Evolutionstheorie scheint mir darin zu liegen, dass wir die Bedeutung höherer evolutionärer genkombinatorischer usw. Mechanismen, die wir im Labormaßstab nicht experimentell nachvollziehen können, weil dazu geeignete Organismen oder die experimentelle Zeit fehlen, überprüfen und relativ gewichten können, um beispielsweise das Auftreten neuartiger Baupläne oder Strukturen in kritischen evolutionären Phasen nachzuvollziehen. Das ist aber eine konkrete, an molekularbiologische, physikochemische Mechanismen anzukopppelnde Fragestellung.

    3. Verglichen damit bleiben Fragen wie die nach dem spieltheoretisch ermittelbaren Vorteil der Religion anhand von Gruppenselektion o.ä. an der Oberfläche, und ihre Ergebnisse laufen Gefahr, ebenso trivial wie willkürlich zu sein; in dieser Hinsicht gehen die Bemerkungen von mr.of meines Erachtens durchaus in die richtige Richtung, und das von Ihnen angeführte Bhagavad Gita-Zitat mag – horribile dictu – vielleicht nicht mehr als ein inhaltlich wenig gehaltvolles Bildungs- und Bedeutungsbemühen eines Forschers belegen. Als philosophisch beschlagener professioneller Naturwissenschaftler bin ich inzwischen von kaum etwas so genervt wie von ins Allgemeine hinein „philosophierenden“ Naturwissenschaftlern, denn deren Auslassungen sind oft erstaunlich dürftig und naiv verglichen mit dem, was Philosophen zu sagen haben. Es ist allerdings oft zu beobachten, dass vor allem Theologen die Aussagen derartiger Naturwissenschaftler sogleich verwerten, obgleich diese Verwertung nur auf verbalen Assoziationen beruht (typisch beispielsweise Hans-Peter Dürr). Ein in meinen Augen achtenswerter Theologe, der naturwissenschaftlich beschlagen ist und sich gerade dagegen entschieden und mit genauen Begründungen verwahrt, ist übrigens Hans-Dieter Mutschler.

    Mit freundlichen Grüßen

  9. @Rudolf Jörres

    Ja, Hans-Dieter Mutschler kenne ich gut, wir hatten auch schon verschiedene Tagungen und sehr fruchtbare Diskussionen miteinander.

    Mir ist jedoch nicht ganz klar, warum etwas dagegen spräche, neue Ansätze auch einfach einmal mutig auszuprobieren – ob und was es bringt, wird sich ja zeigen. Dass die Spieltheorie in der interdisziplinären Erforschung von Religiosität und Religionen sehr fruchtbar sein kann, ist ja schon keine graue Theorie mehr, sondern z.B. in experimentellen Studien von Ara Norenzayan aufgezeigt worden – der es damit u.a. bis in die Science brachte! Vgl. hier:
    http://www2.psych.ubc.ca/~ara/research.htm

    Vor allem mit diesem Artikel hier wurde sein Ansatz bekannt und erfolgreich:
    http://www2.psych.ubc.ca/…Shariff_Norenzayan.pdf

    Beste Grüße!

  10. ad Michael Blume 2

    Sehr geehrter Herr Blume,

    selbst habe ich ja gar nichts gegen die möglichst vielfältige Anwendung von Methoden, um unser Verständnis aufzufächern und zu vertiefen, im Gegenteil, ich verwende ja selbst verschiedenartige Ansätze. Allerdings hat mir die Erfahrung speziell mit mathematischen Modellen gezeigt, dass eigentlich nur diejenigen, die konkreter (bio-)chemischer oder (bio-)physikalischer Natur sind, wissenschaftlich dauerhafte Folgen haben und Ertrag bringen, zumindest was die Anwendung anbelangt. Was phänomenologische Modelle leisten, sehen Sie gut an den „großartigen“ Modellen der Ökonomie; da hat sich ja auch die Spieltheorie ausgetobt, und die Ergebnisse sehen wir u.a. in der heillosen Finanzwelt, die wir „retten“ durften. Im Vergleich dazu sind diejenigen der Klimaforschung solide, und zwar exakt deswegen, weil mehr oder weniger konkrete Physik in sie eingebaut ist. Die „Prinzipien“-Modelle sind eher für die „Philosophie“ da und suggerieren leicht ein Verständnis, das, bei Licht besehen, nicht weit reicht; man berauscht sich halt gerne daran, alles unter einem Prinzip oder wenigen Prinzipien zu sehen, da kommt immer der Platoniker durch. So wird man mit der Zeit eher bescheiden. Da imponiert mir – offen gesagt – prima vista nicht einmal ein Science-Paper übermäßig. So fanden sich auch bereits sensationelle Paper über Fraktalität in der Medizin etwa in „Nature“ usw., ohne dass dann m.E. Nennenswertes gefolgt wäre. „Was fruchtbar ist, allein ist wahr“, heißt es aber bei J.W.v.G.

    Mit freundlichen Grüßen

  11. @Rudolf Jörres

    Naja, mich beeindruckt das Science-Paper auch nicht, weil es aus der Science ist: Sondern weil hier aus der Spieltheorie Experimente abgeleitet und damit Erkenntnisse gewonnen wurden. Ganz ohne Platon! 🙂

  12. Nachtrag, ad Michael Blume

    1. Mir scheint, dass phänomenologische Modelle, die oft stark auf Plausibilitätsannahmen und entsprechenden Vereinfachungen beruhen und deren Parameter, je nach Abstraktionsgrad, nicht sehr verlässlich an messbare Beziehungen koppelbar sind, dennoch vor allem dann einen echten Erkenntniswert haben, wenn sie Phänomene der Kritikalität aufzeigen, analog physikalischen Phasenübergängen. Wenn also bei der Perkolationstheorie, der Theorie der Zufallsgraphen usw. ab einem gewissen Parameterschwellenwert plötzlich qualitativ neuartige Erscheinungen auftauchen.

    2. So habe ich vor einiger Zeit zusammen mit Andreas Beyer eine Arbeit über ein probabilistisches Modell der Entstehung der Multizellularität und damit einhergehenden Zelldifferenzierung auf der Internetseite der „AG Evobio“ vorgestellt. Dieses Modell war zwar entlang einer Reihe konkreter zellregulatorischer Befunde konstruiert, aber dennoch notwendigerweise stark idealisiert. Es zeigte, dass selbst bei einer schwachen summarischen Nutzenfunktion der Multizellularität deren Entstehen rein auf der Basis von Selektionsprozessen auf der Ebene der Einzelzellen erklärbar war. So etwas kann helfen, für konkrete Fälle ansatzweise zu verstehen, auf welche Weise kleine Einzeleffekte durch ihr Zusammenwirken nachhaltig große Wirkungen entfalten können und welches Ausmaß von Stabilität der inneren und äußeren Umwelt erforderlich ist, um diesen im abstrakten Sinne kooperativen Differenzierungsprozess nicht durch stochastische Störungen zu verhindern.

    3. Dennoch bleibt die Mahnung zur Vorsicht. Modelle können plausibel sein und sogar die Beobachtungen beschreiben und sich dennoch als unfundiert erweisen; das hat etwas mit dem klassischen Identifikationsproblem einer black box zu tun. Damit wir uns nicht missverstehen: Ich finde es gut, dass Sie den Weg der Modellierung auch sozialer Systeme intellektuell verfolgen wollen. Allerdings sollte m.E. der kritische Menschenverstand ein starkes Vetorecht behalten selbst dann, wenn das Ergebnis „den Erwartungen entspricht“. Denken Sie nur an die vielen Modelle der Ökonomie, die auch beanspruchen, das menschliche Verhalten zu modellieren. Wo sie zutreffen, sind sie m.E. oft ziemlich trivial, und wo sie nicht trivial sind, so partiell, dass sie – grosso modo genommen – in der Anwendung irreführend oder schlechterdings falsch sind.

    Mit freundlichen Grüßen

  13. Spieltheorie und Religionswissenschaft – ein alter Hut!

    Schade, dass es Dein altes Blog nicht mehr gibt, Michael. Ich erinnere mich an einige sehr gute Beiträge, wie man Spieltheorie für Religionswissenschaft einsetzen kann. Dabei geht es nicht darum, ein einfaches Ursache-Wirkung-Prinzip aufzuzeigen – sondern meistens sogar darum, einen solch primitiv vermuteten Mechanismus zu widerlegen! “Jeder optimiert für sich, also muss der Mensch von Natur aus auch so handeln” etwa – da gab’s doch wunderbare Kritik und Gegenbeispiele (die noch nicht einmal direkt etwas mit Religion zu tun hatten, wohl aber erklären konnten, warum ein gemeinschaftliches Prinzip sich evolutionär als vorteilhaft herausstellen konnte).

  14. @Kunar: Interview Martin Nowak

    Naja, Du siehst ja, dass es Jahre und immer wieder neue Anläufe braucht, bis sich Befunde und Perspektiven langsam durchsetzen. 🙂

    Aber es tut sich schon etwas, und das finde ich sehr ermutigend.

    Hier ein aktuelles Interview mit Martin Nowak aus der Wiener Zeitung:
    http://www.wienerzeitung.at/…3937&cob=556862

  15. Interview mit Martin Nowak

    Wow, da stehen ja Brüller drin! Zwei Zitate:

    “Die Mathematik kommt heute zu ähnlichen Schlüssen wie Weltreligionen vor Jahrtausenden.”

    “Zu sagen, dass die Wissenschaft Argumente gegen die Religion hervorbringt, ist falsch. Denn die Wissenschaft ist neutral. Sobald man also sagt, ich lerne aus der Wissenschaft, dass es keinen Gott gibt, ist es keine Wissenschaft mehr. Sondern dann verwandelt man Wissenschaft in Religion – eine Religion des Atheismus.”

    Endlich mal wieder klare Aussagen im Gegensatz zu einem Wischiwaschi, was ich oft bei Berichterstattung oder Interviews über Wissenschaft lesen muss.

  16. Interview Nowak

    Ich finde das Interview in Kenntnis der Arbeiten von Herrn Nowak enttäuschend.

    1. Dass Wissenschaft bezüglich Religion neutral ist, ist nach meiner Wahrnehmung Standard unter Wissenschaftlern. In Religions- oder Antireligions-Kampfblogs mag sich das anders darstellen.

    2. Herr Nowak sagt: „Die Evolutionstheorie ist so präzise formuliert, dass man jede ihrer Ideen mathematisch beschreiben kann. Sie ist oft ähnlich berechenbar wie die Erdumlaufbahn. Wir können genau sagen, was evolviert und wie lange das dauert.“ Dies gilt immer nur für stark idealisierte Modelle, deren Vergröberung der Realität wesentlich weiter geht und schwerer prüfbar ist als viele Vergröberungen in der Physik.
    3. Der Satz „Die Mathematik kommt heute zu ähnlichen Schlüssen wie Weltreligionen vor Jahrtausenden“ ist geeignet, den Leser in die Irre zu führen. Davor steht allerdings die Frage „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst?“ Dies zeigt erstens, dass es nur um Kooperation geht, einen rein äußerlichen, funktionalen Aspekt von Religion, analog der Betrachtung durch die Systemtheorie Luhmanns, wie sie etwa von Spaemann immer wieder kritisiert wurde. So etwas kann mit jedem beliebigen kollektiven Wahnsystem erreicht werden, sofern es gewissen elementaren Bedingungen genügt. Zweitens sind gerade die Modelle von Herrn Nowak strikt auf Selektion als primärem Mechanismus und damit auf „Egoismus“ aufgebaut. Nur die Verrechnung ist komplexer, weil langfristiger und auf Interaktion in größeren Einheiten angelegt. Auch hängt alles an den jeweils gewählten Nutzenfunktionen.

    4. Was Religionen aber auszeichnet, jedenfalls die monotheistischen, um die es primär geht, ist der inhaltliche Wahrheitsanspruch, wie er beispielsweise in umfänglichen Katechismen dokumentiert ist. Hier kommt die Mathematik zu gar keinen Schlüssen. Übrigens kommt sie nicht einmal in der ersten, funktionalen Hinsicht zu den besagten Schlüssen, denn es handelt sich nicht um eigentliche („reine“) Mathematik, sondern um mathematische Modelle des Verhaltens (v.a. Psychologie, Anthropologie) analog physikalischen Modellen.
    5. Die Diskrepanz zwischen formaler Modellierung und eigentlicher Religiösität wird gerade dadurch aufgezeigt, dass Herr Nowak „Kooperation“ mit „Altruismus“ identifiziert (darin kann man übrigens auch eine verfeinerte Variante neoliberaler Ideologie sehen). Für einen religiösen Menschen ist aber ist das, was mit dem Bedeutungsfeld „Altruismus“ gemeint ist, inkommensurabel und vor allem nichtfunktional. Man vergleiche die formale Auffassung Nowaks mit klassischen religiösen Auffassungen, von Augustinus bis Levinas.
    6. Leider muss man befürchten, dass hier wieder der Weg „philosophierender“ Wissenschaftler beschritten wird, sowohl von Sender- als von Empfängerseite. Man kennt das aus der Quantenmechanik, die auch beliebt war und ist als Eintrittspforte für „das ganz Andere“, durch die sich die Religions-Apologetik der Wissenschaft als Zugpferd zu bemächtigen sucht. Schade, denn es verwässert die Wissenschaft und höhlt die Religion aus.

    7. Wenn man auf dem Teppich bleibt und die Originalliteratur liest und bedenkt, gibt es zwar weniger Brüller, jedoch mehr Einsichten.

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