Rezension zu Thomas Junker – Warum sind Menschen religiös? Die evolutionäre Perspektive

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Evolutionsgeschichte der Religion(en)
Natur des Glaubens

Seit Jahren beobachte ich fasziniert, wie sich die immer eindeutigeren Befunde der Evolutionsforschung zu Religiosität und Religionen langsam und gegen vielerlei Widerstände in den Wissenschaften durchsetzen. Vor allem für Religionskritiker, die mit Berufung auf die Evolution die Religion “abschaffen” wollten, ist der Weg zur Akzeptanz des “Homo religiosus” inhaltlich und psychologisch nicht leicht. Einige, die sich wie Richard Dawkins besonders weit aus dem Fenster gelehnt haben, versuchen sie “tapfer” zu ignorieren. Andere, mutigere Geister wie Susan Blackmore oder Jesse Bering setzen sich damit auseinander und rufen auch ihre antitheistischen Mitstreiter zum Weiterdenken auf (was ihnen von einigen als “Verrat” ausgelegt wird). Schon beim Lesen seines sehr lesenswerten Buches über die “Evolution der Phantasie” (2013) fiel auf, dass auch der deutsche Biologiehistoriker und erklärte Religionskritiker Thomas Junker zunehmend über manche plump-polemischen Reduktionismen des 20. Jahrhunderts hinausreicht. Mit “Warum sind Menschen religiös? Die evolutionäre Perspektive” veröffentlichte er 2014 in den Archäologischen Informationen einen Artikel, in dem er mit der Evolution(sforschung) zu Religiosität und Religionen ringt.

“Sind Menschen von Natur aus religiös?” knöpft sich Junker gleich eine schwierige Zentralfrage vor – und wählt mit einem These von Edmund Burke von 1790 (!), der Mensch sei “ein religiöses Tier” vorsichtshalber einen einfachen Gegner. Dass auch der studierte Theologe Charles Darwin selbst auf die evolutionären Wurzeln des religiösen Glaubens verwies, übersieht oder verschweigt er. Stattdessen weist er in einer spannenden Volte diesen frühen Denkern die Schuld zu, dass “eben dieser Versuch, religiöses Verhalten mit dem Verweis auf seine Natürlichkeit zu rechtfertigen, dazu [führte], dass viele Evolutionsbiologen der These keine nähere Beachtung schenkten.” Übersetzt heißt das wohl: Argumente religionsfreundlicher Menschen wurden schon deswegen als falsch verworfen, weil sie eben Argumente religionsfreundlicher Menschen waren – deswegen verweigerte man(n) auch das Forschen dazu. Ich fürchte, da hat er im Kern Recht…

Zum Selektionsvorteil von Religiosität bzw. Religionen

Inzwischen ließen sich, so Junker, die Forschungen zum “Selektionsvorteil” von Religiosität jedoch kaum mehr ignorieren. “Der Gottesglaube kann also durchaus ein Wahn sein, aber er ist eben vielleicht ein biologisch nützlicher Wahn.” Nach entsprechender Versicherung, dass die Anerkennung der wissenschaftlichen Befunde nicht auf “eine Rechtfertigung irrationaler Weltbilder hinauslaufen” müsse, lässt auch Junker wenig später die empirische Katze mutig aus dem Sack:

Und tatsächlich haben religiöse Menschen mehr Kinder als ungläubige. Dies gilt nicht für alle Konfessionen, aber der statistische Zusammenhang ist doch recht eindeutig (vgl. VAAS & BLUME 2009, 65 -106).

GottGeneundGehirnVaasBlumeVaas & Blume 2009 bezieht sich auf die zweite Ausgabe von “Gott, Gene und Gehirn” (Hirzel).

Schrieben die Gene die Bibel?

Reizvoll, aber philosophisch ungeklärt erscheint jedoch der folgende Satz:

Wenn der biblische Gott zu Noah und seinen Söhnen sagt: „Seid fruchtbar, vermehrt euch und bevölkert die Erde!“ (GENESIS 9, 1), so lässt sich dies biologisch als Ausdruck der Intentionalität der Gene verstehen, die einem außerweltlichen Gott zugeschrieben wird, da ihre eigentliche Entstehung den Menschen des vordarwinschen Zeitalters verborgen bleiben musste.

Auch nach mehrmaligem Lesen erschließt sich mir der Sinn der Aussage nicht. Warum wird das Gebot nicht bereits nach Genesis 1,28 zitiert, wo es sich direkt auf die Erschaffung des Menschen “als Mann und Frau” als allererstes Gebot findet, sondern erst die Wiederholung gegenüber Noah nach 9, 1? Und was ist “biologisch” unter dem “Ausdruck der Intentionalität der Gene” zu verstehen? Dass Gene doch so etwas wie einen eigenen Willen, eine Intention, vertreten? Junker scheint hier anzudeuten, dass in besagtem Gebot “eigentlich” die Gene “sprechen”, dieses Gebot aber mangels Evolutionstheorie “einem außerweltlichen Gott” zugeschrieben wurde.

Doch dies wäre aus religionswissenschaftlicher Sicht schlicht falsch, da verkürzt: Gene “sprechen” nicht, sondern sie eröffnen allenfalls die Grundlagen für kulturelle Fähigkeiten wie eben auch das Sprechen und Glauben. Nicht alles Gesprochene oder Geglaubte ist gleich oder gar genetisch determiniert – auch viele religiöse Lehren (z.B. der Shaker oder Skopzen) lehnten Fortpflanzung ausdrücklich ab! Das biblische Vermehrungsgebot ist kein Ergebnis nur biologischer, sondern biokultureller Evolution, in der sich jene kulturellen Traditionen besser durchsetzen, die auch über viele Kinder weitergegeben werden!

Und schließlich: Auch nach der Entdeckung der Evolutionstheorie hat es keine weltanschauliche Bewegung jemals vermocht, auf Basis der Evolutionsbiologie ein “Fortpflanzungsgebot” durchzusetzen. Klar: Sozialdarwinisten und wissenschaftliche Monisten hatten dies – erfolglos und mit teilweise üblen Folgen – versucht. Aber hier liegt ein Kategorienfehler vor: Aus dem Sein alleine ergibt sich kein Sollen, aus dem empirischen Beschreiben keine zwingende Weltanschauung. Ohne den Glauben an höhere Ziele und höhere Wesen konnte bislang nicht einmal die Anthropodizee-Frage (warum es eigentlich weitere Menschen geben sollte) befriedigend beantwortet werden!

Dass Junker mit diesen (zugegeben komplexen) Fragen biokultureller Evolution durchaus ringt, wird in seiner Auseinandersetzung mit E.O. Wilson und Ara Norenzayan deutlich:

Die Religionen verleihen den teilweise willkürlichen Regelwerken unbedingte Geltung, indem sie diese als gottgegeben oder heilig kennzeichnen. Die Vorteile einer religiösen Begründung der Moral sollen also darin bestehen, dass die sozialen Regeln nicht ausgehandelt, sondern diktiert werden. Dadurch verringert sich der Rechtfertigungsaufwand und es wird eine größere Stabilität erreicht. Dem stehen als Nachteile eine geringere Flexibilität und größere Missbrauchsgefahr gegenüber. Religion wird so als eine effektive, aber autoritäre Methode der Gemeinschaftsbildung bestimmt. Wilson argumentiert weiter, dass die Religionen in dieser Hinsicht unterschiedlich erfolgreich sind. Letztlich werden sich diejenigen Varianten durchsetzen, deren Anhänger besser überleben und sich fortpflanzen.

Dawkins hat zwar derzeit Unrecht, aber…

Doch dann rudert Junker erschrocken vor der eigenen Courage wieder ein wenig zurück und versucht doch noch, Richard Dawkins “Gotteswahn” von 2006 wieder mit ins evolutionsbiologische Boot zu holen. So könne…

ein Merkmal der Fortpflanzung dienen und zugleich dem Überleben bzw. Wohlergehen des Individuums schaden und umgekehrt („Design-Kompromisse“). Und schließlich ist zu beachten, dass sich die Nützlichkeit immer auf eine konkrete Lebensweise bezieht. Durch Veränderungen der Umwelt können sich ursprünglich vorteilhafte Eigenschaften in ihr Gegenteil verkehren und zu sogenannten Fehlanpassungen werden.

Das ist natürlich ebenso richtig wie banal: Auch Liebe und Leidenschaften, Sprachen und Wissenschaften haben immer wieder dem Überleben bzw. Wohlergehen von Individuen geschadet. Und würde die Menschheit in diesem Moment von Wassermassen überflutet, so könnten sich unsere Lungen als “Fehlanpassungen” erweisen, denn Kiemen wären dann besser. Erkenntnistheoretisch wäre viel einfacher klarzustellen: Evolutionsforschung bezieht sich immer (!) nur auf historische, also bereits vergangene Ereignisse, sie erhebt keinen Anspruch auf Prophetie. Aber hier geht es wohl eher um den Versuch, Dawkins mit dem Argument abzusichern, seine Befunde seien zwar bisher empirisch widerlegt, könnten aber ja in Zukunft einmal theoretisch wahr werden, irgendwie…

Definition von Religiosität

Nun wendet sich Junker den Grundlagen und Definitionen von Religiosität zu. M.E. völlig zu Recht stellt er fest:

Das allgemeine Vorkommen von Religiosität in den unterschiedlichsten Kulturen wird häufig als Indiz dafür gewertet, dass dieses Verhalten in der Natur der Menschen, d. h. in ihren Genen, verankert ist. Der Einwand, dass nicht alle Menschen gläubig sind, widerspricht dem nicht, wenn man annimmt, dass es kein direktes Religions-Gen gibt, sondern eine genetische Disposition, die nur unter bestimmten Bedingungen religiöses Verhalten hervorruft. Eine entsprechende Veranlagung würde sich also nur bei einer bestimmten Erziehung als Religiosität manifestiert, in einer anderen Umwelt dagegen beispielsweise als künstlerische Kreativität, als Aberglauben, Patriotismus, politischer oder sportlicher Fanatismus und vieles mehr.

Religiosität sei jedoch noch nicht einheitlich definiert – und so kritisiert Junker auch jene Sammel-Definition von Religion, die wir in “Gott, Gene und Gehirn” noch vorgeschlagen hatten:

Rüdiger Vaas und Michael Blume gehen von sieben Merkmalen mit jeweils eigenen Funktionen aus: Transzendenz, ultimative Bezogenheit, Mystik, Mythos, Moral, Ritus und Gemeinschaft. (VAAS & BLUME 2009, 223). Es ist sicher richtig, dass mit diesen „Domänen“ bzw. „Merkmalen“ Eigenschaften benannt werden, die in den Religionen eine wichtige Rolle spielen. Sie kommen aber auch regelmäßig in nicht-religiösen Bereichen vor.

Diesen Einwand Junkers finde ich völlig berechtigt – und habe mich daher inzwischen denjenigen angeschlossen, die Religiosität schlicht und konkret als “Glauben an überempirische Akteure (höhere Wesen)” definieren. Denn ein Ritual ist tatsächlich einfach ein Ritual – und wird erst dann “religiös”, wenn es auf die Kommunikation mit höheren Wesen (Engeln, Gottheiten etc.) angelegt ist. Ebenso ist eine Schrift eine Schrift – und wird erst dann zur “heiligen Schrift”, wenn sie als eine göttliche Offenbarung anerkannt wird. Aufzählende Definitionen von Religion sind also, da gebe ich Junker nun völlig Recht, notwendig willkürlich und unklar. Mit einer kleinen Begriffsverschiebung zum Glauben an genau einen Gott oder Geist führt er nun Baron-Cohen an, der meinte,

dass das gemeinsame Merkmal aller gegenwärtigen Religionen darin besteht, dass ein übernatürliches Wesen – ein Gott, ein Geist – postuliert wird, der mit einem Menschen kommunizieren kann, ihn möglicherweise beurteilt (d. h. über ihn nachdenkt) und der durch rituelle Handlungen besänftigt werden kann.“

Religion = (Mono-)Theismus?

Tatsächlich bemüht sich Junker nun auf den folgenden Seiten seiner Arbeit, zu begründen, dass mit “Religion” erst der Glaube an “Götter” gemeint sei. Die Verehrung von Ahnen und Geistern will er dagegen als “Animismus”, also als (Noch-)Nicht-Religion verstanden wissen.

Solange sich also nicht zeigen lässt, dass die Kunstwerke der Altsteinzeit Hierarchien durch Größenunterschiede oder etwas Vergleichbares symbolisierten, sind diese meines Erachtens auch keine Indizien für den Glauben an übermächtige Götter. […] Insofern stellen auch die Schädelkulte und Bestattungen der Altsteinzeit keine eindeutigen Belege für Religiosität dar. […] Insofern ist es notwendig, zwischen dem Geisterglauben (Animismus) und dem Glauben an übernatürliche und übermächtige Götter (Religion) zu differenzieren. […] Die Tatsache, dass es aus der Altsteinzeit (> 10.000 Jahre vor heute) keine eindeutigen Belege für den Glauben an übernatürliche und übermächtige Götter gibt, legt nun nahe, dass es weder die Naturerfahrung noch die innere Erfahrung waren, die das religiöse Weltbild erzeugten, sondern im Wesentlichen die sozialen Erfahrungen. D. h. die genetische Anlage für animistisches Denken scheint religiöses Verhalten nur in der sozialen Umwelt der Zivilisation hervorzubringen. Religiosität wäre also im Kern ein Ausdruck sozialer Erfahrung und ein Kind der Zivilisation.

Dass diese Argumentation sehr wackelt, weiß oder spürt auch Junker und räumt ein:

Wenn man den Geisterglauben (Animismus) als eine Form der Religiosität auffasst, dann wird man ihre Entstehung früh in die Geschichte der Menschheit datieren, wie das einige Autoren tun (TYLOR 1871, Bd. 1, 383 – 387). Dieses weite Verständnis von Religion ist selbstverständlich ebenso legitim wie die hier präferierte engere Definition.

Hier irrt Junker meines Erachtens – und zwar aus vorbewussten, kulturwissenschaftlich nachvollziehbaren Gründen. So ist die gerade unter westlichen Biologen weit verbreitete Vorstellung der Vertreibung des Menschen aus dem urzeitlichen, vor-“zivilisatorischen” Paradies selbst ein säkularisiertes Produkt unserer Religions- und Kulturgeschichte. Entsprechend hatte Junker zusammen mit Sabine Paul auch bereits 2009 in der “Darwin-Code” auch zum Beispiel für die Wiedereinführung der altsteinzeitlichen “Paläo-Ernährung” geworben. Weil “wir” Menschen in der Umwelt der Altsteinzeit evolvierten, erscheint in dieser Wahrnehmung vieles unserer heutigen Zivilisation als “entfremdend”. In diesen zivilisationskritischen Kontext würde Junker auch gerne die Religion (nicht aber z.B. die Wissenschaft?) packen.

Dass westliche Religionskritiken des späten 20. Jahrhunderts also auch die Religion gerne aus der Altsteinzeit / dem Paradiesgarten vertreiben wollen, ist zwar verständlich, macht aber schon im Hinblick auf andere, heutige Kulturen empirisch überhaupt keinen Sinn. So verstehen sich Millionen Japanerinnen und Japaner als Shintoisten und Buddhisten, glauben an die Beseeltheit von Dingen, an die Geisterwelt der Khami und verehren auch deswegen ihre Ahnen, deren rituelle Behandlung sie gerne buddhistischen Tempeln anvertrauen.

AhnenschreinJapanEin japanischer Butsudan (Hausaltar) zur Verehrung der Ahnen & des Buddha.

Mit Junker wären also wahlweise der japanische Shintoismus und Buddhismus mangels Hochgöttern gar keine “echten” Religionen – oder die japanische Kultur keine “echte” Zivilisation. Beides ist offensichtlich absurd. Auch westliche Glaubenstraditionen etwa mit Bezug auf Engel oder sich offenbarende Außerirdische (z.B. Raelianer) wären solange nicht als “religiös” zu verstehen und nicht religionswissenschaftlich zu erforschen, solange sie keine “Götter” anerkennen.

Nein, hier liegt meines Erachtens ein noch häufiger, gemeinsamer Fehlschluss mancher Theologinnen und Antitheisten vor – “Religion” nur über die “enge Definition” der europäischen Geistesgeschichte verstehen zu wollen. Aber Religiosität hat nicht erst mit “Theismus” begonnen – und sie prägt auch heute immer wieder neue, nicht-theistische Formen aus. Auch Einhörner sind zum Beispiel keine Götter, werden aber mitten in unserer Zivilisation religiös geglaubt…

Junkers Fazit

In der Gesamtschau kann es nicht verwundern, dass Junker am Ende noch einmal das heimliche Altsteinzeit-Paradies beschwörend verteidigt und betont, dass der Mensch möglicherweise als “animistisches”, keineswegs aber als “religiöses Tier” gelten könne – um dann noch einmal vom Leder zu ziehen:

Genauso wenig sind sie von Natur aus mörderische, neurotische oder übergewichtige Tiere. Religiöses Verhalten, Morde aus Eifersucht, Angstneurosen oder Übergewicht können sich manifestieren, wenn sich eine genetische Anlage unter bestimmten Umweltbedingungen ausprägt.

Der Leser stutzt: Hatte sich Junker im Text noch zähneknirschend um wissenschaftliche Ausgewogenheit bemüht, fallen ihm hier zur Religion nur noch negative Vergleichsbeispiele ein. Warum nicht auch zum Beispiel das Sprechen, Lesen und Schreiben und die Wissenschaft, die doch ebensowenig “von Natur aus” auftreten und kulturell sogar viel jünger sind? Auch seine obige Anerkenntnis der empirischen Forschungen zu den Selektionsvorteilen von Religiosität schränkt Junker wieder ein:

Dies bedeutet aber weder, dass diese Merkmale immer auftreten müssen, noch dass sie den Individuen einen Selektionsvorteil bieten, noch dass sie für die sozialen Gruppen einen Nutzen haben müssen. Dies gilt auch für die Religion.

So erweist sich “Warum sind Menschen religiös?” als ein bemerkenswertes und lesenswertes Dokument des Ringens eines bekennenden Religionskritikers mit evolutionären Befunden, die ihm nicht in die eigene Weltanschauung passten und die er nur schwer zu akzeptieren vermag. Im Gegensatz zu anderen, kleineren Geistern flüchtet sich Junker jedoch nicht in die bequeme Ignoranz, sondern setzt sich mit den Ergebnissen auseinander, versucht Zeile für Zeile erträgliche Auswege und Formulierungen zu finden. Der Artikel ist also nicht nur spannend zu lesen, sondern sicher auch für spätere Generationen von Wissenschaftshistorikern interessant. Und mir bleibt zu hoffen, dass dies nicht die letzte Veröffentlichung Junkers zu dem Thema ist, dass ihn weltanschaulich und emotional erkennbar umtreibt. Meine Empfehlung: Sehr lesenswert!

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Dr. Michael Blume studierte Religions- und Politikwissenschaft & promovierte über Religion in der Hirn- und Evolutionsforschung. Uni-Dozent, Wissenschaftsblogger & christlich-islamischer Familienvater, Buchautor, u.a. "Islam in der Krise" (2017), "Warum der Antisemitismus uns alle bedroht" (2019) u.v.m. Hat auch in Krisenregionen manches erlebt und überlebt, seit 2018 Beauftragter der Landesregierung BW gg. Antisemitismus. Auf "Natur des Glaubens" bloggt er seit vielen Jahren als „teilnehmender Beobachter“ für Wissenschaft und Demokratie, gegen Verschwörungsmythen und Wasserkrise.

47 Kommentare

  1. EIne interessante Rezension. Die Rede von “plump-polemischen Reduktionismen des 20. Jahrhunderts” scheint mir allerdings ihrerseits etwas polemisch. Reduktionismus ist oft eine sehr gut vertretbare Position (und verschieden von Eliminativismus). So ist auch eine evolutionär basierte Erklärung von Religion keineswegs per se nichtreduktionistisch.

    • @Daniel

      Oh, ich behaupte bewusst auch nicht, dass alle Reduktionismen plump wären (sonst könnte ich ja auch selbst keine Evolutionsforschung betreiben, die ja auch komplexe Prozesse auf möglichst kompakte Funktionen reduziert). Vielmehr will ich ausdrücklich anerkennen, dass Junker längst weit über Nichts-als-Alsereien hinausgewachsen ist, die z.B. die Existenz und Wirksamkeit von Geistigem komplett zu leugnen versuchten. Junkers “Evolution der Phantasie” geht weit darüber hinaus und erkundet bereits empirisch orientiert die Wechselwirkungen zwischen materiellen und geistigen Prozessen. Ist ein starkes und weiterführendes Werk!

  2. Thomas Junker im besprochenen Aufsatz: “Glauben an (übernatürliche)
    Götter einherging. Wenn beispielsweise der
    „Venus von Willendorf“ eine religiöse Bedeutung
    zugeschrieben wird, so handelt es sich um eine
    reine Spekulation. Ebenso gut kann man vermuten,
    dass es sich um eine erotische Darstellung
    gehandelt hat. Konsequenterweise wurde die im
    Jahr 2008 entdeckte „Venus vom Hohlen Fels“
    neben einer Reihe anderer Interpretationen denn
    auch als „Prehistoric pin-up“ bezeichnet (CONARD,
    2009; MELLARS, 2009; NATURE, 2009).”

    Dass der Witz mit dem “prehistoric pin-up” nicht langsam fade wird? Vor allem sollte man einen Witz nicht als wissenschaftliche Theorie wiedergeben. Warum sollten Altsteinzeitmenschen es nötig haben, “Pornos” zu schnitzen? Mangel an Paarungspartnern? Das ist eine viel offensichtlichere Projektion unserer gegenwärtigen Vorstellungen in die Altsteinzeit, als die Annahme einer religiösen Bedeutung. Zudem sollte man davon ausgehen, das banale Dinge aus banalen Materialen wie Holz geschnitzt werden, kostbarerer, bedeutendere Objekte dagegen aus wertvolleren oder schwerer zu bearbeitenden Materialien wie Stein und Elfenbein.

    Gerade die Unkenntlichkeit eines Gesichts oder gar das Fehlen eines Kopfes (Venus vom Hohlefelsen) könnter auf eine numinöse Vorstellung hinweisen. In vielen Kulturen begannen die Darstellung von Numina, Göttern, Ahnen mit anikonischen Malen.

  3. Auch nach der Entdeckung der Evolutionstheorie hat es keine weltanschauliche Bewegung jemals vermocht, auf Basis der Evolutionsbiologie ein “Fortpflanzungsgebot” durchzusetzen.

    Um Gottes willen, was wäre das auch für ein unwissenschaftlicher Unsinn!

    PS: Wir haben zwar das Prinzip der Kernspaltung entdeckt, das heißt aber nicht, daß wir auf Basis der Kernphysik ein “Vernichtungsverbot” durchsetzen müssen.

    • Exakt so ist es, @Tim! Und daraus ergibt sich m.E. eben auch das säkulare Problem der Anthropodizee: Gottheiten können Gebote der Fortpflanzung mit Autorität verkünden (wie es auch, aber nicht nur in der Bibel laufend geschieht). Dies auf “wissenschaftlicher Basis” zu versuchen wäre jedoch, ja, “unwissenschaftlicher Unsinn”!

      An dieser Stelle wird also m.E. sehr weitreichend deutlich, dass Wissenschaft(en) und Religion(en) völlig unterschiedliche Funktionen erfüllen und es nur schaden kann, wenn sich Religion als Wissenschaft ausgibt oder umgekehrt… #ErkenntnistheoretischerPluralismus vgl. https://scilogs.spektrum.de/natur-des-glaubens/die-empirische-beweislast-der-antitheisten/

      • Allerdings treffen alle Religionen mit Schöpfungsgott an grundsätzlicher Stelle eine Aussage über die Struktur der Welt, d.h. wagen sich in das Gebiet der Wissenschaft, in dem sie nun mal nicht bestehen können.

        Wenn sich Religionen ganz realistisch als Teilbereich des literarischen Lebens sähen, hätte die Wissenschaft weniger Probleme mit ihr, denke ich.

        Allerdings gibt es durchaus auch Wissenschaftler, die glauben, moralische Forderungen aus ihrer jeweiligen Disziplin ableiten zu können. Das ist natürlich ebenso wenig überzeugend.

        • Stimme wieder zu, @Tim! Und denke auch, dass sich die Überschneidungen besser bearbeiten, aber nicht endgültig vermeiden lassen. Wenn z.B. Papst Franziskus in seiner Enzyklika die These von der Erderwärmung bejaht, bewegt er sich auf das Feld der empirischen Wissenschaften – was ihm US-Konservative auch sofort vorwarfen.

          Aber ebenso sind natürlich auch ökologische Wissenschaften meist normativ unterwegs, treten Biologinnen für den Erhalt der Artenvielfalt ein etc.

          Völlig “dazwischen” finden wir ja auch z.B. (säkulare) Rechtswissenschaftler, die sich zu nichtempirischen Entitäten (“Menschenrechten”) äußern und ohne die keine komplexe Zivilisation funktioniert.

          Wir verstehen vieles noch nicht – was immerhin die Chance zum interdisziplinären Weiterforschen eröffnet! 🙂

          • Kommentatorenkollege Tim trägt zustimmungsfähig vor, statt ‘literarisch’ ginge weiter oben auch ‘kulturell’, nett auch Ihre Anmerkungen, Päpste sollten nicht naturwissenschaftlich aussagen, wie einige, nicht nur US-Konservative, finden. [1]
            Vielen Dank,
            MFG
            Dr. W (der leider hier nicht zugreifen kann)

            [1]
            außer vielleicht so: -> https://de.wikipedia.org/wiki/Humani_generis

          • Dabei hat Papst Franz einfach nur erkannt, daß es beim Thema “Erderwärmung” eben mitnichten um die wissenschaftliche Tatsache geht, daß es seit dem Ende der “kleinen Eiszeit” meßbar wärmer geworden ist, sondern vielmehr um die drohende Apokalypse, mit der “die Natur / Gaia” die Menschheit für ihre “CO2-Sünden bestrafen” wird. Eindeutig ein religiöses Narrativ, das da ständig von sogenannten Klimaforschern bedient wird.

            Die Bibel ist da mit der Noah-Geschichte recht eindeutig: jeder Regenbogen, den wir sehen, erinnert daran, daß Gott diese Welt eben nicht zerstören will – schon garnicht mit noch mehr Sintfluten. Während dieses biblische Wissen für Papst Benedikt genug Sicherheit geboten haben mag, die “Church Of Global Warming” erst garnicht mit seiner öffentlichen Aufmerksamkeit zu beschenken, konnte Papst Franz offensichtlich der Versuchung nicht widerstehen, einen weiteren heidnischen Kult in den theologischen Rahmen des Katholizismus zu integrieren. Man kann ihm keinen Vorwurf machen, viele Protestanten versuchen ebenfalls, CO2-Kult und Christentum irgendwie unter einen Hut zu bekommen – teilweise in einer Form, daß man sich fragt, wer hier wen assimiliert…

          • @Störk

            Verstehe ich Sie richtig – Sie würden also annehmen, dass es keinen signifikanten Einfluss des Menschen auf das Klima gibt, sondern nur einen entsprechenden “heidnischen Kult”?

          • Hallo Dr. Blume,

            bei Ihrer Gegenfrage weiter unten fehlt der “Antworten” Link.

            Zur Frage, ob “der Mensch” einen “signifikanten Einfluß” auf “das Klima” hat, kann es viele Antworten geben. Das Mikroklima in meinem Auto kann ich auf Knopfdruck beeinflussen 😉 aber ich nehme mal an, es geht Ihnen bei dieser Frage ebenso wie nebenan bei Herrn Rahmsdorf nicht um “ein Klima”, sondern um “Das Große Ganze”, das “Weltklima”. Auf das haben Sie und ich eher wenig Einfluß, die Planwirtschaftler in China, die entscheiden müssen, ob mehr Kohlekraftwerke (ja genau, CO2) mehr Staudämme (evtl CH4 auf überfluteter Biomasse?) oder mehr Kernkraftwerke, oder angesichts des Energiehungers eine wachsenden Wirtschaft einfach alles gebaut werden soll, ja, die haben etwas mehr Einfluß auf den Gehalt der Atmosphäre an Infrarot-Aktiven Gasen. Aber: nichts davon ist so bedrohlich, daß das Klima “geschützt” werden müßte. Wir haben noch nicht einmal das Temperaturniveau der Wikingerzeit wieder erreicht, welche Anmaßung stellt es dar, die “Globaltemperatur” (wo genau gemessen?) begrenzen zu wollen?

            In der Argumentationskette vom “Treibhauseffekt” (irreführende Bezeichnung, Gewächshäuser werden nicht durch “eingesperrte Strahlung” so warm) bis hin zur “drohenden Klimakatastrophe” klaffen riesige Lücken. Man muß kein Klimawandelleugner (es wandelt sich schon seit 4Mrd Jahren) oder CO2-Leugner (die gemessene Klimasensitivität von CO2 liegt bei 1Grad pro Verdopplung) sein, um ein “Klimakatastrophen-Ketzer” zu sein. Es reicht schon, wenn man Björn Lomborg zustimmt, daß alle sogenannten “Klimaschutzmaßnahmen” rausgeschmissenes Geld sind, mit dem man besser etwas gegen Malaria und Aids tun könnte, wenn man denn schon die Welt retten will. 🙂

            BTW, wenn wieviel Geld ich zum “Welt retten” übrig habe, entscheide ich lieber sonntags am Klingelbeutel, als bei der Strom- oder Heizkosten-Jahresabrechnung.

        • “Allerdings treffen alle Religionen mit Schöpfungsgott an grundsätzlicher Stelle eine Aussage über die Struktur der Welt, d.h. wagen sich in das Gebiet der Wissenschaft, in dem sie nun mal nicht bestehen können.”

          Allein die Aussage, das die Welt eine Schöpfung Gottes ist, scheint mir noch kein Verstoß gegen die Wissenschaft zu sein.

          “Wenn sich Religionen ganz realistisch als Teilbereich des literarischen Lebens sähen, hätte die Wissenschaft weniger Probleme mit ihr, denke ich.”

          Naja, dann wäre sie keine Religion mehr. Es gibt auch Religionen ohne Bücher.

          “Allerdings gibt es durchaus auch Wissenschaftler, die glauben, moralische Forderungen aus ihrer jeweiligen Disziplin ableiten zu können. Das ist natürlich ebenso wenig überzeugend.”

          Sie meinen vermutlich, dass die Wissenschaftler moralische Forderungen aus ihren wissenschaftlichen Erkenntnissen ableiten. Da halte ich nicht grundsätzlich für verboten, es hängt vom Einzelfall ab. Ein Wissenschaftler ist auch ein Mensch mit einem Gewissen, er kann und darf nicht sein neues Wissen in den Spind im Institut einschließen und dann so tun, als gehe in das im “echten” Leben nichts an. Wenn er öffentlich moralische Forderungen erhebt, unterliegt das natürlich auch der Kritik im öffentlichen Diskurs.

  4. Lieber Herr Blume,
    vielen Dank für die Rezension. Das klingt interessant. Allerdings bin ich sehr skeptisch bzgl. Junkers Versuch, Gottesglauben im allgemeinen über Gene verstehen zu wollen. Insbesondere der Versuch der Interpretation biblischer Texte mittels Rückführung auf Gene scheint mir doch äußerst fragwürdig. Ich gehe schon davon aus, dass die Religiosität des Menschen eine natürliche Grundlage hat. Aber würde doch sagen, dass biblische Texte Produkte des menschlichen Geistes sind und auch so interpretiert werden sollten. Freundliche Grüße

  5. Religiösität steht halt der Ratio entgegen, wie sie spätestens seit Erfindung der Aufklärung vorliegt; im aufklärerischen Sinne kann Religion erst einmal nicht annehmend wissenschaftlich betrachtet werden, eine wissenschaftsnahe Theologie des Christentums kann es nur deshalb geben, weil mit Papst Pius, dem Zwölften, im Sinne der Römischen Kirche hier locker geworden ist, so um 1950 herum.
    Dem Zweiten Vatikanischen Konzil gelang dann sozusagen in den frühen Sechzigern des letzten Jahrhunderts eine Abrundung.

    Religionen oder besondere Rückgebundenheit sind metaphysische Einstellung, sie dürfen gerne privat bleiben, müssen sich als Esoterik [1] nicht wissenschaftlichem Anspruch stellen und sind, aus Sicht einiger zumindest, als gesellschaftliche Veranstaltung zu buchen, die gesellschaftlich Sinn ergibt, aber nicht im Epistemologischen.

    Es soll hier eingeräumt werden, dass nicht alles gescannt oder quergelesen werden konnte, aber dies hier ist natürlich, sofern zustimmend, eine vernünftige Annahme:

    Schrieben die Gene die Bibel?
    Tautologisch OK sozusagen.

    MFG
    Dr. W

    [1]
    Esoterik steht der Exoterik entgegen, wie sie sich im zeitgenössisch Wissenschaftlichen ergibt.
    Das eine ist öffentlich, das andere steht Eingeweihten offen.

  6. V2.0, sorry:

    Wenn man den Geisterglauben (Animismus) als eine Form der Religiosität auffasst, dann wird man ihre Entstehung früh in die Geschichte der Menschheit datieren, wie das einige Autoren tun (TYLOR 1871, Bd. 1, 383 – 387). Dieses weite Verständnis von Religion ist selbstverständlich ebenso legitim wie die hier präferierte engere Definition. [Junker]

    Hier irrt Junker meines Erachtens – und zwar aus vorbewussten, psychologisch wie kulturell nachvollziehbaren Gründen.

    Sogenannten Lexen folgend, vgl. mit ‘legere’, ‘legitim’ und so, kann eigentlich nichts falsch gemacht worden sein.

    Ansonsten ist zumindest der Schreiber dieser Zeilen der Idee zugeneigt, dass sogenannter Animismus eine bestimmte Rückgebundenheit oder Religio bedeuten müsste, herkömmliche Sprachlichkeit zugrunde gelegt.

    Wichtich bleibt die Unterscheidung zwischen Esoterik und Exoterik.

    MFG, Dr. W

    PS:
    I,p. einer womöglich vorliegenden ‘Vorbewusstheit’ und so, wäre Ihr Kommentatorenfreund vorsichtig, es soll ja nicht (fern-)psychologisiert werden.

  7. Dawkins-Bashing ist groß in Mode. Womit soll er denn angeblich Unrecht haben? Im angegebenen Link fand ich vor allem seine Hoffnung, dass die Kinder nicht weiterhin die Religion der Eltern übernehmen. Ein Zitat, in dem Dawkins behauptet, Religion könne keinen evolutionären Vorteil haben, habe ich nicht gefunden. Wenn eine Religion vorschreibt, Frauen müssen zehn Kinder kriegen und Ungläubige müssen erschlagen werden, ergibt das natürlich einen evolutionären Vorteil. Leugnet Dawkins das?

    • @kereng

      Dawkins-Bashing liegt mir fern, der Mann war ein grandioser Schriftsteller, der auch mich bewegt hat.

      Nur sind seine “Thesen” tatsächlich so schwammig, dass sie sich kaum falsifizieren lassen (was genau ist ein Mem? Was genau bedeutet Wahn? etc.)

      Vor allem aber: Für einen forschenden Evolutionsbiologen, der sich zum Thema Religion hundertfach geäußert hat, hätte man beim Nachweis des Reproduktions- und also Fitnessvorteils aktives Interesse erwarten dürfen! Stattdessen gab es nur diese lausige, defensive Aussage…

      DAS hat mich enttäuscht – hatte ich doch bis dahin erwartet, es mit einem ehrlich interessierten Evolutionsforscher zu tun zu haben! Wenn ein Thema wirklich interessiert – dann doch auch, wenn einem die Befunde erstmal nicht passen. Siehe Junker als Positivbeispiel…

      • Erst hatte Dawkins “Unrecht” jetzt nur noch mangelndes “Interesse”. Vielleicht hat er kein Interesse, weil der “nachgewiesene” Befund wiederum zu schwammig ist. Geht es wirklich um Evolution, also um Vererbung, oder nur um Kultur? Hat Gott, also der Monotheismus, einen reproduktiven Vorteil oder sind es allgemeine Fähigkeiten wie “Theory of Mind”, die a) einen Vorteil und b) Gottesbilder als Nebeneffekt haben? Wurde berücksichtigt, dass gemeinsame Ursachen wie Armut, Bildungsnotstand oder Unsicherheit a) zu mehr Kindern und b) zu Religiosität führen?

        • @kereng

          Tja, da ist die interdisziplinäre Forschung halt längst wieder weiter als Dawkins, weiß z.B. zwischen biologischer und kultureller Evolution zu unterscheiden, zwischen empirischen Entitäten (wie Steinen und Menschen) und nichtempirischen Entitäten (wie Rechten und Gottheiten) und die spannenden Wechselwirkungen zu erkunden. Dass Teile seiner Jüngerschaft da längst nicht mehr mitkommen, wundert mich nicht. 😉 (Und auch Junker erwähnt ja aus guten Gründen nicht mal mehr das mysteriöse, weil nie definierte, aber dafür metaphorisch reiche “Mem”…)

          Hier habe ich das Thema biokultureller Evolution von Religiosität & Religion(en) mal in einem Studienbrief ausführlicher behandelt, gerne zum kostenlosen Downlad:
          http://www.blume-religionswissenschaft.de/pdf/Studienbrief_ReligionKulturelleEvolutionBlume2014.pdf

          Ein aktueller Sammelband zum Thema Evolution, Religion & Reproduktionserfolg findet sich hier:
          https://scilogs.spektrum.de/natur-des-glaubens/religion-selektion-partnerwahl-the-attraction/

          Darüber hinaus bitte ich aber um Verständnis, dass ich über den Blog und die vielen anderen (auch kostenfreien) Publikationen hinaus zum Forschungs- und Diskussionsstand keine Einzelseminare (mehr) geben kann. Es geht einfach zeitlich nicht.

          • Zack! Noch ein Seitenhieb auf Dawkins. Meinen Sie wirklich, dass der Erfinder der Meme nicht zwischen biologischer und kultureller Evolution unterscheiden kann?

            Aus dem verlinken PDF
            >>Noch immer vertreten nicht wenige „Darwinisten“ die Auffassung, der Evolutionsprozess verlaufe ziel- und bewusstlos. Damit handeln sie sich freilich das – bis heute ungelöste – Problem ein, nicht erklären zu können, woher denn dann Bewusstsein und zielgerichtetes Handeln „höherer“ Lebewesen – nicht erst des Menschen – stammen.<<
            Wollen Sie mit diesem Kategorienfehler Intelligent Design lehren?

          • Nein, @kereng, denn Intelligent Design ist nach heutigem Kenntnisstand ebenso wenig empirisch überprüfbar wie Dawkins “Memetik”. 🙂

            Durch Ihre Fragen angeregt hier übrigens ein aktueller Blogpost zum Thema “kulturelle Evolution”:
            https://scilogs.spektrum.de/natur-des-glaubens/neue-gesellschaften-zur-erforschung-der-bio-kulturellen-evolution/

            (Falls Sie es wagen wollen, über Ihren Meister hinaus zu wachsen, dessen schriftstellerische Verdienste unbestritten sind…) 😉

  8. Es scheint mir wenn ich die Szene anschaue (Evolution der Religion) das du als theistischer Agnostiker relativ gesehen eine Ausnahme bist. Wilson, Junker, Voland, Beering, Boyer alles Atheisten.

    Da wundert es mich nicht das viele Gläubige Angst haben das ihr Glauben entmythologisiert wird.

    • @Zoran, wer wirklich an einen Schöpfer glaubt, sollte doch niemals Angst vor der empirischen Forschung der Natur (einschließlich der Religiosität) haben! 😉

      Ein weiterer, auch bekennend christlicher Kollege in dem Forschungsgebiet ist z.B. Justin L. Barrett.

      Aber ernsthaft: Die gegenseitigen Abgrenzungen, die Junker ja auch erwähnt, haben sicher viel Schaden angerichtet und den Erkenntnisfortschritt lange verzögert… :-/

  9. “Lies”(Das erste Wort was dem Propheten offenbart wurde/Sure 96,Vers 1) den Koran. Dort findet man alle Antworten auf alle Fragen die ein Mensch sich aufgrund der Gehirnkapazität stellen kann.

    Friede sei mit euch

  10. DER HERR ist ein Ausdruck der in einer patriachalen Gesellschaft eine sehr konkrete Bedeutung hat. Die lässt sich dann auch in die Metaphysik übertragen.
    In einer nicht so extrem hierarchischen Gesellschaft dagegen würde sich eine vielfältigere Göttergesellschaft ergeben.
    Der Unterschied zum animistischen Bewusstsein ist durchaus gegeben, dort geht es um heilige Tiere(!), passend für Jäger und Sammler-Gesellschaften.

    • @Gerhard

      Stimme i.S. Patriarchat zu – wer “Religion” erst in agrarisch-patriarchalen “Zivilisationen” gelten lässt, grenzt wieder einmal die Frauen aus.

      Dabei sprechen auch viele heutige Befunde dafür, dass sie eine große, möglicherweise formierende Rolle gespielt haben! Und die altsteinzeitliche Kunst kreist eben gerade nicht (!) nur um heilige Tiere, sondern stellt Frauenfigurinen (u.a. auch in nicht-erotischer, z.B. gebärender Haltung), Tanz-Rituale u.ä. dar. Zur Rolle der Frauen in der Evolution von Religiosität und Religionen auch hier:
      http://www.blume-religionswissenschaft.de/pdf/FrauEvolutionReligionBlume.pdf

      Danke für Ihren Kommentar & Hinweis!

    • Nur ergänzend:

      DER HERR ist ein Ausdruck der in einer patria[r]chalen Gesellschaft eine sehr konkrete Bedeutung hat.

      Welche genau?, vgl. auch : -> http://www.etymonline.com/index.php?allowed_in_frame=0&search=herr
      Vgl. auch bspw. mit ‘Dom’, ‘Dominus’, ‘Domina’ etc.

      Die lässt sich dann auch in die Metaphysik übertragen.

      ‘Gesellschaftsmetaphorisch’ womöglich gemeint, vs. ‘Metaphysik’.

      In einer nicht so extrem hierarchischen Gesellschaft dagegen würde sich eine vielfältigere Göttergesellschaft ergeben.

      Das Lateinische und Griechische in alter Form berücksichtigend, womöglich nicht notwendigerweise.

      Der Unterschied zum animistischen Bewusstsein ist durchaus gegeben, dort geht es um heilige Tiere(!), passend für Jäger und Sammler-Gesellschaften.

      Ischt was dran, auch wenn dort – im Gegensatz zu den Landwirtschaftlern und Viehhütern – wohl auch gelegentlich mal rein gebissen worden ist.

      MFG
      Dr. W

    • Vorsicht vor Verallgemeinerungen: die antiken, polytheistischen Kulturen waren hierarchisch (die Demokratie nur eine kurze Episode). Der Hinduismus mit seinen tausend Göttern existiert in einer Gesellschaft mit Kastenwesen.
      Es gibt aber durchaus Entsprechungen von Religion und Gesellschaft: die antike Götterfamilie spiegelt ursprünglich die Herrschaftsform der adeligen Familien unter einem Familienvater (Zeus). Im Mittelalter wird die Gott bzw. Christus als HERR ebenfalls oft unter der Bedingung des Feudalismus interpretiert, z.B. tritt der HERR tritt in Legenden wie ein mittelalterlicher Herrscher auf.
      Aber weder das Judentum noch das Christentum lassen sich auf ein Gottesbild (HERR) reduzieren, da gibt es noch mehr, in der Mystik z.B. “Bräutigam” der Seele.

  11. Was mir nicht klar ist: Warum denken religiöse Menschen, dass eine evolutionäre Erklärung von Religion religiöse Wahrheitsansprüche begünstigen würde? Das Gegenteil ist viel naheliegender: Wenn Glaube evolutionär nützlich ist, dann kann man die Existenz des Glaubens ohne die Existenz übernatürlicher Mächte erklären. Das beliebte Argument “Wenn so viele Menschen an Gott glauben, dann muss etwas dran sein” bricht in sich zusammen.

    Grundsätzlich ist die evolutionäre Genese einer Überzeugung oder Einstellung kein Argument für deren Wahrheit. Xenophobie hat vermutlich evolutionäre Wurzeln; ein Wesen, das fast seine ganze Geschichte hindurch in Kleingruppen gelebt hat, ist eben kein geborener Kosmopolit. Und doch halten wir Fremdenfeindlichkeit für irrational und würden die evolutionären Hintergründe nicht als Entschuldigung gelten lassen. Ebenso ist die evolutionäre Genese von Religiösität kein Argument gegen die Tatsache, dass religiöse Überzeugungen irrational sind. Denn es gibt keine Anzeichen oder ernstzunehmende Argumente für die Existenz eines Gottes.

    • @Thomas Friedrich

      Ja, ursprünglich bin ich sogar davor gewarnt worden, dass sich religiöse Fundamentalisten durch die Evolutionsforschung gereizt fühlen könnten – und bin auch immer wieder überrascht, dass wir die meiste Flak von antitheistischer Seite bekommen… Denn natürlich beweist das empirisch immer bessere Verständnis der Genese noch keine Geltung – atheistische Kollegen wie z.B. Jesse Bering sprechen ganz entspannt von einer “adaptiven Illusion”.

      Mich überzeugt das zwar nicht ganz, weil wir ja in der evolutionären Erkenntnistheorie eigentlich davon ausgehen, dass sich unsere Sinne an einer Wirklichkeit bewähren. Ob nun Tasten, Sehen, Moral, Mustererkennung (führt zu Mathematik etc.) oder eben Religiosität – ich kann nicht erkennen, mit welchen Argumenten das eine zwingend real und das andere zwingend illusionär sein sollte. Das Religiosität adaptiv ist, halte auch ich jedoch in keiner Weise für einen “Gottesbeweis”.

      Denn Letztbeweise können m.E. empirisch ohnehin nie gewonnen werden. Die (evolutionäre) Religionswissenschaft erforscht nicht “Gott”, sondern Religiosität und Religionen! Insofern würde ich mir da tatsächlich mehr Gelassenheit und Erkenntnisoffenheit wünschen und kann mich über manche Befürchtungen und Widerstände nur wundern…

  12. “Mich überzeugt das zwar nicht ganz, weil wir ja in der evolutionären Erkenntnistheorie eigentlich davon ausgehen, dass sich unsere Sinne an einer Wirklichkeit bewähren. Ob nun Tasten, Sehen, Moral, Mustererkennung (führt zu Mathematik etc.) oder eben Religiosität – ich kann nicht erkennen, mit welchen Argumenten das eine zwingend real und das andere zwingend illusionär sein sollte.”

    Ich finde, der Unterschied ist offensichtlich: Den Beitrag, den unsere Augen und Ohren zu unserer Orientierung leisten, kann man nur erklären, wenn man davon ausgeht, dass es eine reale Welt gibt, die von unseren Sinnesorganen einigermaßen korrekt abgebildet wird. So wie man die Anwendung von Wissenschaft und Technik nur erklären kann, wenn man davon ausgeht, dass unsere Theorien die Welt annähernd korrekt beschreiben. Die Anwendung der Kernkraft wäre z.B. ein unerklärliches Wunder, wenn die Physik bloße Phantasie wäre. Ein Vaterschaftstest wäre ein Wunder, wenn es keine DNA gäbe. usw.

    Dagegen hat die Wirkung von Religion auf menschliche Gesellschaften nichts rätselhaftes, wenn man davon ausgeht, dass es keinen Gott gibt. So wie auch magisches Denken nichts rätselhaftes hat, wenn man davon ausgeht, dass es keine echte Zauberei gibt.

    • @Thomas Friedrich

      Nun, aber gerade Technologie und Wissenschaft basieren auf der Entdeckung mathematischer Zusammenhänge.

      Und dies, obwohl es z.B. die Zahlen material “nicht gibt”. Man kann das “zufällig funktionierende” Erfindungen nennen. Oder eben geistige Entdeckungen, also Einblicke in nicht-materielle Realitäten…

      (Wir kommunizieren ja übrigens auch gerade auf digital-binärer Grundlage und über Symbole, die erst in unserem jeweiligen Bewusstsein “Sinn machen”…)

    • Ich finde, der Unterschied ist offensichtlich: Den Beitrag, den unsere Augen und Ohren zu unserer Orientierung leisten, kann man nur erklären, wenn man davon ausgeht, dass es eine reale Welt gibt, die von unseren Sinnesorganen einigermaßen korrekt abgebildet wird.

      Das einigermaßen korrekt würde ich gerne auf bestimmte Aspekte einschränken. Denn die moderne Kosmologie, aber erst recht die Quantenmechanik zeigen doch ziemlich deutlich, dass unsere Sinne und Vorstellungskräfte hier ziemlich versagen. Inwieweit die moderne Physik die Wirklichkeit relatistisch abbildet z.B. im Sinne des kritischen Realismus, oder ob es sich um eine rein funktionale Beschreibung handelt im Sinne des Konstruktivismus oder Instrumentalismus, läßt sich wohl empirisch nur schwerlich entscheiden. Es handeln sich um Axiome, Glaubenssätze. Diese Glaubessätze haben ihrerseits eine Wirkung auf die Gesellschaft. In diesem Sinne können sie sich sogar bewähren.

      Warum soll eigentlich das Wissen, wie Gemeinschaften funktionieren und stabil bleiben, weniger erkenntnisrelevant sein, als das Wissen um elektromagnetische Wechselwirkung? Meines erachtens ist die Aufgabe der Religion nicht, Erkenntnisse übe Gott und Engel zu erbreiten, sondern Regeln bereitzustellen, wie Gesellschaften funktionieren können. Die 10 Gebote sind solche Regeln. Die goldene Regel, die man in praktisch jeder Religion findet, ist sicherlich für das zukünftige Überleben der Menschheit bedeutsamer, als das Aufspüren des Higgsbosons. Warum also die Bewährung von physikalischen Gesetzen einen Rückschluss auf die Realität zulassen soll, die Bewährung von sozialen Regeln aber nicht, ist mir nicht klar.

      Den Glauben an einen Schöpfergott könnte man für das naturwissenschaftliche Denken übersetzen, dass unser Universum von Anfang an komplex sei. Alle organischen Formen müssen physikalisch möglich sein, um entstehen zu können. Diese Möglichkeit setzt der Darwinismus voraus. … so war der Brüllaffe potenziell seit dem Anfang der Welt da, denn die Naturgesetze, die schon damals bestanden, ließen seine Existenz zu…[1]. Auch das durchaus interessante Buch von Lawrence Krauss Ein Universum aus Nichts[2] muss nicht nur den Nichts-Zustand voraussetzen, sondern auch alle möglichen Folgezustände, in die der ursprüngliche Nichts-Zustand direkt oder mittelbar zerfallen kann.

      [1] Carl-Friedrich von Weizsäcker, Die Geschichte der Natur, S. 92
      [2] Lawrence Krauss, Ein Universum aus Nichts, 2013

      • Stimme @E.v. Kitzing hier klar zu – ergänzt noch durch den Hinweis, dass die empirischen Befunde auch der Religionsdemografie eine beobachtbare Wirkung von Glaubensinhalten und -vergemeinschaftungen belegen…

  13. Ich glaube, eine Diskussion über den ontologischen Status von Zahlen würde den Rahmen sprengen. Soweit ich weiß, sind sich die meisten analytischen Philosophen einig, dass die “Existenz” von Zahlen kein Problem für eine naturalistische/physikalistische Position darstellt. Es gibt da auch sehr interessante reduktionistische Positionen, z.B. von David Lewis.

    • Nun, ich habe bislang noch keine überzeugend-reduktionistisches Argument zur “Existenz” von Zahlen und Formen gesehen. Schließlich beruhen ja auch physikalistische Positionen auf Symbolsystemen – oder könnten Sie uns das Gewicht und den Standort von “der Physik” mitteilen?

      M.E. sind reduktionistische Nichts-als-Alsereien philosophisch und empirisch gescheitert – bleiben aber kulturell noch eine Weile populär…

      • Es ging hier wohl nicht um die Einordnung einer Naturlehre, sondern um das gute alte und sogenannte Universalienproblem, das den Realismus, gerne auch an Hand von Zahlen, und den Idealismus in einen Gegensatz zu, äh, setzen vermochte.
        Nicht nur hintergründig lauert hier die Frage, “ob etwas ist”, wenn kein dbzgl. erkennendes Subjekt bereit steht; versinnbildlichen lässt sich diese Frage auch derart bspw. anzufragen, ob der Mond existiert oder “existiert”, wenn keiner hinschaut.
        Korrekt bleibt, wie Hr. Friedrich angemerkt hat, dass ‘die “Existenz” von Zahlen kein Problem für eine naturalistische/physikalistische Position darstellt’.

        Denn die Existenz oder “Existenz” von Zahlen wäre hier nur eine untergeordnete Frage, cooler wäre es womöglich zu fragen, was existiert oder “existiert”, wenn keiner (kein erkennendes Subjekt) hinschaut.

        HTH
        Dr. W (der hier auf Seiten Dr. Blumes irgendwie vermutet hätte, dass unter der geschilderten Voraussetzungen zumindest Gott oder anderweitig super-empirisch Handelnder bereit stehen könnte, zumindest als Betreiber, was ja auch dankenswerterweise tautologisch wäre – insofern muss der Protestantismus nicht direkt verzweifeln)

      • Nein, das ist nicht der Fall. Der Physikalismus ist in der analytischen Philosophie des Geistes weiterhin die dominierende Position und wird es – schon aufgrund der Abwegigkeit jeder alternativen Position – wohl auch bleiben. Es sind eher die geisteswissenschaftlich orientierten Feuilleton-Schreiber, die “Reduktionismus” für ein Schimpfswort halten. Für eine reduktionistische Position der Mathematik kann ich das Buch “David Lewis: Metaphysik und Analyse” von Wolfgang Schwarz empfehlen. Eine der besten Einführungen in die moderne Philosophie. Ebenso: “Analytische Einführung in die Philosophie des Geistes” von Ansgar Beckermann.

        • M.E. hilft es nichts, @Thomas Friedrich – der reduktionistische Physikalismus ist m.E. EMPIRISCH gescheitert. Genau in diesem Kontext sehe ich übrigens auch die Befunde der Religionsdemografie: Glaubensinhalte (also: Geistiges) wirkt sich hier empirisch beobachtbar und falsifiierbar auf den Reproduktionserfolg (als einer biologischen, d.h. naturwissenschaftlichen Benchmark) aus. Man kann das zu ignorieren und zu beschimpfen versuchen (wie es viele tun, während es andere zunehmend akzeptieren) – der Befund verschwindet nicht mehr…

          In der Ablehnung des klassischen Dualismus sind wir uns übrigens einig – ich tendiere inzwischen klar zum Emergentismus.

  14. “M.E. hilft es nichts, @Thomas Friedrich – der reduktionistische Physikalismus ist m.E. EMPIRISCH gescheitert. Genau in diesem Kontext sehe ich übrigens auch die Befunde der Religionsdemografie: Glaubensinhalte (also: Geistiges) wirkt sich hier empirisch beobachtbar und falsifiierbar auf den Reproduktionserfolg (als einer biologischen, d.h. naturwissenschaftlichen Benchmark) aus. ”

    Das ist aber ein zirkuläres Argument. Dass sich “Geistiges” auf die biologische oder physikalische Welt auswirkt, ist nur dann ein Argument gegen den Physikalismus, wenn man schon voraussetzt, dass “Geistiges” seinem Wesen nach nicht biologisch oder physikalisch sein kann.

    Wenn der Physikalismus wahr ist, dann ist es überhaupt nicht mysteriös, dass kulturelle oder mentale Zustände physikalische Auswirkungen haben. Denn dann sind kulturelle oder mentale Zustände ja selbst Teil der physikalischen Welt.

    • @Thomas Friedrich

      Wäre es denn dann nicht umgekehrt zirkulär? Wenn man alles (auch Geistiges) zu Physik erklärt, ist keine empirische Falsifikation mehr möglich. Genauso könnte man umgekehrt auch alles Physische als Ausdruck von Geistigem erklären…

      M.E. lässt sich allein auf die Gesetze der Physik Lebendiges und Geistiges nicht reduzieren. Dass Lebendiges und Geistiges jedoch schon als Potential im Physikalischen enthalten sind, ist eine Auffassung des Panpsychismus, zu dem Sie hier auf dem Blog auch einiges finden.

      • “Wäre es denn dann nicht umgekehrt zirkulär? Wenn man alles (auch Geistiges) zu Physik erklärt, ist keine empirische Falsifikation mehr möglich.”

        Eine solche Falsifikation wäre schön möglich. Nehmen wir z.B. an, in unserem Kopf wären keine Strukturen, die zur Erklärung mentaler Prozesse beitragen würden. Die Nervenbahnen würden einfach irgendwo enden und die Impulse würden aus dem Nichts kommen. Dann wäre eine materialistische Erklärung unseres Geistes unmöglich und eine dualistische Position praktisch alternativlos.

        Auch paranormale Befunde könnten den Physikalismus in Bedrängnis bringen. Aber da gibt es ja nichts, das einer Überprüfung standhält. So wie es auch keine Anzeichen für die Existenz eines Gottes (z.B. gut belegte Wunder) gibt.

        “M.E. lässt sich allein auf die Gesetze der Physik Lebendiges und Geistiges nicht reduzieren. ”

        Also beim Leben ist der Physikalismus ja noch unbestreitbarer als beim Bewusstsein. Eine Zelle ist eine Interaktion von physikalischen Gebilden, die ihrerseits nicht lebendig sind. Das Leben entsteht nicht durch einen Élan vital, sondern durch das kausale Zusammenspiel von physikalischen Strukturen.

        • @Thomas Friedrich

          Nochmal: Wir sind uns einig, dass alles Leben physikalische Grundlagen hat. Nur behaupten Sie – m.E. empirisch unhaltbar – dass umgekehrt alles Leben nichts als “das kausale Zusammenspiel von physikalischen Strukturen” sei. Und genau das bestreite ich – Biologie ist “mehr” (komplexer und zugleich “weicher”) als Physik, ebenso wie Bewußtsein “mehr” ist als nur das Feuern von Neuronen. Vgl. ausführlicher hier:
          https://scilogs.spektrum.de/natur-des-glaubens/harte-vs-weiche-wissenschaften-warum-die-blogosph-re-emergenz-verstehen-sollte/

          Sie schrieben zur Möglichkeit der physikalischen Falsifikation: “Nehmen wir z.B. an, in unserem Kopf wären keine Strukturen, die zur Erklärung mentaler Prozesse beitragen würden. Die Nervenbahnen würden einfach irgendwo enden und die Impulse würden aus dem Nichts kommen. Dann wäre eine materialistische Erklärung unseres Geistes unmöglich und eine dualistische Position praktisch alternativlos.”

          Nun, betrachten Sie bitte unsere Kommunikation (die ich als ziemlich interessant empfinde (!)). Wir beide stehen in keinerlei physikalischem Kontakt zueinander, sondern kommunizieren ausschließlich durch Symbole, die wir uns mittels digitaler Netze auf die Bildschirme projizieren. Nur in unserem jeweiligen Bewußtsein (!) lassen sich diese Symbole wiederum in “mentale Prozesse” übersetzen, die nicht nur sachlich, sondern auch emotional gefärbt sind (z.B. als interessant, ärgerlich o.ä.). Die Signale für Ihre Nervenbahnen kommen zwar nicht “aus dem Nichts”, aber über eine rein symbolische und bewusste Kommunikation – und wirken sich dennoch in diesem Moment auch auf die physikalischen Strukturen Ihres Gehirns aus!

          Reduktionisten behaupten nun seit Jahrhunderten, “bald” ließen sich auch diese komplexen Prozesse auf ihre materiellen Grundlagen reduzieren. Dies ist aber empirisch nie und nirgendwo gelungen – die Emergenz neuer, beobachtbarer Eigenschaften (wie Leben, Bewußtsein, Schrift, Religionen, Rechtssysteme u.v.m.) ließ sich wieder und wieder beobachten, aber nicht z.B. als “soziale Physik” erklären. Aus diesem Grund halte ich den Physikalismus für ebenso schwach wie den Dualismus, sondern erfreue mich am langsamen, aber unaufhaltsamen Aufstieg des interdisziplinären Emergentismus. Biologische, psychologische, soziale, kulturelle und religiöse Phänomene haben immer auch physikalische Grundlagen – sind aber stets auch beobachtbar weit “mehr” als nur diese.

      • @Michael Blume:

        M.E. lässt sich allein auf die Gesetze der Physik Lebendiges und Geistiges nicht reduzieren. Dass Lebendiges und Geistiges jedoch schon als Potential im Physikalischen enthalten sind, ist eine Auffassung des Panpsychismus, zu dem Sie hier auf dem Blog auch einiges finden.

        Das hängt natürlich ganz davon ab, was man genau unter Physik versteht. Dass die Erklärung des Lebens mit der heutigen Physik wohl nicht geht, halte ich für sehr wahrscheinlich. Die heutige Physik hat ja noch ganz grundlegende Probleme wie die Vereinigung von Gravitation mit der Quantenmechanik, oder die Herkunft das Hauptanteils der Materie im Universum, die schwarze Materie. Da gibt es natürlich auch ganz praktische Probleme. Soweit ich weiß, kann man die Eigenschaften komplexerer Moleküle noch nicht aus der Quantenmechanik berechnen. Prinzipiell sehe ich keinen Grund, dass das nicht gehen sollte. Es hapert aber noch an geeigneten Algorithmen, die Rechnung auf modernen Computern durchzuführen. Es kann natürlich sich herausstellen, dass die Reduktion einfacher Lebensformen auf Physik rechentechnisch nicht zu leisten ist.

        Andererseits kann man Physik auch als die Wissenschaft verstehen, deren Aufgabe es ist, alles empirisch fassbare zu analysieren und zu beschreiben. Das war wohl weitgehend die Haltung von Friedrich von Weizsäcker. Seiner Meinung nach ist es die Aufgabe der Physik, die Möglichkeiten und Grenzen objektiver Erkenntnis zu erforschen.

        Aber vielleicht kann man Problem an einem weniger komplexen Beispiel einmal durchexerzieren. Was unterscheidet tote Materie von einfachsten Lebensformen? Es ist die Reproduktion, die Informationsverarbeitung. Bereits einfachste Zellen lassen Programme ablaufen, um sich zu erhalten und zu reproduzieren. Vom ersten Standpunkt lässt sich dass möglicherweise nicht erklären. Vom zweiten Physikverständnis her, könnte man das Problem lösen, indem man postuliert, dass die Grundsubstanz der Materie nicht Energie, sondern Information ist. Wenn wir unsere Welt als riesigen Quantencomputer verstünden, dann wäre einfache Lebensformen nicht unverständlich.
        P.S.: habe die Quellen einfach mal weggelassen, kann sie aber auf Anfrage angeben.

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