Ohne mythische Geschichten keine Religionen, kein Recht, keine Staaten, keine Wirtschaft usw – Yuval Noah Harari zu den zwei Realitäten des Menschseins

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Evolutionsgeschichte der Religion(en)
Natur des Glaubens

Dass die Existenz von Gottheiten nicht objektiv nachweisbar ist, nehmen viele als vermeintlichen “Beweis” dafür, dass es sie “nicht gibt”. Ich treffe aber immer wieder auf Verblüffung (und manchmal Ablehnung), wenn ich darauf hinweise, dass das Gleiche selbstverständlich auch für Menschenrechte oder überhaupt jede Rechtsordnung gilt: Weder “Presse-” noch “Meinungsfreiheit” haben eine physische Existenz, ebensowenig wie es “Daimler” oder “Schweden” an sich gibt – es handelt sich um Ideen (“legale Fiktionen”), die durch Erzählungen beglaubigt werden und das Verhalten von Millionen und Milliarden Menschen beeinflussen. Auch “die Vernunft”, “die Liebe” oder “der Sinn des Lebens” und die Grundannahmen aller Weltanschauungen (Kapitalismus, Kommunismus, Nationalismen usw.) existieren nicht im materiellen, sondern nur (oder besser: erst!) im ideellen Sinn – und sind doch vielen von uns sehr wichtig.

Dem israelischen Historiker Yuval Noah Harari ist es gelungen, diese lange bekannten Beobachtungen in eine packende Erzählung der menschlichen Evolutionsgeschichte für einen zehntausendfach besuchten Online-Kurs und ein Buch zusammen zu fassen. Mit großem Genuss lese ich gerade seinen internationalen Bestseller “Sapiens: A Brief History of Mankind”, der unter dem Titel “Eine kurze Geschichte der Menschheit” auch auf Deutsch erschienen ist (den deutschen Titel habe ich gerade für meine Familie bestellt).

HarariBuecher

Nach Harari ist das menschliche Leben in zwei Realitäten (der objektiven und der fiktiven) der Schlüssel zum Verständnis des evolutionären Erfolges unserer Art! Als unsere Vorfahren innerhalb der letzten 100.000 Jahren in einer sog. “kognitiven Revolution” das gemeinsame Glauben lernten (zum Homo religiosus wurden!), konnten sie immer größere Kooperationen eingehen – womit nicht nur Religionsgemeinschaften gemeint sind, sondern nach der Agrarischen Revolution ebenso Staaten, Geldsysteme, Parteien und Wirtschaftsunternehmen, sogar Wissenschaften. Auch die Behauptung von “Priesterbetrug” wehrt er weitgehend ab – die meisten funktionierenden (und lebensnotwendigen!) Erzählsysteme seien von Menschen begründet und betrieben, die tatsächlich an sie glauben. Hier eine Zusammenfassung seines Argumentes in einem TED-Talk in London:

Sehr lesenswert sind zudem seine Ausführungen zur großen Rolle menschlicher Ängste: Harari weist darauf hin, dass unsere Vorfahren vor der kognitiven Revolution eher nur die Mitte der Nahrungspyramide besetzten – und heute noch “die Ängste des Dikators einer Bananrepublik” zeigten: Wir seien an der Macht, aber ständig in Furcht vor dem Absturz, was z.B. Kriege begünstige. Freunde des Trans- und Posthumanismus werden bei ihm zudem interessante Spekulationen zur menschlichen Zukunft finden.

Es bleibt mir nur noch einmal zu betonen, dass Harari gar nicht beansprucht, völlig Neues zu verkünden. Die Dreiteilung der Welt in physikalische Tatsachen, die Welt individueller Wahrnehmungen und die Welt der kulturell tradierten Ideen (und ihrer komplexen Wechselwirkungen) ist beispielsweise bereits bei Karl Popper (1902 – 1994) zu finden. Aber Harari schreibt und lehrt mit Leidenschaft interdisziplinär und scheint auch sehr erfolgreich darin zu sein, bei vielen das Nachdenken und weitere Debatten anzustoßen. Sein Buch kann ich daher – ob in Englisch oder Deutsch – nur von Herzen empfehlen! Das Wissen um die interdisziplinäre Evolutionsforschung und die Emergenz neuer Eigenschaften breitet sich erfreulicherweise weiter aus! Und so bleibt mir zu hoffen, in Zukunft auf weniger Verblüffung zu treffen, wenn ich darauf hinweise, dass nicht nur Religionen, sondern auch Staaten, Geld- und Wirtschaftssysteme auf verschiedene Arten des Glaubens angewiesen sind.

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Dr. Michael Blume studierte Religions- und Politikwissenschaft & promovierte über Religion in der Hirn- und Evolutionsforschung. Uni-Dozent, Wissenschaftsblogger & christlich-islamischer Familienvater, Buchautor, u.a. "Islam in der Krise" (2017), "Warum der Antisemitismus uns alle bedroht" (2019) u.v.m. Hat auch in Krisenregionen manches erlebt und überlebt, seit 2018 Beauftragter der Landesregierung BW gg. Antisemitismus. Auf "Natur des Glaubens" bloggt er seit vielen Jahren als „teilnehmender Beobachter“ für Wissenschaft und Demokratie, gegen Verschwörungsmythen und Wasserkrise.

38 Kommentare

  1. Guten Abend,
    die Nichtexistenz von Gottheiten kann logischerweise nicht bewiesen werden.
    Genau so falsch ist es aber auch, durch das Vorhandensein von moralischen Wertesystemen in Religionen, die wie die Menschenrechte oder Rechtssysteme in unser Sozialsystem hineinwirken, auf die Existenz eines Gottes zu schließen.

    • Dem stimme ich zu, @Eumella. Nach meiner Einschätzung bejahen die meisten Glaubenden die Existenz von Gottheiten auch nicht aufgrund dieser oder jener Gottesbeweise, sondern auf Basis subjektiver Erfahrungen, die soziokulturell vermittelt und ausgeprägt werden.

  2. Leider muss ich Sie verärgern, in dem ich, bevor ich zu meinem eigentlichen Punkt komme, schulmeisterlich am Text herumnörgle, aber es wurmt mich so!

    Sie schreiben im ersten Satz:

    Dass die Existenz von Gottheiten nicht objektiv nachweisbar ist, nehmen viele als vermeintlichen “Beweis” dafür, dass es sie “nicht gibt”.

    Gottheiten sind nicht objektiv, die Existenz ist nicht nachweisbar. “Objektiv nachweisbar” ist eine Tautologie – wäre es nicht objektiv wäre es kein Nachweis.
    Teilkorrigiert lesen wir also:

    Dass die Existenz von Gottheiten nicht nachweisbar ist, nehmen viele als vermeintlichen “Beweis” dafür, dass es sie “nicht gibt”.

    Wenn Sie schreiben, dass es viele als Beweis nehmen, drücken Sie bereits aus, dass es wohl keiner ist. Das ‘vermeintlich’ können Sie also getrost streichen, denn damit dementieren Sie das, was Sie sagen wollen. Sie sagen ja sonst damit, dass die Vielen es als vermeintlichen Beweis nehmen, also nicht als echten Beweis nehmen – die Folgerung wäre dann: der es aber doch ist! Quasi eine doppelte Verneinung. Um die Wiederholung noch zu toppen setzen Sie dann den Beweis noch in ironisierende Anführungsstriche – quasi eine Tripleverneinung könnten Sie jetzt zu Ihrer Verteidigung vorbringen, also als einen vermeintlichen Scheinbeweis sollen es die vielen nehmen?

    Und “nicht gibt”, wieso steht das in Anführungsstrichen? Wie klar wäre die Aussage so:

    Dass die Existenz von Gottheiten nicht nachweisbar ist, nehmen viele als Beweis dafür, dass es sie nicht gibt.

    Gerade heraus, klar und deutlich – so wollten Sie’s doch sagen? Alternativ:

    Dass die Existenz von Gottheiten nicht nachweisbar ist, ist für viele ein vermeintlicher Beweis dafür, dass es sie nicht gibt.

    oder

    Dass die Existenz von Gottheiten nicht nachweisbar ist, ist für viele ein “Beweis”, dass es sie nicht gibt.

    aber nicht so gut wie Vorschlag 1. Auch dieser Satz kommt besser ohne die Anführungsstriche aus, denn aus der Konstruktion solcher Texte ist ohnehin klar, dass jetzt die Gegenposition der Wenigen kommt, die das anders sieht. Auf welcher Seite Sie stehen brauchen Sie auch nicht alle zwei Worte zu markieren – man merkt es auch so.

    Vielleicht ist es pedantisch, schulmeisterlich – ganz sicher mache ich Sie mir so nicht zum Freund, aber da ich das eh nicht vorhatte erlaube ich mir diese Stilkritik, bevor ich jetzt zu Potte komme.

    Ja, der Euro oder die DDR-Mark oder die DDR überhaupt oder die Reichsmark – alles Phantasmen, die nur funktionieren, so lange eine große Zahl Menschen daran glaubt. Bei Währungen besonders schön zu sehen: Man kann morgen zum Bäcker gehen und diesen verlachen, weil er noch an den Euro glaubt, nur Brot wird man für das Lachen sicher nicht bekommen, denn alleine hebelt man den Euro auch nicht aus – auch nicht mit ein paar Reichsbürgern.

    Wenn aber große Spekulanten und Ratingagenturen den Euro auf Ramschniveau abstufen, dann kann eine Kettenreaktion eintreten, und der Bäcker lacht über den Euro und will Zigaretten, Goldschmuck oder andere Naturalien sehen für sein Brot.

    Nun, und genauso ist es mit den Gottheiten, das bezweifeln wir doch gar nicht, das ist doch unsere Rede! Ein Phantasma, das nicht real ist, aber wirkmächtig, solange große Bevölkerungsgruppen dran glauben. Wenn der Salafist glaubt er müsse mir die Kehle durchtrennen, weil es sein Gott befohlen hat, dann gibt es seinen Gott immer noch nicht, aber meine Kehle ist wirklich durchgetrennt, das kann ich dann nicht leugnen.

    Tja, und die Menschenrechte, etwa die Religionsfreiheit, die existiert auch nur solange eine kritische Masse daran glaubt – je größer die Masse ist, desto weniger Zivilcourage muss dabei der einzelne an den Tag legen, aber je weniger Leute dran glauben, desto leichter geraten die Menschenrechte unter die Räder, womöglich ohne dass eine Mehrheit dagegen ist, wenn diese Gruppe nur gut organisiert und machtvoll ist.

    Bei der Religion ist es ähnlich. Ist diese erhaltenswert, ja oder nein? Nun – welche denn? Wie will man darüber streiten? In dem Buch des einen steht es so, der andere hat eine andere Übersetzung, der dritte gleich ganz andere Bücher. Selbst in den Büchern widersprechen sich die einzelnen Aussagen. Erst hat Mose Gott gesehen, von Angesicht zu Angesicht. 2 Absätze später heißt es, dass kein Lebender Gottes Antlitz sehen kann. Voller Selbstwidersprüche zum einen, und wertlos beim Versuch damit irgendwelche Fragen zu klären, weil man für jeden Standpunkt irgendwas findet.

    Die Autorität einer hl. Schrift muss in einer aufgeklärten Gesellschaft hinterfragbar sein, aber geschrieben wurde sie mit einem ganz anderen Anspruch für eine ganz andere Gesellschaft, weswegen sie heute nur noch denen als Folklore taugt, die den Versuch sie ernstzunehmen längst aufgegeben haben.

    Wer sich die Stellen rauspickt, die mit seiner aktuellen Moral noch vereinbar sind, der hat schon die Vernunft über den Text gestellt und die Heiligkeit des Textes performativ verneint.

    • @user unknown

      Keine Sorge, Sie haben mich nicht verärgert – ich fand Ihren Kommentar klasse!

      Die Gänsefüßchen markieren schlicht zitierend häufige Redewendungen.

      Und die Aussage vom objektiven Beweis ist bewusst gewählt: Gerichte erkennen z.B. Beweisführungen zur Existenz der Bundesrepublik oder von Daimler an – obwohl diese keine völlige Objektivierbarkeit erreichen können!

      Sehr gelungen finde ich dabei Ihren Verweis auf die Reichsbürger – sozusagen die “neuen Atheisten” gegenüber dem deutschen Staat! 🙂

      Eifrig verweisen sie auf Lücken in den Beweisführungen, wissen viele Gräueltaten zu berichten und alles Gute zu leugnen. Und zielen doch nur auf eine neue, ebenso fiktiv begründete Ordnung, an deren Überlegenheit man zweifeln kann…

      Ja, diese Analogie ist fruchtbar… 😉

      Auch die Ihrerseits erwähnten Kombinationsversuche aus religiösen (also imaginiert-personaler) und vernünftigen (also imaginiert-rationaler) Beweisführungen (!) finde ich sehr wichtig – man spricht dabei von Theologie(n). Selbstverständlich ist auch Vernunft keine objektiv beobachtbare Entität – aber wenn ich Sie richtig verstehe, so glauben auch Sie doch daran…

      • Nein. Vernunft ist nichts, woran man glauben kann. Bzw. – das muss man in solchen Diskussionen ja oft erklären: Wer sagt, dass er an die Vernunft (der Menschen) glaubt, der gibt ja v.a. einer Hoffnung u. einem Wunsch Ausdruck, es möge sein, dass die Vernunft ein gewisses Mindestmaß erreicht, und dass dann … vielleicht nicht Paradies auf Erden, aber weniger Hölle.
        Es können auch die besorgten Eltern über ihre partywütigen und rauschgiftlustigen Kinder sagen, dass sie hoffen, dass jene zu Vernunft kommen. Dahinter kann man einen Wertekonflikt sehen, Fragen der Selbstdisziplin, unterschiedliche Lebenserfahrung und -situation, unterschiedliche Temperamente. Aus der Sicht eines der Kinder ist es vielleicht vernünftiger im Hier und Jetzt ein Fass aufzumachen, als brav zu streben und zu buckeln bis man dann im Rentenalter eine Kreuzfahrt auf der Gypsyqueen macht und schon um 11:30 einen kleinen Prosecco schlürft, während das Streichquartett Hells-Bells in einer Fassung von Weißichnicht intoniert.

        Was ich sagen will: Vernunft kann man etwas strenger so diskutieren, dass man von bestimmten Prämissen, einer konkreten Situation ausgeht, konkrete Ziele annimmt, und dann fragt, ob ein Verhalten unter diesen Annahmen vernünftig ist.

        Der saloppe Alltagsgebrauch der Vokabel trennt aber nicht die Prämissen und fragt nicht nach den Zielen, sondern subsumiert ein allgemeines Ungefähres gleich mit darunter, weil nämlich über Ziele und Ausgangslage schon keine Einigkeiit besteht.

        Man sagt auch die Vernunft sei die einzig gerecht verteilte Gabe unter den Menschen, denn jeder glaubt, er habe genug davon abbekommen.

        Manche Diskussion könnte aber ziviler ablaufen, wenn man sich nicht gegenseitig die Vernunft im Handeln absprechen würde, sondern erst mal herausarbeitet, ob man überhaupt das gleiche erreichen will und ob man die Ausgangslage identisch einschätz. U. U. kann man dann zum Schluss kommen, dass der andere vernünftig handelt, bezogen auf seine Ziele, aber dass man die Ziele ablehnt. Oder dass seine Aussagen vernünftig wären, wenn denn die Einschätzung der Lage richtig wäre.

        Zur Existenz der BRD usw. ist zu sagen, dass die Argumentatiionsfigur, die rekursiv immer mehr in Frage stellt bis hin zur Logik und Existenz der Diskussion selbst eine schöne Sache ist, wenn man ihr in der Jugend das erste Mal begegnet, oder wenn man einem Diskussionspartner begegnet, den man mit diesen Argumenten an der Nase durch die Manege ziehen kann, aber mit der Zeit wird es doch eintönig.
        Die Schwäche dieser Argumentation ist, dass sie generell alles in Frage stellt, nicht spezifisch das, was der andere kritisiert. Man stellt auch alle Argumente die man selbst bringen kann damit in Frage. Man muss in diese Diskussion einmal eintreten wie in ein Spiegelkabinett, aber dann muss man sich auch davon verabschieden, weil es nirgendwohin führt. Es ist die letzte Fluchtburg, wenn alle rationalen Argumente versagt haben, das Eingeständnis, dass man die Auseinandersetzung verloren hat.

        Die Reichsbürger glauben nicht an die BRD, aber wenn sie mit selbstgefertigten Führerscheinen herumfahren, und das Knöllchen nicht zahlen wollen, holt sie die Realität in Form der Staatsgewalt ein und pfändet zur Not das Auto. Wenn der EU-Gerichtshof dann die Gerechtigkeit versagt und den Fall nicht mal zur Verhandlung annimmt, bleibt der versprengten MInderheit nur die Möglichkeit mehr Anhänger zu gewinnen, um genug Gegengewalt aufbringen zu können, um eine ultimative Machtfrage zu suchen die die Definitionsgewalt wendet.

        Das kann natürlich unerfreulich enden, wenn autoritäre Systeme mit großer Unterstützung der Bevölkerung die Definitionsgewalt an sich reissen, und endet auch oft so, oder dauert sogar an. Auch die Kirchen, als sie noch am Drücker waren, waren solch autoritäre Systeme, aber ihre Definitionsmacht bröckelt allerorten.

        Eifrig verweisen sie auf Lücken in den Beweisführungen, wissen viele Gräueltaten zu berichten und alles Gute zu leugnen.

        Wo leugne ich alles Gute? Hatten Sie den Eindruck? Weswegen?

        Und zielen doch nur auf eine neue, ebenso fiktiv begründete Ordnung,

        Eigentlich nicht. Wenn Sie einen Staat entwerfen können, der besser ist als der jetzige, und wie wir dahinkommen, dann bin ich vielleicht bereit mir das anzuhören und zu überlegen, ob ich da mitmache. Kann aber sein, dass ich Sie doch lieber beim Verfassungsschutz anschwärze.

        Was sind jetzt die Gemeinsamkeiten von BRD und beispielsweise Katholizismus? Zwischen Staaten und Religionen? Oder Währungen und Göttern? Ist das alles das gleiche, weil es auf der Bereitschaft von vielen beruht, sich darauf als Realität zu beziehen?

        Es gibt natürlich immer wieder Staaten, die sich gegenseitig das Existenzrecht absprechen. Bei Religionen ist es aber oft so, dass sie allen anderen unterstellen falsch zu liegen. Die Zahl derer, die die BRD akzeptieren aber Frankreich, Polen, Italien, Österreich usw. ablehnen ist aber verschwindend. Es gibt Kriterien, was Staaten sind, die weithin geteilt werden, und die meisten Staaten werden ohne Bias Staatsübergreifend anerkannt. Man erwartet eine Staatsgrenze, eine Regierung, Gesetze, Währung, Volk usw. und neben Diskussionen im Detail ist es eine gelassen geführte Debatte, Ausnahmen nicht ausgeschlossen.

        So wurde die DDR im Westen lange nicht anerkannt, aber wenn man die Augen zugemacht hat, war sie immer noch da.

        Die Grenze eines Staates ist eigentlich die Bestätigung, dass es jenseits der Grenze einen anderen Staat gibt. Dass man die anderen Staaten als Staaten akzeptiert legitimiert so den eigenen. Oder was wäre eine Währung, wenn man sie nicht in andere Währungen tauschen könnte? Es gibt keine Veranlassung am Dollar, Yen oder Rubel zu zweilen, wenn man den Euro akzeptiert. Man muss aber auch im Euro nicht eine ultimative Lösung sehen, um ihn zu benutzen. Man kann ihn schlecht finden, und zur D-Mark zurück wollen, aber dennoch hinnehmen von Kunden in Euro bezahlt zu werden und selbst als Kunde mit Euros in der Tasche aufzutreten.

        Dass der Euro, die BRD und die Fußballbundesliga nur menschliche Konstrukte sind macht kaum jemandem etwas aus, der damit umgeht.

        Dagegen ist es mit der Religion doch sehr anders. Die 3 Buchreligionen haben einen Alleinvertretungsanspruch, der mit ihrem Selbstbild kompatibel ist. Versuche mit anderen Religionen in Austausch zu treten bleiben halbherzig und scheitern an den Inhalten der Religionen, die da lauten ‘auserwähltes Volk’, ‘keine Götter neben mir’, Schöpfungsidee, Abtrünnige die zu töten sind und auch in der Hölle enden werden.

        Die empirisch existenten Religionen kommen aus ihrer Rolle nicht raus, auch wenn die Gläubigen erkennen, dass die anderen Religionen nicht weniger Anspruch auf Wahrheit haben, dass alle mit dem gleichen Wasser kochen, und man die Überlieferungen nicht für unhinterfragbare Wahrheiten halten kann. Wenn die Religion aber nur noch ein Placebo ist, von dem man weiss, dass es eins ist, dann muss man Sonntags auch nicht aufstehen und in die Kirche, wo öde Gesänge von den immergleichen Ritualen und Geschichten abgelöst werden, zwischendrin versucht ein mäßig begabter Rhetoriker einem was vom Einhorn zu erzählen. Wieso nicht ausschlafen? Wieso überhaupt noch dahingehen, wenn man eh alles hinterfragen muss und die Religion die Antworten nicht hat, von denen sie so gerne fabuliert? Welche Relevanz hat die Religiion? Wozu Kirchensteuer zahlen?

        Aber die Religionsfürsten pochen weiter auf ihre Privilegien, auf die Definitionshoheit, wollen in Ethikräten über Atommüll, Medizin und Medien mitreden und da ist schluß mit kritischer Rationalität, da wird knallhart mit der Schöpfung argumentiert, die zu bewahren eine göttliche Pflicht ist.

        Und da sind wir bei der Gretchenfrage. Wenn der Staat Gesetze macht zur Überwachung der Bürger, dann muss er argumentativ überzeugen. Wollen die Leute das? Wirkt es überhaupt? Was kostet es? Ist es angemessen? Es gibt da kein Basta, das nicht hinterfragt werden darf. Aber die Religionen funktionieren anders. Sie berufen sich auf Phantasien wie die Schöpfung, für die nun nichts spricht, die Idee ist gescheitert. Aber die Religion beruft sich dennoch darauf.

        Gegen einen Wellnessverein der Meditationsübungen macht oder einen Literaturzirkel, der die Relevanz von Romeo und Julia heute untersucht hat niemand was.

        Die Kirchen aber wollen dass auch Ungläubige und Andersgläubige an ihren hl. Tagen auf das Tanzen verzichten, sie werfen einen Kantor aus dem Verein, weil sie wissen, dass das spirituelle Überwesen, dem sie huldigen, homosexuelle Lebenformen ablehnt und fühlen sich verpflichtet, dessen Ideale gegen die eigene Gefolgschaft durchzusetzen. Oder die Vorhaut wird amputiert, weil das der Tradition entspricht.

        Teils ist dieses aggressive Verhalten gespeist aus diesen Büchern, auf die sie sich berufen. Alle Nase lang macht Jahwe einen Ort dem Erdboden gleich, nur weil es darin Sünder gab und das Volk diese offenbar gewähren ließ – wenn man solche Drohungen nicht ernstnimmt, wieso fühlt man sich dann gezwungen andere zu ihrem Glück zu zwingen?

        Es sind diese konkreten Fragen, bei denen sich die Religiösen in ihre Irrationalität flüchten, die problematisch ist. Ja, wenn man fürchtet dafür in die Hölle zu kommen, dann ist es vernünftig das eigene Kind zu verstümmeln. Wenn man fürchtet, dass Gott einen Wirbelsturm oder ein Hochwasser schickt, um der Unzucht ein Ende zu machen, dann verteufelt man auch im säkularen Leben Homosexuelle und steckt die weibliche Verwandschaft in Kartoffelsäcke.

        Die Sünde der gleichgeschlechtlichen Liebe kann man glauben und mit anderen dagegen anbeten und Prozessionen veranstalten, bei denen man großzügig Weihwasser an sündigen Orten verspritzt. Damit behauptet man, dass diese Sünde existiert und ein reales Problem ist. Das sind keine Fragen im luftleeren Raum, sondern Fragen von praktischer Relevanz.

        • @user unknown

          Dass auch “Vernunft” eine imaginierte, nicht-objektivierbare Entität darstellt, die letztlich über Mythen vermittelt wird, wird nicht nur in den Hoffnungen deutlich, sondern auch in dem Geschichten: Kinder, die Ziele verfolgen usw. Eine eindeutige und unumstrittene Definition von Vernunft gab und gibt es nicht (ebensowenig wie von Gott oder Recht).

          Aber nochmal zur Bekräftigung: Es geht hier ja gerade nicht darum, unsere Glaubenswahrheiten abzuwerten – sondern zu erkennen, dass die Fähigkeit zum Glauben erst den Sprung unserer Vorfahren an die Spitze der Nahrungskette und in die Kulturgeschichte ermöglicht hat. So konnten und können wir beispielsweise ganz unterschiedliche Religions-, Rechts- und Wirtschaftssysteme entfalten, die uns die Anpassung an unterschiedlichste Umwelten erlauben. Auch Kunst und Bauwerke, Literatur und Unterhaltung basieren wesentlich auf Mythen, ohne die unser menschliches Leben kaum denkbar, auf jeden Fall farb- und antriebslos wäre. Bisher konnten auch nur religiöse Mythen die Grundfrage der Anthropodizee beantworten!

          Ich gebe Ihnen also ausdrücklich Recht darin, dass blosse Dekonstruktion unfruchtbar ist. Die Kunst ist, von da aus Wert, Würde und vielleicht auch Wahrheit der einzelnen Konstrukte erkunden und erfassen zu können.

          • Dass die Vernunft letztlich über Mythen vermittelt wird, dürfte ein Mythos sein.

            Man ist versucht, den Menschen als vernunftbegabtes Tier zu definieren, das immer die Geduld verliert, wenn es der Vernunft gemäss handeln soll.
            —Oscar Wilde, Der Kritiker als Künstler

          • Ich kann Ihnen nicht zustimmen und stimme auch dem Vortragenden nicht zu.

            Er erklärt den gemeinsamen Glauben an Gott als Voraussetzung für den Bau von Tempeln. Entweder die Leute haben nur teilweise am Tempel gearbeitet und ansonsten ihren Lebensunterhalt bestritten, oder sie wurden für die Arbeit entlohnt. So kann man also auch am Tempel bauen ohne an Gott zu glauben. Man kann auch in Teilzeit dran bauen, weil es Reputation in der Gemeinschaft bringt. Oder man wird unter Druck gesetzt.

            Menschenrechte, Geld, Staaten, Firmen, Gott – all das soll das gleiche sein und nur aus Mythen stammen und keine reale Basis haben. Da sehe ich doch gewaltige Unterschiede, auch wenn bei allem Abstraktes im Spiel ist. Google ist nicht nur eine Erzählung, an die wir alle glauben, sondern ich kann das wirklich im Browser aufrufen und oft Informationen finden, die ich suche. Ich brauche auch keine Kommunikation mit anderen, um mich erst darauf zu verständigen, dass ein Suchergebnis nun gut war oder nicht.

            Völlig albern die Idee, Menschen aufzuschneiden und in deren Innerem nach Menschenrechten zu suchen wie nach einem Tumor oder einem Organ. Wer sich dumm stellt sagt auch leicht dummes. Menschenrechte sind in der Tat etwas Abstraktes – wenn das alles ist, was er darüber weiss, und sich außer einem Mythos und Partikeln, die man im Hirn als Menschenrechte identifizieren kann, nichts vorstellen kann, dann ist das ein wenig traurig.

            Meine Mutter – um ein schönes Beispiel zu wählen – ist auch in meinem Kopf als Idee meiner Mutter vorhanden. Die Idee von meiner Mutter ist nicht die Mutter, die ist woanders und passt räumlich schon nicht in meinen Kopf. Als materielle Entität ist sie aber für mich zweifelsfrei vorhanden.

            Meine Mutter altert auch. Alterung ist auch eine abstrakte Idee. Man findet Alterung primär nicht losgelöst von der Mutter als eine Substanz, die irgendwo verdinglicht ist und an meiner Mutter haftet wie eine Brosche. Auch Bücher altern, auch Ideen, auch wenn die Ideen nicht vergilben, weil sie selbst keine Materialität haben.

            Gerechtigkeit ist ein abstraktes Konzept das man schon früh als Kind zu lernen beginnt. Auch Tiere kennen Gerechtigkeit. Es gibt da einen Affenversuch, da sind 2 Affen, die eine Aufgabe lösen sollen, und als Belohnung gibt es eine einfache Speise, genau weiß ich es nicht mehr, sagen wir eine Möhre. Beim nächsten Mal bekommt der eine Affe wieder eine Möhre, aber der andere eine Banane. Der diskriminierte Affe wird darauf wütend und wirft mit der Möhre nach dem Versuchsleiter, verhält sich also schon komplexer, als die Wirtschaftswissenschaften mit dem optimierenden Homo-Oeconomicus lange Zeit vorraussetzten. Er sagt nicht etwa “Eine Möhre ist besser als nichts” sondern “hau ab!”. Sehr schön, dieser Affe, hat meine Sympathie.

            Gerechtigkeit kann ich im Leben erfahren und auch selbst üben, und wenn es gut läuft, dann kann daraus ein ungeschriebenes Gesetz erwachsen, das aber immer wieder überprüft wird. Ich helfe meinen Freunden und meine Freunde helfen mir. Wird meine Hoffnung auf Gerechtigkeit zu oft enttäuscht, dann fühle ich mich selbst nicht mehr dran gebunden. Als vernünftiger Mensch kann ich aber dennoch annehmen, dass andere Gruppen untereinander Gerechtigkeit üben. Ich muss nicht die Idee als solche gleich verwerfen.

            Was hat das mit Gott zu tun? Wenn ich in die Kirche gehen würde, da würde ich bestimmt andere Gläubige und einen Pfarrer treffen, mit denen ich beten könnte, wenn ich wollte. Das bezweifle ich nicht. Religionen als Zusammenspiel von Leuten, die sich gegenseitig ihre Erwartungen erfüllen, die gemeinsame Ziele umsetzen (Wir singen Lied 327), das bezweifelt nun niemand.
            Ich arbeite, bekomme 100 Euro und plane damit ein SSD-Laufwerk zu kaufen. Vielleicht ist der Preis inzw. gestiegen oder gefallen, ich weiss, dass das vorkommt. Auch dass die ganze Währung den Bach runtergehen kann. Würde meine Währung täglich platzen, so dass ich ständig auf wertlosen Papierfetzen sitzen bliebe, dann wäre meine Arbeitslust schnell am Ende.

            Dass es gestern vorteilhaft war an Gott zu glauben heißt aber nicht, dass es das heute ist. Oh – die fehlende atheistische Kultur, die 1000 Jahre überdauert hat, wo sich der Atheismus doch erst entwickelt. Man kann in 100 Jahren nicht 1000 Jahre überdauern. Man kann aber sehen, dass die meisten Religionen schon untergegangen sind.

            Früher sollte Gott u.a. die unerklärliche Welt erklären. Das wirkt heute eben nicht mehr – nur noch auf Trotzköpfe. Ein Leben nach dem Tod – wer glauben kann, der glaube. Ich kann es nicht, und es fehlt mir auch nicht.

            Zu glauben, wenn man eine Sache glaubt müsse man auch an andere glauben, ist keine Logik, sondern Assoziation, wie man es im religiösen Milieu oft findet. Wer einen Tigerpenis isst, wird selbst potent. Ein Bärenherz und man wird mutig. Magnetismus dagegen, das wirkt wirklich, man kann damit Geräte steuern. Das ist keine Verabredung, dass wir alle dran glauben, dass damit Geräte gesteuert werden, man kann es zeigen.

            Dagegen Gebete wirken nicht. Da konnte die Religion nur zeigen, wie potent sie ist im Finden von Ausreden.

            Man kann sich ein Nichts vorstellen und man kann es sich nicht vorstellen. Man kann sich unendliche Mengen vorstellen und auch wieder nicht. Das abstrakte Denken kann sehr unterhaltsam sein, solange man keine Köpfe aufschneidet um den Gedanken zu suchen. Das macht den Gedanken aber nicht unwirklich. Aber dass ich etwas denken kann heißt auch umgekehrt nicht, dass es das dann auch geben muss. Dass der Gedanke und das Gedachte nicht das gleiche sind, ist eigentlich leicht zu begreifen.

            Bisher konnten auch nur religiöse Mythen die Grundfrage der Anthropodizee beantworten!

            Weil die Frage falsch ist.

          • @user unknown

            Ich verstehe völlig, dass Sie sich durch die wissenschaftliche Debatte ggf. verunsichert fühlen und “kräftig austeilen” – das ging und geht ja vielen (gerade auch religiösen) Menschen so. Es macht mir auch wirklich keine Freude, Gewissheiten zu hinterfragen – aber die Auseinandersetzung mit Religionswissenschaft & Evolutionsforschung ist ja andererseits auch freiwillig. Sie dürfen selbst entscheiden, wieviel Sie sich da zumuten.

            So schreiben Sie: Menschenrechte, Geld, Staaten, Firmen, Gott – all das soll das gleiche sein und nur aus Mythen stammen und keine reale Basis haben. Da sehe ich doch gewaltige Unterschiede, auch wenn bei allem Abstraktes im Spiel ist. Google ist nicht nur eine Erzählung, an die wir alle glauben, sondern ich kann das wirklich im Browser aufrufen und oft Informationen finden, die ich suche. Ich brauche auch keine Kommunikation mit anderen, um mich erst darauf zu verständigen, dass ein Suchergebnis nun gut war oder nicht.

            Nun, doch – Sie sind “Google an sich” noch nie begegnet, sondern seinen Anwendungen. Ebenso haben Sie höchstwahrscheinlich auch schon wahrgenommen, dass z.B. Gotteshäuser real existieren und darin (und darum) Menschen Dienstleistungen erbringen. Die Idee Google bringt – durch das Zusammenwirken von Menschen – u.a. Browser hervor, die Idee Gottes – wiederum durch das Zusammenwirken von Menschen – u.a. Bau- und Kunstwerke sowie Gottesdienste. Wobei z.B. ein US-amerikanisches Gericht die Google AG sogar zerschlagen könnte – Gott wohl eher nicht… 😉

            Dass es gestern vorteilhaft war an Gott zu glauben heißt aber nicht, dass es das heute ist.

            Das ist nun aber eine empirische Frage – keine Glaubensfrage! Je nachdem, wie Sie “vorteilhaft” definieren, können Sie auch wissenschaftlich forschen und beobachten. Wenn mit vorteilhaft die darwinsche Fitness, also der intergenerationale Reproduktionserfolg, gemeint ist, sind die Befunde seit Jahren klar: Religiös aktive Menschen haben im Durchschnitt deutlich mehr Nachkommen als ihre nichtreligiösen Nachbarn, vgl. hier:
            http://www.blume-religionswissenschaft.de/pdf/BlumeBGAEUEvolutionsgeschichteReligion.pdf

            Ebenso wird z.B. zur Frage der vermittlung von Trost, Glück und Sinn geforscht, auch hierzu liegen umfangreiche (und differenzierte) empirische Befunde vor, z.B. hier:
            http://www.blume-religionswissenschaft.de/pdf/BGAEUReligionGlueckBlume.pdf

            Wie auch @Anton Reutlinger kann und will ich Sie nicht zwingen, sich mit der aktuellen Forschung (selbstverständlich auch vieler anderer Kolleginnen und Kollegen!) vertraut zu machen – ich kann Sie nur dazu einladen, sich mit Wissenschaft auch dann zu befassen, wenn dadurch die eigenen Glaubensannahmen und Mythen mal in Frage gestellt werden.

            Zu glauben, wenn man eine Sache glaubt müsse man auch an andere glauben, ist keine Logik, sondern Assoziation, wie man es im religiösen Milieu oft findet.

            Jetzt werden Sie – m.E. völlig unnötig – auch noch persönlich ausfallend. Niemand hat hier die von Ihnen behauptete Assoziation vertreten – im Gegenteil:

            Ich glaube z.B. an die Menschenrechte, also lehne ich den Glauben an die Rechtmäßigkeit von Sklaverei strikt ab. Ich muss aber zur Kenntnis nehmen, dass auch sehr geschätzte Philosophen der Antike das noch anders sahen und behaupteten, Sklaverei sei “natürlich”. Und da muss ich wohl oder übel Harari Recht geben: So sehr wir auch unser heutiges Verständnis von Menschen und ihren Rechten als “natürlich” oder “offenbart” ansehen, so taten dies auch unsere Vorfahren mit teilweise völlig unterschiedlichem Ergebnis!

            Deswegen muss ich überhaupt nicht aufhören zu glauben, dass Menschenrechte eine Erkenntnis und ein Fortschritt sind. Aber ich muss mir schon darüber klar werden, dass es eine Glaubenshaltung ist, die auch immer wieder von anderen Menschen (z.B. von Anhängern des sog. IS oder auch von deutschen Rassisten) abgelehnt und sogar bekämpft werden wird.

            Ihnen alles Gute, vielleicht wollen Sie sich vor einer allzu emotionalen Antwort ja etwas Zeit nehmen…

  3. Werter Herr Blume,
    Ihre Beiträge lese ich immer mit grossem Interesse und Vergnügen, jetzt möchte ich zum ersten Mal auch meinen Senf dazugeben.
    Wenn Sie Gott auf dieselbe Ebene stellen wie Staaten oder Wirtschaftsunternehmen, die, wie Sie richtig herausarbeiten, lediglich Konstrukte sind mit dem Ziel, die Zusammenarbeit von Menschen zu organisieren, dann entfernen Sie sich doch ziemlich weit von nahezu allen herkömmlichen religiösen Vorstellungen.Mir fällt keine Religion ein, in der den jeweiligen Göttern keine physische Existenz zugesprochen wird, und ich könnte mir vorstellen, dass etwa ein Torquemada nach der Lektüre Ihres Artikels einige Fragen an Sie gestellt hätte, vermutlich unter Zuhilfenahme von glühenden Zangen.
    Nicht dass ich gegen Ihren Standpunkt etwas einzuwenden hätte, immerhin ist in der Geschichte noch nie für ein blosses pädagogisches Prinzip ein Krieg geführt oder ein Scheiterhaufen angezündet worden, aber die Religion wird hier doch etwas entkernt.
    Der Vergleich Reichsbürger-Atheisten hinkt übrigens gewaltig, immerhin erkennen die Reichsbürger ja noch das Deutsche Reich an. Es handelt sich also eher um Levebvristen.

    • Vielen Dank, @aristius fuscus!

      Aber – nein: Ich stelle “Gott” nicht “auf dieselbe Ebene wie Staaten oder Wirtschaftsunternehmen” – sondern stimme lediglich Hararis Argument zu, dass alle diese (und viele weitere) zur Welt der Vorstellungen (bei Ihnen: “Konstrukte”) gehören. Entsprechend sind sie zugleich “wirklich” und doch nicht materiell “existent”. Dies gilt aber doch ebenso z.B. für wissenschaftliche Theorien – was diese nicht entkernt oder unwirklich macht, da sie sich an intersubjektiv überprüfbaren Beobachtungen unterschiedlich erfolgreich bewähren. Ein bloßes Dekonstruieren (“Die Physik besteht ja auch nur aus Konstrukten!”) würde sich m.E. selbst ad absurdum führen – auch Harari beruft sich ja auf wissenschaftliche Argumente!

      Auch weitere Begriffe wie “Menschenrechte”, “Wahrheit”, “Vernunft”, “Bundesrepublik Deutschland” und eben “Gott” sehe ich entsprechend nicht schon deswegen als “entkernt” an, weil sie in Frage gestellt werden können. Mir fällt eher auf, dass manche Menschen – sowohl religiöse Fundamentalisten wie auch Antitheisten – je für ihre geglaubten Entitäten einen besonderen Status reklamieren, ohne einzuräumen, dass auch dieser auf Glauben beruht…

      Meine persönliche Position bejaht die evolutionäre Erkenntnistheorie und den erkenntnistheoretischen Pluralismus, die es mir erlauben, die – immer vorläufigen – Erkenntnisse sowohl aus den empirischen Wissenschaften wie aus dem Recht, der Mathematik, der Kunst & Musik, den Philosophien und natürlich den Religionen anhand ihrer beobachtbaren Auswirkungen zu erkunden und zu bewerten, ohne die eine oder andere absolut setzen zu müssen.
      https://scilogs.spektrum.de/natur-des-glaubens/die-empirische-beweislast-der-antitheisten/

      Zu den Reichsbürgern als neuen Atheisten bzw. Lefebvreisten noch der Hinweis, dass sich ja auch die Lefebvreisten auf eine vermeintlich objektive Naturordnung berufen (die z.B. die Gleichstellung der Geschlechter oder Homosexualiät als unnatürlich ausschließe). Im Gegensatz zu vielen sog. “neuen Atheisten” dürften die meisten Lefebvreisten aber wenigstens erkannt haben, dass sie eigentlich nur bestehende Glaubensordnungen durch eine andere ersetzen wollen. Ein wirklich konsequenter Nichtglaubender müsste demgegenüber nicht nur die Religion verwerfen, sondern auch das Recht, das Wirtschafts- und Geldsystem usw. Das habe ich bei den sog. “neuen Atheisten” so bisher nicht erlebt… Man glaubt ja oft gar nicht, was man alles glaubt! 🙂

      Danke auch für den drohenden Hinweis auf die “glühenden Zangen” des Inquisitors Torquemada – die mir im Übrigen wohl nicht erst wegen meiner wissenschaftlichen Arbeit, sondern schon wegen meines evangelischen Glaubens und der Ehe mit einer Muslimin gedroht hätten. Während der Französischen Revolution oder des antitheistischen Stalinismus drohten ja dann nicht-theistische “Inquisitoren” mit übrigens deutlich höheren Opferzahlen… Tatsächlich betrachte ich es aber auch gar nicht als meine Aufgabe, religiösen oder sonstigen Fanatikern der Vergangenheit oder auch Gegenwart gefallen zu müssen. Die Religionswissenschaft ist da ausdrücklich nicht an hierarchische Lehrämter gebunden, was ich sehr begrüße. 🙂

  4. Das erkennende Subjekt ist in unterschiedlichen (vs. ‘zwei’) Erkenntnissystemen unterwegs, bspw. im Wissenschaftlichen (die Scientific Method, witzigerweise liegt in der bekannten Online-Enzyklopädie kein d-sprachiger Text vor, vielleicht: nicht zufällig, ist aber etwas Besonderes, denn nur sie erlaubt Anwendungen, die von allen (“exoterisch”) nachvollzogen werden können), im Sittlichen, im Formalistischen (“Formalwissenschaften” sind gemeint) und allgemein im Philosophischen (Metaphysik, Religion etc.) – womit hier aber noch nicht Schluss ist.
    Mythen oder bestimmte Erzählungen werden heutzutage streng genommen nicht mehr benötigt, sie transportieren Ideen, aber dies kann heutzutage auch schlicht “in Prosa” erfolgen, auch damit nichts verschleiert wird.
    Den Ausführungen im ersten Absatz dieses WebLog-Eintrags ist natürlich grundsätzlich zuzustimmen, wobei im Sittlichen aber seit langer Zeit, von den Altvorderen, hart gearbeitet worden ist und auch fortlaufend hart gearbeitet wird – was Mythen betreffend, trotz ggf. geübter Theologie, nicht unbedingt der Fall ist.
    MFG
    Dr. W

      • Ohne “den Kollegen” verteidigen zu wollen – in seinem Buch führt er den Kulturbegriff selbstverständlich aus und diskutiert sogar seine Genese und Anwendungsformen. Lesenswert, lieber @Webbaer!

    • @Webbaer

      Den Kern Ihrer Ausführungen bildet m.E. die These: “Mythen oder bestimmte Erzählungen werden heutzutage streng genommen nicht mehr benötigt, sie transportieren Ideen, aber dies kann heutzutage auch schlicht “in Prosa” erfolgen, auch damit nichts verschleiert wird.”

      Doch schon kurz darauf berufen auch Sie selbst sich wieder auf “die Aufklärung” – ein ganz und gar von Mythen durchwobenes Konzept, dem u.a. bestimmte Welt- und Geschichtsdeutungen, auch emotional Fortschrittserzählungen und die stets auch subjektive Auswahl von Zeiten und Akteuren zugrunde liegt. “Die Aufklärung” hat ebensowenig materielle Existenz wie “die Offenbarung” – außer natürlich, Sie könnten uns den genauen Ort, die Masse und chemische Zusammensetzung “der Aufklärung” nennen? 😉

      • @ Herr Dr. Blume :

        Die Aufklärung, das Sapere Aude meinend, insbesondere auch die Wissenschaftlichkeit, hat natürlich insofern eine ‘materielle Existenz’, als dass nur sie erlaubt Anwendungen beizubringen, die allgemein erkennbar Nutzen entstehen lassen.
        Aufklärung und Scientific Method (siehe weiter oben) gingen insofern Hand in Hand, es gab schon, beginnend vor vielleicht 500 Jahren, gute Gründe und gut Argumentierende, die auch -durch Erfindung oder geeignete naturwissenschaftliche Theoretisierung- belegen konnten, im Gegensatz zu den sozusagen nackten Esoterikern.

        Macht abär nichts, Ihr Kommentatorenfreund hat sich schon vorher mit Yuval Noah Harari beschäftigt, findet den halt nicht gut, mehr ist nicht geschehen.
        “Zauberworte” wie Kultur und Aufklärung müssen nicht immer fallen.

        MFG
        Dr. W

        • Einverstanden, @Webbaer – wenn Sie dann aber auch ebenso zugestehen, dass aus dem Feld der Religion(en) ebenso Anwendungen mit beobachtbarem Nutzwert entstanden sind wie z.B. Rechtsordnungen, Bau- und Kunstwerke, Sinnerzählungen, lebens- und v.a. familienförderliche Gemeinschaften usw. Es gab ja durchaus langlebige Gesellschaften ohne empirische Wissenschaften, aber nie welche ganz ohne religiöse Traditionen. Vgl. dazu Robert McCauley:
          https://scilogs.spektrum.de/natur-des-glaubens/warum-religion-nat-rlich-ist-und-wissenschaft-nicht/

          Und zu Harari: Mir sagt auch manches an seinen Ausführungen nicht zu, aber es scheint ihm doch zu gelingen, schon länger bestehende Erkenntnisse zu popularisieren. Ihre Meinung zu seinem im Buch dargelegten Kulturbegriff hätte mich interessiert, zumal Sie ja häufiger in diese Richtung diskutiert hatten (z.B. mit dem Bezug auf “den Islam”).

          • Nö!

            Esoterische Bemühung liefert Anwendungen oder “Anwendungen” für Esoteriker, also nicht offen ausliegende, keine naturwissenschaftlichen, die sich weitergehendem exoterischen Wettbewerb stellen könnten (oder nur rein zufällig etwas, das naturwissenschaftlicher Beschau vielleicht standhält).

            In anderen Erkenntnissystemen sieht es natürlich anders aus, das mit den zwei Realitäten (Realitäten meinen Sachlichkeiten, kA, ob sich Yuval Noah Harari darüber letztlich klar ist) war natürlich ein Mops [1], dort kann Nutzen, sei er bspw. metaphysischer oder sittlicher oder formalistischer Art (siehe oben) mal so, mal so entstehen.

            MFG
            Dr. W (der sich nun langsam ausklinkt)

            [1]
            ‘Mops’ = ‘möglicher Klops’, landwirtschaftlich und lautmalerisch, wie nett gemeint

          • @Webbaer

            Also gehörten nach Ihrer Auffassung z.B. Rechts- und Staatsordnungen sowie Wirtschafts- und Geldsysteme in den Bereich der “Esoterik”, da sie keine naturwissenschaftlich einholbaren Anwendungen darstellen?

            #Bingespannt

          • Exakt.
            Aus wissenschaftlicher Sicht sind bestimmte Entscheidungsfindungen erkennender Subjekte nicht zu bestimmen, sondern zu begleiten.
            Vielleicht erhebt es auch Sie bisweilen kulturell und wissenschaftlich unbestimmt und nur derart begleitet oder beschreibbar unterwegs zu sein.
            (Wobei es dann, wenn Sie Religion als fertilitätsbestimmend verstehen und insofern Kultur im Rahmen der biologischen Evolution verstehen, natürlich Gegenrede hagelt. Besser wäre vielleicht gelegentlich mit einem “Icke hier politisch unterwegs” möglichen Missverständnissen vorzubeugen; Religionswissenschaftler dürfen auch politisch unterwegs sein.)

            Esoterik muss im Politischen nicht Esoterik genannt bleiben, besser womöglich: demokratisch; niemand ist der Meinung, dass politisches Handeln Einzelner oder der Menge wissenschaftlich ist.

            MFG
            Dr. W (der sich nun abär wirklich…)

          • Spannend! M.E. nehmen Sie damit eigentlich die wesentlich gleiche Unterscheidung wie Harari vor, bestimmen aber eben alle nicht-objektiverbaren Erzählsysteme des Rechts, der Staaten, der Politik, Kunst, Religion usw. gleichermaßen als “Esoterik”. Jede Aussage, die nicht absolut intersubjektiv überprüfbar sei, fiele dann darunter. Juristen wären dann genauso “Esoteriker” wie Theologinnen, Ökonomen, Politikerinnen, Banker, Grenzbeamte usw. usf…

            Kann man natürlich machen. Ich wette aber, Sie verwenden dennoch Geld und berufen sich auch bisweilen auf Rechte, nehmen vielleicht gar an politischen Prozessen (wie z.B. Wahlen) teil – nutzen also selbst durchaus die Anwendungen, die Ihnen diese “esoterischen” Systeme zur Verfügung stellen… 🙂

            (Und natürlich ist die Ihrerseits angeführte, definitorische Unterscheidung zwischen Exoterik und Esoterik nach Ihren eigenen Kriterien auch selbst esoterisch…) 😉

          • Gut gegengeredet! – Offensichtlich sind aufklärerische ‘Rechts- und Staatsordnungen sowie Wirtschafts- und Geldsysteme’ nicht esoterisch, sondern exoterisch, auch wissenschaftlich handhabbar und Ihr Kommentatorenfreund hat im Weggehen und aus Nachlässigkeit und aus bestimmter Sicht mit dem ‘Exakt.’ einen schweren Fehler gemacht, der Rest stimmt aber.

            Freunde der Zentralverwaltungswirtschaft werden dennoch bei den zitierten Ordnungen und Systemen trotz der Anwendungen weiterhin Esoterik feststellen, in diese Richtung sollte die Argumentation Ihres Kommentatorenfreundes gegangen sein.

            Yuval Noah Harari ist oder gibt sich zumindest relativistisch, was ihm zu Kultur und Aufklärung einfällt, dürfen Sie gerne in einem WebLog-Artikel aufbereiten, sein audiovisuell bereitgestellter Vortrag war nicht nur diesbezüglich: sparsam,
            MFG
            Dr. W

            PS: Bitte diese Version veröffentlichen, sofern möglich natürlich nur, es gab in der ersten Kommentar-Version einen “kleinen” Fehler mit der Auszeichnung per HTML.

  5. Ich habe mir gerade den Ted-Vortrag anghört und finde die Reaktion der Schimpansen auf das Angebot “gib mir deine Banane und du kommst in den Himmel” (ab min 10:45) erstrebenswerter, als die Reaktion mancher Menschen auf die Versprechen von Religionsstiftern (z.B. zu den berühmten 100 Jungfrauen).

    Mythische Geschichten wandern ins Märchenbuch oder auf die Kinoleinwand (s. Herr der Ringe oder Star Wars). Einige wenige mythische Geschichten werden von machtgierigen Menschen entdeckt und zu Religionen umgearbeitet mit dem Ziel die eigene Macht und den Einfluss und Reichtum der eigenen Sippe zu vergrößern.
    Schwankt die Macht, wird ein neues Feindbild aufgebaut (siehe unsere Politiker), um damit die Masse der Anhänger zusammenzuhalten.

    Dass Menschen bereitwillig einer Geschichte hinterherennen, solange sie nur glaubwürdig vorgetragen wird (3. Reich, Massenvernichtungswaffen des Sadam Hussein, …) ist wahrlich keine evolutionäre Entwicklung, auf die wir stolz sein können.

    Den Vergleich zwischen Glaube an einen oder mehrere Götter und einer Rechtsordnung finde ich abartig.
    Eine Rechtsordnung bestimmt die Regeln des Zusammenlebens auf Basis der Lebenswirklichkeit (auch wenn die Gesetzgebung der Realität öfters hinterherhinkt). “Glaube” basiert auf mystischen Erzählungen und nicht wissenschaftlich bewiesenen Vorkommnissen. Diese Erzählungen haben mit unserer Lebenswirklichkeit nichts – aber auch gar nichts – mehr zu tun.

    Religionen helfen Menschen zu verdummen, Menschen gegeneinander aufzuhetzen und Kriege anzuzetteln.

    Steckt die Götter in die private Schublade. Zu Hause kann Mensch glauben was er/sie möchte, aber im öffentlichen Leben hat die Realität Vorrang und vom Beten entstehen keine neuen Wohnungen und keine Steuergerechtigkeit.

    • @Paula

      Es ist etwas schwierig, auf Basis von Begriffen wie “abartig” zu diskutieren. Vielleicht versuchen Sie es noch einmal, wenn sich Ihre Emotionen sortiert haben?

      Sie berufen sich auf “Lebenswirklichkeit” und “Wissenschaft” – und dazu muss ich (leider?) anmerken, dass es eben kein Zufall ist, dass sich bislang keine Zivilisationen oder auch nur Populationen ganz ohne religiöse Grundlagen erhalten haben. Religiöse Überzeugungen können ebenso positive wie negative Auswirkungen haben wie ja auch z.B. durch wissenschaftliche Erkenntnisse Medikamente ebenso hergestellt werden können wie ABC-Waffen (und es gibt tatsächlich Menschen, die deswegen den Stop von Technologie und Wissenschaft(en) fordern!).

      Sie können die entsprechenden, empirischen Befunde zu den verschiedensten Auswirkungen von Religion(en) bestreiten oder auch gerne glauben (!), dass dies in Zukunft ganz anders sein wird. Aber auch dann würde es ggf. nicht schaden, sich zuvor auch mit den Befunden auseinander zu setzen, die nicht gleich ins eigene Weltbild passen, vgl. https://scilogs.spektrum.de/natur-des-glaubens/die-anthropodizee-frage-wer-himmel/

      Danke für Ihr Interesse und herzliche Grüße!

  6. Die Geschichte mit den Mythen ist nicht neu. Von Hans Vaihinger stammt die “Philosophie des Als-ob”. Der Philosoph hat in der “Philosophie der symbolischen Formen” über die Bedeuetung von Mythen geschrieben. Wahrscheinlich wird der Mensch nie ganz ohne Mythen auskommen, aber weitgehend werden sie durch Wissenschaft ersetzt. Man denke an das Dreistadiengesetz von Giambattista Vico oder Auguste Comte. Dass es keine Gesellschaft ohne Religion gibt, oder geben kann, ist selber schon ein Mythos.

    • @Anton Reutlinger

      Volle Zustimmung – mit Ausnahme des letzten Satzes. “Dass es keine Gesellschaft ohne Religion(en) gibt” ist zunächst einfach eine empirische Beobachtung (die entsprechend falsifizierbar wäre, aber bislang nicht falsifiziert werden konnte). Dass es jedoch auch in Zukunft (k)eine religionslose Gesellschaft geben kann, würde ich jedoch wie Sie als Spekulation werten, aus der verschiedenste Mythen abgeleitet werden.

      • Nun, dass man keine Gesellschaft ohne irgend eine Religion (oder Aberglaube!) gefunden hat, bedeutet nicht, dass es keine gibt. Dazu müsste man zuerst definieren, was genau als Religion gemeint ist und dann alle Gesellschaften der Welt, gegenwärtige und vergangene, untersucht haben. Darüber hinaus ist diese Erkenntnis völlig unbedeutend. Der Mensch sucht nach Wissen, um das Leben zu bewältigen, indem Erklärungen für das Naturgeschehen aufgestellt werden. Da es in früherer Zeit noch keine Wissenschaft im heutigen Sinn gab, musste sich der Mensch anderweitig behelfen. Dazu dienten Mythen, kombiniert aus Wahrnehmung und Phantasie über viele Generationen, z.B. Mythen tierischen und pflanzlichen Lebens und des kosmischen Geschehens. Der Animismus bildete dabei die früheste Stufe.

        Die Menschheit bildet sich offensichtlich weiter in Richtung Wissenschaft. Dass es dabei unüberschreitbare Grenzen gibt, ist kein Geheimnis, sondern Gegenstand der Philosophie. Der bleibende Freiraum kann mit beliebigen Phantasien gefüllt werden. Ob es den Menschen nützt, ist mehr als fraglich, man sieht es an den modernen Formen des Aberglaubens, der Esoterik bis hin zur Intoleranz und zum Terror von Fundamentalisten und des IS.

        • Es ist halt immer leicht, an seinen jeweiligen weltanschaulichen Mythen festzuhalten – wenn man sich nur strikt genug weigert, vorliegende Arbeiten, Definitionen und empirische Befunde zur Kenntnis zu nehmen, @Anton Reutlinger. Das gilt für Fundamentalisten aller Art. Und auch das Ausmaß der Befunde, die Sie selbst (bewusst?) ignorieren, wird halt immer größer, das ist nun mal der Gang der Forschung. Your choice! 🙂

          Wenn Sie ggf. doch mal wieder erkenntnisoffen und neugierig werden sollten, gerne z.B. Ara Norenzayan, Michael Henrich oder Robert McCauley:
          https://scilogs.spektrum.de/natur-des-glaubens/warum-religion-nat-rlich-ist-und-wissenschaft-nicht/

          Ihnen alles Gute!

          • Der weltanschauliche Mythos, es gebe keine Gesellschaft ohne Religion, ist nicht neu. Solche Behauptungen und Forschungen gab es schon im 19.Jhdt.

            The question as to whether there are races or tribes on the earth entirely without a religion is one that demands on its threshold a definition of the word “religion.”

            Popular Science Monthly/Volume 48/December 1895/Sir John Lubbock and the Religion of Savages
            https://en.wikisource.org/wiki/Popular_Science_Monthly/Volume_48/December_1895/Sir_John_Lubbock_and_the_Religion_of_Savages

          • So ist es, @Anton Reutlinger – wobei ich erneut darauf hinweise, dass eine empirisch überprüfbare These gerade kein Mythos ist (auch wenn dies z.B. Kreationisten gerne so hätten).

            Doch erfreulicherweise haben sich seit dem 19. Jahrhundert auch viele neue Antworten ergeben, gerade auch in der Definitionsfrage, vgl.:
            https://scilogs.spektrum.de/natur-des-glaubens/die-definition-von-religion/

            Wir kommen damit empirisch derzeit sehr gut voran! Wie geschrieben: Wissenschaft steht nicht still und es lohnt, sich immer mal wieder neu zu informieren (wenn man wirklich neugierig ist und seriös mitdiskutieren möchte).

  7. @Reutlinger: Das Erleben von sprechendem Licht/Lichtwesen *) ist eine konkrete Erfahrung, die sich mit der Arbeitsweise unseres Gehirns erklären läßt. D.h. einem solchen Erlebnis liegen konkrete und nachvollziehbare Ursachen zu Grunde: die Arbeitsweise unseres Gehirns beim Erinnern fetaler und frühkindlicher Erfahrung.
    Solche konkreten Erfahrungen bilden aber die Grundlage von Spiritualität und als solches die Basis für die Entstehung von Religiosität. D.h. Spiritualität beruht auf bewusst erlebbarer Wahrnehmung.
    Da alle Menschen biologisch gleichartig ´funktionieren´, bedeutet dies, dass bei allen Menschen solche Erlebnisse/Erinnerungen vorhanden sind. Man kann daher mit 100 %iger Sicherheit sagen, dass es keine religionslosen Gesellschaften geben kann. Diese Aussage gilt sowohl für Vergangenheit, wie auch für die Gegenwart und Zukunft; da die Arbeitsweise des Gehirns immer gleich ist.

    ( *) Derartige Erfahrungen werden im Rahmen der sogenannten ´Nahtod-Erfahrung´(NTE) berichtet. NTEs lassen sich komplett als systematisch, strukturiert ablaufender und bewusst erlebbarer Erinnerungsvorgang beschreiben. Die sogenannte ´Außerkörperliche Erfahrung´ lässt sich mittlerweile sogar schon bei gesunden Menschen innerhalb von Sekunden im Gehirnscanner erzeugen – und vermessen, wohin im Raum sich die Versuchsperson dachte. Quelle:
    http://www.sciencedaily.com/releases/2015/04/150430124107.htm ´Brain scan reveals out-of-body illusion´ DOI: 10.1016/j.cub.2015.03.059 Karolinska Institut Stockholm / Da die ´außerkörperliche Erfahrung´ alleinstehend, am Anfang, zwischendurch oder am Ende von NTEs berichtet wird – ist davon auszugehen, dass alle Menschen beim Erleben der gesamten NTE genau so klar bei Bewusstsein sind, wie die Versuchspersonen im Gehirnscanner.
    Ich habe dazu das Buch/e-Buch ´Kinseher Richard PFUSCH, BETRUG, NAHTOD-Erfahrung´ ) veröffentlicht (Der Vorwurf im Titel bezieht sich auf die Qualität der bisherigen NTE-Forschung))

  8. Sehr geehrter Herr Blume,

    ich lese Ihre Beiträge auch immer sehr gerne, und lese auch gerne die von Ihnen empfohlenen Bücher – mit Gewinn. Wenn ich mich dann so schlau gemacht habe, ist die Diskussion immer schon vorbei.

    Ich will daher dieses Mal kommentieren, ohne Detailkenntnis des Themas:

    Wenn ich Sie richtig verstehe, soll nach Hariri – und auch Ihrer Meinung nach – der evolutionäre Erfolg des Menschen auf der Tatsache beruhen, daß der Mensch in der Lage ist, objektiv und fiktiv zu denken – das Fiktive in Form von „Mythen“, die Kultur und Religion hervorgebracht haben

    Ob der evolutionäre Erfolg des Menschen für die Natur nun ein Erfolg war, sei dahingestellt – Sie meinen sicher: ein Erfolg aus menschlicher Sicht, aber auch das könnte trügerisch sein.

    Mir scheint aber, daß der Glaube des Menschen an eine über allem stehende Wirkmacht nicht erst in Mythen entstanden ist. Er ist vielleicht schon ganz früh angelegt, im Überlebenskampf des Artgenossen selbst:

    Um zu Überleben ist es für alle Kreaturen wichtig, von den vielen Möglichkeiten, die die Zukunft bereithält, diejenige herauszufinden, die wahrscheinlich real werden wird, und in der Gegenwart dafür zu sorgen, dass es die gewünschte wird. Das geht nur, wenn Stabilität und Regelmäßigkeiten, also eine unter gleichen Bedingungen wiederkehrende Ordnung in der Natur auch eine solche Bestimmung und einen Eingriff zulassen. Bestimmte Lebewesen, auch der Mensch, scheinen mir in der Lage zu sein, diese Regelmäßigkeiten in ihrer Gegenwart wahrzunehmen, daraus auf zukünftige Ereignisse zu schlußfolgern, und in ihrer Gegenwart Randbedingungen zu setzen, die so auf zukünftige Ereignisse so einwirken, daß möglichst nur die gewünschten eintreten.

    Dieser Mechanismus (Theorie, Vorhersage, Mßnahme) setzt – neben dem Bewußtsein von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft – nur das Wissen um Regelmäßigkeiten voraus. Kommt aber, wie beim Menschen, das Wissen um Ursache und Wirkung hinzu, dann ergibt sich die Frage nach dem letzten Grund.

    Für alle Lebewesen, die in Kenntnis, dass jede Wirkung eine Ursache hat, ihre Gegenwart gestalten, damit aus unbestimmter Zukunft eine bestimmte Gegenwart wird, stellt sich die Frage nach dem letzten Grund – das heißt letztendlich: ab dem Zeitpunkt: wo wir bewußt zielgerecht handeln.

    Zielgerechtes Handeln setzt Glaube voraus, der Glaube, dass wir uns auf etwas verlassen können, daß nicht irgendwo am letzten Grund alles unbestimmt ist, das Fundament also unsicher ist.

    Man kann es mit Hariri und Popper so sehen, daß die Welt in drei Ausschnitte getrennt werden kann: die physikalische Welt, die Welt der sinnlichen Erfahrung, und die der abstrakten Ideen. Mir gefällt das nicht so sehr, weil man bei dieser Sichtweise zu sehr außerhalb der Welt steht.

    Für den Glauben braucht man diese Teilung nicht. Die Welt ist dynamisch, regelmäßig.
    Um in dieser Dynamik im Lebenskampf nicht unterzugehen, müssen wir die Ursachen der Dynamik kennen, dann können wir zielgerecht Alltägliches vorhersagen und danach handeln. Gründe der Dynamik liefern uns unsere alltäglichen Theorien (Stabilität, Regelmäßigkeiten, usw.). Insofern wäre Glaube auch nur eine Theorie von vielen, nämlich die über den letzten Grund, auf dem alles steht, zwar empirisch nicht so sicher, aber für praktische Zwecke (z.B. als übergreifende Rahmentheorie) immer noch gut geeignet.

    Ist vielleicht eine naive Sicht über den Glauben, sie greift aber nicht am Kultus, sondern beim Individuum und seinem Urerfahrungen im Überlebenskampf an.

    Grüße Fossilium

    • Vielen Dank, liebe/r @fossilium!

      Was den menschlichen “Erfolg” angeht, haben Sie m.E. völlig Recht – auch Harari beschreibt ihn ganz nüchtern (Verbreitung auf allen Kontinenten, Biomasse), verweist jedoch auf das durch Sapiens ausgelöste Artensterben und die Möglichkeit, dass wir uns ausgerechnet durch Technologie (ABC-Waffen, KI) auch selbst auslöschen könnten.

      Auch den Rest Ihres Kommentars finde ich so interessant, dass ich ihn mir nochmal in Ruhe durchlesen und durchdenken möchte.

      Vielen Dank und herzliche Grüße!

  9. Hallo Herr Blume,
    hab mir das Ganze auch noch mal überlegt.

    Es geht letztendlich um die Frage, ob der Mensch als Kulturwesen in dem Moment entstanden ist, als er feststellte, daß im äußeren Geschehen statt bloßer Regelmäßigkeit ein Kausalprinzip herrschte.

    Regelmäßigkeiten werden auch Tiere feststellen, aber diesen Regelmäßigkeiten ein Ursache/Wirkungsprinzip zu unterlegen, scheint mir einen Unterschied zu machen.
    Zumindest was die Katze meiner Frau anbetrifft, der ich jahrelang die Gesetze der Kausalität beibringen wolle, mit ziemlich geringem Erfolg.

    Daß die Philosopie auch nach jahrtausendlangen Überlegungen über die allgemeinen Voraussetzungen für einen Ursache/Wirkungszusammenhang keine konsistenten Aussagen machen kann, ist unerheblich, das ist einfach nur ein ungelöstes Problem der Philosophie. Einen solchen Zusammenhang bei bestimmten Regelmäßigkeiten zu unterstellen, scheint trotz aller Unsicherheit ein erster Schritt auf dem Weg zu einer Kultur zu sein.

    Und wirft sofort die Mutter aller Fragen auf: was ist der letzte Grund ?

    Das alles hat den Charm einer einfachen Erklärung. Aber bei solchen reduzierten Beschreibungen muß man natürlich vorsichtig sein. Vielleicht kommen ja noch ein paar Kommentatoren mit Einwänden.

    Viele Grüße und machen Sie bloß so weiter, lieber Herr Blume.

    Fossilium

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  12. Lieber Herr Blume,
    vielen Dank für den Beitrag, der mich neugierig auf die Lektüre seines Buches gemacht hat. Besonders interessiert mich, ob er auch auf Helmut Plessnergesellschaft Ansatz der “exzentrischen Positionalität” eingeht. Hararis Ansatz scheint in die gleiche Richtung zu gehen. Gerade Plessner bietet ja eine gute Grundlage um Vulgärdarwinisten und Verächter der Geistes- und Sozialwissenschaften argumentativ entgegenzutreten.

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