Norbert Lammert am Tag der deutschen Einheit – und die Frage nach dem Glück

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Evolutionsgeschichte der Religion(en)
Natur des Glaubens

Nicht nur Medienberichte, sondern auch eine Kollegin, die dabei war, waren sich einig: Die Rede von Bundestagspräsident Prof. Dr. Norbert Lammert (CDU) in der Frauenkirche bildete einen Höhepunkt des Tages der deutschen Einheit in Dresden 2016 – eines Tages, den über 450.000 Menschen friedlich gefeiert, aber auch bis zu 4.000 pöbelnde Hassbürger getrübt hatten.

Die Rede ist tatsächlich hörens- und auch lesenswert, anbei das Video, den Text dann untenstehend.

Erlauben Sie mir jedoch, aus meiner religionswissenschaftlich-empirischen Perspektive einen Aspekt besonders hervorzuheben: Meines Wissens zum ersten Mal berief sich der – nach dem Bundespräsidenten – zweithöchste Vertreter des Staates in einer Bundesrede auf Befunde der empirischen Glücksforschung. Lammert:

Vieles ist uns gelungen, manches offenbar besser als anderen; doch im Vergleich mit anderen Ländern zeichnen wir uns gerade nicht durch ausgeprägte Zufriedenheit aus. In einem virtuellen Glücksatlas des amerikanischen Gallup-Instituts, das die gefühlten Erfahrungen unter 138 befragten Nationen erfasst, ordnen die Deutschen sich auf Rang 46 ein – zwischen dem Senegal und Kenia. Nach einer neuen Umfrage haben wir uns weiter nach oben gearbeitet, direkt hinter Vietnam. Man muss das nicht für die sprichwörtliche deutsche Bescheidenheit halten. Wir können und dürfen durchaus etwas mehr Selbstbewusstsein und Optimismus zeigen.

Sicher, bei oberflächlicher Lektüre findet man hier zunächst nur einen Widerspruch aufgespießt: Da leben die Deutschen seit Jahrzehnten in einem weltweit einzigartigen Maß an Wohlstand, Sicherheit und Lebenserwartung – und hadern trotzdem, einige hassen sogar.

Wissenschaftlich und philosophisch sind hier jedoch tatsächlich noch viele ungelöste Rätsel verborgen: Warum zahlt sich ein höheres Maß an Einkommen, Sicherheit und Lebenserwartung irgendwann nicht mehr in höherem, subjektivem Glücksempfinden aus? Und warum sollten wir überhaupt Aussagen über subjektives – also gefühltes – Wohlbefinden beachten? Ist das nicht gerade das Problem, dass die Trumps, Putins, Orbans und Erdogans dieser Welt gezielt Gefühle schüren und bedienen und Fakten ignorieren? Wie Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) es formulierte:

Es heißt ja neuerdings, wir lebten in postfaktischen Zeiten. Das soll wohl heißen, die Menschen interessieren sich nicht mehr für Fakten, sie folgen allein den Gefühlen.

Bei aller Sympathie wage ich jedoch einen Einwand: Gerade auch aus evolutionärer Perspektive “sind” Gefühle eben auch Fakten. Sie bilden die Grundlage unseres über Jahrmillionen evolvierten, inneren Motivations- und also Selbststeuerungssystems. Und von daher ist es auch eigentlich nicht verwunderlich, dass diese Gefühle gar nicht auf ein Leben in einem vergleichsweise sicheren und wohlhabenden, demokratischen Rechtsstaat mit einem Überangebot an Medienreizen angepasst sind. Die biologische Evolution konnte uns nicht auf die Welt vorbereiten, in der wir uns heute kulturell eingerichtet haben! Wir sind und bleiben suchende Wildbeuter im Web 2.0

So unterscheidet die Gallup-Wellbeing-Studie von 2014 fünf verschiedene Dimensionen des Wohlbefindens. Die deutsche Bevölkerung schnitt dabei mit Platz 28 hinter Schweden und Saudi-Arabien gar nicht so schlecht ab – mit Ausnahme des “sozialen” (also: familiären, partnerschaftlichen) Glücksempfindens, in dem sich die Deutschen auf Platz 105 (!) wiederfanden.

GallupWellBeingIndex2014DeutschlandDas hier tatsächlich ein Zusammenhang zur Demografie – zum Fehlen von Kindern – bestehen könnte, unterstreicht Japan, das in der gleichen Befragung nur auf Platz 92 landet, im Bereich des sozialen Glückes sogar nur auf Platz 127! Und ob die starke Säkularisierung dazu beiträgt, dass auch das Wohlbefinden im Bereich von Lebenssinn (Purpose) in beiden Fällen niedrig ausfällt – in Deutschland auf Rang 36, in Japan gar auf 87? Finanzielle Zufriedenheit (Deutschland Rang 6, Japan Rang 11) vermag die anderen Lebensbereiche offensichtlich nicht “hochzukaufen”.

MenschFunktionspyramideBlumeNichtreligiöse Systeme – wie der Sozialstaat oder die “sozialen Medien” – scheinen in der Lage, grundlegende Funktionen von Religionsgemeinschaften zu übernehmen, möglicherweise aber nicht jene der Sinnstiftung. Grafik: Michael Blume 2011

In einem bemerkenswerten Beitrag in der aktuellen ZEIT (6.10.2016, S. 6) zu den “10 Goldenen Regeln der deutschen Politik und warum sie nicht mehr gelten” beobachtet Peter Dausend entsprechend:

Das Vernünftige hat die Politik so unterzuckert, dass sich ein Bedürfnis nach Drama angestaut hat. Nach Themen, für die man sich mit wildem, ungezügeltem Eifer begeistern, gegen die man mit wildem, ungezügelten Eifer kämpfen kann. Dieses Bedürfnis nach Drama bedient die AfD.

Ja, gerade wenn wir die Erkenntnisse der zunehmend interdisziplinären Evolutionsforschung ernstnehmen, wird deutlich: Rationalität ist eine späte und nicht sehr starke Fähigkeit des Homo sapiens. Unsere grundlegenden Emotionen wie auch kulturell mitgeprägten Gefühle sind sehr, sehr viel älter – und wir verstehen sie immer noch nur in Ansätzen. Entsprechend hilflos stehen wir “Gefühlsausbrüchen” gegenüber, die derzeit weltweit von Populisten aufgegriffen, verstärkt und in Macht umgesetzt werden…

Die Rede von Bundestagspräsident Prof. Dr. Norbert Lammert zum Tag der Deutschen Einheit am 3.10.2016 im Wortlaut:

Es gilt das gesprochene Wort

Herr Bundesratspräsident, lieber gastgebender Ministerpräsident Tillich,

sehr geehrter Herr Bundespräsident,

Frau Bundeskanzlerin,

Herr Präsident des Bundesverfassungsgerichts

Exzellenzen, hohe Repräsentanten der Kirchen und der Religionsgemeinschaften,

liebe Kolleginnen und Kollegen aus dem Europäischen Parlament, dem Deutschen Bundestag, den Landtagen, Herr Oberbürgermeister, meine Damen und Herren, liebe Gäste!

Man muss es nicht mehr aufregend finden, dass wir – mehr als ein Vierteljahrhundert nach Wieder­herstellung der staatlichen Einheit Deutschlands – unseren National­feiertag schon zum zweiten Mal hier in Dresden feiern. Aber freuen dürfen wir uns durchaus darüber, dass selbstverständlich geworden ist, was über Jahrzehnte völlig ausgeschlossen schien: Einheit in Freiheit.

Man darf sogar dagegen sein. Aber diejenigen, die heute am lautesten schreien und pfeifen und ihre erstaunliche Empörung kostenlos zu Markte tragen, haben offensichtlich das geringste Erinnerungsvermögen daran, in welcher Verfassung diese Stadt und dieses Land sich befunden haben, bevor die Deutsche Einheit verwirklicht werden konnte.

Mein besonderer Respekt gilt all den Menschen in Dresden, Sachsen und Thüringen, Sachsen-Anhalt und Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern und Berlin, die wissen, was sie selbst in diesen Jahren geleistet und nicht vergessen haben, welche Unterstützung sie dabei von anderen erhalten haben.

Die erste Dresdner Einheitsfeier 2000 hat eine große deutsche Zeitung unter der Überschrift „Bratwurst und Barock“ als Veranstaltung beschrieben, bei der „den Deutschen an diesem zehnten Jahrestag der wiedererlangten Einheit das fröhliche Feiern nicht so recht gelingen will“. Seitdem ist manches anders geworden – in diese wie in jene Richtung. Rundum fröhlich ist Dresden auch in diesem Jahr nicht – und Deutschland auch nicht.

Das Jahr 2016 macht Zusammen­hänge, aber auch Spannungen deutlich, mit denen Europa und seine Nachbarn im 21. Jahrhundert zu tun haben:

In Großbritannien haben die Wähler in einer Volksabstimmung mit knapper Mehrheit beschlos­sen, aus der Europäischen Union auszutreten. Die junge Generation, die von dieser Entscheidung am längsten betroffen sein wird, hat daran am wenigsten teilgenommen und damit die Mehrheit gegen die eigenen Interessen erst ermöglicht.

In der Türkei haben Teile der Armee die demokratisch gewählte Regierung durch einen Putsch gewaltsam stürzen wollen, und sind am Widerstand der Bevölkerung gescheitert, die nun die bittere Erfahrung macht, dass die Verfassungsordnung nicht nur von Militärs herausgefordert wird.

In Syrien und den angrenzenden Regionen erleben die Menschen nun schon im fünften aufeinanderfolgenden Jahr die gnadenlose Anwendung brutaler militärischer Gewalt, die Hunderttausenden das Leben gekostet und Millionen aus ihren zerstörten Heimatorten vertrieben hat. In Aleppo ist an diesem Wochenende das letzte noch funktionstüchtige Krankenhaus bombardiert worden.

Auch an der östlichen Grenze Europas dauern die militärischen Auseinandersetzungen zwischen Russland und der Ukraine  ebenso an wie die völkerrechtswidrige Annexion der Krim.

Allein diese Konflikte zeigen deutlich, dass die europäische Friedensordnung, wie sie in der Charta von Paris im Jahr 1990 von den europäischen Mitgliedsstaaten der KSZE, den USA, Kanada, der Sowjetunion und der Türkei feierlich bekräftigt wurde, weder selbstverständlich war, noch ein für allemal gesichert ist.

Die Unterzeichner bekundeten damals ausdrücklich die Aner­kennung nationaler Selbstbestimmung, die Nichteinmischung in innere Angelegenheiten und die Unantastbarkeit der bestehenden Grenzen. Es war ein Glücksversprechen – und es richtete sich an einen historisch zerstrittenen Kontinent, der wie unser Land lange geteilt war und dem – wie Deutschland auch – Einheit und Demokratie nun dauerhaft beschieden sein sollten.

Der Triumph der Demokratie in ganz Europa war nicht „das Ende der Geschichte“, wie kluge Beobachter voreilig verkündeten. Die Geschichte war offen – und das ist sie auch heute. Wir Deutsche haben damals eine neue Chance bekommen und wir haben sie genutzt – mit kräftiger Unterstützung unserer Nachbarn und Freunde. Wir haben Brücken gebaut, im Innern und nach Außen. Sie alle haben das Land gestaltet im Bewusstsein unserer besonderen deutschen Geschichte.

Meine Damen und Herren,

vor 100 Jahren, im Dezember 1916, mitten im ersten Weltkrieg, erhielt das Eingangsportal unseres Parlaments in Berlin als Widmung die markante Inschrift: „Dem deutschen Volke“, das Reichstagsgebäude selbst war damals bereits 22 Jahre alt.

Die Festlegung auf eine Inschrift war im Kaiserreich ebenso umstritten wie die Volksvertretung selbst. Dem Kaiser, dem das Parlament ebenso entbehrlich schien wie das dafür errichtete Reichstagsgebäude, wurden die Worte „Dem deutschen Reich“ vorgeschlagen, Wilhelm II. plädierte für den Schriftzug „Der deutschen Einigkeit“ – er misstraute dem Parlament als einem Ort widerstreitender Meinungen und Interessen und beschwor die nationale Geschlossenheit.

Alles nur Geschichte? Die vor einhundert Jahren beschlossene Widmung „Dem deutschen Volke“, die dem im Kriegsverlauf zunächst gewachsenen Selbstvertrauen der meisten damaligen Parlamentarier entsprach, konnte unmittelbar vor Weihnachten 1916 montiert werden. Es war das Jahr brutaler deutsch-französischer Schlachten um Verdun und an der Somme, an deren Ende es ohne wesentliche Verschiebung des Frontverlaufs und damit ohne Geländegewinne auf beiden Seiten mehr als hunderttausend Tote gab. Die Lettern der Widmung waren aus eingeschmolzenen französischen Kanonen­kugeln gegossen – erbeutet in den Befreiungs­kriegen gegen Napoleon.

Die damit beauftragte Bronzegießerei Loewy gehörte einer jüdisch-deutschen Familie, deren Sohn sich vom Judentum abgewandt hatte. Er ließ sich taufen, und nachdem er sich 1918 hatte adoptieren lassen, glaubte er sich mit seinem neuen Namen Erich Gloeden sicher – zu sicher. Von den National­sozialisten wurde er verhaftet, weil er Verfolgten geholfen hatte – darunter auch einem General aus dem Widerstand des 20. Juli. Gloedens Frau, seine Schwiegermutter und er selbst wurden im November 1944 in Plötzensee durch das Fallbeil getötet.

Geschichte. Die Nationalgeschichte jedes Landes ist die Summe der vielen, persönlichen Geschichten von Menschen, die meist unbeobachtet bleiben oder schnell vergessen werden. Geschichten wie die Erich Gloedens zählen zu unserem historischen Erbe. Seine Geschichte zeigt beispielhaft, wie in unserem Land noch vor wenigen Generationen Menschen ausgeschlossen wurden aus der Nation, deren selbstverständliche Mitglieder sie waren, wie sie Rechte und Schutz verloren, ausgeliefert waren – in einer Zeit, da die Weimarer Republik zerschlagen, der Reichstag ausgebrannt, das Parlament entmachtet und politische Gegner an Leib und Leben bedroht waren.

Diese Erfahrungen sind uns Verpflichtung und sie lassen uns gerade am Nationalfeiertag auch darüber nachdenken, wie und was sich in den vergangenen einhundert Jahren verändert, glücklich gewandelt hat, wer und was deutsch ist und wen Deutschland heute in seine Rechtsordnung einschließt – für wen die gewählten Abgeordneten des Deutschen Bundestages unter der Widmung „Dem deutschen Volke“ Gesetze debattieren und beschließen.

Angesichts vieler Veränderungen, der objektiven Schwierigkeiten und der bisweilen auch zu Unrecht aufgetürmten scheinbaren Probleme, die uns heute beschäftigen, steht außer Frage, dass „dem deutschen Volke“ selbst aufgegeben ist, nach einer zeitgemäßen Bestimmung dessen zu suchen, was Deutschland im 21. Jahrhundert sein will. Das wissen wir gegenwärtig offensichtlich nicht so genau. Darüber darf und muss gestritten werden. Wer aber in diesem Streit das Abendland gegen tatsächliche und vermeintliche Bedrohungen verteidigen will, muss seinerseits in dieser Auseinandersetzung den Mindestansprüchen der westlichen Zivilisation genügen: Respekt und Toleranz üben und die Freiheit der Meinung, der Rede, der Religion wahren und den Rechtsstaat achten.

Deutschland ist heute anders als vor einhundert Jahren – glücklicherweise – und anders auch als vor 26 Jahren. Deutschland verändert sich, weil sich nicht nur die Welt und unsere Nachbarschaft verändert, sondern auch das Volk in Deutschland. Die unterschiedlichen Lebens­geschichten erzählen, wer wir sind und woher wir kommen, was uns prägt und was wir von den hier geltenden Werten und Regeln erwarten, die im Übrigen dazu dienen, dass alle in Deutschland lebenden Menschen hier ihr Lebensglück suchen können und hoffentlich auch finden. Und wo immer gewohnte Verhaltensmuster von Zuwanderern mit hier geltenden Gesetzen kollidieren, gelten selbstverständlich die hiesigen Regeln. Für alle. Ausnahmslos.

Aus einem Brief zum scheinbar immer wiederkehrenden Thema Flucht und Vertreibung:

„Unser Boot ist hoffnungslos überladen. Der Korb schwebt schon über dem Meer, als ich den Arm des Mannes zurückreiße. Ich hebe meine Tochter heraus und wickele sie mir vor die Brust. Sie ist erst zwei Tage alt. Ich habe sie noch in der Hafenstadt geboren, am nächsten Tag ging es auf diesen Kahn. Sie schreit kaum. (…) Ich selbst spüre nichts. Die Erleichterung kommt erst später, als wir in den Baracken der Notunterkunft sitzen. Wir sind davongekommen, mit unserem Leben. Angekommen sind wir noch lange nicht.” Davongekommen. Angekommen. Das klingt in unseren Ohren wie das Schicksal eines Flüchtlings aus dem Nahen Osten. Es ist aber die Geschichte einer jungen Frau, die 1945 mit ihrer Familie aus Königsberg floh.

Auch in diesem Jahr sind wir immer wieder mit Ereignissen, Bildern und Berichten konfrontiert, die wir uns im 21. Jahrhundert nicht mehr vorstellen wollten.

„Eine Viertelstunde, nachdem wir abgelegt hatten, fiel der Motor unseres Bootes aus. Alle fingen an zu schreien. (…). Meine Schwester sprang ins Wasser und fing an, das Boot zu ziehen. Nach einer Weile sprang ich hinterher. In dem Moment konnte ich nicht denken, ich sah nur mein Leben an mir vorbeiziehen.“

Auch diese junge Frau ist über das Wasser geflüchtet. Yusra Mardini, geboren in Syrien, lebt seit etwas mehr als einem Jahr mit ihrer Familie in Deutschland. Im Sommer nahm die 18-Jährige an den Olympischen Spielen in Brasilien teil. Die Schwimmerin startete in der Mannschaft der Flüchtlinge. „Manchmal eröffnet einem das Leben Möglichkeiten, wenn man sie am wenigsten erwartet“, sagt sie.

Dieser Staat, dessen Einheit wir heute feiern, unsere Gesellschaft, kann und will Möglichkeiten eröffnen, ein Leben in Frieden und Freiheit zu führen: „Dem deutschen Volke“, Hiergeborenen und Zugewanderten, Jungen und Alten, Frauen und Männern, Christen, Muslimen und Juden, Armen und Reichen. Vielfalt ist keine Worthülse – längst wohnen hier in Sachsen gebürtige Schwaben, aber auch Tschechen und Polen, haben Brandenburgerinnen Bremer mit türkischen Wurzeln geheiratet, sind einst aus der DDR freigekaufte Berliner vom Rhein zurück an die Spree gezogen, Westfalen haben in Mecklenburg-Vorpommern ihr Glück gemacht, Niedersachsen in Thüringen – als Ministerpräsidenten zum Beispiel. Und ein Dresdner Schauspieler beeindruckt seit Jahren ein millionenstarkes Fernsehpublikum im „Münster-Tatort“.

Deutschland ist ein vitales Land, ein attraktiver Standort, eine vielfältige, bunte Gesellschaft, durch Persönlichkeiten geprägt, die Tradition wie Innovation überzeugend verkörpern:

Ein in Bangkok geborener Oberstleutnant leitet die Big Band der Bundeswehr, eine Chinesin wurde Vizepräsidentin einer bayerischen Universität, eine Syrerin ist in diesem Jahr Weinkönigin in Trier, ein türkischstämmiger Muslim war Schützenkönig einer katholischen Schützenbruderschaft in Werl/Westfalen, und eine Fernsehmoderatorin, deren Familie aus dem Irak stammt, verteidigt die Freiheit sowie die Rechte und Pflichten der Presse in Deutschland gegen demokratie­gefährdende Anwürfe. Deutsche Fußball-, Olympia- und Paralympics-Mannschaften sind erfolgreich, auch deshalb, weil ihre Mitglieder mit ihren Mannschaftskameraden mit welcher Herkunft und Hautfarbe auch immer, gemeinsame Ziele verfolgen und zusammen kämpfen. Unter einer Flagge.

Wir sind heute in der glücklichen Lage, die Einheit, die wir heute feiern, gestalten zu können – anders als die Deutschen über Jahrhunderte ihrer Geschichte. Der Wunsch nach „Einigkeit und Recht und Freiheit“ war lange eine wirklichkeitsfremde Vorstellung, so zum ersten Mal formuliert 1841, vor 175 Jahren, geträumt auf einer Insel, im Wind auf der Klippe. Die Insel war Helgoland und gehörte damals nicht zu Deutschland, das es als Nationalstaat noch nicht gab, sondern zum Britischen Königreich.

Der Träumer war Hoffmann von Fallersleben, dessen Sehnsucht nach nationaler Einheit und Freiheitsrechten sein „Lied der Deutschen“ zum Ausdruck brachte. Im Jahr darauf wurde der Professor für deutsche Sprache aus dem Lehramt an der Universität Breslau entlassen – seiner politischen Gedichte wegen. Das damalige Recht war nicht auf seiner Seite. Die Einheit war damals noch weit entfernt, die Freiheit war jedenfalls sehr entwicklungsfähig.

In der Geschichte des „Deutschlandlieds“ spiegeln sich die Turbulenzen der deutschen Geschichte wie in der Inschrift des Reichstags. Nationalistisch-aggressiv intonierten Soldaten die erste Strophe eben dieses Liedes im Ersten Weltkrieg: „Deutschland, Deutschland über alles“. In diabolischer Einfalt übernahm die nationalsozialistische Führerriege diese erste Strophe sinnwidrig in ihren Propagandafeldzug gegen das eigene und später gegen die anderen Völker. Und es war nur folgerichtig, dass das gleiche Regime die zweite und dritte Strophe verbot. Da war von Recht und Freiheit längst nicht mehr die Rede – und die Einheit des Landes überstand der folgende Krieg auch nicht.

Heute genießen wir wie selbstverständlich Rechte, die Hoffmann von Fallersleben und seinen Zeitgenossen verwehrt waren. Wir leben in staatlicher Einheit, in Recht und Freiheit. Wir leben in Frieden mit unseren Nachbarn. Deutschland ist ein demokratischer Staat. Sicher nicht perfekt, aber gewiss in besserer Verfassung als jemals zuvor. Das Paradies auf Erden ist hier nicht. Aber viele Menschen, die es verzweifelt suchen, vermuten es nirgendwo häufiger als in Deutschland. Wenn das so ist, haben wir eine doppelte Legitimation, darauf zu bestehen, dass dieses Land in seinen Grundorientierungen so bleibt, wie es ist.

Nach einer Anfang dieses Jahres beim Weltwirtschaftsforum in Davos vorgestellten Umfrage unter 16.000 Menschen aus aller Welt, Meinungsführern in Wirtschaft, Wissenschaft und Verwaltung, gilt Deutschland mit Blick auf politische Stabilität, wirtschaftliche Prosperität, soziale Sicherheit, Bildung, Wissenschaft und Infrastruktur als „bestes Land“ auf dieser Erde.

Das ist vielleicht doch übertrieben. Aber offensichtlich ist: Vieles ist uns gelungen, manches offenbar besser als anderen; doch im Vergleich mit anderen Ländern zeichnen wir uns gerade nicht durch ausgeprägte Zufriedenheit aus. In einem virtuellen Glücksatlas des amerikanischen Gallup-Instituts, das die gefühlten Erfahrungen unter 138 befragten Nationen erfasst, ordnen die Deutschen sich auf Rang 46 ein – zwischen dem Senegal und Kenia. Nach einer neuen Umfrage haben wir uns weiter nach oben gearbeitet, direkt hinter Vietnam. Man muss das nicht für die sprichwörtliche deutsche Bescheidenheit halten.

Wir können und dürfen durchaus etwas mehr Selbstbewusstsein und Optimismus zeigen. Arthur Schopenhauer, in Danzig geboren, in Frankfurt/Main gestorben, der weder die erste deutsche Einheit 1871 erlebt hat noch die zweite 1990, aber in vielen deutschen und europäischen Städten gelebt und Erfahrungen gesammelt hat, darunter auch Dresden, hat eine Beobachtung formuliert, die auch heute noch aktuell scheint: „Ein eigentümlicher Fehler der Deutschen ist, dass sie, was vor ihren Füßen liegt, in den Wolken suchen“. In dieser gesamtdeutschen Begabung sind „Ossis und Wessis“ längst ein Herz und eine Seele.

Wir leben in Verhältnissen, um die uns fast die ganze Welt beneidet. Und wir stehen – auch deshalb – vor Herausforderungen, die wir bewältigen müssen und können, wenn wir es wollen.

Die Deutsche Einheit fordert uns alle, die Zufriedenen wie die Unzufriedenen, aber gerade am heutigen Tag dürfen wir uns außer der Wahrnehmung der Rückschläge, Hemmnisse und Zukunfts­ängste durchaus auch Zufriedenheit erlauben, wenn nicht gar ein Glücksgefühl. Wir sind ein Volk und wir leben jetzt so zusammen, wie es ganze Generationen vor uns nur träumen konnten: In Einigkeit und Recht und Freiheit.

Das sind gleich drei gute Gründe zum Feiern. Mindestens drei. In diesem Sinne wünsche ich uns allen, hier in Dresden und überall im Lande einen friedlichen und fröhlichen Nationalfeiertag.

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Dr. Michael Blume studierte Religions- und Politikwissenschaft & promovierte über Religion in der Hirn- und Evolutionsforschung. Uni-Dozent, Wissenschaftsblogger & christlich-islamischer Familienvater, Buchautor, u.a. "Islam in der Krise" (2017), "Warum der Antisemitismus uns alle bedroht" (2019) u.v.m. Hat auch in Krisenregionen manches erlebt und überlebt, seit 2018 Beauftragter der Landesregierung BW gg. Antisemitismus. Auf "Natur des Glaubens" bloggt er seit vielen Jahren als „teilnehmender Beobachter“ für Wissenschaft und Demokratie, gegen Verschwörungsmythen und Wasserkrise.

17 Kommentare

    • Ja, es ist halt doch schade, wie viele Menschen das teuer erkämpfte Recht der demokratischen Wahl verschmähen… Aber am Ende bekommt doch jedes Volk die Politikerinnen und Politiker, die es verdient. Bei aller immer notwendigen Kritik kann sich da Deutschland – gerade auch im internationalen Vergleich – m.E. sehr glücklich schätzen. 🙂

      • „Recht der demokratischen Wahl“ und keinerlei Verpflichtung der Volksvertreter auf ihre Wahlversprechen? Aber auch keine Volksabstimmungen? Glücksempfinden???

          • Ach so, @ORTZ! Und ich dachte schon, Sie wollten ehrlich verstehen und diskutieren.

            Aber Sie haben natürlich Recht: Bildung ist doof, Wissenschaft lügt, Frauen auch und es bräuchte statt liberaler Demokraten dringend “ehrliche” Politiker wie Donald Trump! Die so reden, dass auch Sie es ohne jede Anstrengung verstehen. Denn allein auf Ihre Gefühle kommt es an und jeder Widerspruch dagegen ist “Propaganda”! So einfach kann die Welt sein! 🙂

          • Hallo, viele Grüße,
            Ich habe da so eine Idee. Schaun wir mal im Grundgesetz, Art 20 (2):
            “Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus. Sie wird vom Volke in Wahlen und Abstimmungen und durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung ausgeübt”

            Volksabstimmungen sind im Blick auf die Anzahl kaum Wirklichkeit.

          • @Werner

            Ging es in diesem Blogpost um Volksabstimmungen? Nun ja, ich befürworte einen weiteren Ausbau dieses Instruments – auch damit sich die Populisten wie nach der “Brexit”-Abstimmung oder der Ablehnung des kolumbianischen Friedensvertrages selbst entlarven und die Menschen langsam und schmerzhaft lernen, mehr Verantwortung zu übernehmen (und nicht den dümmlichsten Schreihälsen und Verschwörungsverkündern nachzulaufen). Ein Allheilmittel sind Volksabstimmungen aber auch nicht: In Baden-Württemberg hatten wir sogar eine zu Stuttgart 21. Das Ergebnis hat dann einigen auch wieder nicht gepasst, die bis heute dagegen ankämpfen…

  1. Bezüglich der Bedeutung von Emotionen als “gefühlte Wahrheiten” stimme ich mit Ihnen vollständig überein. Sie sind durch widersprechende “Fakten” nur sehr begrenzt weg zu diskutieren und müssen – auch und gerade auf politischer Ebene – sehr ernst genommen werden. Entsprechende Versäumnisse sind aus meiner Sicht ein zentraler Faktor für das Erstarken “gefühls-basierter” Parteien. Ideologien sind für mich zu großen Teilen nichts weiter als “geronnene Gefühle”.

    Die Ergebnisse der Gallup-Studie interpretiere ich allerdings schon ein wenig anders.

    Zum Ersten: Die Dimension “purpose” als “Sinn” zu übersetzen, ist zwar sprachlich sicher korrekt – sie war aber in der Studie nicht entsprechend kodiert. Im Anhang findet sich die Beschreibung “liking what you do each day and being motivated to achieve your goals”. In den dazugehörigen Fragen dürfte das Thema “Religion” maximal höchst periphär aufgetaucht sein. Viele andere motivationale Faktoren tragen ebenfalls zu dieser Dimension bei.

    Zum Zweiten: Die Dimension “social” auf geringe Kinderzahlen zu reduzieren, erscheint mir doch ein wenig… sagen wir mal “reduziert”. 🙂 Hierbei geht es um “supportive relationships and love in your life”, also um sehr viel mehr. Ich vermute, dass die niedrigen Werte in übrigens fast allen europäischen Staaten (!) der oft geforderten hohen Mobilität und entsprechend geförderten Individualität geschuldet sind: Funktionale Familien sind in vielen Lebensbezügen schlicht nicht realisierbar. Und das macht unglücklich (Kinder spielen dabei bestimmt ebenfalls eine Rolle unter anderen Faktoren).

    • Volle Zustimmung zum Kommentar, @FrankP.

      So würde auch ich die Purpose-Dimension nicht auf Sinnstiftung reduzieren – und schon gar nicht die “social”-Dimension auf die Kinderzahl. Allerdings sehe ich da schon beachtliche Wechselwirkungen – religiöse Traditionen gehen schließlich nachweisbar häufiger mit Sinndeutungen und der Bekräftigung von Familienwerten einher. Wie immer im menschlichen Leben wirken nie nur Einzelfaktoren und diese auch nicht nur in eine Richtung – so können z.B. Eltern durch die Fragen ihrer Kinder und Bildungs- und Betreuungsangebote religiöser Träger wiederum ihre Religiosität (wieder-)entdecken. Und umgekehrt wirken religiöse Sozialisierungen wiederum gesellschaftlich und auch individuell über die formale Religionszugehörigkeit hinaus. (Beliebter Szenewitz: “Was nervt an den Neuen Atheisten? Sie wollen ständig nur über Gott reden!”)

      Genauere Klärungen wären m.E. nur über weitere quantitative Auswertungen wie auch weitere – auch qualitative – Studien möglich. Auch beim Religion-Demografie-Zusammenhang ging es ja nur so weiter:
      https://scilogs.spektrum.de/natur-des-glaubens/online-interviews-zu-religion-und-demografie/

  2. Unabhängig davon ob ich Ihren kritischen Blick auf eine zunehmend säkularisierte Gesellschaft teile, sehr geehrter Herr Blume: wir werden eine neuerliche halbwegs flächendeckende Christianisierung oder auch Islamisierung der sogenannten westlichen Gesellschaften nicht wieder hinkriegen. Das hat verschiedene Ursachen, aber eine davon ist, dass die von Religionen verbreiteten und vertretenen Gottesvorstellungen so gut wie jede Überzeugungskraft verloren haben.
    Deswegen plädiere ich für eine Hinwendung zu alternativen Konzepten, die besser zur Entwicklung der Gesellschaften, in denen wir leben, passen. Wie diese aussehen könnten, darüber sollten wir uns dann intensiv unterhalten.
    Und ich danke Ihnen für diesen Post, und wünsche Ihnen möglichst wenig Wutbürgerkommentare der schwierigeren Art.

  3. ‘Postfaktische Zeiten’ scheinen in der BRD insofern anberaumt, als dass der sachliche offene Diskurs medial-politisch oft durch Psychologisierungen ergänzt wird.

    Bspw. kann Demonstranten nicht der Hass angesehen werden, sie müssten schon eindeutig verlautbaren, im Sinne von “Ich hasse X!” oder “X soll gehasst werden!”, damit von ‘Hassbürgern’ die Rede sein kann.
    Finden Sie nicht, Herr Dr. Blume?
    (Nur damit nicht von Projektionen ausgegangen werden muss. – Insgesamt stört den Schreiber dieser Zeilen auch die Pauschalisierung ‘Hassbürger’ ein wenig, es soll doch differenziert werden, wie einige finden.)

    Ist das nicht gerade das Problem, dass die Trumps, Putins, Orbans und Erdogans dieser Welt gezielt Gefühle schüren und bedienen und Fakten ignorieren?

    Nur ergänzend, Donald J. Trump ist Demokrat, Putin ein sehr zweifelhafter (egal, was “Gazprom-Gerd” hierzu sagt), Viktor Orbán wiederum ist Demokrat und Recep Tayyip Erdoğan ist leicht erkennbar, zumindest für einige: keiner.

    Insofern ist Ihr Kommentatorenfreund bei Auflistung und Gesamtinhalt Ihrer dankenswerterweise bereit gestellten WebLog-Nachricht noch ein wenig sparsam, im Sinne von “Muss ich haben, hier und jetzt!” zögerlich.

    MFG + schöne Woche noch,
    Dr. Webbaer

    • @Webbaer

      Wahrscheinlich wissen Sie es längst ganz genau, dass wir beide den Begriff “Demokratie” und “Demokrat/in” leicht unterschiedlich verwenden: Verweist er – wie bei Ihnen – nur auf das Mehrheitsprinzip, so wären natürlich auch Populisten wie Trump, Orban oder Erdogan “Demokraten”.

      Binden wir jedoch – wie ich es tue – das Prinzip der Demokratie auch an das Prinzip der Rechtsstaatlichkeit (die ja gemeinhin gerade auch die Rechte von Minderheiten und auch Individuen schützt), so sind die drei genannten Autoritären samt ihres Populismus eine Gefahr für die Demokratie.

      Auch Ihnen einen schönen Abend und eine gute Woche!

      • @ Herr Dr. Blume :

        Wahrscheinlich wissen Sie es längst ganz genau, dass wir beide den Begriff „Demokratie“ und „Demokrat/in“ leicht unterschiedlich verwenden: Verweist er – wie bei Ihnen – nur auf das Mehrheitsprinzip, so wären natürlich auch Populisten wie Trump, Orban oder Erdogan „Demokraten“.

        Es wird wohl der Begriff Demokratie gleichermaßen und gleichen Sinn meinend verwendet, nämlich moderne aufklärerische Gesellschaftssysteme meinend, die dem Sapere Aude folgend implementieren konnten, was keinesfalls einfach war, sogar faszinierend, nämlich, dass dieser Versuch gelingen konnte, trotz der von ihm benötigten Mehrschichtigkeit.

        Er konnte gelingen, weil das so mögliche freie individuelle und im Verbund mögliche freie Handeln derart Mehrwert generieren konnte, so dass andere Gesellschaftssysteme, die sich nicht rechtzeitig so aufstellen konnten, in Schranken verwiesen werden konnten, so sozusagen die Schwarmintelligenz gelöst werden konnte.

        Insofern, pars pro toto, gehen Dr. Webbaer und Dr. Blume hier wohl nur Hand in Hand, auch Ihre pers. Geschichte berücksichtigend.
        Bspw. diese:
        -> https://de.wikipedia.org/wiki/Friedrich_A._von_Hayek-Gesellschaft (KA, ob Sie nach letzter Aufregung dort ausgetreten sind, Ihr Langzeit-Kommentatorenfreund, der gerne dabei, aber nicht parteiisch ist, ist gar nicht erst eingetreten, hat abär Ihr besonderes dbzgl. Hervorkommen im Liberalen bemerkt)

        Möglicher Konsens:
        ‘Demokratie’ für sich ist aus liberaler Sicht sozusagen nichts.

        Von der Verdammung von Donald J. Trump oder Viktor Orbán würde Ihr Kommentatorenfreund abär absehen wollen.

        MFG
        Dr. Webbaer (der vor ca. zehn Jahren die BRD, durchaus schon mit einem etwas mulmigen Gefühl, Mme Merkel betreffend, verlassen hat; der zuletzt abär gar nicht mehr glücklich werden konnte mit dem de facto bestehenden bundesdeutschen Notstands-Regime, in dem Recht -allgemein, auch staatlicherseits, eingeräumt- ausgesetzt werden konnte [1])

        [1]
        I-Tüpfelchen” wie diese sind ja kaum anständig zu kommentieren, oder?

  4. Subjektives Wohlbefinden würde ich nicht mit dem Rechtspopulismus in Verbindung bringen wie mit folgenden Sätzten gemacht:

    Und warum sollten wir überhaupt Aussagen über subjektives – also gefühltes – Wohlbefinden beachten? Ist das nicht gerade das Problem, dass die Trumps, Putins, Orbans und Erdogans dieser Welt gezielt Gefühle schüren und bedienen und Fakten ignorieren?

    Ist der typische AfD-Wähler, Erdogan-Türke oder Trump-Anhänger glücklich und zufrieden? Offensichtlich nicht. So wenig sogar, dass Hillary Clinton die Trumpisten als Haufen von Erbärmlichen (basket of deplorables) bezeichnete.
    Es stimmt aber, dass auch die Inseln der Seligen wie Skandinavien, Kanada, Australien, die Schweiz (alles Länder mit hohem Glücksindex) Abschottungstendenzen zeigen und nicht gefeit sind gegen rechtspopulistische Strömungen. Aber einen nennenswerten Haufen von Erbärmlichen gibt es in diesen Ländern nicht.
    Es stimmt, dass

    die Trumps, Putins, Orbans und Erdogans dieser Welt gezielt Gefühle schüren und bedienen.

    Nur sind das vorwiegend negative Gefühle, also Gefühle von Unzufriedenen, von Leuten mit wenig Lebenszufriedenheit und damit von Leuten, die den Glücksindex eines Landes nach unten ziehen.
    Deshalb, weil es um Lebenszufriedenheit geht, würde ich schon gerne wissen, warum die Deutschen so wenig davon zu besitzen scheinen. Zählen etwa viele Deutsche sich auch zum Haufen der Erbärmlichen, dem

    basket of deplorables?

    Und wenn ja, warum? Keiner konnte mir diese Frage bis jetzt beantworten.

    Lebenszufriedenheit hat allerdings viel mit dem sozialen Umfeld zu tun, sowie mit der Erreichbarkeit von selbstgesteckten Zielen, mit Liebe, Partnerschaft, mit einer positiven Zukunftserwartung. Für den Glücklichen bringt der nächste Tag eine gute Überraschung, für den typischen Deutschen scheinbar viel Ungemach.

    Vielleicht hängt es ja damit zusammen wie die Deutschen miteinander umgehen. Es scheint jedenfalls auch einen kulturellen Einfluss zu geben. Einerseits ist es nicht in allen Kulturen gleich opportun, wenn man seine Lebensentäuschung und seine Unzufriedenheit mitteilt und einbringt, andererseits vermitteln nicht alle Kulturen die gleiche Erwartungshaltung ans Leben und das erreichbare Glück.

    Jedenfalls ist Deutschland ein Outlier (Ausreisser, statistischer Sonderfall),denn Lebenszufriedenheit ist sonst weltweit mit Wohlstand und Wohlfart deutlich korreliert – nicht aber in Deutschland.

    • Lieber Herr Holzherr,

      ja, vielen Dank – Ihrer Einschätzung stimme ich im Wesentlichen zu. Und gleichzeitig frustriert es mich sehr, dass wir wissenschaftlich bislang so wenig Habhaftes dazu sagen können. Da haben wir von der Psychologie bis zu den Kultur- und Politikwissenschaften unterschiedlichste Disziplinen – und dann bewegen sich die besten Debatten doch eher nur auf dem Niveau eines gehobenen Feuilletons. Dabei geht es um nicht weniger als die Frage, ob freiheitliche, liberale Demokratien weiter lebendig bleiben oder an digital aufgepuschten Strömungen von Dummheit, Menschenfeindlichkeit, Verschwörungsglauben und Populismus zugrunde gehen. Ich wüsste keine einzige freie Gesellschaft, die derzeit von den erwähnten Phänomenen verschont bliebe – was nationale Erklärungen (Flüchtlingszustrom, “die Merkel” u.ä.) entkräftet. Am stärksten scheinen mir noch medientheoretische Vergleiche, wonach es ja auch infolge des Buchdrucks heftige Erschütterungen bestehender Institutionen und Phänomene wie den Hexenglauben gegeben hatte, bevor sich schließlich – quälend langsam – vernünftige und konstruktive Diskurse durchsetzten.

      Hier ein aktueller Bericht vom Kopp-Kongress, der wiederum unterstreicht, dass Armut oder fehlende, formale Bildung nicht das wirkliche Problem zu sein scheinen…
      https://www.welt.de/kultur/article158631264/Was-Verschwoerungstheoretiker-wirklich-denken.html

      Und hier auch ein paar O-Töne:
      http://www.ndr.de/fernsehen/sendungen/extra_3/Der-kleine-Mann-beim-Kongress-des-Kopp-Verlags-,extra11934.html

      Bei manchen Kommentierenden hier auf dem Blog macht man ja ähnliche Erfahrungen…

      Mit nachdenklichen Grüßen – Michael Blume

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