Heimat und Identität – Die geheimnisvolle Macht der Gefühle

BLOG: Natur des Glaubens

Evolutionsgeschichte der Religion(en)
Natur des Glaubens

In seltsamer Weise zieht sich die Frage nach Heimat und Identität durch mein bisheriges Leben. Als "Wossi" – Kind von aus der DDR entkommenen Eltern in einem noch nicht wiedervereinigten Deutschland – erlebte ich früh den Wert von Heimat und Zugehörigkeit, aber eben auch doppelte Ausgrenzung durch Etablierte ("Noch so ein Ausländer!") und Zugewanderte ("Noch so eine Kartoffel!"). Und so dachte ich vor neun Jahren, im April 2001, als Student der Religions- und Politikwissenschaft im 3. Semester, die Teilnahme an einem Studienwettbewerb des Bundesinnenministeriums "Angekommen? Aufgenommen? Studentenwettbewerb zur Integration von Ausländerinnen und Ausländern" (so sagte man damals noch) sei eine gute Gelegenheit, mal dazu zu arbeiten. Mein Arbeitstitel war damals schnell gefunden: "Heimat und Identität – Knappe Güter unserer Zeit".

Fruchtbares Scheitern

Doch, oje, meine geplante, distanzierte Arbeit zu dem Thema wollte nicht gelingen. Die Erfahrungen und Gefühle waren seltsamerweise viel zu stark! Und leise absagen konnte ich das Ganze auch nicht mehr, hatte ich doch bereits einigen anderen Menschen (inklusive meiner Frau) davon erzählt. Also schrieb ich mir nach vielen verworfenen Versuchen irgendwann einfach den Frust von der Seele, und das klang – im "bittersüßen Vorwort" – dann beispielsweise so:

Also habe ich versucht, lange versucht, vom Thema Abstand zu halten, distanziert zu argumentieren, von oben herab zu beleuchten, persönliche Bezüge nicht zu stark werden zu lassen, nicht zu entlarvend…

Aber diese Falle ist zugeschnappt, hat mich scheitern lassen, immer wieder an einer ganz unschuldigen Stelle: Aus welcher Perspektive sollte ich schreiben? Aus der des „Aufnehmenden“ – oder etwa der des „Angekommenen“? …

Eigentlich wäre an diesem Punkt das „Ausweichen“ angesagt, dass unauffällige Ad-Acta-Legen dieses Wettbewerbes. Nur unglücklicherweise hatte ich bereits – wie erwähnt – mit einigen, mir wichtigen Menschen hierüber gesprochen, mich ermutigen lassen und mich im Glanze fremder und eigener Zuversicht ein wenig gesonnt.

Und jetzt einfach NICHTS zu schreiben… das wäre irgendwie schwer zu vermitteln, den anderen und mir selber auch. Was sollte ich denn sagen, warum? Dass ich über „Angekommen? – Aufgenommen?“ nicht mehr schreiben konnte, als ich erkannte, dass es mich selbst viel zu sehr anging?

Und so ging es weiter: Ich spuckte sie aus, die Erfahrungen, schrieb einen halb-biografischen Essay mit wissenschaftlichen Einsprengseln, lehnte z.B. das damals noch populäre Konzept eines "Ausländerbeirates" als völlig überholt ab und forderte stattdessen die symbolische Integration aller Einwohner als Bürgerinnen und Bürger der Stadt – und sandte den Text mit dem festen Glauben an eine freundliche Absage ab.

Doch, seltsam, die Jury entschied anders. Ich gewann tatsächlich einen Preis, wurde nach Berlin eingeladen, traf dort u.a. eine Bundes-Staatssekretärin und einen jungen Abgeordneten namens Cem Özdemir (wieder) und erhielt ein Preisgeld sowie eine schicke Urkunde, unterzeichnet vom damaligen Bundesinnenminister Otto Schily. Das mit den Emotionen – war offenbar nicht nur mir so gegangen. (Und der Ausländerbeirat wurde dann übrigens noch zu meiner Gemeinderatszeit tatsächlich abgeschafft und stattdessen ein Interkulturelles Forum geschaffen, das bis heute besteht und gedeiht.)

Heimat und Identität – Und wieder Emotionen

Und, nun, neun Jahre später, passiert es wieder. Da ist dieser Film, erstellt von einem jungen Filmteam im Umfeld der Filmakademie Ludwigsburg. Das Thema: "Heimat und Identität", Statements ganz unterschiedlicher Menschen. Und Emotionen. Menschen schauen, schlucken, einige haben feuchte Augen. Auch ich ertappe mich (wieder!?) dabei. Was ist nur los mit uns Menschen? Warum können wir über so vieles emotionslos nachdenken, kaum aber über Heimat und Identität?

Wenn Sie wollen, machen Sie den Selbsttest – schauen Sie sich den Film, gerne auch in Großformat, einfach einmal in Ruhe an. Und schauen Sie danach, ob Sie emotional berührt waren. Oder wie der Film auf Andere, Uneingeweihte wirkte. Alles ganz cool?

Heimat- und Identitätsgefühle – Ergebnisse der Evolution?

Wenn ich den alten Essay von damals nochmal lese, so fällt mir auf, dass ich damals erstmals tastend annahm, dass es sich bei der Bearbeitung von Heimat- und Identitätsgefühlen um allgemein menschliche Merkmale, um Universalien, handeln könnte.

Denn im Laufe dieser Arbeit ist mir eine Idee gekommen, die ich hier einfach mal ungeschützt aussprechen möchte: vielleicht ist die Frage „Angekommen? – Aufgenommen?“ ja eben nicht „nur“ Immigranten-Sache, sondern berührt eigentlich viel mehr Menschen unseres Landes, die aus den verschiedensten Gründen bei und für sich ,Heimat‘ und ,Identität‘ suchen!? Vielleicht ist das ja auch eine logische Folge der Spruchweisheit: „Wir sind doch alle Menschen!“ Und vielleicht würden es helfen, wenn wir uns dies auch selbst hin und wieder ehrlich vor Augen führten – statt über die jeweils „anderen“ nachzugrübeln, als kämen diese von einem anderen Planeten… 

Von Evolutionsforschung und Evolutionspsychologie – beispielsweise dem Atavismus menschlicher Fremdenfeindlichkeit – wusste ich damals noch kaum etwas, der Begriff "Evolution" taucht im gesamten Essay gar nicht auf. Doch heute bin ich fest davon überzeugt, dass wir nicht zufällig besonders starke Emotionen in diesem Bereich evolviert haben. Denn sich lokal auszukennen und zugleich neugierig zu bleiben dürfte für unsere Vorfahren über tausende von Generationen hinweg vorteilhaft gewesen sein. In einer gemeinschaftlichen Identität verwurzelt und dennoch notfalls zum Anschluss auch an andere Gruppen in der Lage zu sein war sicher mindestens ebenso wichtig. Umgekehrt konnte es von Vorteil sein, unsere intuitive Fremdenfeindlichkeit zu überwinden und neue Mitglieder, besonders Kinder, als Gruppenmitglieder zu akzeptieren. Möglicherweise haben sich uns auch bestimmte Grundformen der Ästethik und Naturverehrung eingeprägt, beispielsweise im Bezug auf unser ältestes Habitat, den Wald. Sind wir so in der Lage zu spüren, wie zerbrechlich und wertvoll unser Lebensraum ist? Und die Frage zu verstehen, die der deutsche Muslim Hussein Hamdan hier eindrucksvoll formuliert: "Wer kann das denn schon beantworten, wie ich mich fühle und wie ich mich selbst definiere, wo ich heimisch bin und mit was ich mich identifiziere?" Es würde all dies passen zur Selbst-Beobachtung von Susanne Plotz: "Heimat ist mehr Gefühl als Fakt, ist mehr Intuition als absolute Wahrheit. Heimat ist, wenn man Heimatgefühle hat. Egal wo immer auf der Welt man auch sein mag." Es könnte die Widersprüchlichkeiten, aber auch die emotionale Wucht dieser Merkmale erklären. Und uns, wenn wir gelernt haben, es wissenschaftlich besser zu erforschen und zu beschreiben, vielleicht sogar helfen, die Globalisierung menschenfreundlicher zu gestalten und mit Ängsten vor Veränderungen konstruktiver umzugehen.

Um es klar zu sagen: Noch traue ich mich nicht. Aber vielleicht wage ich, wenn sich Daten, Studien, Experimente sowie kundige Mitforscher finden, ja doch irgendwann mal wieder einen Versuch, das Thema "Heimat und Identität" wissenschaftlich aufzugreifen…

Avatar-Foto

Dr. Michael Blume studierte Religions- und Politikwissenschaft & promovierte über Religion in der Hirn- und Evolutionsforschung. Uni-Dozent, Wissenschaftsblogger & christlich-islamischer Familienvater, Buchautor, u.a. "Islam in der Krise" (2017), "Warum der Antisemitismus uns alle bedroht" (2019) u.v.m. Hat auch in Krisenregionen manches erlebt und überlebt, seit 2018 Beauftragter der Landesregierung BW gg. Antisemitismus. Auf "Natur des Glaubens" bloggt er seit vielen Jahren als „teilnehmender Beobachter“ für Wissenschaft und Demokratie, gegen Verschwörungsmythen und Wasserkrise.

27 Kommentare

  1. @Hussein

    Lieber Michael,

    vielen Dank für diesen gelungen Beitrag, vor allem aber für den Film.
    Du schreibst: “Und schauen Sie danach, ob Sie emotional berührt waren.”

    Und wie der Film mich berührt hat. Er hat mich aber auch inspiriert. Mehr dazu in meinem Beitrag.

    Grüße,
    Hussein

  2. Grundlagen

    Mit Ihren Forschungen zur Auswirkung von Religiosität haben Sie schon eine Grundlage für Heimatforschung: 60 bis 80 % der Menschen welche heiraten und Familie gründen, wählen eine/n Partner/in aus der näheren Umgebung (= Heimat). D.h. gleiche bzw. bekannte kulturelle Wurzeln.

  3. Êmotionales Thema

    Hallo Michael!

    Ein schöner Artikel. Es ist wirklich schwer nicht persönlich und emotional über die Themen Heimat und Identität zu schreiben. Bei vielen Menschen endet es deshalb in einer Art öffentlichen Selbstreflexion – die wie ich denke, viel zur besseren Verständigung beitragen kann.

  4. Michael

    Klasse Artikel, danke dafür..
    Und ich muss gestehen, dass ich mich selbst als “Ossi” der daheim lebt, ähnlich Fühle.
    Heimat ist bei mir klar def.
    Es ist da wo meine Urahnen begraben, und ich geboren wurde.
    Nur mit der Identität happert es…
    Und die Frage, ob ich angekommen bin, ich weiß es nicht.
    Los gelaufen, ja, aber wirklich angekommen? Wohl noch nicht..

    Mfg Mathias

  5. @Michael Blume

    Deine Geschichte über Heimat und Identität (Link) erinnert mich an Ernst Bloch. Du hast getan , was der Philosoph einst forderte: “Nicht Heimat suchen, sondern Heimat schaffen!”.

  6. @KRichard

    Ja, wobei zum Beispiel auch interessant ist, dass sich zwischen Kindern, die gemeinsam aufwachsen, eine Art Inzest-Tabu entwickelt (Studien dazu gibt es u.a. aus israelischen Kibbutzim & Taiwan), wie es auch verschiedene Phasen von Neugier und stärkerer Fremdenfurcht gibt. Sehr lesenswert:
    http://www.chronologs.de/…ch-evolutionsforschung

    Wahrscheinlich ist das ein viel zu großes Thema, um es “nebenher” zu machen. Aber interessierant ist es schon! 🙂

  7. @Mathias

    Es freut mich unheimlich, wenn der Post (und der Film?) bewegt und angeregt haben. Und, ja, umso länger ich mich mit der Materie befasse, umso mehr habe ich das Gefühl, dass alle oder doch sehr viele Menschen mit den Themen Heimat und Identität immer mal wieder zu ringen haben. Ob es hilft, sich darüber auszutauschen? Oder ist es doch wieder je so persönlich, dass sich die Menschen nicht verstehen würden?

  8. @Joe

    Es ist auch nicht zu viel verraten, wenn ich zugebe, dass mich gerade auch Dein Blogpost zum Thema ermutigt hat, hier mal Gefühle und einen sehr alten Text von mir zu zeigen. Mich würde interessieren, ob Dir der Film gefallen hat? Ich hab ihn schon ein paarmal angeguckt, ohne genau zu wissen, “was” mich da jetzt so anspricht. Es passiert einfach. (Und dann kommt immer gleich der selbst-beobachtende Wissenschaftler raus und murmelt: Ach, interessant! 😉 )

  9. @Michael

    Hab mich schon häufiger mit dem Thema auseinandergesetzt.
    Meine Familie lebt schon seid dem 18. jahrhundert im selben Ort. Das Haus haben meine Urahnen um 1812 aufgebaut, wie meine Oma noch zu berichten weiß.
    Wenn man eine solange Verwurzelung in einer Region hat, kann man sich kaum was anderes mehr vorstellen.
    Wenn man dannoch bedenkt, dass das älter ist als die Nationenbildung von Deutschland, ist Heimat ein Wert an sich. Heimat hat bestand, egal in welchem Staat, Regierungsform, oder geschichtliche Umwälzung pasiert..
    oder wie mein Urgroßvater immer sagte:
    “Regimes komen en gaan, we blijven”
    Mittlerweile fühle ich mich zwar immernoch mit der Heimat verbunden, aber dennoch bin ich am überlegen, mit meiner Freundin zusammen zu ziehen, die ja aus den alten Bundesländern kommt.
    Ob wir hier, oder dort, uns eine Zukunft aufbauen, ändert ja nichts daran, dass die Heimat, auch die Heimat bleibt.
    Was die identität oder das angekommen angeht, glaube ich persl weniger, dass ich wirklich ankommen werde. Meine Kinder vieleicht, aber ich werd immer ein Suchender, laufender bleiben, der zwar im Osten los lief, aber im Westen noch nicht ankommt.
    Dafür ist in den letzten zwei Jahrzehnten zuviel passiert.
    In meinen 30 Lebensjahren, zwei Staaten, drei Währungen, da bleibt einfach, dass die Welt im Wandel ist, und demzufolge ist auch immer die Identität im Wandel.
    Zukunft ist Wandel, nur ob zum guten und zum schlechten, hängt immer auch von uns ab.
    Vieleicht ist das auch grade ein Stück meiner Identität als “Ossi”, Osteuropäer…

  10. Wissenschaftliches Denken und persönliches Verstehen

    Lieber Herr Blume,

    Frau Dramiga schreibt: “Es ist wirklich schwer nicht persönlich und emotional über die Themen Heimat und Identität zu schreiben. Bei vielen Menschen endet es deshalb in einer Art öffentlichen Selbstreflexion – die wie ich denke, viel zur besseren Verständigung beitragen kann.”
    Ich stimme ihr da völlig zu und frage mich gleichzeitig, ob es überhaupt sinnvoll ist, NICHT persönlich und emotional über dieses Thema schreiben. Die Frage “Wer bin ich?” ist eine der persönlichsten überhaupt und sie ist eng verknüpft mit den Fragen “Wo komme ich her?” und “Wo möchte ich hin?”.

    Und Sie schreiben

    “Und, ja, umso länger ich mich mit der Materie befasse, umso mehr habe ich das Gefühl, dass alle oder doch sehr viele Menschen mit den Themen Heimat und Identität immer mal wieder zu ringen haben. Ob es hilft, sich darüber auszutauschen? Oder ist es doch wieder je so persönlich, dass sich die Menschen nicht verstehen würden?”
    Ich denke, andersherum wird ein Schuh draus. Wenn wir endlich anfangen, persönlich über solche Dinge zu sprechen,uns über unsere Erfahrungen, Fragen und Wünsche auszutauschen, dann kann wirkliches Verständnis entstehen. Und dann bekommen solche Kategorien wie “Ossi” oder “Wessi” oder “Wossi” plötzlich ein Gesicht, werden im wahrsten Sinne des Wortes erkennbar und lebendig. Dies geschieht nicht nur bei unserem Gegenüber, dem wir von uns erzählen, sondern meiner Meinung nach auch bei uns selbst. Identität, auch im Rückblick auf die Frage, wo wir eigentlich herkommen, ist immer auch Teil einer Erzählung. Und häufig wird uns vieles erst wirklich bewusst, wenn wir es anderen erzählen – mit all den persönlichen Seiten, die in so einer Erzählung stecken.

    Ich kann Ihre Bedenken verstehen: hier die (angeblich) emotionslose Wissenschaft, dort die sehr persönliche Emotionalität, die emotionale Persönlichkeit. Wenn wir rational wissenschaften, versteht vielleicht unser Verstand. Wenn wir persönlich erzählen, berührt es alles Andere. Und nur in dem Zusammenspiel werden wir ein Ganzes.

  11. Wissenschaftler als moderne Nomaden

    “… hier die (angeblich) emotionslose Wissenschaft, dort die sehr persönliche Emotionalität, die emotionale Persönlichkeit. Wenn wir rational wissenschaften, versteht vielleicht unser Verstand. Wenn wir persönlich erzählen, berührt es alles Andere. Und nur in dem Zusammenspiel werden wir ein Ganzes.”

    Sehe ich auch so! Zumal ja gerade von jungen Wissenschaftlern größtmögliche Mobilität gefordert wird. Siehe hier: http://www.markus-giesler.de/nomaden.pdf

  12. Hallo Michael,
    der Film ist berührend. Sehr schön.

    Mich interessiert bei dem Thema Heimat der Teil Verlust der Heimat. Und wie dieses Gefühl verarbeitet werden kann, oder auf die nachfolgenden Generationen weitergegeben wird.
    Mein Vater und seine Eltern wurden aus Ostpreußen vertrieben. Dieses Trauma wurde , wie für viele andere, nie richtig verarbeitet, und auf die nachfolgende Generation… in diesem Fall mich…. teilweise übertragen. Obwohl ich hier in meiner Stadt geboren wurde, und alle Sozialkontakte habe, die jeder so braucht und hat.
    Das geht allen anderen Migranten gewiss ähnlich.
    Die Thematik Heimat und Identität hängen eng zusammen.

    Schöner Artikel.

    Gruß Sven

  13. @mathias, Simone W., Mona & Sven

    Über die sehr guten Antworten habe ich eine ganze Weile nachgedacht. Denn einerseits interessiert mich natürlich das Phänomen (Heimats- und Identitätsgefühle) an sich, andererseits finde ich aber auch, dass Forschung einen praktischen Nutzen haben sollte.

    So stelle ich fest, dass es hier eine große Übereinstimmung gibt, dass die Themen Heimat und Identität nicht nur Zuwanderer sehr emotional berühren, sondern auch Etablierte – sei es aufgrund historischer Entwurzelungen oder Veränderungsdruck. So können wir an einem Ort leben und dennoch das Gefühl bekommen, “entheimatet” zu werden.

    Meine Frage wäre nun: Was hilft? Wenn hier ein Verlust oder Schmerz attestiert wird, gibt es dann auch Beispiele für Zeiten oder Momente, in denen diese(r) gelindert oder durch Freude ersetzt worden ist? Dies scheinen mir wichtige Fragen zu sein – und ich bin ehrlich gespannt auf Eure Antworten!!!

  14. Heimat und Fremde – fruchtbare Dialektik

    Ich kann mich gerade nicht groß hinein begeben, möchte aber daran erinnern: Man vergisst bei dem Begriffspaar „Heimat und Identität“ vielleicht zu leicht, dass es eine mehrfache Dialektik zwischen Heimat und Fremde gibt, die als möglicherweise heilsame Spannung auch fruchtbar sein kann.
    Die Sehnsucht der Menschen geht ja durchaus in beide Richtungen: Heimat und eben auch Fremdes erfahren. Man wird oft den Wert der Heimat erst in der Fremde entdecken. Und umgekehrt: Den Wert der Fremde erst entdecken, wenn man nach einer Rückkehr die Heimat mit neuen Augen sieht.
    Ohne gute Wurzeln wird das Reifen zumindest erschwert – Heimat kann solche Wurzeln bieten. Aber: Aufbruch aus der Heimat hilft zum Reifen – das können die alten sagenhaften Ritter-Märchen, die Jugendliche ja gerne lesen :-), auch zeigen.

    Man kann auch fremd sein in der Heimat. Gibt doch irgendwo einen Song „Fremd in eigenem Land“. Oder ich denke an den Dichter Christian Wagner aus Warmbronn. Er wurde dort 1835 geboren, aber er hat nicht „geschafft, wie’s der Brauch ist“, sondern Gedichte gemacht. Und sich mit sonstigen hintersinnigen Sachen abgegeben. Deshalb wurde er nie ganz als „echter“ Warmbronner anerkannt. Er suchte eine gegenläufige Begründung: „Mein Heimatort
    Warmbronn ward mir Geburtsort, Heim kaum. Geistig vereinsamt. Sucht ich in Liedern mir Trost und Erhebung.“

    Man kann wohl auch sich in der Fremde schnell wie zu Hause fühlen. Heimat vielleicht nicht „erobern“ aber gewinnen. Bzw. gewonnen werden.
    Ich würde deshalb sagen: Heimat ist letzten Endes nur dort, wo man etwas ist, ohne „etwas sein“ zu müssen, etwas dafür bieten zu müssen.

  15. Na und?

    Ich muss wohl ein schlechter Mensch sein, denn der Film hat mich ganz unaufgeregt gelassen. Alle möglichen Leute zu sehen, die ein wenig über ihre Heimat Deutschland erzählen – das ist doch das normalste der Welt. Und dass die Leute zum Teil sichtbar oder hörbar ausländische Wurzeln haben – da zucke ich doch nur mit den Schultern und denke mir höchstens: “Und das ist auch gut so.”, “Und es soll auch nicht anders sein.” oder “Wer würde denn etwas anderes behaupten?”

    Einzig an dem dialektalen Einschlag konnte ich gleich merken, dass eben um BaWü geht. Interessanter Unterschied zum Norden. Ich könnte mir z.B. nicht vorstellen, einen solchen Film mit plattdeutschem und/oder rheinländischem Akzent für NRW zu sehen.

    Hochinteressant allerdings der Beitrag von H. Aichele, von dem ja immer wieder in den Kommentaren Wertvolles kommt. Wer einmal ein Jahr im Ausland gelebt und dort nicht “total willkommen” war, der wird auch Ausländer in Deutschland ganz anders sehen und behandeln.

    Und ja, das Gefühl, dass man zu Hause nichts gilt, wenn man anders ist, muss genannt werden als Antrieb, auszubrechen, mehr zu lernen usw. – aber auch eben nicht als “Heimatverneinung”, sondern als Spannung zwischen den geteilten Heimatgefühlen und dem Bewusstsein, dass das alleine (für einen selbst) nicht reicht, dass es schlechte Seiten gibt usw.

    Zuletzt auch die passende Definition, die einem im Zusammenhang mit Integration zu denken geben sollte: Wenn ich irgendwo akzeptiert werde, ohne dass jemand krämerisch nachrechnet, was ich dafür leiste – ja, da kann ich mich zu Hause fühlen.

  16. Lieber Michael,

    vielen Dank für deinen tollen Beitrag. Ich denke auch, dass Heimat immer mit Gefühlen verbunden ist. Man kann vielleicht objektiv und wissenschaftlich darüber schreiben, doch die Essenz des Heimatgefühls – wie schon im Wort inbegriffen – sind Gefühle.

    Heimat und Identität – wenn ich über diese Begriffe nachdenke und über mein bisheriges Leben und all die Stationen die ich durchlebt habe, so muss ich feststellen, dass ich mehrere Heimate und Identitäten habe.

    Ich fühle mich da heimatlich, wo emotionale Bindungen bestehen. Wenn ich von der Arbeit nach Hause fahre gen Tübingen, die Silhouette von Tübingen nach dieser einen Kurve sehe, huschen fast jedesmal mit einem lächeln die Wörter „ah, endlich zu Hause – meine Heimat“ über meine Lippen. Wenn jemand über Herrenberg spricht, denke ich „ah meine Heimat“, da ich dort großgeworden bin. Alle meine Kindheits- und Teenagererinnerungen sind mit diesem Ort verbunden. Wenn ich in die Türkei fahre, bei meinen Großeltern auf dem Balkon bin und die Kinder draußen spielen sehe, denke ich „ahja, meine Heimat, hier vor der Tür habe ich auch immer gespielt, da auf der Mauer habe ich mit den Mädels gesessen und Kürbiskerne gegessen…“.

    Wenn mich nun jemand fragen würde, wo nun wirklich meine Heimat ist, würde ich sagen – da an all diesen Orten. Ich möchte mich auch gar nicht entscheiden müssen. Mit diesen Orten verbinde ich gute und schlechte Zeiten mit vielen Erinnerungen und Emotionen. Das führt mich zu meiner Identitätsbildung. Denn dies alles hat mich geprägt und zu dem Menschen gemacht, der ich jetzt bin. All das gehört zu mir.

    Hierzu möchte ich die Antwort von dem Kabarettisten Fatih Çevikkollu auf die Frage, ob er sich eher deutsch oder eher türkisch fühle wiedergeben, denn er meinte beides. Man entscheide sich ja auch nicht zwischen linkem oder rechtem Lungenflügel, linkes oder rechtes Bein!

    Die emotionale Bindung zu einer Heimat, einem Ort, einer Kultur muss nicht geradlinig und zielstrebig eine einzige sein. Heimat muss nicht mal ortsgebunden sein. Es ist oft auch ein Gefühl, mit dem wir etwas Vertrautes verbinden. Manchmal steckt es auch in einem Duft – z.B. der des frischgebackenen Marmorkuchens meiner Oma.

    Heimat und Identität ist daher nichts Statisches. An jedem Ort, mit jeder Erfahrung und wenn es eben nur ein Duft ist, entwickelt und verändert sich meine Heimat und Identität. Meine Identität bereichert sich, meine Heimat erweitert sich. Gefühle erkennen daher oft keine geografischen oder kulturellen Grenzen an. Zumindest ist das meine Erfahrung und Defintion von Heimat und Identität.

    Herzliche Grüße

    Yonca

  17. @Michael/ Eindrücke vom Film

    Ich fand den Film interessant und ansprechend. Er kommuniziert doch viel mehr als ein Text. Besonders häufig wurde in dem Film von den Befragten Heimat mit
    “sich wohlfühlen”, “geborgen sein” assoziert.

  18. @Yonca Sie sprechen mir aus der Seele 🙂

    Vielen Dank für Ihren wirklich schönen Kommentar, ich habe mich dort sehr wiedergefunden. (Auch wenn meine verschiedenen Heimaten und Identitäten nicht durch den Aspekt türkisch/deutsch sondern eher durch die Aspekte nord-/mittel-/-süddeutsch geprägt sind 😉 )

    Sie haben meine Gedanken zu dem Thema sehr schön ausgedrückt. Auch ich sehe Ortswechsel tatsächlich als sehr große Bereicherung meiner eigenen Identität. Schließlich lerne ich immer wieder unterschiedliche Menschen und Regionen kennen; all diese Erfahrungen, die Unterschiede und auch Gemeinsamkeiten, die sich so finden lassen, bereichern mein Leben und meine Person doch ungemein. Und das Gefühl, etwas Neues zu entdecken, all die neuen Eindrücke aufzunehmen, sie mit ganz wachen und offenen Augen zu betrachten, ist großartig. Selten sind wir so aufmerksam, wie wenn wir “in die Fremde” ziehen.

    Natürlich sind Ortswechsel immer auch mit Trennungsschmerz verbunden, weil wir zum Beispiel Menschen zurücklassen müssen, die uns ans Herz gewachsen sind. Aber ganz ehrlich: Die Orte verändern sich doch auch. Von den Menschen, die zu Studienzeiten an mein Herz gewachsen sind, leben die meisten nun in anderen Städten. Die Stadt hat sich verändert, ist für mich eine andere geworden. Und die Bindungen sind mit den Menschen mitgewandert.
    Andererseits ist es heute so einfach wie nie, Beziehungen über mehrere Jahre und über Länder- und sogar Kontinentsgrenzen hinweg zu pflegen. Natürlich ist das aufwendiger und auch schwieriger, wenn wir nicht spontan zum Kaffeetrinken vobeischauen können. Aber es zeigt auch, welche Beziehungen wirklich Bestand haben.
    Heimat wird so zu etwas, was wir mit uns tragen.

  19. @Joe Dramiga

    Eine Freundin heißt wie Sie, da bin ich doch flugs davon ausgegangen, dass Sie auch weiblich sein müssen. Bitte verzeihen Sie die Verwechslung 🙂

  20. Friedhof

    Liebe Mona,
    Ihre Vermutung, Muslime hätten es in Deutschland schwer, ihre Angehörigen zu beerdigen, teile ich so nicht. Zumindest für Düsseldorf weiß ich von einem Friedhof (städtischer “Südfriedhof” an der Südbrücke nach Neuss), auf dem Muslime beerdigt sind, und zwar seit ca. 10 Jahren, wenn ich die Inschriften mit den Todesjahren noch richtig im Kopf habe. Das Grabfeld sticht durch seine Ausrichtung nach Mekka regelrecht aus den anderen Feldern heraus. Die wenigsten Grabinschriften sind in arabischer Schrift, manche in Arabisch und Deutsch, die meisten nur auf Deutsch gehalten.
    Auch bei den muslimischen Toten kann man noch zwischen arm und reich unterscheiden. Neben einigen wenigen prächtigen Grabstellen gibt es auch mittelprächtige oder normale Gräber mit den üblichen Steinen, jedoch auch zahlreiche Armengräber mit Erdhügel und einer einfachen Holzsteele oder Holztafel.

    Ich habe für Sie sogar eine Belegstelle gefunden: http://www.duesseldorf.de/…of/suedfriedhof.shtml
    Dort heißt es unter anderem wie folgt:

    Konfessionelle Grabfelder

    Der Südriedhof bietet heute neben den herkömmlichen Bestattungsarten auch ein Feld für muslimische Bestattungen. Die Grabstätten dieses Feldes sind gemäß des islamischen Bestattungsritus’ nach Mekka ausgerichtet. Rituelle Waschungen, die Aufbahrung zum Totengebet sind möglich – als Ausnahme auch die Beisetzung ohne Sarg. Die Gestaltung der Grabstätten soll der Satzung entsprechen, aber auch spezifische Traditionen widerspiegeln können.

    Vile Grüße
    Dieter

  21. Bestattungen von Muslimen @Dieter

    Kann es sein, dass Sie Ihren Kommentar falsch gesetzt haben? Über Bestattungen von Muslimen habe ich einen Kommentar im Nachbarblog abgegeben. Aber sei`s drum, ich kann Ihre Antwort trotzdem nicht ganz nachvollziehen, die von Ihnen geschilderten muslimische Grabfelder sind ja eher die Ausnahme. Auch wenn man versucht hier nach und nach Abhilfe zu schaffen.
    http://www.faz.net/…B~ATpl~Ecommon~Scontent.html

  22. Heimat und Gefühle

    Zu der verkürzten Überschrift dieses Blog-Posts passt Folgendes: Am Rand des Podests zwischen der Hamburger Kunsthalle und der Galerie der Gegenwart ist ein Text eingelassen. Da die Buchstaben sehr groß sind (Seitenlänge des Podests ca. 50 m), kann man nur wenige Worte zugleich lesen und man muss sich den Text “ergehen”. Und auf einen Halbsatz in einer Sprache folgt ein zweiter Halbsatz in einer anderen Sprache. Komplett lauten die Sätze: “Die Heimat ist nicht das Land, sie ist die Gemeinschaft der Gefühle” sowie “The Native Land is not the Land, it is the Community of Feelings”, “La patria no es la tierra, es la comunidad de los afectos” und “La patrie n’est pas le sol, elle est la communauté des affections”. Mir gefällt der Satz (das Original ist der französische) ebenso wie die “Installation”. Also: Mal vorbeischauen und gucken!

  23. Pingback:Die Sprache der Bilder. Gastbeitrag von Alexandra Lux, Weitblick Köln » Natur des Glaubens » SciLogs - Wissenschaftsblogs

Schreibe einen Kommentar