ERF-Interview zu Neurotheologie. Wie weit reichen neurobiologische Erklärungen von Religion?

BLOG: Natur des Glaubens

Evolutionsgeschichte der Religion(en)
Natur des Glaubens

Eigentlich hatte ich mir vorgenommen, angesichts von Anfragen & Leserbriefen den Audioblog des Monats Februar zum Thema & Buch “Religion & Demografie” zu gestalten. Ich bin derzeit jedoch so eingespannt, dass ich noch nicht weiß, wann ich dieses Vorhaben einlösen kann. Erfreulicherweise hatte ich jedoch die Gelegenheit, vor dem Islam-Vortrag an der Uni Köln (abrufbar unten) ein Gespräch mit Ramona Eibach vom ERF zu führen – so dass ich Hörenden schon einmal etwas bieten kann. Schwerpunkt des dann zusammengeschnittenen Gespräches war die sog. “Neurotheologie” und das Buch “Gott, Gene & Gehirn”, das ich gemeinsam mit Rüdiger Vaas verfasst habe.

Und, nein, auch wenn es vielleicht für den einen oder die andere interessanter klingt: Ich bin kein “Neurotheologe”, sondern “nur” Religionswissenschaftler. Aber das abzugrenzen ist ja auch Thema im Interview selbst.

Zum Anhören oder mp3-Anruf des ERF-Gespräches geht es hier.

Und den folgenden Islam-Vortrag an der Universität finden Sie – falls gewünscht – hier:

Allen Hörerinnen & Hörern von “Natur des Glaubens” herzliche Grüße!

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Dr. Michael Blume studierte Religions- und Politikwissenschaft & promovierte über Religion in der Hirn- und Evolutionsforschung. Uni-Dozent, Wissenschaftsblogger & christlich-islamischer Familienvater, Buchautor, u.a. "Islam in der Krise" (2017), "Warum der Antisemitismus uns alle bedroht" (2019) u.v.m. Hat auch in Krisenregionen manches erlebt und überlebt, seit 2018 Beauftragter der Landesregierung BW gg. Antisemitismus. Auf "Natur des Glaubens" bloggt er seit vielen Jahren als „teilnehmender Beobachter“ für Wissenschaft und Demokratie, gegen Verschwörungsmythen und Wasserkrise.

63 Kommentare

  1. Leider schreitet die Islamisierung immer schneller voran .
    Warum geben Sie den Tatsachen nicht recht ?

    Eine Analyse der Erhebungsdaten von 2011 enthüllt das Vorhandensein von mehr als 100 moslemischen Enklaven in Großbritannien.

    Die moslemische Bevölkerung liegt bei über 85% in einigen Teilen von Blackburn und über 70% in einem halben Duzend Stadtteilen in Birmingham und Bradford. Ebenso gibt es unter anderem in Dewsbury, Leicester, London, Luton und Manchester große muslimische Gemeinden.

    Birmingham: Bordesley Green (einschließlich Small Heath) (73.9%), Hodge Hill (einschließlich den Gebieten von Saltley und Ward End) (41.5%), Ladywood (35.2%), Lozells und East Handsworth (48.9%), Nechells (43.5%), Sparkbrook (einschließlich Sparkhill) (70.2%), Washwood Heath (einschließlich Alum Rock) (77.3%).

    Blackburn und Darwen: Audley (68.7%), Bastwell (85.3%), Corporation Park (62.6%), Little Harwood (51.9%), Queen’s Park (51.5%), Shear Brow (77.7%), Wensley Fold (39.8%) usw.

    • Lieber @”freund”,

      Sie befinden sich 1. leider im falschen Blogpost – die “Islamisierungs”thesen werden andernorts ausreichend diskutiert.

      2. Würde mich die genaue Quelle Ihrer Angaben interessieren.

      3. Hat Großbritannien eine andere Zuwanderungs- und Minderheitenpolitik und z.B. auch jüdisch geprägte Stadtviertel in London.
      http://en.m.wikipedia.org/wiki/Stamford_Hill

      Würden Sie daraus schließen, Großbritannien drohe die “Verjudung”?

      Es ist ja nicht das erste Mal, dass Rassisten Stimmung gegen vermeintlich allesbedrohende Minderheiten schüren…

      Antworten bitte beim richtigen Blogpost, sonst müsste ich löschen.

  2. Lieber Michael Blume,
    in dem Interview mit dem ERF, das ich gerade gehört habe, sagen Sie etwas über die Grenzen der empirischen Forschung. Sie unterscheiden Wissen, das empirisch erforschbar ist und Wissen, das darüber hinaus geht. Zu dem letzteren zählen Sie auch die Zahl 3, die Menschenrechte usw.

    Ich möchte diese Aussage von der Perspektive her hinterfragen, die (als geist- im Gegensatz zu einem „gen-zentrierten“ Ansatz) dem geistigen Sein des Menschen gemäß dem Philosophen Nicolai Hartmann eine eigene Schicht oder Kategorie mit eigener Gesetzmäßigkeit zuordnet.
    Darwin machte hierbei eine sehr interessante Aussage, indem er das Gehirn des Menschen als „wunderbare Maschine [ansah], die allen Arten von Dingen und Eigenschaften Zeichen beilegt und Gedankenreihen wachruft, die niemals durch bloße Sinneseindrücke entstehen könnten, oder, wenn dies der Fall wäre, doch nicht weiter verfolgt werden könnten“, wobei in der konsequenten Systematik daraus „die höheren intellektuellen Fähigkeiten, wie das Schließen, Abstrahieren, das Selbstbewußtsein usw., entstanden“ (C. Darwin, Die Abstammung des Menschen, 1871/2002, S. 268).
    In der Sprache, in der der Mensch auch denkt, abstrahiert er demnach die Sinneswahrnehmungen der materiellen Welt auf neuronale Weise mit „Zeichen“, die dabei aus nichts anderem bestehen, als unseren Ideen, Zahlen, Worten usw. In dieser Abstraktion sind diese Ideen naturgemäß geistiger Art, man kann sie also nicht wie ein materielles Ding der Sinneswahrnehmung als Sein in Zeit und Raum betrachten, vermessen, wiegen usw.

    Diese Ideen machen aber buchstäblich nur Sinn, wenn sie in ihrer Abstraktion in einem festen, einer bestimmten Übereinkunft unterliegendem Verhältnis zu den Sinneswahrnehmungen stehen. So kann ich nicht die „Zeichen“ 2 und 3 einfach austauschen. Andererseits kann ich dieselben Sinneswahrnehmungen auf eine andere Weise abstrahieren, etwa durch die Töne des Morsealphabets. Entscheidend ist, dass der feste Bezug und die Übereinkunft stimmig und widerspruchsfrei ist.
    Wenn das der Fall ist und ich mich so mit anderen Menschen verständigen kann und im komplexeren Sinne mit Ideen oder Technologien Autos, Raumstationen oder ein Internet bauen kann, so stimmt dabei nicht nur die Verständigung unter den Menschen, sondern auch zu den Gesetzmäßigkeiten der sinnlichen, materiellen Welt. Das ist dann das, was wir unter Intersubjektivität oder Objektivität verstehen.
    Wenn also etwa die Idee von Newtons Gravitationsgesetzen zu jeder Zeit und an jedem Ort widerspruchsfrei mit den Sinneswahrnehmungen der materiellen Welt übereinstimmt, sprechen wir von Objektivität und einem empirischen Wissen, auch wenn wir die Idee selbst dabei nicht beobachten, messen und wiegen können. Es kommt allein auf die lückenlose Stimmigkeit an (die sich im Falle Newtons mit Einstein dann auch irgendwo relativiert hat).

    Genau diese Stimmigkeit und Widerspruchsfreiheit muss dann jedoch auch für die Beurteilung anderer Ideenanwendungen gelten, wie etwa dem Zahlensystem oder der Idee der Menschenrechte, d.h. wenn wir mit Hilfe des Zahlensystems mit bestimmten Phänomenen der materiellen Welt zu jeder Zeit und an jedem Ort zurechtkommen, dann ist diese Idee als ein empirisches Wissen zu werten. Wenn die Idee der Menschenrechte dazu führt, dass eine Gesellschaft reibungsloser funktioniert, dann gilt das auch für diese Idee.
    Ideen haben somit zunächst dieselbe Realität für uns wie Farb- oder Schmerzempfindungen. Doch entscheidend ist, inwieweit diese Empfindungen widerspruchsfrei objektivierbar sind. Der Unterschied zwischen Ideen und Empfindungen ist, dass die letzteren genetisch festgelegt sind, während wir die Zuordnung der Ideen selbst bestimmen können. Wenn ich also aufgrund einer genetischen Störung oder Mutation Farben verwechsle, so ist meine Sinneswahrnehmung ebenso in einem intersubjektiven oder objektiven Sinne nicht wahr, wie in dem Fall, in dem ich etwa die Vokabeln einer Fremdsprache falsch zuordne.

    Umgekehrt heißt das, dass ich auch Ideen empirisch erforschen kann, auch wenn ich sie nicht messen und wiegen kann und wenn, aus welchen Gründen auch immer, der Bezug zur sinnlichen Wahrnehmung und zur körperlich-materiellen Ebene nicht hergestellt werden kann. Denn ich kann auch diese Ideen auf ihre Widerspruchsfreiheit allein in der Logik des Denkens hin abklopfen. Dabei ist es natürlich auch möglich, mit falschen Ideen in einem gewissen Rahmen zu wahren praktischen Ergebnissen zu gelangen, wie etwa im Fall der ersten Weltumsegler, die noch einem geozentrischen Weltbild anhingen. Als Raumfahrer wären sie mit diesem Weltbild gescheitert.
    Gerade in diesem Fall des geozentrischen Weltbildes liegt noch der Sonderfall vor, dass die objektiv wahre Idee unserer direkten Sinneswahrnehmung widerspricht! Erst mit indirekten Sinneswahrnehmungen langfristiger Planetenbeobachtungen und vor allem logischer Überlegungen war es hier möglich, zu dem wahren Ergebnis zu gelangen! Bei der empirischen Forschung ist also mitunter auch den Sinneswahrnehmungen zu misstrauen, die für uns normalerweise der wichtigste Anhalt für objektive Wahrheit ist.
    Dieses Beispiel verdeutlicht auch die Methode der modernen Naturwissenschaft. Dass die Sonne sich um die Erde dreht, ist zunächst auch nur eine Idee, die sich in bester Übereinstimmung mit der empirischen Wahrnehmung zu befinden schien. Zu jeder Zeit und auf jedem Ort der Erde war diese Erkenntnis von jedem Menschen beliebig reproduzierbar. Was will man mehr an Objektivität, es schien sozusagen das Paradebeispiel eines empirischen Wissens zu sein. Wenn jemand vor 500 Jahren gesagt hätte, dass sich in Wahrheit die Erde um die Sonne dreht, wären seine Mitmenschen aus dem Lachen wahrscheinlich nicht mehr herausgekommen.
    Die so erfolgreiche Methode der modernen Naturwissenschaft ist es, egal wie sicher und belegt eine Erkenntnis auch sein mag, trotzdem sozusagen immer wieder mit dem Hammer des Zweifels mit ganzer Kraft draufzuhauen, in der Überzeugung, dass der wirklich objektiven Wahrheit das nicht nur nichts ausmacht, sondern sie dadurch erst hervortritt, weil nur sie allem Zweifel standhalten kann. Und dabei ist die Empirie oder Erfahrung, wie es gerade dieses Beispiel des Verhältnisses von Erde und Sonne zeigt, nicht auf die Sinneswahrnehmungen oder die materielle Ebene zu beschränken.

    • @Bernd Ehlert

      Vielen Dank für Ihre wieder einmal sehr langen, aber überaus interessanten Ausführungen.

      Lassen Sie mich aber konkret nachfragen: Sie bewerten die Ideenwelt der Menschenrechte an ihrer Funktion, Gesellschaften “reibungsloser” zu gestalten. Nur ist m.E. genau diese Funktionszuschreibung doch selbst wieder normativ!

      Jemand anderes könnte zum Beispiel meinen, dass “Reibungslosigkeit” gar nicht der entscheidende Wert wäre, sondern z.B. Effizienz, evolutionärer Erfolg oder eine optimale Lösung spieltheoretischer Dilemmata. Persönlich würde ich beispielsweise die Menschenwürde als unbedingt schutzwürdig (“heilig”) anerkennen, selbst wenn dies zu mehr Reibungen, weniger Effizienz u.ä. führte. Kurz: Die Kriterien, nach denen wir die Funktion auch von Ideen bewerten, scheinen mir schon selbst außerhalb der empirischen Beschreibung zu stehen.

      Was meinen Sie?

      • @ Michael und Martin.
        Michael: „Kurz: Die Kriterien, nach denen wir die Funktion auch von Ideen bewerten, scheinen mir schon selbst außerhalb der empirischen Beschreibung zu stehen.“
        Ja, natürlich, das sind auch schon wieder Ideen. Andererseits müssen unsere Ideen aber stets irgendwann einen empirischen Bezug haben:
        Dazu Martin: „Nicht empirische Wissenschaften vertrauen dagegen eventuell auf das Denken allein oder nehmen Bezug auf eine Autorität oder nicht hinterfragte Referenz (die Bibel beispielsweise)“.
        Ich meine dagegen, auch der religiöse Glaube greift auf die empirische Erfahrung oder irgendeinen empirischen Bezug zurück. Es geht naturgemäß gar nicht anders. Im Christentum etwa ist dieser empirische Bezug die Auferstehung des Menschen Jesus und damit verbunden der Glaube an die eigene Auferstehung. Im Buddhismus und Hinduismus ist die empirische Erfahrung oder Erwartung die Wiedergeburt.

        Der religiöse Glaube benötigt so nicht nur zwangsläufig den empirischen Bezug, das ist sogar der Kern des religiösen Glaubens, egal ob als Aussicht oder Hoffnung auf ein christliches, mohammedanisches oder jüdisches Paradies oder buddhistisches Nirvana. Der Unterschied zwischen den naturwissenschaftlichen empirischen Bezügen und denen der Religion liegt wohl darin, dass die naturwissenschaftlichen Erkenntnisse grundsätzlich von jedem zu jeder Zeit und an jedem Ort reproduzierbar oder zumindest nachvollziehbar sind.

        Ausgehend vom Darwin-Zitat ließe sich das so erklären. Die Abstraktion makroskopischer Strukturen durch mikroskopische spielte in der Evolution eine große Rolle, denn darauf gründet sowohl der genetische Code als auch der menschliche Geist. Unser Geist ist praktisch diese Abstraktion oder „Beilegung von Zeichen“, indem eine bestimmte neuronale Aktivität im Denken genauso für eine makroskopische Struktur steht wie ein geschriebenes oder gesprochenes Wort. Entscheidend ist dabei die Eindeutigkeit und Systematik der Zuordnung (wobei geringe Abweichungen davon wie im Fall der genetischen Mutationen aber auch eine große Rolle spielen können).
        Im Fall der menschlichen Sprache sollte diese Zuordnung daher eindeutig sein, so dass sie grundsätzlich von jedem daran beteiligten Menschen zu jeder Zeit und an jedem Ort nachvollziehbar und einsichtig ist, denn nur dann funktioniert sie. Die Bedeutung oder eben Zuordnung eines Begriffes in den neurobiologischen Strukturen des Gehirns zu suchen (wie etwa die der Idee der Person), ist allerdings genauso sinnlos, wie sie in den Tönen der Sprache oder der Tinte der Schrift zu suchen. Makroskopische Strukturen korrelieren mit den mikroskopischen der neuronalen Aktivität, den Lauten der Sprache und den Zeichen der Schrift – mehr wird die Hirnforschung nicht im Gehirn erkennen können.
        Allerdings ist die mikroskopische Struktur, etwa die Zahl 3, schon zu sichten und zum Teil mit Hilfsmittteln empirisch zu erfahren, und zwar sowohl als mit bestimmten makroskopischen Strukturen korrelierende neuronale Aktivität, als auch als Laut und Schriftzeichen. Entscheidend dabei ist aber nicht diese mikroskopische Struktur an sich, die ist willkürlich und austauschbar. Entscheidend ist der Bezug, das Verhältnis oder die Übereinkunft, etwa so wie beim Geld, bei dem an sich wertlosen Papierscheinchen in einer Übereinkunft ein großer Wert zugeschrieben wird. Grundsätzlich genauso funktionieren mit diesem Ansatz Gene, Sprache und Geist.
        Die übernatürlichen Begriffe wie die eines Gottes sind dann dadurch gekennzeichnet, dass der Bezug dieses Begriffes, also die makroskopische Struktur (als empirische Erfahrung) nicht vorhanden ist, zumindest nicht für jeden zu jeder Zeit und an jedem Ort, wie das ansonsten bei der Abstraktion makroskopischer Strukturen durch mikroskopische der Fall ist. Dieses Manko kann aber nicht dadurch gelöst werden, indem versucht wird, die Bedeutung des übernatürlichen Begriffes in der Tinte der Schrift oder den neuronalen Aktivitäten des Gehirns zu finden.
        Fest steht, dass die moderne Naturwissenschaft mit ihrer Methode, nämlich auf diese empirisch nicht fassbaren Begriffe radikal zu verzichten, einen überragenden Erfolg hatte (diese „Mutation“ hat dazu geführt, dass sie sich auf breiter Linie durchgesetzt hat). Nur in der Religion spielen die empirisch nicht fassbaren und darin übernatürlichen Begriffe immer noch eine große Rolle. Ist das darin ein Wissen, das über das empirisch fassbare Wissen hinausgeht und darin auch weiterhin seine Berechtigung hat? Die Religionswissenschaft ist diejenige Wissenschaft, die sich an dieser Nahtstelle befindet. Doch wenn in der Religionswissenschaft ein nicht empirisch überprüfbares Wissen als alternative Erklärung oder zusätzliches Wissen zugelassen wird, verlässt sie damit den Boden der modernen Wissenschaft.
        Es ist natürlich verführerisch, an die Ewigkeit der eigenen Person (die im Grunde auch nur eine Idee wie die Zahl 3 ist) zu glauben und zu hoffen, doch das wirkt ein wenig wie eine Droge. Das Ergebnis ist dann im sogenannten Heiligen Land zu beobachten: Gerade weil es bei diesen übernatürlichen Begriffen keinen festen und objektivierbaren empirischen Bezug gibt, knüpft im Grunde jeder hier seine eigenen Bezüge. Anstelle des einsehbaren empirischen Bezuges tritt die Dogmatik, die einen solchen Glauben aber nur notdürftig zusammenhalten kann. Es endet letztlich sozusagen naturgemäß in der Spaltung, dem Streit und eben, wegen der Dogmatik, oft genug in der gewalttätigen Auseinandersetzung, das was man ja eigentlich gerade vermeiden wollte. Fehlende empirische Bezüge definieren darin das Übernatürliche, das aus demselben Grund stets mit Dogmatik verbunden ist. Fehlende empirische Bezüge sind darin auch als ein Verstoß gegen die Regeln des systematischen Abstrahierens anzusehen.

        Trotzdem spielt der religiöse Glaube weiterhin eine große Rolle im Leben der Menschen. Aber vielleicht gibt es ja ganz natürliche, also empirisch erforschbare Ursachen dafür. Die könnten in den durch Hormone gesteuerten Emotionen zu suchen sein, also den Wünschen nach Geborgenheit, Sicherheit, Führung und Ewigkeit. Das hätte auch damit etwas zu tun, dass der Mensch mit seinem neuronal bedingten Selbstbewusstsein sozusagen aus dem Paradies der in sich geschlossen Instinktsteuerung des Tieres vertrieben worden ist. Er erkennt sich als ein vergängliches Wesen in einer von vielerlei Gefahren und letztlich stets vom Tod bedrohten Welt. Das wäre dann, ganz nach Punkt 2 von Martin, die Erklärung für diese in ein Übernatürliches zielenden Ideen. Diese Ideen spielten insofern dann von Anfang an in der Evolution des menschlichen Seins eine notwendige Rolle, indem sie das neu entstandene geistig-kulturelle System stabilisierten und die animalische Instinktgeborgenheit weitgehend ersetzten.

        • @Bernd Ehlert
          Der religiöse Glaube sucht hinter den Phänomenen (dem Empirischen) die Wirklichkeit. Wirklichkeit im Sinne von Wahrheit.Diese (dem Ungläubigen verborgene) Wirklichkeit und Wahrheit ist aber gerade nicht von dieser Welt, sie weist über diese Welt hinaus, gibt aber andererseits dieser Welt erst ihren tieferen Sinn. Durchen den Glauben wird die Welt der Dinge (die Realität) und der Geschehnisse neu interpretiert, indem die Dinge und Geschehnisse für etwas anderes, höheres stehen als nur für sich selbst.

          Der Empirismus dagegen will die Erfahrungen nicht transzendieren, sondern sie zur Grundlage für Erkenntnisse über diese Welt machen wobei auch bewusst Abstand von einem rein im Denken verwurzelten Rationalimsus gemacht wird. Der Empiriker nimmt also Abstand von Gedanken und Ideen, die nicht in Beobachtungen und Erfahrungen verwurzelt sind, womit er sowohl dem religiösen Glauben als auch der Sophisterei kritsich gegenüber steht. Der Empiriker misstraut damit sogar dem evidenten Argument, wenn dieses evidente Argument nur auf einem logischen Schluss beruht, die Prämissen dieses Schlusses aber keine empirischen Grundlagen haben. In einem solchen Fall würde er das Argument für nicht relevant halten.
          Ein Empiriker wird angesichts des Phänomens Religion tatsächlich zuerst einmal nach natürlichen Erklärungen suchen, wobei es nahe liegt, dass die biologische Evolution auch die Glaubensbereitschaft schuff. Alternativ könnte der religiöse Glaube als Epiphänomen interpretiert werden, also quasi als Nebeneffekt der mentalen Höherentwicklung des Menschen.

          • @Martin Holzherr,

            auf welchem Weg auch immer, jedenfalls ist es nicht nur eine theoretische Herausforderung, sondern in einer globalisierten Welt auch eine dringende Notwendigkeit das Phänomen der Religion aufzuklären. Das kann meiner Überzeugung nach, genau wie etwa die „Aufklärung“ der Pest in der Medizin, nur auf dem bewährten Weg der modernen Naturwissenschaft erfolgen. Und es wird dabei wohl eng mit der Erkenntnis verknüpft sein, was Mensch-Sein eigentlich ist, also wie seine Fähigkeit zur Vorstellung auch übernatürlicher Wesen funktioniert.

    • (Zitat)“Ideen empirisch erforschen” kann man indem man
      1) Ideen als Aussagen über die Wirklichkeit auffasst und überprüft ob die Aussagen zutreffen
      2) Ideen als Produktionen von Menschen auffasst und dann emprisch erschliesst unter welchen Umständen derartige Ideen auftauchen.

      Sie scheinen nur 1) zu sehen. Doch der zweite Ansatz, bei dem man Ideen als Phänomen auffasst, ist ebenfalls möglich. Ein Beispiel wäre die Frage: “Wo überall tauchten Menschenrechtsideen auf. Gibt es gemeinsame Umstände, die das begünstigen.”

      Ein Empiriker beobachtet jedenfalls und zieht Schlüsse aus seinen Beobachtungen. Die empirschen Wissenschaften fordern eine Übereinstimmung von Theorie mit Beobachtungen (eventuell erst nach Verarbeitung oder Objektivierung der Bebachtung (in Form von Messungen beispielsweise)). Nicht empirische Wissenschaften vertrauen dagegen eventuell auf das Denken allein oder nehmen Bezug auf eine Autorität oder nicht hinterfragte Referenz (die Bibel beispielsweise).

  3. Sehr schönes Interview.

    “Neurotheologie” ist natürlich eine Unsinnsbezeichnung, es handelt sich einfach um die kognitiv-neurowissenschaftliche, psychologische und biologische Erforschung religiösen Erlebens und Verhaltens.

    An die Religion kann man eine ethische Frage stellen: ist das gut oder böse, was Religiöse tun? Sehr vieles in der Religion ist ethisch neutral – sozusagen subjektiven Bedürfnissen und Vorlieben überlassen (wie Du es auch beschreibst). Anderes in der Religion beansprucht dagegen, ethisch relevant zu sein. Die ethische Frage ist insofern interessant, als man fragen könnte, ob die Religion der Ethik oder umgekehrt die Ethik der Religion ihre Legitimation verschaffen kann oder muss. Genau dies ist die Frage in Bezug auf das Verhältnis von moderner, religiös neutraler Gesellschaft und Offenbarungsreligionen: wer urteilt hier eigentlich über wen? Naturwissenschaftliche Aspekte sind im ethischen Kontext m.E. gar nicht berührt.

    Und an die Religion kann mal weltanschauliche Fragen richten. Wieder ist vieles in der Religion weltanschaulich neutral – z.B. weil man es völlig offen lässt, ob es Engel wirklich gibt oder man sie sich “nur” vorstellt und an ihr Wirken lediglich “glaubt”. Auch die durch religiöse Praktiken erreichbaren Erlebniszustände sind als solche weltanschaulich völlig neutral. Erst da, wo die Religionen sich weltanschaulich äußern – und es bleibt immer etwas unklar, wann genau und wie genau sie das eigentlich tun -, könnte ein Widerspruch zu naturwissenschaftlichen Erkenntnissen entstehen (z.B. Schöpfungsmythen versus moderne Kosmologie).

    Das gilt dann auch noch einmal für die Hirnforschung (also die leidige “Neurotheologie”) in besonderem Maße. Wenn man Religion als Teil des natürlichen Repertoires des Erlebens und Verhaltens versteht (wie die Religionswissenschaft) ergänzt sich alles wunderbar – wie von Dir, Michael, auch immer wieder mit großer Gelassenheit und Klarheit beschrieben. Im Raum steht allerdings die Behauptung mancher Religionen bzw. mancher Religiöser, wir hätten es bei religiösen Erlebnissen mit übernatürlichen Zuständen oder gar mit dem Erleben des Übernatürlichen zu tun. Diese These tritt in Kontrast zu der These in der Hirnforschung, dass ausnahmslos alle Erlebniszustände – wes Inhaltes auch immer – von natürlichen Hirnfunktionen abhängen (was dem Erlebenden allerdings subjektiv nicht einsehbar ist, weil das Gehirn sich dem Erleben entzieht) und dass es ein Eingreifen übernatürlicher Kräfte in den natürlichen Lauf der Welt nicht gibt (Naturgesetze).

    Erst hier ensteht das Szenario eines wissenschaftlichen Naturalisierungsprojektes: es soll gezeigt werden, dass auch die vermeintlich übernatürlichen religiösen Bewusstseinszustände letzlich natürlichen Ursprungs sind – so wie gezeigt werden konnte, dass epileptische Anfälle nicht durch Dämonenen, sondern durch Hypersynchronisationen großer Nervenzellverbände ausgelöst werden. Dass die neurowissenschaftliche Erforschung religiöser Bewusstseinszustände genau dieses Naturalisierungsprojekt betreibt, und zwar erfolgreich wie mir scheint, beunruhigt manche religiösen Menschen. Sie spüren, dass der weltanschauliche Aspekt ihres Glaubens hier berührt ist. (Ich persönlich spüre diese Spannung sehr stark.)

    Jenseits des faktischen religiösen Verhaltens und Erlebens und seiner biologischen, psychologischen und eben auch neuronalen Grundlagen stellt sich dann schlicht und einfach die Wahrheitsfrage in Bezug auf die Inhalte der Religion: ist es so, wie geglaubt wird? Und genau da liegt dann der Übergang von empirischer Religionswissenschaft zu Religionsphilosophie bzw. Theologie.

    Für die christliche Theologie, besonders die katholische Theologie, kann als leitendes und unumstrittenes methodisches Prinzip festgehalten werden, dass ein Widerspruch zwischen Glaubensinhalten und Vernunft prinzipiell unmöglich ist. Tatsächlich existieren viel größere Spannungen und Widersprüche zwischen Theologie und allgemeiner Volksfrömmigkeit als zwischen Theologie und Naturwissenschaft.

    • Vielen Dank, lieber @Christian!

      Im Wesentlichen sehe ich es ganz genau so – und erlebe auch eher starken Widerspruch durch Antitheisten, denen sowohl die Naturalisierung wie auch die Befunde zur Adaptivität von Religiosität und Spiritualität gar nicht zusagen. Neben den wissenschaftlichen und erkenntnistheoretischen Debatten bin ich auch sehr gespannt, wie z.B. Brinkmans Rap Guide to Religion aufgenommen wird. Es tut sich viel und das gibt auch Gelassenheit. 🙂

  4. Christian Hoppe:
    “Für die christliche Theologie, besonders die katholische Theologie, kann als leitendes und unumstrittenes methodisches Prinzip festgehalten werden, dass ein Widerspruch zwischen Glaubensinhalten und Vernunft prinzipiell unmöglich ist.”

    Bei ein paar christlichen Glaubensaussagen holpert es aber dann doch, auch wenn es heute fast keinen mehr juckt.
    Die Trinität kriegt man nicht so leicht “vernünftig” erklärt, auch nicht die Transubstantiation. Für den Sündenfall hat man den schönen Begriff “Realsymbol” erfunden, um ihn vom schnöden Mythos abzuheben.

    • Bemerkenswert sind immer wieder die Selbsttäuschungen, mit denen manche Gläubige ihre Glaubenszweifel beseitigen und den irrationalen Glauben rationalisieren wollen. Kritiker werden gerne als Antitheisten oder als atheistische Fanatiker diffamiert und jede Kritik, die an die Fundamente rührt, wird aggressiv bekämpft. Die Vernunft ist die Illusion jedes Aberglaubens, die sowohl erstrebt als auch gefürchtet wird.

      Die Angst der Gläubigen zeigt sich in einem Zitat von Papst Pius X. aus der Enzyklika von 1907:

      „Der Protestantismus war der erste Schritt; dann folgt der Modernismus; das Ende ist der Atheismus.“

      • Da hat @Anton Reutlinger schon Recht: Auch ich halte die Angst mancher Glaubender vor Atheismus und Antitheismus für weit überzogen. Solange das Menschenrecht der Religionsfreiheit gewahrt bleibt, können sie doch einfach der Demografie & Evolution den Lauf lassen. 😉

        • Um das Argument richtig zu verstehen, frage ich jetzt doch noch einmal nach. Soll das heißen, dass religiöse Menschen mehr Kinder bekommen und dadurch sich letztlich die Religion durchsetzt, und zwar die, die die den größten Nachwuchs hat?

          • @ Herr Ehlert :

            Soll das heißen, dass religiöse Menschen mehr Kinder bekommen und dadurch sich letztlich die Religion durchsetzt, und zwar die, die die den größten Nachwuchs hat?

            Ohne bestimmen zu wollen, wie bestimmte Aussage nun genau gemeint war; die Idee, dass Religiöse mehr Kinder bekommen und letztlich auch mehr sozialen Erfolg, zieht sich durch diese Inhalteeinheit des Internets wie ein seidener Faden.

            Angreifbar, aber erkennbar nicht direkt falsch oder positiv formuliert: denkbar & empirisch nicht unbelegt, dass dem so ist oder sein könnte.

            Der Schreiber dieser Zeilen würde eher damit argumentieren, dass heutzutage vielen etwas genommen worden ist, das vom Kinderkriegen abhält, etwas, das nicht die Religion meinen muss.

            Ischt hier, in dieser Inhalteeinheit, vielleicht aber schon an anderer Stelle ausgearbeitet; “so direkt” will sich der werte hiesige Inhaltegeber zu dieser Theorie oder Maßgabe aber wohl nicht stellen,
            MFG
            Dr. W

          • Schon Thomas von Aquin hat versucht, Glaube und Vernunft unter einen Hut zu bringen. Die Geschichte der Gottesbeweise ist nichts anderes als dieselbe Versuchsreihe einer Rationalisierung, bis zu den intellektuellen Ergüssen von Herrn Ratzinger, alias Papst Benedikt XVI. Nun versucht Herr Blume es mit der Evolution. Aus statistischen Beobachtungen allein kann man vielleicht Korrelationen, aber keine Kausalitäten ableiten. Wie Religion demografisch wirken kann, das zeigt sich gerade in den Ebolaregionen Afrikas, oder in den Kolonialkriegen Europas.

          • @ Herr Reutlinger :

            Schon Thomas von Aquin hat versucht, Glaube und Vernunft unter einen Hut zu bringen.

            Der Glaube an die Vernunft der Menge könnte hier die Lösung sein.
            Es ist ja letztlich auch an die zeitgenössische skeptizistische (Natur.-)Wissenschaftlichkeit irgendwie zu glauben.
            Insofern stellt sich diese exoterisch und Kritik generell aufgeschlossen.
            Der Glaube an sich ist OK, es geht ganz zuvörderst um die Qualität, auch um den Sinn und das Wohlbefinden der Menge.
            Wobei das, was ist oder zu sein scheint, das Wissenschaftliche, vorreiterisch zu bleiben hat.

            Aus statistischen Beobachtungen allein kann man vielleicht Korrelationen, aber keine Kausalitäten ableiten.

            Negativ, ‘Kausationen’ oder ‘Kausalitäten’ werden, die Natur betreffend, letztlich wahlfrei oder auf Grund besonderer, besonderer dichter empirischer Lagen, festgestellt.
            Wiederum: die Menge meinend.


            Dass es auch ganz anders sein könnte. weiß der Philosoph.
            >:)>

            MFG
            Dr. W

          • Nein, @Bernd Ehlert, so simpel-monokausal sind die Zusammenhänge selbstverständlich nicht. Vielmehr weisen Religionsgemeinschaften u.a. kooperative und demografische Potentiale auf, ohne die noch keine menschliche Population Bestand hatte. Ausführlicher und differenzierter wird das Thema z.B. hier behandelt:
            https://scilogs.spektrum.de/natur-des-glaubens/online-interviews-zu-religion-und-demografie/

            Auch die nächste Audioblog-Folge hoffe ich zu dem Thema gestalten zu können. Letztlich ist der Befund aber auch längst Bestandteil der internationalen Forschungslandschaft & Debatte geworden (z.B. neu “The Attraction of Religion” oder der Rap Guide to Religion von Baba Brinkman).

          • Vielen Dank @Michael Blume für die Antwort und den Link.

            Ich habe mir das Interview „Selektionsvorteil Religion“ angehört. Von der Perspektive, die ich vertrete, nämlich dass mit dem Menschen in der Evolution eine neue Schicht mit eigener Gesetzmäßigkeit emergiert ist, möchte ich dazu anmerken, dass demnach die Anzahl der Nachkommen keine Rolle mehr spielt. Dieses Kriterium spielte bei der genetischen Evolution eine Rolle, aber nicht mehr bei der heutigen geistig-kulturellen Evolution des Menschen.

            Genauer muss sogar festgestellt werden, dass es schon noch eine Rolle spielt, allerdings eine negative oder kontraproduktive. Seit der Neuzeit schießt die Weltbevölkerung in die Höhe, sie explodiert geradezu, und zwar nicht nur in evolutionären Maßstäben. Nun steigt sie nicht überall gleichmäßig an, in den wohlhabenden Industrieländern geht sie sogar zurück, während sie in den armen Entwicklungsländern dafür umso mehr ansteigt. Lässt sich das Problem dadurch lösen, indem die wohlhabenden Länder ihre Reproduktion der der Entwicklungsländer angleichen? Ich meine: Nein. Die wirkliche Evolutionsfront befindet sich ganz woanders.

            Der Lebensraum auf der Erde ist begrenzt und die Ressourcen sind begrenzt. Je mehr Menschen in diesem Lebensraum leben, umso stärker werden bei zu Neige gehenden Ressourcen Verteilungskämpfe entbrennen, und umso größere Menschenmassen werden von der Nutzung der verbliebenen Ressourcen zu einem gesicherten und wohlhabenden Leben ausgeschlossen. Was werden diese Menschen tun, wenn sie einerseits über die überall verbreiteten neuen Medien mitbekommen, in welchem Luxus die wohlhabenden Länder leben und andererseits feststellen, dass dieser Luxus seit der Ausbeutung in den Kolonialzeiten bis heute zu einem Teil sogar noch auf ihre Kosten geht, dass die Nahrungsmittel für sie heute immer knapper werden und die Preise dafür immer weiter steigen, weil die Wohlhabenden daraus Sprit für ihre Luxusautos gewinnen und Nahrungsmittel zur Profitsteigerung an der Börse handeln?

            Entweder werden sie versuchen, in die wohlhabenden Länder zu gelangen, um irgendwie doch noch an den dort reich gedeckten Tischen einen Platz zu ergattern (was umso vergeblicher sein wird, je mehr diese Länder ihren Bevölkerungszuwachs wieder steigern). Was für ein Risiko diese Migration heute schon ist, verdeutlichen folgende Zahlen: In ca. 30 Jahren DDR-Grenze starben dort knapp 900 Menschen, die für sich ein besseres und freieres Leben erlangen wollten. An den europäischen Grenzen, insbesondere im Mittelmeer, starben nach Zahlen von Pro Asyl seit dem Jahr 2000, also in nur 15 Jahren, schon ca. 23.000 Menschen. Auch die wollen für sich nur ein besseres und freieres Leben erlangen.

            Diejenigen der armen Weltbevölkerung, die dagegen mehr Selbstbewusstsein haben als die Flüchtlinge, werden sich auf ihre eigene Kultur und Religion besinnen, um so ihre Lebensumstände zu verbessern. Sie werden sich mit ihrer alten, fundamentalistischen Form ihrer Religion identifizieren, da sie nur von da aus die Idee des westlichen Lebensstils, der für sie nur Schaden gebracht hat, verdammen und bekämpfen können (der Name der nigerianischen islamistischen Terrororganisation „Boko Haram“ etwa wird mit „Westliche Bildung verboten“ übersetzt). Hier finden sie die Identität und Anerkennung, die auch sie dringend zum (Über)Leben brauchen. Wenn man diese Entwicklungen zumindest seit den Kolonialzeiten in einem größeren Rahmen betrachtet, ist diese Haltung irgendwo nachvollziehbar. So reagieren Menschen, die an den Rand getrieben werden, die nicht nur von den schönen Seiten des Lebens ausgeschlossen werden, sondern die ums nackte Überleben kämpfen müssen, und dazu noch in dem, was ihnen geblieben ist, nämlich ihr religiöser Glaube, von ihren Peinigern verspottet werden.

            Je mehr Menschen es auf der Erde gibt und je schneller die natürlichen Ressourcen zu Neige gehen, umso mehr werden die heute schon vorhandenen Spannungen und Probleme zunehmen, von Klimawandel, der Zunahme von Krebserkrankungen durch mehr und mehr vergiftete Lebensgrundlagen usw. ganz zu schweigen. Ich kann nicht erkennen, wie diese Probleme durch die Steigerung der eigenen Bevölkerung gelöst werden können – ganz im Gegenteil wird das diese Spannungen noch verschärfen.

          • An dieser Stelle denke ich tatsächlich anders, @Bernd Ehlert. So heben m.E. Kultur und Geist die genetisch-biologischen Grundlagen auch des menschlichen Lebens nicht auf, sondern erweitern sie.

            Vor allem aber lehne ich den von Ihnen vertretenen Malthusianismus ab, der die Kinder anderer als Bedrohung betrachtet. Tatsächlich gehen die Geburtenraten mit steigender Entwicklung weltweit rapide zurück und vielerorts findet längst eine Bevölkerungsimplosion statt. Über post-malthusianische Zukunftsperspektiven & Demografie habe ich mich z.B. auf forgsight geäußert.
            http://forgsight.com/2014/07/18/meinungsbeitrag-demografie-und-niedrigzinsen-wie-sich-der-kapitalismus-selbst-abschafft/

            Ihnen einen schönen Abend! 🙂

          • Lieber Michael Blume,

            zunächst einmal besitze ich hinsichtlich der Demografie und vor allem der Rolle, die sich heute spielt, wohl tatsächlich eine andere Überzeugung als Sie. Das ist auch nicht weiter schlimm, sondern als Herausforderung anzusehen. Doch entscheidend ist die Frage, wie man mit dieser Meinungsverschiedenheit umgeht. Das ist insofern ein ganz entscheidender Punkt, weil für mich darin nichts anderes als die weitere humane Entwicklung liegt, d.h. man sollte als Mensch vor allem auch Andersdenkende ernstnehmen.

            In dem Beitrag, auf den sich Ihre Antwort bezieht, hatte ich bestimmte Fakten zu dem Migrationsproblem dargesteellt, das ja brandaktuell ist und dabei versucht, dieses Problem aus der Sicht der Migranten zu verstehen (steigende Nahrungsmittelpreise, wie können sie überleben, nicht nur physisch, sondern auch psychisch hinsichtlich Identität und Anerkennung). In Ihrer Antwort stecken Sie mich jedoch in die Schublade des Malthusianismus, „der die Kinder anderer als Bedrohung betrachtet“, der also das Problem rein aus der Sicht der Wohlhabenden versteht. Genau das habe ich gerade nicht gemacht. Weiter sind Sie nicht auf die Argumente eingegangen. Wie soll man damit umgehen? Also ich stelle es einfach mal nur fest und lass es so stehen.

            In gewisser Weise gibt der zweite Teil Ihrer Antwort mir eine Erklärung für diese Reaktion. Ich verfolge sehr interessiert die Problematik der Finanzkrise, weil darin das zu finden ist, was die Entwicklung des heutigen Menschen bestimmt. Aber Ihre Erklärung dazu, nämlich dass „das Grundproblem“ in der Demografie besteht, habe ich in der ganzen Diskussion darum nicht vernommen. Gut, das muss ja zunächst nichts heißen, denn es kann durchaus sein, dass die Lösung in einer Erklärung liegt, die bislang überhaupt nicht beachtet wurde. Aber nachvollziehen kann ich das ohne Weiteres nicht.

            Also, über Ihre letzte Antwort muss ich noch einmal intensiver nachdenken, wie ich das unter einen Hut bringe. Vielleicht überzeugen Sie mich durch Ihre Argumente ja tatsächlich noch, oder ich gelange zu einer anderen schlüssigen Erklärung.

          • Ja, @Bernd Ehlert, diesen Debattenstrang habe ich wirklich oft erlebt: Es gebe “zu viele” Menschen, die sich deshalb – leider, leider – die Köpfe einschlagen würden. Das ist der Nachhall des Malthusianismus.

            Die Gegenposition wäre, jedes Leben wert zu schätzen und beispielsweise Bildung und Migration zu fördern. Und siehe da: Wo immer das geschah, sanken auch die Geburtenraten und inzwischen fehlt es in immer mehr Gesellschaften an Kindern…

            Insofern freut es mich sehr, wenn diese kleine Debatte zu dem einen oder anderen neuen Gedanken führen könnte. Denn die Bilanz des Malthusianismus – der in Deutschland fast Allgemeingut ist – war und ist finster, bessere Ideen braucht das Land… 🙂

          • Michael Blume: „Die Gegenposition wäre, jedes Leben wert zu schätzen und beispielsweise Bildung und Migration zu fördern. Und siehe da: Wo immer das geschah, sanken auch die Geburtenraten und inzwischen fehlt es in immer mehr Gesellschaften an Kindern…“
            Das ist zumindest nicht die Gegenposition zu mir, denn genau das vertrete ich ebenfalls. Dazu habe ich folgenden Artikel gefunden, in dem das auch bestätigt wird: http://www.welt.de/debatte/article1602514/Wird-Europa-wirklich-islamisiert.html.
            Gemäß diesem Artikel geht jedoch mit dem höheren Lebensstandard nicht nur die Anzahl der Geburten zurück, sondern auch die Religiosität. Wenn man die Rolle und den Sinn der Religion von der Evolutionstheorie her versteht, ist das kein Zufall, sondern sozusagen ein gesetzmäßiger Zusammenhang.

            Zu „ bessere Ideen braucht das Land“: Ich vertrete die Idee oder Perspektive, dass mit dem Menschen eine neue Schicht gemäß Nicolai Hartmann in der Evolution entstanden ist. In dieser Perspektive ist die Evolution nicht mit der physischen Gestalt und den genetisch verankerten Verhaltensformen des Menschen zu Ende gegangen, sondern sie geht ungebremst und sogar beschleunigt weiter – nur nicht mehr auf genetische, sondern auf geistig-kulturelle Weise.

            Was heißt das in Bezug auf die heutige Situation des Menschen und etwa die Bevölkerungszunahme? Die explosive Bevölkerungszunahme ist darin nur ein sekundäres Problem, denn das hat es in der biologischen Evolution sehr häufig gegeben.
            Entscheidend in der weitergehenden Evolution des Menschen sind die Ideen, nach denen er lebt. Dazu gehört natürlich auch die Religion. Direkt nach bzw. in der Schöpfungsgeschichte taucht die göttliche Forderung auf: „Seid fruchtbar und mehret euch“. In der Idee oder Perspektive, die die Religion als Teil der Evolution versteht, war das zu der damaligen Zeit (genauso wie die Forderung, in Kriegszeiten bei den direkten Nachbarvölkern „nichts, was Atem hat am Leben zu lassen“) eine sehr sinnvolle göttliche Forderung, da es zu dieser Zeit um das Überleben ging (ganz auch nach Kant Erkenntnis, dass die „innere praktische Notwendigkeit uns zu der Voraussetzung einer selbständigen Ursache, oder eines weisen Weltregierers führte, um jenen [moralischen] Gesetzen Effekt zu geben“).

            Von daher lässt es sich ganz natürlich und logisch erklären, dass religiöse Menschen, die nach diesen Ideen leben, mehr Kinder haben als weltlich lebende Menschen. Diese kulturelle Art der „Mehr Nachkommen“ hat aber nichts mit der Art „Mehr Nachkommen“ zu tun, die sich aus der genetischen Selektion ergibt, d.h. auch bei den Amish ist die vergrößerte Nachkommenzahl nicht einer genetisch bedingten Fitness zu verdanken, sondern allein der kulturell bedingten religiösen Idee. Dieses Verhalten kann daher, im Gegensatz zu einem genetisch verankerten Verhalten, innerhalb kürzester Zeit verändert werden.
            Zu der Abänderung der Forderung, die direkten Nachbarvölker in Kriegszeiten nicht mehr komplett auszulöschen, bzw. überhaupt die moralischen göttlichen Gebote nicht nur auf das eigene Volk anzuwenden, bedurfte es allerdings eines neuen Gottesbildes und damit einer neuen religiösen Idee (das ist im evolutionären Verständnis die Besonderheit der religiösen Ideen mit ihren übernatürlichen und darin immer dogmatischen Bezügen).
            Wie Darwin zur Recht erkannte, unterliegen alle göttlichen Ideen einer Entwicklung, sie sind relativ (stehen darin in einem Bezug zu jeweiligen Entwicklung des Menschen) und nicht absolut, wie sie dem Gläubigen erscheinen (darin klärt sich auch ihre Widersprüchlichkeit auf, die im absoluten Verständnis ja gar nicht existieren dürfte). Auch der jüdisch-christliche Glaube hat sich aus einem Polytheismus bzw. noch früheren religiösen Formen entwickelt.
            Und diese Relativität der religiösen Ideen macht sich eben auch dadurch bemerkbar, dass sie zumindest in der Regel an Attraktivität verlieren, wenn die Menschen in ihrem Leben einen bestimmten Standard erreichen. Das Umgekehrte gilt dann auch: Je mehr Menschen verelenden, umso mehr suchen sie Halt in religiösen, und zwar vornehmlich fundamentalistischen Ideen (fundamentalistische politische Ideen eignen sich aber auch dazu).

            Das, was die heutige Situation des Menschen in seinem begrenzten Lebensraum so gefährlich macht, ist jedoch nicht die Überbevölkerung an sich, sondern vor allem die Idee, nach denen diese Menschen, geleitet von unserer westlichen Kultur, alle streben. Das ist die Idee des durch die moderne Technik ermöglichten grenzenlosen und exzessiven materiellen Wachstums und Konsums. Die großen sozialen Gefälle in der Welt können aber nicht dadurch überwunden werden, das alle Menschen den Lebensstandard und den damit verbundenen Ressourcenverbrauch der US-Amerikaner erreichen.
            Was ist die Ursache für dieses Verhalten des exzessiven materiellen Wachstums und Konsums? Dazu müsste man unsere natürliche, darin schichtend gespaltene Natur erkennen, also unsere evolutionäre Herkunft und unser animalisches Erbe. Dann würde verständlich werden, wie die Evolution heute fortschreitet und wie animalisch etwa Kriege und Gewalt sind. Diese Idee und Perspektive würde sozial ähnlich wirken wie die naturwissenschaftliche Entdeckung der Viren und Bakterien, also die rein natürliche Ursache von Krankheiten und Seuchen wie der Pest. Doch auch dieser neuen Aufklärung steht die den Menschen so fesselnde Idee unserer göttlichen Herkunft und Identität entgegen.

          • Ist Boko Haram eine Antwort auf den historischen und weiterbestehenden Kolonialismus? Diese Frage wird durch folgende Passage aus Bernd Ehlerts Kommentar vom 21. Februar 2015 16:10 nahegelegt:

            Sie werden sich mit ihrer alten, fundamentalistischen Form ihrer Religion identifizieren, da sie nur von da aus die Idee des westlichen Lebensstils, der für sie nur Schaden gebracht hat, verdammen und bekämpfen können (der Name der nigerianischen islamistischen Terrororganisation „Boko Haram“ etwa wird mit „Westliche Bildung verboten“ übersetzt).

            Hier im Westen ist es (immer noch) en vogue alles ökonomisch zu betrachten (der Kolonialismus ist in dieser Sicht eine materielle Enteignung), auch den Hass auf den Westen. Doch viele Handlungen der letzten Jahre und Monate haben aus ökonomischer Sicht katastrophale Auswirkungen für die Akteuere. Das gilt für Putins Kriegsabenteuer, für Irans Bemühen seine nuklearen Fähigkeiten zu erweitern, aber auch für den Versuch der Reislamisierung, der nicht nur bildlich gesprochen in der Steinzeit enden kann.
            Boko Haram hat sich kürzlich dem Islamischen Staat angeschlossen was noch einmal verdeutlicht, dass Boko Haram dem Islamismus zuzuordnen ist. Im Tagesanzeiger (Zürich) vom 18.03.2015 interpretiert der Philosoph Slavoj Zizek den Islamismus als Verteidigung des Patriarchats, des eigenen patriarchalen Seins gegenüber der westlichen Lebensweise. Den Namen Boko Haram, also “Westliche Bildung verboten” bedeutet nach Zizek in Wirklichkeit “Westliche Bildung für Frauen verboten”, denn gebildete Frauen würden das patriarchalische Weltbild und damit das Zentrum des islamistischen Seins in Frage stellen und gemäss den Ängsten dieser Islamisten (Zitat sinngemäss) “aus gehorsamen Frauen wilde Tiere machen”.

            Armut mag ein Mitgrund sein, dass islamistische Strömungen in den letzten Jahrzehnten so zugelegt haben, doch im Kern geht es dem Islamismus nicht um Wohlstand sondern um die richtige Lebensweise – und diese Lebensweise ist das Patriarchat.
            Folgende Passage aus Bernd Ehlerts Kommentar ist für viele plausibel

            Je mehr Menschen verelenden, umso mehr suchen sie Halt in religiösen, und zwar vornehmlich fundamentalistischen Ideen (fundamentalistische politische Ideen eignen sich aber auch dazu).

            , doch die Aussage ist irreführend und falsch: In den letzten Jahrzehten sind nicht immer mehr Menschen verelendet, sondern immer mehr haben es (weltweit gesehen) in den Mittelstand geschafft. Die Väter der Islamisten, die heute mit modernen Waffen Städte überfallen, lebten vor 50 Jahren meist noch in absoluter Armut.

            Zusammengefasst: Krieg, Hass, Extremismus und Fundamentalismus lassen sich nur zum Teil durch Armut erklären. Der westliche Mythos, es gehe immer nur ums Geld, den sollten wir hinterfragen.

  5. @Anton Teutlinger:
    “Schon Thomas von Aquin hat versucht, Glaube und Vernunft unter einen Hut zu bringen. … Nun versucht Herr Blume es mit der Evolution. Aus statistischen Beobachtungen allein kann man vielleicht Korrelationen, aber keine Kausalitäten ableiten.”

    Mein Einwand gegen Herrn Hoppe bezog sich auf die Theologie:

    “Für die christliche Theologie, besonders die katholische Theologie, kann als leitendes und unumstrittenes methodisches Prinzip festgehalten werden, dass ein Widerspruch zwischen Glaubensinhalten und Vernunft prinzipiell unmöglich ist.”

    Ich begrüße es durchaus, wenn die katholische Theologie sich der Vernunft verpflichtet fühlt. Es wird nie völlig aufgehen, weil Dogmen sich nicht damit vertragen.

    Was Herr Blume macht, ist aber keine Theologie, sondern Religionswissenschaft. Das sind schon kategoriell andere Sachen. Da geht Ihr Vorwurf schlicht ins Leere. Auch aus einem evolutionären Vorteil von Religion ergibt sich keine Aussagen über den Wahrheitgehalt von Religion, schon gar nicht einer bestimmten Religion. Aus seinen Thesen ergibt sich auch nicht, ob es vernünftig wäre, gläubig zu sein. Für Gläubigkeit kann man sich ja nicht entscheiden, wie z.B. für Vorsorgeuntersuchungen.

    • Schon richtig; den Unterschied zwischen Theologie und Religionswissenschaft will ich nicht ignorieren. Andererseits ist eine saubere Trennung kaum möglich. Viele Religionswissenschaftler sind selber überzeugte Gläubige oder gar Theologen. Mein Verdacht ist, dass über eine Naturalisierung der Religiosität eine Rationalisierung der Gläubigkeit angestrebt wird. Dabei wird ausgeblendet, dass es in der heutigen Zeit sinnvollere Alternativen gäbe zu Religion und Theologie, nämlich Soziologie, Psychologie und Philosophie.

      Eine kompakte Darstellung zu Religiosität und Evolution ist hier zu finden, von Dr. Ulrich Frey:
      http://www.gkpn.de/Frey_Evolution_Religion.pdf

      • Reutlinger:
        “Mein Verdacht ist, dass über eine Naturalisierung der Religiosität eine Rationalisierung der Gläubigkeit angestrebt wird.”

        Aus der Tatsache, dass etwas “natürlich” ist, folgt noch lange nicht, dass etwas “rational” sei. Z.B. sind Aggression und Gewalt Bestandteile der menschlichen Natur, aber keineswegs “rational”. Dabei müsste auch geklärt werden, was man unter “rational” verstehen sollte, “vernünftig” im ethischen Sinne oder “zweckorientiert”.

        “Andererseits ist eine saubere Trennung kaum möglich.”

        Das gilt auch für atheistische Religionswissenschaftler. Denen könnte man vorwerfen, mit ihrem Tun “Gott” wegzuerklären. Eigentlich sind doch alle Wissenschaftler befangen, weil verliebt in die eigene Theorie. Da hilft nur die Offenlegung der Methodik und der “Daten”.

        “Dabei wird ausgeblendet, dass es in der heutigen Zeit sinnvollere Alternativen gäbe zu Religion und Theologie, nämlich Soziologie, Psychologie und Philosophie.”

        Die sind selbstverständlich sehr wichtig und aufklärerisch bedeutsam. Aber wenn Sie das als Alternative anpreisen, dann haben Sie möglicherweise nicht das Bedürfnis verstanden, das hinter Gläubigkeit steht.
        Das erinnert mich etwas an Radio Eriwan.
        Frage:
        “Ich habe gehört, das ein Glas Wasser ein Verhütungsmittel sein soll. Muss man es vorher oder nacher einnehmen?”
        Antwort:
        “Anstatt”.

        • Aggresssion und Gewalt sind natürliche Phänomene, keine Frage, aber sie sind auch rational, in gewissen Situationen jedenfalls. Selbstverständlich kann man jedes Verhalten bis zur Irrationalität übertreiben, auch Tugenden wie Liebe. Rationalität oder Vernunft schließt Zweckmäßigkeit ein, bzw. Zweckmäßigkeit ist sogar eine wesentliche Eigenschaft davon. Auch Religiosität verfolgt bestimmte Zwecke.

          Man kann emotionale und rationale Normen der Gemeinschaft wie Gerechtigkeit mit theologischen Behauptungen begründen und mit Versprechungen und Drohungen durchsetzen, man kann sie aber auch psychologisch und soziologisch begründen und gesetzlich durchsetzen. Man kann Halluzinationen als religiöse Erscheinungen deuten, man kann sie auch mit kognitiver Psychologie als Wahrnehmungstäuschungen erklären. Ein Bedürfnis der Gläubigkeit sehe ich nicht, es ist anerzogen. Die Gläubigkeit ist ein vorwissenschaftliches Mittel zur Befriedigung geistiger Bedürfnisse, aber dazu gibt es in der heutigen Zeit andere Möglichkeiten, die offensichtlich zunehmend genutzt werden.

          Man muss Religion nicht ausrotten, aber der Verzicht auf Religion ist für die Menschen und die Menschheit kein Schaden. Die Menschen glauben alltäglich an Mythen und Fiktionen, bewusst oder unbewusst, Gläubige wie Ungläubige, Gebildete wie Ungebildete. Mythen können helfen, das Leben zu bewältigen, sie dürfen das Leben aber nicht bestimmen. Mich stört die Arroganz von Klerikern oder Religionswissenschaftlern, den Verzicht oder Verlust der Religion mit dem gesellschaftlichen Untergang gleichzusetzen.

  6. “Ein Bedürfnis der Gläubigkeit sehe ich nicht, es ist anerzogen.”

    Selbstverständlich wird Religion auch wesentlich durch Erziehung vermittelt, aber das Bedürfnis danach? Auf welchem empirisch gesichertem Befund steht dieses Urteil? Ist das nicht viel mehr ein Glaubenssatz?

    “Man muss Religion nicht ausrotten, …”
    Ach, muss man nicht? Aber sie wollten schon gerne, wenn Sie könnten oder dürften? Aber würden Sie es können, wenn Sie der Kaiser der Welt wären?
    Steckt in solchen Formulierungen nicht die Hybris von Atheisten, dass sie wüssten, was gut für die Menschen und die Menschheit ist? Das klingt sehr generös, verdankt sich aber nur einer radikalen Fehleinschätzung, wer der “Stärkere” ist, die Religionen oder jene, die sie abschaffen wollen. Gedanken, Ideen, Ideologien lassen sich schwerlich einfach ausrotten.

    “Mich stört die Arroganz von Klerikern oder Religionswissenschaftlern, den Verzicht oder Verlust der Religion mit dem gesellschaftlichen Untergang gleichzusetzen.”

    Ich, weiß, es gibt diese Kleriker und teile diese Meinung nicht. Das hat hier aber, meine ich, keiner getan.

    “Die Menschen glauben alltäglich an Mythen und Fiktionen, bewusst oder unbewusst, Gläubige wie Ungläubige, Gebildete wie Ungebildete. Mythen können helfen, das Leben zu bewältigen, sie dürfen das Leben aber nicht bestimmen.”

    Das stimme ich zu.

  7. Der christliche Glaube fühlt sich eben nicht diversen Wahrheiten, sondern der Suche nach Wahrheit überhaupt – also der Vernunft – verpflichtet; diese gesuchte Wahrheit kann kein Mensch jemals in Besitz nehmen.

    Die dogmatischen Wahrheiten sagen am Ende immer nur eines: die aufrichtige Suche des Menschen nach Wahrheit, Erkenntnis und Sinn sowie Liebe, Glück und Erfüllung wird ihr Ziel erreichen, diese Suche ist nicht widersinnig oder von vornherein vergeblich – und dies obwohl der Mensch ein nichtiges, aus Sternenstaub gebildetes und im Universum völlig verlorenes sowie extrem irrtumsanfälliges und sehr oft egoistisches Wesen ist und obwohl es in dieser Welt das natürliche und das moralische Böse gibt. Der Glaube sagt aber auch, dass diese Erfüllung nicht schon zu Lebzeiten zu haben ist, da es auf Erden nichts gibt, das uns in dieser ersehnten Weise wirklich erfüllen könnte.

    Jede aufrichtige Suche nach Wahrheit konvergiert mit dieser christlichen Suchbewegung. Diese Suchbewegung ist im übrigen die einzige rationale Basis für interkulturellen und interreligiösen Respekt und für gegenseitige Toleranz. Die christliche Lehre vom Gewissen verankert diese Wahrheitssuche im Innersten jeder einzelnen Person; das Gewissen ist die letzte Instanz, der man verpflichtet ist (eingedenk der Tatsache, dass sich der Einzelne schrecklich irren kann). Und zwar schon bei Thomas von Aquin, nicht erst bei Luther.

    Es ist nicht zu leugnen, dass sich Menschen – trotz ihrer Religion, trotz ihres christlichen Glaubens – historisch immer wieder der gemeinsamen Suche nach dem Wahren, Guten und Schönen verschlossen haben. Liegt dies aber nicht in der Natur des Menschen? Denn wir fürchten die Wahrheit und wir fürchten auch die Liebe. Man wird dem christlichen Glauben kaum vorwerfen können, sich dieser negativen Faktoren im menschlichen Handeln nicht hinreichend bewusst zu sein, die uns immer wieder von der Wahrheit und der Liebe wegführen.

    Wahrheit kann, muss sich aber nicht darin äußern, dass etwas besser funktioniert; letztlich ist Funktionalität kein epistemisches Argument. Ich meine, dass Michael Blume das auch immer wieder hinreichend deutlich sagt.

    Es gäbe aber keine Augen, wenn es kein Licht gibt – feststellen zu können, dass es dunkel ist, setzt bereits voraus, dass es Licht und eben auch Augen gibt. Ebenso lässt sich nicht leugnen, dass Menschen nach Wahrheit, Sinn, Erfüllung und Glück suchen können – gerade auch in den Wissenschaften, aber auch in den Religionen. Dieser Suchbewegung, welche ebenfalls in der Natur des Menschen und sicher in der Natur des Denkens selbst liegt, kann man trauen oder man hält sie für absurd und nichtig.

    Viele Gottesleugner haben mich durch ihre Wahrheitsliebe und ihre ungestillte Sehnsucht nach wirklicher Wahrheit und wirklicher Erfüllung mehr berührt als so mancher altkluge Theologe, der sich die Wahrheit selbst zurecht legt.

    • Wahrheit != Vernunft: Dies zu “Der christliche Glaube fühlt sich eben nicht diversen Wahrheiten, sondern der Suche nach Wahrheit überhaupt – also der Vernunft – verpflichtet”

      Wahrheit und Wirklichkeit bedeutet für den Gläubigen, dass Gott der letzte Urgrund ist, dass er sowohl Lebensborn als auch Lebenssinn ist. Weil sich alles in Gott erfüllt, muss diese gotterfüllte Welt auch die Vernunft einschliessen. Letztlich ist der Glaube aber mehr auf der emotionalen und affektiven als auf der rationalen Seite angesiedelt.

    • Das ist eine gemütsbewegende Sonntagspredigt, Herr Hoppe – ironisch aber nicht polemisch gemeint. Als persönliche Gläubigkeit ist es vollkommen zu akzeptieren, wenn man von philosophischen Überlegungen zu Wahrheit, Wirklichkeit und Vernunft absieht, aber auch die subjektive Deutung von Begriffen liegt in der persönlichen Autonomie. Die Grenze wird jedoch überschritten, wenn aus der persönlichen Gläubigkeit eine objektive Religion, aus der Religion eine gesellschaftliche Ideologie und aus der Ideologie ein autokratisches Herrschaftssystem gemacht wird. Das ist leider die historische Realität bis in die Gegenwart. In den Wohlstandsgesellschaften ist jedoch auch eine Gegenbewegung zu beobachten:

      “Die Sozialform der Religion, die in modernen Industriegesellschaften entsteht, ist dadurch charakterisiert, daß potentielle Konsumenten einen direkten Zugang zum Sortiment der religiösen Repräsentationen haben. Der Heilige Kosmos wird weder durch einen spezialisierten Bereich religiöser Institutionen noch durch andere öffentliche primäre Institutionen vermittelt. Es ist gerade diese unmittelbare Zugänglichkeit des Heiligen Kosmos oder – genauer – des Sortiments an religiösen Themen, die Religion heutzutage zu einer Erscheinung in der ‘Privatsphäre’ macht.”

      Thomas Luckmann (*1927), Die unsichtbare Religion (1967)

      • Ich empfinde sehr stark eine Spannung zwischen Religion (faktische Weltanschauungen und Praktiken religiöser Menschen) und Glaube (im Sinne der theologisch verantwortbaren Inhalte und Praktiken) – im Christentum ist sie sehr greifbar, weil die Theologie vergleichsweise frei agieren kann. Vermutlich würde ich mich mit Ihnen viel leichter über vieles verständigen können als mit so manchen Mitchristen.

        Ich hoffe einfach, dass die Religion durch gute Theologie zur Vernunft kommt bzw. auch wieder zur Vernunft gebracht werden wird. Das ist aber ein mühsamer Prozess – und vor allem im Hinblick auf den Islam ist zu sagen, dass es auch ein äußerst schmerzlicher Prozess sein wird.

        Ich ahne, was Sie mit Ihrer Bemerkung zu den von mir erwähnten philosophischen Implikationen des christlichen Glaubens – Wahrheit, Wirklichkeit, Vernunft – meinen könnten. In der Tat bin ich vom konstruktivistischen Virus nicht infiziert und schwimme diesbezüglich gerne gegen den Strom. Insbesondere das wenige, was ich von Thomas von Aquin und auch Duns Scotus verstehe, halte ich für wesentlich differenzierter und substanzieller als das, was ich von der Philosophie des 20 Jahrhunderts so mitbekomme. Ich sage dies insbesondere im Hinblick auf mein Interesse an Naturwissenschaft und Hirnforschung.

        Dass im Zusammenhang mit Religion/Glaube auch eine existenzielle, d.h. u.a. auch eine affektive Seite angesprochen ist, halte ich nicht für einen Nachteil. Sie hätten wenigstens anmerken können, dass meine Predigt erstaunlich nüchtern ausgefallen ist.

        • Es ist kein Geheimnis, dass die christliche Religion viel historischen und weltlichen Ballast mit sich schleppt, der mit Spiritualität und Transzendenz, mit dem Wesenskern religiösen Glaubens, nichts zu tun hat. Die Erzdiözese Köln hat ein Milliardenvermögen angehäuft, wie jetzt bekannt wird. Das ist die eine Sache, eine andere sind die angeblichen Wunder und Erscheinungen, die ich in meiner kath. Kindheit noch erzählt bekam. All diese Dinge haben mit religiöser Wahrheitssuche nichts zu tun, lenken vom Wesentlichen ab und gehören längst abgeschafft. Die Kirchen haben aber offenbar Angst, damit auch ihre Existenzberechtigung zu verlieren. Es ist in der Tat oftmals schwierig, mit überzeugten Gläubigen sinnvoll zu diskutieren, weil sie dogmatisch an Überlieferungen und Traditionen hängen und nicht den Glauben, sondern die Religion und ihre vermeintlich gesellschaftliche und soziale Rolle verteidigen.

          Die Naturwissenschaft lässt genügend Freiraum für metaphysische Spekulationen, um die Bedürfnisse des Menschen nach Lebenssinn, Geborgenheit oder Wohlgefühl zu befriedigen. Es ist die Ironie der Wissenschaft, dass die Materie in der Physik immer mehr aufgelöst oder immaterialisiert wird, während Psyche und Geist, oder Seele, immer mehr materialisiert wird, angefangen bei der Materialisierung des Lebens selbst mittels der Genetik bis zur Neurophysiologie und Psychosomatik. Elektronen sind so abstrakte Gebilde wie Gedanken im Nervensystem.

          Die meisten Menschen haben auf Grund des Bewusstseins ein Bedürfnis nach Lebenssinn, nach Beachtung und Bedeutung in der Gesellschaft, nach Kreativität, nach Erkenntnis, über die biologischen, sozialen und ästhetischen Bedürfnisse hinaus. Ich glaube aber nicht, dass es dabei wirklich um die Suche nach Wahrheit geht. Wie in der Fabel vom Fuchs und den Trauben geben sich die Menschen auch mit weniger zufrieden, wenn sie das eigentliche Ziel nicht erreichen können. Ich persönlich brauche diese Wahrheitssuche nicht, weil ich überzeugt bin, dass es die Wahrheit ohnehin nicht gibt und weil übernatürliche Annahmen unnötig und unbegründet sind. Die Wissenschaft und die Philosophie heute sind überzeugender – und faszinierender und befriedigender. Aber es fällt schwer, sich von anerzogenen Glaubensinhalten zu lösen, denn man will sich selbst ungern eingestehen, dass man sich hat täuschen lassen. Dem Psychologen dürfte das nicht unbekannt sein.

      • Ist das hier Ihre Seite: http://www.system-kybernetik.de/ ? Zitat: “Die Wirklichkeit ist die Vorstellung von der Wirklichkeit” – ui ui ui, das ist epistemologisch-methodisch aber sehr nahe am Vorgehen der Ultrareligiösen: Wenn ich mir was denke, dann ist das auch schon wahr und dann ist die Wirklichkeit so, wie ich sie mir vorstelle. — Ich mache eine ganz andere Erfahrung, mit meinem Leben und mit meinem Denken. Wie sollte Konstruktivsmus Wissenschaft als die Kunst der Unterscheidung von zutreffenden und nicht zutreffenden Vorstellungen motivieren können?

        Nach der Wirklichkeit selbst sehnen wir uns – keinesfalls haben wir sie in unserer Vorstellung schon erfasst und begriffen, das ist grundfalsch.

        Der christliche Glaube gibt keine Antwort; genau genommen ist er eine Art und Weise, mit unausweichlichen Fragen zu leben. Es ist schade, dass das hinter Kirchenskandalen und religiösem Barock von den Vernünftigeren heute kaum mehr erkannt werden kann, sodass sie sich zurecht abwenden.

        • Richtig, es ist meine Seite. Es wäre jedoch grundfalsch, die Wirklichkeit mit Willkürlichkeit zu verwechseln. Der Konstruktivismus ist eine gut begründete und heute eine anerkannte Strömung der Philosophie und Erkenntnistheorie, außerdem alltägliche, unbewusste Praxis. Wie das in der Philosophie so ist, gibt es viele Nuancen davon, von Realismus bis Idealismus. Selbstverständlich gibt es auch Überlappungen mit der Psychologie, insbesondere der Gestalt- und der Wahrnehmungspsychologie. Im Mittelpunkt steht die Selbstreferentialität oder die “operationale Abgeschlossenheit” des Gehirns. Als Neuropsychologe dürfte Ihnen das bekannt sein.

          Was das mit Ultrareligiösen zu haben soll, ist mir allerdings ein Rätsel. Ganz im Gegenteil geht es um die Naturalisierung oder Entmystifizierung des menschlichen Geistes, was doch auch die Psychologie anstrebt. Die spekulative Spiritualität und Religiosität ist gerade der Gegenpol dazu. Deshalb bleibt es mir auch ein Rätsel, wie man als Psychologe oder Naturwissenschaftler noch einer naiven Religiosität anhängen kann. Damit will ich nicht die philosophische Spiritualität oder Religiosität diskreditieren. Auch dafür gibt es gute Gründe. Annahmen, Fiktionen und Mythen sind unerlässlich für die Bewältigung des Lebens, siehe die “Philosophie des Als-ob” von Hans Vaihinger.

          • Ich bin anderer Meinung.

            Epistomologisch ist der Konstruktivismus eine Trivialität: dass unser Wissen Konstrukt ist – geschenkt.

            Aber ontologisch (“Wirklichkeit ist nichts anderes als Vorstellung”) ist der Konstruktivismus falsch. Denn unsere Vorstellungen können erstaunlicherweise eben doch darauf zielen (zielen!), wie die Dinge wirklich sind – Vorstellungen sind semantisch offen, sie folgen eben nicht nur – wie ein Rechner – internen logisch-syntaktischen Regeln, sondern sie müssen sich an der Wirklichkeit bemessen lassen. Wir sind erstaunlicherweise nicht in einem Solipsismus innerneuronaler Prozesse gefangen, sondern mit diesen Gehirnen wahrheits- und wirklichkeitsfähig. In den Wissenschaften legen wir uns nicht nur passende Vorstellungen zurecht, sondern wir können uns den Tatsachen annähern, heraus finden, wie die Dinge wirklich sind (und wie sie wirklich waren weit über die Zeit hinaus, seitdem es überhaupt menschliches Bewusstsein in diesem Kosmos gibt).

            Umgekehrt ist die Wirklichkeit erkenntnisfähig: Naturgesetze, mathematische Beschreibbarkeit physischer Vorgänge, quantenmechanische stochastische Vorhersagen usw.

            Es gibt also eine SPANNUNG zwischen Denken und Sein, zwischen Wissen und Wirklichkeit, die uns im Bewusstsein der Unvollständigkeit und Irrtumsanfälligkeit unseres Denkens auch schmerzlich bewusst ist – aber diese Spannung fade aufzulösen (“Wirklichkeit ist nichts anderes als die Vorstellung davon”) wäre grundfalsch und das Ende ernst gemeinter Naturwissenschaft. (Für die Sozialwissenschaften, die sich mit sozialen “Konstrukten” beschäftigen – Institutionen usw. – mag dies anders aussehen.)

            Dass wir in der Relativitätstheorie und in der Quantenphysik sogar unseren aus dem Alltag gewonnenen Realitätsbegriff und dessen Implikationen in Bezug auf Raum und Zeit usw. überwinden konnten, um genauer zu verstehen, wie die Dinge wirklich sind, belegt noch einmal meine realistische Position. Natürlich will heute jeder Naturwissenschaftler hipp sein und behauptet Naturalist und Konstruktivist zu sein. Wenn er dann am Mikroskop oder Teleskop steht oder seine Paper schreibt, ist er aber Realist und er ist sich der Grenzen seiner Erkenntnis wohl bewusst – d.h. er strebt nach Wahrheit und er weiß, dass sein Denken in einer unlösbaren Spannung zum Sein steht, dass sein Wissen die Wirklichkeit nicht erfasst. Insofern er weiß, dass er sich Wirklichkeit nicht ausdenkt, sondern diese als widerständig und gegeben erfährt, denkt er implizit sogar genau das, was sich in den theistischen Theologien als Schöpfung artikuliert.

            Das Bewusstsein einer bleibenden Differenz zwischen vermeintlichem Wissen und der Wirklichkeit, die dieses Wissen zu erkennen beansprucht, ist die Basis von Respekt und Toleranz für Andersdenkende sowie Antrieb für Wissenschaft und Wahrheitssuche – nicht die relativistische Ineinssetzung jedweden vermeintlichen Wissens mit der vermeintlich gewussten Wirklichkeit.

            Letztlich ereignet sich in exakt dieser unauflöslichen Differenz von Denken und Sein, von Vorstellungen und Wirklichkeit die Existenz einer menschlichen Person.

        • „Die Wirklichkeit ist immer eine Vorstellung von der Wirklichkeit“.
          Das liegt sehr nahe an einer alten christlichen Theologie, der sogenannten „negativen Theologie“, die leider mit dem durch die Inquisition verurteilten Meister Eckhart im Mittelalter ihr Ende gefunden hat.
          Eckhart kennt zwei Gottesbegriffe: Den Gott der Vorstellung und die wesenhafte Gottheit als Einheit allen Seins. Die einheitliche Gottheit liegt jenseits der weltlichen Grundkategorien von Sein, Zeit und Raum: „Was Sein hat, Zeit oder Statt, das rührt nicht an Gott, er ist darüber“. Das göttliche Jenseits der negativen Theologie kann nicht in einer Vorstellung erfasst werden, bzw. die Vorstellung davon ist nicht dieses Jenseitige, Absolute. Die Strukturen von Welt und Jenseits sind so strikt getrennt, dass wir nicht einmal wissen, ob es dieses Jenseitige überhaupt gibt, geschweige denn, dass „wir“ als weltliches Sein dort ein gottgleiches ewiges Sein erlangen. Dieser Urtraum des Menschen ist in dieser Theologie pure Anmaßung und Blasphemie.

          Diese Theologie ist insofern vernünftig, da sie mit einem Schlag sämtliche Widersprüche zwischen und in den Religionen aufhebt. Denn über etwas, das man sich nicht vorstellen kann, kann man sich auch nicht streiten, es geht einfach nicht, und man kommt dabei auch nicht auf die Idee, als weltliche Person einmal göttliche Eigenschaften wie die der Unsterblichkeit zu erlangen. Und ich bin auch der Überzeugung, dass diese Theologie nicht nur die Widersprüche zur aufgeklärten Philosophie und zur modernen Naturwissenschaft überwindet, sondern der Naturwissenschaft mit ihrem nur noch “hypothetischen Realismus” sogar aus dieser Sackgasse helfen kann.
          Daher ist das eine Theologie, die durch und durch vernünftig ist und die nicht in einem Widerspruch zu objektiven Wahrheiten steht. Sie hat eben nur den Nachteil, dass sie dem Menschen die Hoffnung auf die Vergöttlichung seiner Person und Kreatur nimmt.

          • Lieber Herr Ehlert, ich habe Ihre Beiträge mit Interesse verfolgt und bin mit den allermeisten Aussagen einverstanden. Ihre Vorstellung von Theologie, sofern man sie überhaupt noch als Theologie bezeichnen will, kann ich voll akzeptieren, auch wenn ich für mich selber damit nichts anfangen kann. Die Welt wäre sehr wahrscheinlich um vieles toleranter und friedlicher, wenn sich eine solche, sagen wir Metaphysik oder Philosophie, gegen die existierenden Religionen durchsetzen würde.

            Die Wissenschaftsphilosophie hat sich längst von positivistischen Anschauungen gelöst, sei es die Phänomenologie, die analytische Philosophie, der kritische Rationalismus oder der antirealistische Konstruktivismus. Wie sehr sich die Physik vom mechanistischen Materialismus gelöst hat, ist auch bekannt. Allerdings gibt es noch immer auch dogmatische Naturwissenschaftler, an denen jede Philosophie vorbeigegangen ist.

            Der Mensch kann weder sein Wahrnehmungs- noch Erkenntnisvermögen überschreiten, da er in diesem Universum mit seinen Phänomenen eingeschlossen bleibt. Die Phantasie kann zwar diese Grenzen überschreiten, aber nicht die Grenzen der Sprache und des Vorstellungsvermögens. Die Götter behalten daher Eigenschaften der menschlichen Vorstellung, bzw. die Negation oder Projektionen davon.

          • Die Wirklichkeit ist immer eine Vorstellung von der Wirklichkeit.

            Jedes Wort, das jemals ausgesprochen und verstanden worden ist, transportiert Ideen oder Vorstellungen, wobei eine Art Konsens über die Bedeutung unter den sich derart Austauschenden vorzuliegen hat, damit dieser Austausch, lol, wirken kann.
            Insofern scheinen Aussagen wie die zitierte sozusagen immer richtig.

            Die Wirklichkeit gilt als Ausschnitt der Welt, der wirkt.
            Besonders populär ist demzufolge dieser Begriff nicht geworden, denn die Wahl des Ausschnitts wirkt nicht stabil.
            Insofern ist die Wirklichkeit auch ein eher deutsches Spezifikum geblieben.

            MFG
            Dr. W (der nichts dagegen hat bevorzugt die Welt bearbeitet zu sehen)

          • Anton Reutlinger: „Der Mensch kann weder sein Wahrnehmungs- noch Erkenntnisvermögen überschreiten, da er in diesem Universum mit seinen Phänomenen eingeschlossen bleibt.“
            Ja, aber das muss erst einmal allgemein erkannt werden. Zudem liegt vielleicht darin ein Weiterkommen, indem der Mensch seinen Blick vom Außen (Universum, Quanten, Gott usw.) ins Innere wendet, indem er danach fragt, wie überhaupt das entstanden und beschaffen ist, mit dem er erkennt.
            Dazu bietet die Evolutionstheorie noch viel Potential. Und das ist dann nicht nur eine Spielerei, sondern zur Lösung aktueller und kommender Probleme der menschlichen Evolution wohl unabdingbar. Auch wenn die Welt und unser Sein darin nur relativ und konstruiert ist und wir darin eingeschlossen sind, für „uns“ wirkt die Welt schon, ist sie Wirklichkeit, wie es der Webbär bemerkte.
            Und vielleicht ergibt sich ja im Zuge dieser weiteren Evolution eine Möglichkeit, mit einer hinter dieser Welt stehenden Wirklichkeit umzugehen.

  8. @Dr.Webbaer “Insofern scheinen Aussagen wie die zitierte sozusagen immer richtig.”

    Wenn die gewählten Begriffe nicht präzise spezifiziert sind, dann scheinen solche Aussagen immer richtig zu sein, weil jeder Rezipient sie nach persönlicher Ansicht deuten kann. Das trifft auf alle Begriffe zu, die abstrakte, rein gedankliche Objekte benennen, besonders auch auf Begriffe der Theologie und der Metaphysik. Deshalb gibt es so viele unterschiedliche Erscheinungsformen von Konfessionen und die Geschichte der Theologie ist nichts anderes als fortgesetzte Hermeneutik oder Kampf um Worte, oft genug Worte ohne wirklichen oder wirksamen Sinn. Nicht selten wurden Kriege um Wörter geführt: Krieg ist Kommunikation mit anderen Mitteln (siehe Ukraine).

    Dazu ein nettes Zitat von A.B. Johnson (1786-1867), Sprachphilosoph:
    “Zwei Menschen, die einer und derselben allgemeinen Aussage zustimmen, können sehr verschiedene Meinungen haben.”

    • @ Herr Reutlinger :
      Scheint alles zustimmungsfähig zu sein, was Sie zuletzt geschrieben haben, nicht schlecht auch das mit dem ‘Krieg um Worte’ (dem der Schreiber dieser Zeilen durch die Heranziehung der Etymologie recht gut ausweichen konnte, gerade was Wortschöpfungen betrifft, die er dem neomarxistischen Bereich zuordnet), ‘nie enden währender Diskurs’ wäre aber seine Feststellung oder Forderung die Sprache betreffend, äh, weiter oben ging es aber primär um die Wirklichkeit, die der Webbaer nicht gut findet und dies auch gelegentlich sprachlich zum Ausdruck bringt.
      Konzeptuell scheint es ihm hier ganz mau auszusehen,
      MFG
      Dr. W

  9. “Die Wirklichkeit ist die Vorstellung von der Wirklichkeit”

    Der Satz ist paradox formuliert, lässt sich logisch nicht auflösen und deswegen vielfältig interpretieren. Warum nicht einfach “Die Wirklichkeit ist eine Vorstellung.”

    • Abär eine Vorstellung von ‘Wirklichkeit’, scheinbar vorhandene Paradoxie kann sich durch das “Denken in Schichten” (auch: “Metaphorik”) weggedacht werden.
      Insofern sind u.a. auch die feinen Unterscheidungen zwischen bspw. ‘anscheinend’ und ‘scheinbar’ und zwischen ‘Wörter’ und ‘Worte’ (s.o.) bearbeitbar.

    • Weil der paradoxe Satz ausdrückt, dass es (wohl) eine eigentliche Wirklichkeit gibt, die wir allerdings nicht erkennen können. Die Vorstellung, in der wir Wirklichkeit erkennen, ist nicht die eigentliche Wirklichkeit, die können wir grundsätzlich nicht erkennen.

  10. @Christian Hoppe: “Epistomologisch ist der Konstruktivismus eine Trivialität: dass unser Wissen Konstrukt ist – geschenkt.”.

    Wir sind nicht so weit voneinander entfernt, wie es scheint. Die Außenwelt wird in der Innenwelt des Bewusstseins als Vorstellung der Wirklichkeit repräsentiert und es gibt eine Differenz zwischen Realität und Vorstellung. Diese Differenz ist aber nicht willkürlich, sondern folgt den Regelmäßigkeiten, die sich im Verlauf der Phylogenese und der Ontogenese herausgebildet haben. Darin liegt die Begründung für die evolutionäre Erkenntnistheorie. Dass die Differenz überhaupt existiert, ist wiederum eine Begründung für Toleranz gegenüber unterschiedlichen Auffassungen von Wirklichkeit. Die erwähnten Regelmäßigkeiten, beispielsweise in der Gestaltpsychologie, sind eben nicht absolut oder nomologisch, sondern beinhalten Vieldeutigkeiten, Irrtumsmöglichkeiten, Deutungsmöglichkeiten. Das sagen gerade auch die Konstruktivisten.

    Der Konstruktivismus ist keinesfalls mit dem Solipsismus oder einem strikten Idealismus zu verwechseln. Ein Irrtum ist es aber Ihrerseits zu glauben, die Wissenschaft könnte sich der Wahrheit oder einer fiktionalen Realität annähern oder sie gar erkennen. Wie kann man sich einer Wahrheit annähern, wenn man sie nicht kennt und wenn sie prinzipiell nicht erreichbar ist. Die Wissenschaft macht Fortschritte, indem sie sich einer “empirischen Äquivalenz” annähert, d.h. indem ihre Erkenntnisse durch Prognosen und Beobachtungen immer zuverlässiger bestätigt werden. Aber die Theorien gründen auf Beobachtungen und werden durch Beobachtungen bestätigt oder verworfen. Das ist ein ewiger Zirkel (Münchausen-Trilemma). Der einzige Ausweg ist ein dichtes Netzwerk zusammenhängender Theorien, die sich gegenseitig prüfen und stützen (Kohärentismus).

    Die Differenz zwischen dem Sein und dem Erkennen bedeutet, dass niemand die Wahrheit für sich beanspruchen kann. Damit ist diese Differenz die Begründung für einen Pluralismus von Meinungen und Ansichten über die Wirklichkeit, aber nicht für unwissenschaftliche Willkür oder beliebigen Relativismus. Damit ist sie auch Begründung für die Verantwortlichkeit zur Erzeugung von Wirklichkeit, weil sie damit ein Erzeugnis unseres Erkenntnisvermögens, unserer Bildung, unseres Willens, unserer Interessen ist. Wie vielgestaltig und unterschiedlich diese Wirklichkeiten sind, das zeigt sich alltäglich und ganz konkret in den öffentlichen Medien, aktuell z.B. zum Krieg in der Ukraine.

    • Danke, @Anton Reutlinger, so kann ich Ihnen weitgehend zustimmen. Ihre philosophische Position wäre aber meines Erachtens ein epistemologischer Konstruktivismus und ontologischer Realismus (Nichtbeliebigkeit). Erkennen hat sich eben an Beobachtungen VON ETWAS zu orientieren und zu bemessen – wobei Sie Recht haben, dass wir nie unverstellt durch unser Wissen oder unsere Vorstellungen ETWAS beobachten können. Ich meine aber dennoch, dass die Physik z.B. eine Theorie über die physische Wirklichkeit ist – und nicht nur ein innerpsychologisches (oder innerneuronales) Sprachspiel. Die Physik ist Produkt unseres Denkens, aber nicht die physische Welt/Wirklichkeit die sie approximativ zu beschreiben versucht.

      • Ich meine aber dennoch, dass die Physik z.B. eine Theorie über die physische Wirklichkeit ist – und nicht nur ein innerpsychologisches (oder innerneuronales) Sprachspiel.

        Gemeint: Die Natur- oder Physiklehre.

        MFG
        Dr. W (den es schon bei dieser einfachen Unterscheidungsfindung abstößt, wenn dann noch über eine Wirklichkeit gegrummelt wird…)

  11. @all

    Wir sind mit der Diskussion hier m.E. nicht off-topic gelandet. Konstruktivismus hin oder her – es besteht wohl Einigkeit, dass wir uns einerseits alles Mögliche vorstellen und – in den Grenzen des miteinander Vereinbarten und für niemanden gegen seinen Willen Schädlichen – auch ausagieren dürfen. Dass es andererseits aber auch hanebüchene Vorstellungen gibt, wo es ein Wahnsinn wäre, diese für real zu halten – irgendwo hier läuft ja wohl auch die Grenze zu Halluzination und Psychose.

    Würde z.B. irgendjemand auf die Idee kommen, aus dem “Herr der Ringe”- oder dem “Harry-Potter”-Stoff eine Art “Religion” zu machen im Sinne eines ohne Unterscheidung voll ins Alltagsleben integrierten Fan-Kultes, dann wäre das möglicherweise skurril, könnte uns aber so lange relativ egal sein, wie z.B. keine Gesetze gebrochen werden. Oder?

    Mir scheint kaum vorstellbar, dass so eine Handlungswirksamkeit bestimmter Vorstellungen erreicht werden könnte, wenn nicht an die Wirklichkeit der entsprechenden handlungsleitenden Vorstellungen geglaubt würde. Was Außenstehenden wie Fantasy anmutet, ist für die Anhänger der neuen Religion die Wahrheit, ihre Vorstellungen beschreiben die Wirklichkeit. Insofern Außenstehende dies nicht erkennen, könnte die übliche Alltagsrealität sogar als Hindernis verstanden werden, die wirkliche Wirklichkeit zu erkennen (alle Religionen äußern sich arrogant in diese Richtung). Jedenfalls werden sie es nicht dulden, dass man den ihnen wichtigen Vorstellungen die Wirklichkeit abspricht, dass man das für bloße Fantasy erklärt.

    Mir scheint nun ferner kaum vorstellbar, dass Menschen, die bestimmte Vorstellungen für die Realität halten, den öffentlichen Raum meiden und das ganze im Privaten abhandeln werden. Wenn schon der normale Fantasy-Fan-Kult bei entsprechenden Gelegenheiten in die Öffentlichkeit drängt – wie sehr dann erst die für Wahrheit genommene Fantasy-Religion? Religion sei doch bitteschön Privatsache – das ist eine immer wieder gehörte, angesichts religiös inszenierter oder motivierter Konflikte auch irgendwie attraktive, aber praktisch gesehen völlig absurde Forderung. Denn eine Religion, die sich ins Private abdrängen ließe, hätte schon lange aufgehört, an sich selbst zu glauben … sie wäre gesellschaftlich ohnehin schon nicht mehr relevant.

    Meine Fragen:

    (1) Welche Methoden der Wirklichkeitsprüfung wollen wir verbindlich machen, um nicht unseren eigenen Hirngespinsten psychotisch ausgeliefert zu sein? Wie ziehen wir im gesellschaftlichen Diskurs die Grenze zwischen Wahrnehmung (Wirklichkeit) und Vorstellung (Fantasie)? Wie einigen wir uns darüber, wenn als Toleranzmethode NICHT funktioniert, bestimmte Vorstellungen in das Reich der privaten Fantasie abdrängen zu wollen?

    (2) Wie weit akzeptieren wir im öffentlichen Raum das Ausleben bestimmter Fantasien, wenn dieses zwar keinen Gesetzen, aber unseren sonstigen Lebensgewohnheiten deutlich zuwider läuft? Natürlich meine ich hier insbesondere religiös motivierte Kleidungsstile. Ab und zu ein Franziskanerpater, ab und zu ein Mittelalter-Freak, ab und zu eine komplett zugehangene Frau – das akzeptieren wir vielleicht; aber wo verläuft die Grenze? Darf uns das ab einem bestimmten Punkt stören?

    (3) Ist es ethisch gerechtfertigt, dass meine Toleranz für gelebtes Spinnertum mich umgekehrt berechtigt, Toleranz dafür zu erwarten, dass ich die entsprechenden Leute bei entsprechender Gelegenheit auch “Spinner” nennen darf?

    • Zudem: Wie können Dinge wie ritueller Kindesmissbrauch je privat sein. Solche Dinge kommen in Privatreligionen und konstruierten Welten (ich mach wir die Welt wie ich sie gerne hätte ) ja alle vor. Scheinbar gibt es aber eine gesellschafliche Realität die mit solchen Konstruktivismen unvereinbar ist.
      Noch zur Frage: “Wie weit akzeptieren wir im öffentlichen Raum das Ausleben bestimmter Fantasien, wenn dieses zwar keinen Gesetzen, aber unseren sonstigen Lebensgewohnheiten deutlich zuwider läuft?”

      Die Fantasie muss sich extrem anstrengen um einereits möglichst verrückte Dinge, die das Zusammenleben der Menschen verändern, zu ermöglichen andererseits innerhalb der Gesetze zu blebein. Nur schon das zeigt, dass die gesellschaftliche Realität gewinnt.
      Es könnte natürlich sein, dass die äussere Gesellschaft selber ein perverser Verein, ein perverses Konstrukt ist und die Fantasie das Gegenteil, also das Richtige wil.

    • Es hieße Eulen nach Athen zu tragen, wollte man einem Neuropsychologen die Wahrnehmungs- und Gestaltpsychologie erklären. Schon Descartes hat darüber geschrieben und aus diesem Skeptizismus gegenüber den Sinnesvermögen den Rationalismus abgeleitet. Es gibt hundert Beispiele für verzerrte Wahrnehmung, für Täuschungen und Irrtümer. Auch Zeugenaussagen vor Gericht zeigen immer wieder die Verschiedenheit von Wahrnehmung und Erkenntnis des weltllichen Geschehens. Man muss also nicht Philosoph sein, um die Relativität, die Abhängigkeit der wahrgenommenen Wirklichkeit vom subjektiven Bewusstsein zu verstehen. Daraus ergibt sich notwendig ein Pluralismus möglicher Wirklichkeiten.

      Ein ähnliches, aber doch anders gelagertes Thema sind die sogenannten “Unobservables” der Naturwissenschaft, oder die mathematischen Konstrukte, seien es die atomaren und subatomaren Teilchen oder die Schwarzen Löcher oder Dunkle Materie. Dass die Sinnesvermögen des Menschen sehr begrenzt sind, ist ebenfalls bekannt, im Vergleich zur Tierwelt beispielsweise. All das sollte zu größter Skepsis mahnen gegenüber mündlichen oder schriftlichen Überlieferungen.

      Selbstverständlich kann man nicht verlangen, dass Meinungen, Überzeugungen, Weltanschauungen oder Glaubensinhalte absolut privat gehalten werden. Jürgen Habermas hat, wenn ich mich nicht irre, einen vernünftigen Vorschlag gemacht, hinsichtlich des halböffentlichen Raumes. Es muss auf der andern Seite nicht sein, dass Kruzifixe an jeder Straßenecke stehen, meist mit möglichst grausamen Darstellungen. Ich kann mir nicht helfen, aber ich assoziiere diese Darstellungen mit den Enthauptungsvideos des IS. Die Religiösen sollten sich darüber mal gründlich Gedanken machen. Nicht jede Tradition ist erhaltenswert, oder ist gar Kunst!

      • Man muss also nicht Philosoph sein, um die Relativität, die Abhängigkeit der wahrgenommenen Wirklichkeit vom subjektiven Bewusstsein zu verstehen. Daraus ergibt sich notwendig ein Pluralismus möglicher Wirklichkeiten.

        Genau so ergeben sich subjektgebunden bis intersubjektiv ‘Wirklichkeiten’, korrekt. Auf derartige Begriffsschöpfung könnte dadurch verzichtet werden, indem Wirklichkeiten unbearbeitet bleiben, naturwissenschaftlich, gesellschaftspsychologisch und so bleiben diese natürlich zu beachten.

        MFG
        Dr. W (der das mit der o.g. Relativität bemerkt hat, Erkenntnis, um diese könnte es, versus Wissen, hier gehen, ist in “n:m”-Beziehungen zwischen Subjekten und Sachen wie Sachverhalt beschreibbar, muss sie auch sein)

        • Mir ist zwar nicht klar, was Sie aussagen wollen, jedenfalls haben die möglichen Wirklichkeiten einen Rückkopplungseffekt, indem die Menschen auf ihre umgebende Wirklichkeit (oder ihre einwirkende Umgebung) reagieren, also mit der subjektiven Wirklichkeit/Umgebung/Lebenswelt interagieren, auf sie zurückwirken und damit diese Wirklichkeit wiederum verändern. Das sind alltägliche Erfahrungen. Wie schon Bernd Ehlert erwähnte, sollen die Methoden und Kriterien der objektiven Wissenschaft gewährleisten, die Wirklichkeit möglichst zuverlässig zu erkennen und lebensbedrohende Irrtümer zu vermeiden. Aber auch sie können keine Garantie für Wahrheit liefern, sondern verringern oder beseitigen Unwissen durch kausale Erklärungen.

          • @ Herr Reutlinger :
            Der Ehlertsche Mops sozusagen bestand darin, dass etwas ausgeschlossen worden ist, ‘a posteriore’, ansonsten wäre es schon gut, wenn zwischen Sicht auf die Welt, also allgemein auf das sich Entwickelnde & Geschehende, unterschieden werden könnte.
            Wenn verstanden werden könnte.

            Es gibt bspw. Wirklichkeiten, Realitäten, Uni- und Multiversen, die physikalisch-mathematische Sicht meinend, Theozentrismus, Biozentrismus und beliebig anderes.

            MFG + GN
            Dr. W

      • In Christian Hoppes Kommentar geht es wohl weniger um Sinnestäuschung als vielmehr um Interpretation des Wahrgenommenen. Wer Angst hat vor schwarzen Katzen, die über den Weg laufen hat ja keine Sinnestäuschung.
        Relgionen, Sektierertum, Kautze mit seltsamen Ansichten, Gruppen mit obskuren Kulten nehmen die Welt nicht grunsätzlich anders wahr, sie interpretieren sie nur anders.

        Sinnestäuschungen, falsche Erninnerungen spielen zwar auch eine Rolle, doch nicht selten werden falsche oder ungenaue Erinnerungen bewusst ausgeschmückt um ihnen den gewünschten SInn zu geben. Menschen wollen ja nicht nur etwas wahrnehmen sondern sie wollen dem Wahrgenommen vor allem einen Sinn geben, selbst dann wenn sie sich gar nicht so sicher sind was sie Wahrgenommen haben.

        • Schon klar, aber die Wahrnehmungs- und Gestaltpsychologie beschäftigen sich keineswegs nur mit Sinnestäuschungen. Das kann Herr Hoppe sicher bestätigen, ich nenne nur die sogenannten Gestaltswitches oder Kippbilder. Ich meinte alle Formen kognitiver Täuschungen, Irrtümer, Fehldeutungen, aber auch unterschiedliche Erfahrungen, die zu unterschiedlichen Deutungen und Weltbildern führen und dadurch einen Wirkungskreis bilden. Auch psychische oder neurologische Schädigungen gehören als Sonderfälle dazu, man denke an Schizophrenie oder Traumata. Ein extremes Beispiel sind die jungen Menschen, die sich jetzt dem IS anschließen, weil sie die Wirklichkeit so deuten, wie sie es offenbar tun, für “normale” Menschen völlig unverständlich. Gerade die extremen Fälle machen klar, dass es keine normierte oder normale Wirklichkeit gibt. Daraus erwächst notwendig die Forderung nach Toleranz, die jedoch auch ihre Grenzen haben muss.

    • Zu Punkt 1: Die moderne Naturwissenschaft hat diese Frage eindeutig beantwortet, und zwar derart, dass sie selbst mit ihrer Methode die Antwort auf diese Frage ist. Konkret gesagt: Die Naturwissenschaft ist dadurch zur modernen Naturwissenschaft geworden, indem sie das Übernatürliche als Erklärung oder Methode radikal verbannt hat.

      Der Biologe Eward O. Wilson schreibt etwa darüber und über die Rolle der Religion in der Evolution:
      „Der Schöpfungsmythos ist ein darwinscher Überlebensfaktor. Stammeskonflikte, bei denen die gläubigen Insider es gegen die Ungläubigen von außen aufnahmen, waren eine wesentliche Antriebskraft in der Ausformung der biologischen Natur des Menschen. Die Wahrheit jedes Mythos wohnte im Herzen der Menschen, nicht in der rationalen Vernunft. Aus sich selbst heraus konnte der Mythos Ursprung und Sinn der Menschheit niemals offenlegen. Umgekehrt aber funktioniert es: Die Offenlegung von Ursprung und Sinn der Menschheit kann womöglich Ursprung und Sinn der Mythen erklären und damit den Kern der organisierten Religion.
      Lassen sich diese beiden Weltsichten irgendwie vereinbaren? Um es ehrlich und einfach zu sagen: Nein. Sie lassen sich nicht vereinbaren. Ihr Gegensatz definiert den Unterschied zwischen Wissenschaft und Religion, zwischen empirischer Arbeit und Glaube an das Übernatürliche.“

      • Die Naturwissenschaft ist dadurch zur modernen Naturwissenschaft geworden, indem sie das Übernatürliche als Erklärung oder Methode radikal verbannt hat.

        Wobei bestimmte Effekte, im Rahmen der RT, des Welle-Teilchen-Dualismus und der sogenannten Verschränkung bedarfsweise einzuarbeiten waren, die zuvor vielleicht als ‘übernatürlich’ verstanden werden konnten.

        Dr. W

    • Nur hierzu etwas:

      Welche Methoden der Wirklichkeitsprüfung wollen wir verbindlich machen, um nicht unseren eigenen Hirngespinsten psychotisch ausgeliefert zu sein?

      Es geht um die Überprüfung von Sichten auf Datenlagen, Datenlagen werden näherungsweise, ausschnittsartig und an Primateninteressen gebunden erfasst, in etwa so, wie die sich oft anschließende Theoretisierung ebenfalls erfolgt: näherungsweise, ausschnittsartig und an Interessen gebunden.

      Nur ein Fehler darf nicht gemacht werden, es darf nicht esoterisch werden, es muss exoterisch bleiben, das Bemühen um Erkenntnis.

      MFG
      Dr. W (der sich natürlich darüber bewusst ist, dass das Mitnehmen der Menge und ihrer Kompetitivität und Intelliegenz [1] vglw. neu ist, dies abär als entscheidend betrachtet)

      [1] was immer hier auch genau gemeint ist, der Hochbegabtenfroschung steht der Schreiber dieser Zeilen skeptisch gegenüber, als Anti-Elit(ar)ist

  12. ” Welche Methoden der Wirklichkeitsprüfung wollen wir verbindlich machen, um nicht unseren eigenen Hirngespinsten psychotisch ausgeliefert zu sein?”

    Ich befürchte, dass es solche Methoden nicht gibt bzw. nicht als verbindlich anerkennt werden würden. Welcher Psychotiker kann sich selbst aus seinen Hirngespinsten befreien? In letzter Zeit habe ich zwei “Verrückte” kennengelernt.
    Einer, der sich problematisch benimmt und von den anderen ausgegrenzt und schikaniert sieht, was in seinem Horizont die Rechtfertigung für sein aggressives Verhalten darstellt. (Nein, ich denke jetzt nicht an Putin 🙂 )
    Ein anderer zeigt ebenfalls deutliche Verhaltensanomalien, liegt mit seinem Urteil krass daneben, offenbar ohne es erkennen zu können.

    Aber das wahre Problem ist nicht zu erkennen, ob jemand anders “spinnt”, sondern ob man selbst “spinnt”. Kann man dafür Fragebögen entwickeln?

    • Paul Stefan: „Aber das wahre Problem ist nicht zu erkennen, ob jemand anders “spinnt”, sondern ob man selbst “spinnt”. Kann man dafür Fragebögen entwickeln?“

      Ja natürlich, zumindest kann man einige zum Nachdenken anregende Fragen stellen:
      Wenn vor ca. 500 Jahren jemand gesagt hätte: „Die Sonne dreht sich gar nicht um die Erde, sondern es ist genau umgekehrt“, so wäre er wohl von allen Anderen als „Spinner“ bezeichnet worden. Man musste doch nur zum Himmel schauen und seinen Sinneswahrnehmungen trauen, um zu erkennen, dass es die Sonne ist, die sich um die Erde dreht. Wie sollte man so etwas anzweifeln? Genauso gut könnte man ja anzweifeln, dass die grünen Blätter der Bäume in Wahrheit gar nicht grün sind, oder dass die ganze von unseren Sinneswahrnehmungen erkannte Welt gar nicht wirklich, real und substanzhaft vorhanden ist. Das wäre doch alles vollkommen verrückt.

      Trotzdem wohl so gut wie alle Menschen sich vor 500 Jahren zu 100% sicher waren, dass das mit der Sonne, um die sich die Erde drehen soll, nicht stimmen kann, hat sich diese neue Idee letztlich durchgesetzt, auch wenn das über 200 Jahre gedauert hat. Heute ist das zur Selbstverständlichkeit geworden, und es wird heute jeder als Spinner ausgelacht, der nicht anerkennt, dass sich die Erde um die Sonne dreht (obwohl das ohne Weiteres keiner selbst nachprüfen kann oder auch nur den Umstand nennen kann, aufgrund dessen einige wenige Menschen auf die neue revolutionäre Idee gekommen sind).
      Diese Idee konnte sich nicht deswegen durchsetzen, weil einem Menschen einmal diese neue Idee gekommen ist und er dann allen anderen Menschen diese Idee so lange gepredigt hat, bis sie endlich auch daran glaubten, sondern sie konnte sich durchsetzen, weil bestimmte empirische Methoden mit dieser neuen Idee immer und immer wieder übereinstimmten.

      Nun gibt es aber auch den Placebo-Effekt. Manche Dinge geschehen tatsächlich, weil Menschen fest an sie glauben. So kann es sein, dass bei Hochleistungssportlern, bei denen Zehntel- oder gar Hunderstelsekunden über Sieg oder Niederlage entscheiden, auch die seelische Gemütslage ausschlaggebend sein kann. Wenn sie dann an irgendetwas fest glauben, etwa ein bestimmtes Kleidungsstück, das seit dem letzten Sieg nicht mehr gewaschen wurde oder an einen Talisman und dergleichen, so wirkt dieser Glaube tatsächlich, so abstrus er auch sein mag.
      In bestimmten Sekten kann dieser Glaube so stark sein, dass sie aus Glaubensgründen sich selbst und sogar ihren Kindern moderne medizinische Hilfe verweigern, obwohl sie dadurch vor dem Tod gerettet werden könnten. Was ist das, was hier im Menschen wirkt und Macht über den Menschen erlangt? Die Vernunft und das Denken kann es gerade nicht sein.

      Ein Aspekt der menschlichen Entwicklung, der heute mehr und mehr in den Vordergrund tritt, gehört auch zu diesen Betrachtungen und Fragen. Man kann über die Zukunft der Menschheit denken wie man will, eines dürfte aber unstrittig sein, nämlich dass der heutige Mensch mit seiner Technik die Möglichkeit dazu besitzt, die Lebensgrundlagen weitgehend zu zerstören oder nie da gewesene Katastrophen herbeizuführen, im Extremfall vielleicht sogar die Auslöschung der Menschheit.
      Dazu lässt sich die Frage stellen, was das für eine Bedeutung oder Konsequenz hätte. Wäre das einerseits der Supergau schlechthin, der einmal uns oder unsere Kinder oder Enkelkinder betrifft, oder wäre das andererseits der religiös schon lange angekündigte Weltuntergang, der das höchste Glück verkündet, nämlich den Beginn des göttlichen Reiches? Können wir jetzt also diesen Gefahren unserer Entwicklung mit dem entsprechenden Weltbild ganz gelassen entgegensehen, oder befinden wir uns hier in den Klauen einer Selbstmordsekte bzw. eines unter den heutigen Lebensbedingungen geradezu irren Weltbildes?

      Die große Fähigkeit des menschlichen Geistes liegt in der Antizipation von Entwicklungen und Situationen. Vernünftig wäre es auf jeden Fall angesichts der heutigen, in mehrfacher Hinsicht geradezu explosiven Entwicklungen in dem begrenzten Lebensraum der Erde, dass der Mensch seine Weltbilder und Ideen, nach denen er lebt, in dieser Hinsicht einmal kritisch hinterfragt. Das Leben seiner Kinder und Enkelkinder sollte dem Menschen diese Mühe zumindest wert sein.

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