Deutsch als Wissensschaftssprache – Ein Erfahrungsbericht aus der (evolutionären) Religionswissenschaft

BLOG: Natur des Glaubens

Evolutionsgeschichte der Religion(en)
Natur des Glaubens

Nach wieder begeisternden Erfahrungen als Lehrbeauftragter an der Universität Leipzig und einer heute erschienenen, erfreulichen Themenseite im österreichischen Wochenmagazin "Die Furche" ("Die Evolutionstheorie erklärt die Religiosität" von Thomas Mündle, pdf-Download hier) möchte ich bei aller Freude am Englischen auch mal einfach begründen: Es ist ein großes Glück, in Deutsch zu forschen!!! Warum?

1. Verborgene Schätze

Natürlich werden heute die meisten wissenschaftlichen Arbeiten in Englisch veröffentlicht. Wer aber zusätzlich eine andere Sprache spricht, hat Zugriff auf weitere Schätze. So waren viele Religionswissenschaftler Deutsche und schrieben ihre Originaltexte in Deutsch. Selbst die Arbeiten des Wirtschaftsnobelpreisträgers Friedrich August von Hayek wurden noch nicht komplett übersetzt – darunter auch nicht sein erster Vortrag zur evolutionären Religionstheorie von 1982.

Und selbst Texte, die übersetzt vorliegen, sind ganz anders präsent: Wenn ich Befunde zur sexuellen Selektion religiöser Merkmale vorstelle, brauche ich im Deutschen nur auf die Gretchenfrage im "Faust" von Johann Wolfgang von Goethe verweisen – und die Zuhörer wissen, worum es geht. Natürlich liegt Goethe komplett übersetzt auch im Englischen vor, aber die "Gretchen Question" ist den wenigsten bekannt.

2. Chancenreiche Nischen

In jedem Sprachraum setzen sich schnell wenige, dominante Diskurse mit wenigen Sprechern und Schreibern durch. Schnell droht die Gefahr von Verödung. In anderen Sprachräumen können sich dagegen auch alternative Ströme ihren Weg bahnen.

So wird im englischen Sprachraum die Diskussion der Evolution von Religiosität immer noch von lauten Fundamentalisten je religiösen und religionskritischen Hintergrunds dominiert, zwischen denen es ernsthafte Forscher nicht leicht haben. Im Deutschen gibt es polemische Stimmen zwar auch reichlich, aber dagegen u.a. theologische Fakultäten an den Universitäten, die kirchlichen Akademien und entsprechend niveauvolle Publikationen, so dass der Dialog zwischen den Religionen und Religionskritikern, Geistes- und Naturwissenschaften auch in der Breite gepflegt wird.

 

(Die ganze Seite per Klick hier.) 

Die entstehende, deutsche Wissenschaftsblogosphäre nimmt eigene und vielleicht nicht einmal weniger spannende Wege als die angelsächsischen Kollegen – und mit Französisch, Niederländisch, Italienisch, Spanisch usw. entfalten sich auch weitere Wissenschafts-Blognetze erst, die wiederum ganz eigene Dynamiken entwickeln. Natürlich wird Englisch die Sprache sein, in der sich auch die europäischen Regionen dann wieder vernetzen – aber die Sprachnischen bringen auf dem Weg dahin ihre eigene Vielfalt hervor und könnten unseren Kontinent mit ganz eigenen Chancen versehen.

Als eine Strukturfolge im deutschen Sprachraum erlebe ich ein oft höheres Niveau der Diskussion und auch journalistischen Berichterstattung nicht nur im Bereich Evolution-Religion. Und so erarbeitete und gereifte Erkenntnisse lassen sich dann (!) durchaus auch wieder ins Englische übersetzen.

3. "Mittelständische" Institutionen

Dass eine Wirtschaft mit vielen mittelständischen Unternehmen insgesamt stabiler und flexibler funktioniert als eine, in der wenige Großkonzerne dominieren, hat sich herumgesprochen. M.E. gilt das gleiche für die deutsche Wissenschaft. So hat die Universität Leipzig ein kleines, aber gerade deswegen hervorragendes Institut für Religionswissenschaft, das sich auf Studierende zum Master konzentriert hat und sogar Eignungsgespräche führt (siehe Homepage).

Die Folge: Ein hoch motiviertes Team aus Studierenden und Lehrenden, die sich nicht als Masse bewegen, sondern als kreatives Netzwerk. Es ist kein Zufall, dass mit Daniel Böttger derzeit ein Leipziger über kreative Videoarbeit (!) schon binnen weniger Wochen seiner religions- und evolutionspsychologischen Masterarbeit verdient internationale Aufmerksamkeit verschafft (siehe Blogbericht hier)! Nehmen Sie dann noch dazu, dass neben einer lebendigen Universitätslandschaft noch drei Max-Planck-Institute (für Evolutionäre Anthropologie (Eva), für Mathematik in den Naturwissenschaften und für neuropsychologische Forschung!) in der auch kulturell reichen Stadt sind – und Sie verstehen, warum ich nach manchem Seminar meine eigenen Studenten ein wenig beneide! 😉

Ernsthaft: Wir haben im deutschen Sprachraum gerade erst begonnen, die Chancen unsere regionalen Lehr- und Forschungslandschaft zu entdecken, Profile und Schwerpunkte auch im gesunden Wettbewerb zu bilden. Was die Religionswissenschaft angeht brauchen wir uns schon heute auch international längst nicht mehr verstecken!

4. Interessierte "Laien" als Chance!

Paradoxerweise wird gerade aufgrund der modernen Wissensexplosion die Grenze zwischen Wissenschaftlern und interessierten Laien wieder sehr viel durchlässiger. Ganz einfach deshalb, weil auch Spezialisten in immer mehr angrenzenden Fachgebieten zu "Laien" werden und umgekehrt also sachkundige Menschen den interdisziplinären Dialog eigenständig bereichern und tragen können. Schon jetzt gibt es in Deutschland eine reiche Szene an originellen Wissenseinrichtungen, die von der Basis selbst her organisiert werden – neben den bereits erwähnten, kirchlichen Akademien zum Beispiel auch die Goethe-Gesellschaft Nordenham (gegr. 1946!), die Mitte März zur o.g. Bio-Logik der Gretchenfrage (& mehr) lädt (Veranstaltung hier).

Und während andernorts Kreationisten und Religionskritiker endlose Wiederholungen ihrer Polemiken anbieten, erscheint z.B. am 10. März im deutschen Sprachraum eine Ausgabe von Gehirn und Geist, die die Evolutionsforschung zur Religiosität, eine niveauvolle Diskussion zwischen einem Theologen und Biologen u.v.m. zu bieten hat.

(Vorschau hier)

Fazit: Es ist großartig und chancenreich, (auch) in Deutsch forschen zu können!

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Dr. Michael Blume studierte Religions- und Politikwissenschaft & promovierte über Religion in der Hirn- und Evolutionsforschung. Uni-Dozent, Wissenschaftsblogger & christlich-islamischer Familienvater, Buchautor, u.a. "Islam in der Krise" (2017), "Warum der Antisemitismus uns alle bedroht" (2019) u.v.m. Hat auch in Krisenregionen manches erlebt und überlebt, seit 2018 Beauftragter der Landesregierung BW gg. Antisemitismus. Auf "Natur des Glaubens" bloggt er seit vielen Jahren als „teilnehmender Beobachter“ für Wissenschaft und Demokratie, gegen Verschwörungsmythen und Wasserkrise.

5 Kommentare

  1. Freut mich

    SEHR schöner Artikel. Und ein bischen verwunderlich von jemanden, der gerade eine längere USA-Reise hinter sich hat. Da bestehen doch nicht etwa Zusammenhänge? 😉

    Ich möchte aber noch auf einen ANDEREN Aspekt hinweisen. Von Geburt an zweisprachig aufgezogene Kinder stottern länger, ist unlängst (irgendwo) nachgewiesen worden, hat also sicherlich nicht gerade die besten Auswirkungen auf eine harmonische und psychisch in sich ruhende, geschützte Entwicklung der Kinder, jedenfalls eine solche, wie man sie sich wünschen KÖNNTE.

    Aber ich möchte behaupten, daß es uns DEUTSCHEN (mit und nach der Pubertät zumindest) gut tut, daß wir in der Wissenschaft uns mit Englisch abplagen müssen. Überall, wo einem Steine im Weg liegen, da werden bei Überwindung dieser Steine neue Ressourcen gewonnen (wie ja auch Sosis und andere aufzeigen, Handicap-Theorie etc.).

    Und als einen solchen “Stein” und als Herausforderung empfinde ich auch immer wieder die Wissenschaftssprache Englisch. Sie hat ihre eigene “Denke”, das ist ja schon oft behandelt worden, der Pragmatismus, der in dieser Sprache liegt, und der dazu führte, daß eben Charles Darwin in England lebte und nicht in Frankreich und nicht in Deutschland. Ebenso viele andere, die an einem “Reason for Everything” (Marek Kohn) im pragmatischen Denken des Neodarwinismus gearbeitet haben. – Langes Thema.

    Aber noch ein anderes: Zum Beispiel haben offenbar die männlichen Juden in allen Völkern zweisprachig gelebt und – wohl – auch gedacht seit vielen Jahrhunderten. Einerseits die Landessprache, die zugleich ihre Muttersprache war (bei den aschkenasischen Juden das Jiddische, bei sephardischen Juden romanische Sprachen etc.), andererseits behielten sie ja für Gottesdienste immer ihre Sakralsprache Hebräisch bei, soweit ich das bislang verstanden habe.

    Vielleicht hat auch DAS zu ihrer IQ-Evolution beigetragen, frage ich mich manchmal, diese Notwendigkeit, in zwei Sprachen denken zu “müssen”. VIELLEICHT.

    Und nur mal so als Hypothese in den Raum gestellt. (Gibt es andere Beispiele für Jahrhunderte lange Zweisprachigkeit, die weniger evolutionär und kulturell erfolgreich waren?) Ähnlich ist ja auch das klassische deutsche Denken um 1800 aus vorheriger Jahrzehnte langer Zweisprachigkeit (Französisch) hervorgegangen.

    – – – Und: Deutsch! Ja, klar! Deutsch ist die Sprache Hölderlins, Goethes, Schillers. Ganz klar, daß wir Deutschen in der Zukunft noch kulturelle, wissenschaftliche und geistige Aufgaben vor uns haben, die von keinem anderen Volk erbracht werden KÖNNEN. Mein Philosophie-Professor Rudolf Malter in Mainz sagte einmal, es sei bemerkenswert, daß die beiden europäischen Völker, die große Metaphysik in der Philosophie hervorgebracht hätten, die Griechen und die Deutschen wären, und daß das auf ihren Sprachen beruhen würde.

    Da könnte doch manches dran sein. Neodarwinismus ist nicht tyisch “deutsches” Denken. Aber solche Sachen wie die, die jetzt zum Beispiel Joachim Bauer aufwirft. Ob er der deutsche Richard Dawkins ist/wird? Wäre doch nicht schlecht? Deutsche “Denke” jedenfalls sollten wir uns nie nehmen lassen. Auch sie hat der Welt etwas zu sagen, was niemand sonst ihr sagen kann.

  2. @ Ingo: 🙂

    Lieber Ingo,

    nun, wir machen mit der zweisprachigen Erziehung unserer Kinder hier sehr gute Erfahrungen! 🙂 Es ist beneidenswert mit zu erleben, wie leicht sich Kinder mit dem Erlernen mehrerer Sprachen tun und wie schwer wir Erwachsenen für die gleichen (meist: schlechtere) Effekte ackern müssen…

    Aber es ist m.E. schon so: Vielfalt ist ein Wert an sich, gerade auch aus evolutionärer Perspektive.

    Einerseits begrüße ich es also sehr, dass wir mit Englisch eine gemeinsame Welt- und Wissenschaftssprache bekommen. Andererseits finde ich aber auch, dass wir die Vielfalt der Regionalsprachen deswegen nicht abwerten, sondern als Chance begreifen sollten!

    Meines Erachtens hat diese Vielfalt nicht nur folkloristischen, sondern auch erkenntnisfördernden Wert – und sinnigerweise könnte gerade das Internet mit seinen Vernetzungsmöglichkeiten auch kleineren und mittleren Sprachen neue Nischen erschließen, aus denen heraus sie uns mit ihrem je einzigartigen Zugangs- und Wissensschatz überraschen können.

  3. Ich glaube man muss hier zwischen Natur- und Geisteswissenschaften unterscheiden. Ich also Astronom würde nie auf die Idee kommen, meine wissenschaftlichen Ergebnisse auf deutsch zu publizieren. Die Communities sind dafür einfach zu klein. Wenn ich die deutschsprechenden Kollegen auf meinem Gebiet über meine Arbeit informieren will, dann brauch ich nur den Rudi in Wien anrufen 😉
    Hier muss einfach eine gemeinsame Sprache benutzt werden, wenn man auch gehört werden will…

  4. @ florian

    So sehe ich das auch.
    Deswegen blogge ich auch auf deutsch. Um sicher zu sein, daß nicht womöglich einer meiner Fachkollegen den Blog liest oder gar nach Fehlern sucht. Hat bisher auch funktioniert 🙂

  5. @ florian, thilo

    Das scheint mir ein guter Punkt zu sein! Bei Religion(en) und Religionswissenschaft gibt es natürlich jede Menge Profis und noch mehr Menschen, die sich intensiv interessieren und informieren wollen. Allerdings ist es auch dort so, dass bestimmte Spezialisierungen bereits international und in Englisch ablaufen, beispielsweise auch Forschungen zu Religion(en) und Demografie. Andererseits sind dann wiederum einige Studien dazu nur auf Deutsch erhältlich, so dass Mehrsprachigkeit auch Vorteile hat. Eine Liste z.B. hier:
    http://www.blume-religionswissenschaft.de/….html

    Danke für die Beiträge, herzliche Grüße!

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