Psychologie des alleine Sitzens

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Mensch, Gesellschaft und Wissenschaft
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Wir Zentraleuropäer legen viel Wert auf unseren individuellen Freiraum. Woher kommt das Bedürfnis zum Abstand zu anderen? Ein Erfahrungsbericht.

Für einen Workshop am Karlsruhe Institut für Technologie zum Thema Enhancement bin ich in einem Hotel in Bahnhofsnähe untergebracht. Als ich heute Morgen in den Frühstücksraum kam, war an dem Tisch mit anderen Workshopteilnehmern kein Platz mehr, also ging ich mit meinem Tablett zu einem freien Tisch. Nachdem ich mir noch einen Tee geholt hatte, sah ich beim Zurückgehen zu meinem Platz plötzlich eine Schale, ein Glas und eine Kaffeetasse auf der gegenüberliegenden Seite. Zuerst dachte ich an einen der anderen Teilnehmer, doch dann nahm ein unbekannter Mann mir gegenüber Platz – bei einem kurzen Blickkontakt begrüßten wir uns mit einem kurzen „Guten Morgen“.

Zunächst wollte ich die Teilnehmerhypothese noch nicht aufgeben. Schließlich waren wir über dreißig auf dem Workshop. Doch diese Hypothese musste an meiner Wahrnehmung scheitern, denn auch nach einigen vorsichtig umherschweifenden Blicken konnte ich den Herrn partout nicht zuordnen. Da zückte er auch schon sein Mobiltelefon und las mehrere Minuten auf seinem Bildschirm.

Was macht man also, wenn man plötzlich einem Fremden gegenübersitzt, weniger als ein Meter Abstand, und gar den Frühstückstisch miteinander teilt? Ich dachte darüber nach, warum sich die Situation so komisch anfühlte. Was war eigentlich das Problem dabei, mit einem Fremdem am selben Tisch zu sitzen? Offenbar hatte einer von uns beiden einen Fehler begangen, hatte einer von uns beiden übersehen, dass der Tisch bereits besetzt war. Entweder hatte er mein Tablett mit Müslischale, Brötchen und Ei nicht gesehen oder mir waren seine Schale, das Glas und die Tasse nicht aufgefallen. Der Fehler, der Regelverstoß war allerdings nicht so relevant, dass einer von uns beiden direkt hätte reagieren müssen.

Ich dachte an meine Philosophiekurse zurück, in denen es ein ungeschriebenes Gesetz gewesen zu sein schien, den räumlichen Abstand untereinander zu maximieren. Ähnlich würde man sich im Bus eher auf einen freien Zweier- oder Vierersitz setzen, als neben einem unbekannten Menschen Platz zu nehmen – warum eigentlich? Vielleicht hat er/sie Lust auf ein Gespräch und könnte das sehr interessant sein. Meine Erfahrungen in Psychologiekursen waren übrigens ganz anders: Die Gruppenbildung war enorm, als Gruppe machte man alles zusammen und war jemand kein Teil davon, dann war er oder sie förmlich inexistent.

Diese Erinnerungen halfen mir jedoch nicht dabei, mein akutes Frühstücksproblem zu lösen, den Umgang mit dem Mann gegenüber. Nachdem er sein Telefon beiseitegelegt hatte und als er sich seinem Müsli widmete, erlaubte ich mir schließlich die Frage, ob ich nun seine Frühstückssachen übersehen hatte oder er die meinen. Wir konnten das nicht aufklären, denn er war überzeugt, es sei mein Fehler gewesen, während ich mich deutlich an einen leeren Tisch erinnerte. Wir einigten uns jedoch darauf, dass es letztlich egal war, und kamen ins Gespräch: Er ein Geschäftsmann, der gerade mehrere Tage auf einer Messe in Hannover gewesen war und jetzt noch einen Geschäftstermin in Karlsruhe hatte, und ich stellte mich als theoretischer Psychologe vor, der an einem Workshop an der Karlsruher Universität teilnahm.

Schließlich kam sogar noch Kollege von dem Workshop und nahm am Tisch neben uns Platz – ich konnte die beiden natürlich nicht einander vorstellen, erklärte dem Kollegen aber die Situation. So waren wir schon drei. Dass Gespräch endete nach einer Viertelstunde damit, dass der fremde Mann von der tiefenpsychologischen Psychotherapie erzählte, die seine Frau seit einiger Zeit machte, und dass diese seine Beziehung mit ihr verbessert hat. Ich steuerte ein paar theoretische Gedanken zum Unterschied verschiedener psychotherapeutischer Therapien bei. Wir verabschiedeten uns voneinander und ich blieb mit der Frage zurück: Warum passiert es eigentlich nicht öfter, dass man sich zu jemandem setzt und ein Gespräch beginnt? Wer weiß, welch interessante Erfahrungen man dabei macht.

Foto: © Paul-Georg Meister (pgm) PIXELIO

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49 Kommentare

  1. Das fällt mir immer wieder auf, wenn ich öffentliche Verkehrsmittel in Deutschland benutze! In anderen europäischen Ländern kommt diese Situation nicht so oft wie hierzulande vor.

  2. @Sepehri

    Ganz genau, ich dachte auch an interkulturelle Unterschiede aber hatte nicht genug Zeit, um diesen Aspekt auch noch zu besprechen. Danke für Ihren Hinweis.

    Welche “anderen europäischen Länder” meinen Sie denn?

  3. Warum überhaupt kulturelle Unterschiede?

    Das Phänomen des “Allein Sitzens” gehört scheinbar zu den banalen Dingen des Lebens, über die man sich genau deshalb wohl selten Gedanken macht – ich habe es jedenfalls noch nicht getan. Schön dass es hier mal zur Sprache kommt!

    Die Standarderklärung der Distanzhaltung gegenüber Fremden ist vermutlich ganz schlicht auf das Sicherheitsbedürfnis des Einzelnen zurückzuführen. Wenn man sich mit einem Menschen unterhält, tut man dies auch meistens in dem Abstand, dass niemand den anderen unmittelbar bedroht. Um eine Gefahr gänzlich auszuschließen versucht man vermutlich, stets den größten Abstand zu einer fremden Person zu halten – sei es im Zug oder im Restaurant.

    Nun könnte man wohl einwenden, dass jemand auch einen Vorteil dadurch haben könnte, mit einem fremden Kontakt aufzunehmen , wie beispielsweise – und das hat Stefan ja bereits angesprochen – ein nettes Gespräch. Ja, es könnte sogar eine Freundschaft erwachsen und solcherlei zwischenmenschliche Verbindungen waren in der Evolution wohl nie von Nachteil.

    Offenbar überwiegt aber das Gefahrenbewusstsein gegenüber fremden Menschen. Liegt das womöglich einmal mehr an unserer Riesengesellschaft in der jeder Einzelne täglich mit viel mehr fremden Personen konfrontiert wird, als es in entwicklungsgeschichtlich frühen Zeiten der Menschheit der Fall war? Damals war es vermutlich eine Ausnahme, dem Angehörigen eines anderen Dorfes oder einer fremden Gemeinschaft zu begegnen und man tat wohl gut daran, die Distanz zu wahren. ES sei denn, man hatte noch einige der eigenen Stammesangehörigen dabei – aber das ist ja auch heute noch so: In der Gruppe fühlt man sich eben sicher.

    Aber wenn diese Erklärung wirlklich zutreffen sollte (ich lasse mich gerne korrigieren), so frage ich mich, wie kulturelle Unterschiede bezüglich der Distanzwahrung gegenüber Fremden entstanden sein sollten.

    Gruß

  4. Gefahr?

    Was für eine Gefahr meinst du denn, außer, dass man sich auf die Nerven geht?

    Wenn mir jemand wirklich etwas Böses will, dann wird derjenige sich wohl kaum von Tischregeln abhalten lassen. 😉

  5. andere Länder

    Zum Beispiel habe ich in England oder Holland nie das Gefühl, dass die dortigen Menschen es bevorzugen, irgendwo ganz alleine zu sitzen.

    Ich finde es auch interessant, dass in solchen Dingen die “Ausländer” oder Migranten der ersteren Generationen (sogar diejenigen, die nicht sehr anpassungsfähig sind) sich sehr schnell den gängigen Benimmregeln des Gastgeberlandes anpassen.

  6. @Tom

    Ich glaube, es ist doch wichtig, sich auch über die “banalen” Dinge des Lebens Gedanken zu machen, da sie oft viel “Verstecktes” zum Ausdruck bringen.

  7. @Stefan

    Zu Zeiten von Jägern und Sammlern dürfte es vorgekommen sein, dass sich Angehörige verschiedener Gemeinschaften als Konkurrenten gesehen und sich somit nicht toleriert haben. Ich glaube nicht, dass damals überall Friede herrschte, auch wenn Kooperationen zwischen zwei unterschiedlichen Gruppierungen wohl nicht ausgeschlossen waren.
    Es dürfte lebensgefährlich gewesen sein, sich als “Fremder” einer anderen Gemeinschaft zu nähern.

    Diese Gefahr mag am Frühstückstisch ja in den meisten Fällen nicht gegeben sein, dennoch haben wir vielleicht noch immer dieses “übertriebene” Gefahrenbewusstsein.
    Aber wiegesagt: Das Verhalten der Menschen in anderen Ländern kann ich mir momentan nicht erklären.

    Gruß

  8. @Azadeh

    Das ist mit Sicherheit so! Die banalen Dinge sind ja gerade deshalb banal, weil sie so gut funktionieren. Nur ist das auch der Grund, warum man sie selten hinterfragt. Doch genau das sollte man tun, so oft man kann.

    Gruß

  9. @Tom

    Ich galube, dieses Verhalten der Deutschen hat mehr damit zu tun, dass sie nicht so sehr an Kontakt zu anderen Menschen, sei es in der Familie oder an der Arbeit und Uni oder in ihren Freundschaften und Bekanntschaften, interessiert sind. Die Deutschen könnte man als ein Volk von Einzelgängern bezeichnen.

  10. selektive Kommunikation

    Wir verabschiedeten uns voneinander und ich blieb mit der Frage zurück: Warum passiert es eigentlich nicht öfter, dass man sich zu jemandem setzt und ein Gespräch beginnt?

    Der Grund ist die natürliche Selektivität der Kommunikation, die der Mensch (oder Bär) gewohnt ist und die zudem auch seinen Präferenzen zu entsprechen scheint.

    Dr. W kennt diese Sache als “Transportmittelproblem”, wobei das Transportmittel den Nachbarn zuweist, nicht die Eigenwahl.

    Man kann sich stattdessen auch mal gezielt in eine x-beliebige Kneipe setzen und nach rechts und links, man beachte die Metaphorik, die Lauscher aufmachen, nichts spricht gegen ein Experiment dieser Art, aber man muss es auch nicht jeden Tag haben. – Wichtiges Thema natürlich…

    MFG
    Dr. Webbaer

  11. Zwei Fremde im Zug

    Neben den Seminarteilnehmer sitzen geht, ja wegzusitzen wäre vielleicht sogar Ausdruck einer Abneigung und muss also vermieden werden um nicht falsche Signale auszusenden. Neben den Fremden sitzen oder ihm sogar gegenüber, das befremdet.

    Das hat mit unserem tief verwurzelten Gruppendenken zu tun. In Nationen oder Kulturen wo man sich gern mit Fremden unterhält gibt es eben auch eine unsichtbare Gruppe, nicht die Gruppe der Seminarteilnehmer sondern die Gruppe der Landsleute oder man erlebt den anderen als Reisenden, dem geholfen werden muss oder der Begleitung braucht.

    Wenn zwei fremde Deutsche sich nichts zu sagen haben, dann vielleicht auch darum weil die Gemeinsamkeit – beide sind Deutsche – nicht genügt um die Fremdheit zu überwinden und bereits eine Gruppe zu bilden. Wenn zwei Fremde im Zug spontan miteinander kommunizieren, dann vielleicht weil sich beide in der Gruppe der gemeinsam Zugfahrenden sehen und erleben.

  12. @Azadeh:

    Hm, ja, es scheint tatsächlich so zu sein. Doch warum hat sich diese Scheu gegenüber neuen Bekanntschaften überhaupt ausgeprägt?

    @Martin Holzherr:

    Die Definition der Gruppe ist sicherlich ein entscheidender Faktor bei der Unterscheidung von “fremd” zu “bekannt”. Ich bahaupte aber, dass auch Deutsche, die sich eigentlich fremd sind, im Ausland eher zusammenhalten. Die Definition einer Gruppe hängt eben immer vom Umfeld ab: Hier fühle ich mich eher nicht als Europäer. Halte ich mich aber in Amerika auf, so identifiziere ich mich wahrscheinlich eher mit anderen Europäern, seien es Italiener, Franzosen oder eben Deutsche, als mit Amerikanern.
    Doch diese Form des Gruppendenkens ist universell und nicht speziefisch auf bestimmte Kulturen anzuwenden. Die soziale Distanzwahrung der Deutschen lässt sich damit nicht erklären.

    Wenn ein Deutscher sich nicht so leicht mit den übrigen Menschen im Zug identifizieren kann, der Holländer(als Beispiel) aber schon, so stellt sich wieder die Frage: Warum? Es mag an der Kultur liegen, ja, aber wie ist eine kulturelle Denkweise entstanden, die das meschliche Sozialverhalten derartig beeinflusst? Was ist so anders in England und Holland? – um mal auf die genannten beispiele zurückzukommen.

    Gruß

  13. Erste Assoziationen…

    Der erste Gedanke den ich hatte, als ich den Artikel las: „Irgendwie erinnert mich diese Situation an das Distanzzonenmodell von Edward T. Hall“. Dieses beschreibt ebenso Watzlawick in seinem Büchlein „Vom Unsinn des Sinns oder Vom Sinn des Unsinns“ (S. 22 ff.) mehr oder minder „anekdotisch“. Nach Hall differenziert der Mensch seine soziale Umwelt in unterschiedliche Distanzzonen, welche auch kulturell unterschiedlich sind. Ein, wie ich finde, interessanter Ansatz zum weiterdenken.

    Beste Grüße

  14. Distanzzonenmodell /@Christian

    Immer wenn dieses “Distanz”-Thema zur Sprache kommt, taucht aus meinem Gedächtnis eine Situation wieder auf, in der die nach meinem Gefühl gebotene räumliche Distanz zwischen Fremden deutlich unterschritten wurde. Eine mir völlig fremde Studentin von etwa meiner Größe kam ins Labor und wollte von mir irgend eine Auskunft. Dabei baute sie sich gefühlte 50 cm vor mir auf. Ich musste hart an mich halten, um nicht zurückzuweichen.

    Dass ich das heute noch, ein Vierteljahrhundert später, erinnere, zeigt, wie stark mich diese Distanzunterschreitung damals beeindruckt hat… 🙂

  15. Gefahrenzone /@Tom

    Ich glaube, mit einer Distanz von etwas mehr als einer Armlänge ist man auf der sicheren Seite.

    Wenn man diese unterschreitet, etwa am Frühstückstisch, tut man gut daran, seine Friedfertigkeit zu signalisieren, etwa mit einem freundlichen “Guten Morgen!”.

  16. @Tom: Jäger und Sammlerinnen

    Wir waren nicht dabei, als Jäger und Sammler lebten, und unsere heutige Welt ist nicht so. Daher kann ich nicht nachvollziehen, inwiefern diese Denkweise das Verständnis des Problems unterstützen würde.

    Ferner scheint es Kulturen zu gehen, in denen fremde Menschen offener aufeinander eingehen (siehe Diskussion). Damit, ebenso gemäß meiner persönlichen Erfahrungen, dürfte die These der “fremden Gefahr” hinreichend widerlegt sein.

  17. Regionale Ausprägungen?

    Was mir in diesem Zusammenhang letztens aufgefallen ist: Seit ich in Süddeutschland wohne, führt das Phänomen “sich ungern in öffentlichen Verkehrsmitteln neben Fremde setzen” regelmäßig dazu, daß ich noch einen Sitzplatz bekomme, obwohl um mich herum schon längst viele Leute stehen. In Hamburg ist mir das in dieser Form nie aufgefallen, dort standen bei solchen Gelegenheiten vielleicht zwei Jugendliche, die sich miteinander unterhalten wollten, aber abgesehen davon schien die Abneigung dagegen keinen Sitzplatz zu haben dann doch zu überwiegen und die freien Plätze füllten sich. Hat der gemeine Heidelberger mehr Berührungsängste oder was auch immer als der typische Norddeutsche?

  18. @Carolin

    Komisch, dabei sagt man doch gerade den Nordlichtern nach, im sozialen Umgang etwas kälter zu sein. Vielleicht stehen die Leute im Süden einfach lieber? 😉

    Wie dem auch sei, wenn sie nicht begreifen, wie nett es sein kann, neben dir zu sitzen, dann sind sie eben selbst daran schuld. 🙂

  19. regionale Unterschiede

    @ Balanus
    Vielen Dank für das Beispiel. Dies zeigt doch nur zu deutlich, dass unsere „Privatsphäre“, trotz unserer Sozialität, tief in uns verwurzelt ist. Vielleicht hatte Schopenhauer sogar Recht, wenn er die Gesellschaft mit einer „Stachelschwein-Parabel“ beschreibt 🙂

    @ Carolin Liefke
    Ich halte es durchaus für möglich, dass hierbei regionale Unterschiede eine Rolle spielen. Interessant wäre die Fragen, wie sich diese entwickelt resp. herausgebildet haben. Würde man weiterdenken, könnte man eventuell die Hypothese aufstellen, dass die Distanzzonen mit der Bevölkerungsdichte korrelieren?! So hatte schon Simmel konstatiert, dass die „Reserviertheit“ (neben Blasiertheit und Intellektualismus) ein zentraler Wesenszug des Großstädters ist.

  20. Rolle der Kultur / Bevölkerungsdichte

    @Stefan

    Natürlich hat unser Alltag nicht mehr viel mit Jagen und Sammeln gemein, dennoch stammen wir von von Menschen ab, die über Generationen auf diese Weise lebten. Und warum solte nicht auch Sozialverhalten vererbbar sein?

    Es kommen wohl immer Kultur und vererbte Merkmale zusammen wenn es darum geht, wie sich Menschen verhalten. Dies aber allein auf Kultur oder Vererbung zu reduzieren ist sicherlich zu kurz gegriffen.

    Wenn es nun im Sozialverhalten von Holländern und Deutschen Unterschiede gibt, so muss man dies wohl auf die kulturelle Prägung zurückführen, da entwicklungsgeschichtlich eher nicht die großen Unterschiede auszumachen sind.
    Wo aber liegen die kulturellen Unterschiede beim Verhalten gegenüber Fremden, oder besser, worauf begründen sich diese Unterschiede? Wie sind sie entstanden?

    @Christian

    Die Bevölkerungsdichte ist ein interessanter Ansatz, auch wenn ich nicht weiß, inwiefern bereits Korrelationen zwischen ihr und dem Verhalten gegenüber Fremden festgestellt wurden.
    Mal angenommen, in der dicht bevölkerten Großstadt ist wirklich eine “Reserviertheit” der Menschen zu beobachten und bei Bürgern auf dem Land nicht – was ich mir übrigens gut vorstellen kann – so könnte man ja meinen, dass Menschen auf dem Land sich einfach nicht so fremd sind. In einem überschaubaren Dorf leben so wenige Leute, dass man sich häufig über den Weg läuft. Gegenüber einer Touristengruppe sieht das Verhalten eines “Landbürgers” vielleicht ganz anders aus und er ist womöglich auch eher reserviert.
    Man müsste wohl einfach mal das Verhalten des typischen Menschen vom Land untersuchen, wenn er in eine Straßenbahn voller fremder Leute steigt.

    @Balanus

    Die großzügige “Armlänge” ist sicher eine gute Faustregel, doch hält man diesen Abstand ja meist automatisch ein. Das ist vermutlich eine angeborene Verhaltensweise. Auch bei Bekannten und Freunden unterschreitet man diesen Abstand (bei einer normalen Unterhaltung) für gewöhnlich nicht, so zumindest meine Erfahrung.

    Gruß

  21. Proxemik hat Neurokorrelat in Amygdala

    as hier besprochene Fachgebiet, die Proxemik (Zitat Wikipedia) beschäftigt sich mit dem Raumverhalten als einem Teil der nonverbalen Kommunikation. Die Proxemik hat eher den Charakter ungeschriebener territorialer Gesetze als den eines biologischen Triebes. Das Empfinden dieser Distanzen oder des Raumes allgemein kann je nach Kultur verschieden sein.

    Im Journal Nature Neuroscience wird unter dem Titel Personal space regulation by the human amygdala wird über eine Person mit lädierter Amygdala berichtet, bei der die Wohlfüldistanz bei 0 (normal sind 65 cm) lag. Die Amygdala wird scheinbar schon aktiviert, wenn eine in der MRI-Röhre liegende Person den Versuchteilnehmer näher kommen hört.

    Interessant scheinen mir auch die Ausführungen auf der Site Die richtige Distanz wo unter anderem über Territorialempfindungs-Experimente von Julius FAST, dem Autor des Buches Body Language geschrieben wird. Der Wikipedia-Artikel Body Language erwähnt die Proxemik ebenfalls.

  22. @Tom

    Natürlich hat unser Alltag nicht mehr viel mit Jagen und Sammeln gemein, dennoch stammen wir von von Menschen ab, die über Generationen auf diese Weise lebten. Und warum solte nicht auch Sozialverhalten vererbbar sein?

    Uhm, weil es zum großen Teil kulturell geprägt ist, wie es die Literatur, die Sozialpsychologie und die transkulturelle Psychologie zeigen und hoffentlich irgendwann auch der letzte Evolutionspsychologe verstanden hat? 🙂

    Mehr als einen Interaktionseffekt brauche ich doch gar nicht; dass wir ohne unsere Proteine nichts sind, das ist geschenkt.

  23. die Bahn

    Das Bedürfnis nach persönlicher Raummaximierung lässt sich in Fernzügen der Bahn besonders gut beobachten: sitzen in einem 5er Abteil bereits drei Personen äquidistant zu einander, erhöht das die Hemmschwelle für weitere Mitreisende nachzufragen, ob da noch ein Platz frei sei. Sie ziehen dann frustriert mit Sack und Pack weiter – in der Hoffnung im nächsten 5er vielleicht noch Platz zu finden, bevor sich im Großraumabteil ihre Hemmschwelle gleich dem Anspruch nach Privatsphäre ohne Zutun senkt.
    Gespräche anzufangen finde ich in Zweisamkeit stets angenehmer als in einem vollen Abteil – der dritte Mitreisende hören sowieso meist Musik oder tippt dissoziierend auf seinem iPhone rum. Vielleicht ist die eigene Hemmschwelle zur Kontaktaufnahme geringer, wenn “niemand zusieht”. Womöglich ist man sich auch allein auf Grund der Nähe schon vertrauter, teilt gewisser Maßen für eine Zeit das Schicksal.

  24. @Wloszczynski: Aber woher kommt das?

    Gute Beobachtung – aber woher kommt denn unser “Bedürfnis nach persönlicher Raummaximierung”?

    Heute fuhr ich mit dem IC vom Amsterdammer Flughafen nach Utrecht und mir gegenüber, jedoch eine Reihe weiter, setzte sich eine Frau alleine in eine Vierergruppe. Ich versuchte mehrmals, mit ihr Blickkontakt zu haben, doch gegen Musik und Smartphone hatte ich wohl keine Chance. Ich wollte ihr nur zu ihrer schönen Farbkombination gratulieren. Sie sah traurig aus.

    Am Montag war ich vor einem Vortrag in Bonn in einem Café und flirtete mit einer Frau – sie ging schon beinahe extrem offen darauf ein. Ich schenkte ihr einen Schmetterling. Später stellte sich heraus, dass sie Schauspielerin ist; und an Lebenserfahrung auch schon etwas reicher.

    Naja, wenn Leute ihren Raum maximieren und ihre Gedanken für sich behalten wollen, dann bleibt einem wohl nichts übrig, als ihnen das zu lassen; aber irgendwie habe ich den Eindruck, dass viele Menschen unter dieser Form von Indifferenz/sozialem Abstand leiden.

    Wie sehen Sie denn eigentlich das Gruppendenken unter Psychologiestudierenden?

  25. Distanzwahrung

    Naja, wenn Leute ihren Raum maximieren und ihre Gedanken für sich behalten wollen, dann bleibt einem wohl nichts übrig, als ihnen das zu lassen; aber irgendwie habe ich den Eindruck, dass viele Menschen unter dieser Form von Indifferenz/sozialem Abstand leiden.

    Wer seinerzeit noch unerkannt als von “westlicher” Herkunft im Ostblock unterwegs war, konnte dort diesbezüglich oft eine wesentlich größere Offenheit feststellen. Dasselbe gilt auch für den islamischen Kulturkreis, zumindest was die Erfahrungen dieses Schreibers betrifft.

    Die “westliche” Kultur aber rät eher zur Distanzwahrung und zur Fragestellung, bspw. nach der Frage, warum es Sinn machen soll sich mit einer x-beliebig erscheinenden Person zu unterhalten, der man nur zufällig gegenübersteht.

    Dazu kommen natürlich noch Mentalitätsfragen, hier gälte es dann unter den Völkern aufzuschlüsseln, was sich aber an dieser Stelle nicht anbietet. Richtig ist, dass die Distanzwahrung Sinn macht und andererseits kalt wirkt. – Warum soll man nicht die ohnehin zV stehende Zeit nutzen und sich ein Schwätzchen zu gönnen?

    Es mag hier tatsächlich ein Leiden entstehen, es wäre dann aber eher ein Luxus-Leiden, ein eher kostruiertes Leiden, und regionaltypisch. – Wenn Sie sich dagegen mal zu einem Amerikaner oder Juden setzen, kann es passieren, dass er Ihnen die Welt erklärt. Kann man haben, ist auch oft ganz interessant, muss aber auch nicht sein, oder?

    MFG
    Dr. Webbaer

  26. @ Schleim – Sozialontologie und Psychos

    Persönliche Raummaximierung (PR) im Sinne von Abstand dürfte sich im Laufe der Evolution sicherlich als vorteilhaft erwiesen haben. Nehmen wir zwei sich unbekannte Individuen, die in keiner gemeinsamen sozialen Struktur sind. Ich würde ich davon ausgehen, dass beide sich gegenüber dem jeweils anderen überlegen fühlen. Kommt dann einer dem anderen näher, so wird geklärt, wer nun im Recht ist. Bleibt man jedoch auf Abstand, so verringert sich das Konfliktrisiko.
    Vom heutigen Standpunkt aus betrachtet sind wir natürlich alle in einen kulturellen Kontext eingebettet. Der gibt – je nach vorherrschender Kultur – gewisse Verhaltensweisen vor. Wo dies in unserer Kultur her kommt – da wird es mir zu vage, als dass ich da noch weiter spekulieren wöllte.

    Abschottung durch Musik und Smartphone ist der PR gegenüber auch sehr ähnlich: es findet eher unterbewusst statt und man ist weniger zur Interaktion mit anderen gezwungen, weil man schwieriger zu erreichen ist. Hätten Sie im Zug einen Zettel mit “Mooie kleurcombinatie!”hochgehalten – die Frau hätte sich sicherlich gefreut!

    Was Sie mit Gruppendenken unter Psychologiestudierenden meinen kann ich nicht genau nachvollziehen. Allerdings fällt mir ein, dass sich auch bei Vorlesungen das Bedürfnis nach PR beharrlich in Form von leeren Plätzen in der Mitte des Auditoriums breit macht. Nur wenn es wirklich voll ist, sieht man sich gezwungen neben – am ehesten bekannteren oder besonders attraktiven Kommilitonen – platz zu nehmen. Zur Pause zerbricht dieses ungewollte Chaos dann wieder in die soziale Ordnung von Kleingruppen und -geistern…

  27. @Webbaer

    Einwanderer aus arabischen Ländern bestätigten mir mehrmals in Gesprächen, dass sich die Nachbarn einem dort sogar vorstellen kommen, wenn jemand hinzuzieht. In den Niederlanden herrscht umgekehrt ein Verbot, jemanden unangekündigt zu besuchen.

    Die Bücher des iranischen Schriftstellers Kader Abdolah über Integrationserfarhungen finde ich in dieser Hinsicht äußerst interessant.

    Es handelte sich übrigens um einen bemalten hölzernen Schmetterling. Wenn Sie hier damit aufhören, über sich selbst in der dritten Person zu sprechen, und nicht jedes Mal Ihren akademischen Grad nennen, dann kriegen Sie vielleicht auch mal einen von mir; oder ein Blümchen.

  28. Kontaktfreudigkeit

    Es ist interessant, was für große Unterschiede diesbezüglich allein im europäischen Raum zu beobachten sind.

    Ein englischer Dozent an der Uni Köln erzählte mir einmal, dass er sich hierzulande unwohl fühlt, da obwohl er seit Jahren an der Uni Köln arbeitet, konnte er keinem eizigen Kollegen näherkommen.

    Während meines Studiums in England habe ich verstanden, wieseo er sich so unwohl fühlte. Hier zwei Beispiele aus meiner eigenen Erfahrung an einer Uni in London:

    Einmal habe ich eine meiner Dozentinnen, die ich sehr mochte, an der Uni gesehen, habe aber aus meiner deutschen Gewohnheit versucht, Blickkontakt mit ihr zu vermeiden und habe so getan, als ob ich sie nicht gesehen hatte. Sie hat mich aber von 10 Meter Entfernung, mitten in der Menge, gerufen, nur um Hallo zu sagen. Das war sehr peinlich für mich, und ich habe mich richtig geschämt, dass ich sie einfach ignorieren wollte.

    (Apropos: In Großbritanien sprechen sich alle auf der Arbeit oder an der Uni mit Vornamen an. Egal, welche Position und Titel sie haben, wie alt sie sind, etc.)

    Ein anderes mal habe ich an derselben Uni gesehen, wie eine ältere Dozentin mitten auf dem Uni-Gelände einen jungen Studenten zur Begrüßung küsste. (Bitte keine voreiligen Schlüsse ziehen: Sie war eine geoutete Lesbe!)Ich glaube, ich war die einzige, die sich über diese Szene gewundert hat.

  29. @Stefan

    Es ist sicherlich schwer auszumachen, in welchen Teilen menschliches Verhalten kulturell oder erblich bedingt ist. Die Kultur allein ist in dieser Hinsicht aber übersichtlicher und die Erklärung der Unterschiede im “Distanzverhalten” verschiedener Volksgruppen sicherlich ausreichend.
    Dennoch kenne ich diesbezüglich keine Erklärung, bin aber zugegebenermaßen sehr neugierig darauf.

    @Martin Wloszczynski

    Ich befürworte die Theorie der “Konfliktvermeidung”, nur ist die ja unabhängig von den kulturellen Unterschieden zu sehen.

    Die Rolle von Smartphones und MP3-Playern könnte man eigentlich so auffassen, dass solche Geräte den tatsächlichen Kontakt zu anderen menschen auch auf kürzere Distanz zu vermeiden ermöglichen. Vielleicht bleiben also bei einem Bus mit 15 Fahrgästen weniger Plätze frei, wenn ein Großteil Stöpsel im Ohr hat…

  30. @Tom: Unterschied

    Ich stimme zu, dass die Unterscheidung des angeborenen und erlenten Anteils schwierig ist – dafür gibt es aber auch Methoden.

    Wichtiger: Die kulturelle Varianz können wir testen; die Plausibilität der evolutionären Erklärung hängt hingegen entscheidend davon ab, wie wir uns die damalige Welt vorstellen. Damals waren eben keine Psychologen oder Anthropologen dabei.

  31. Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass es sehr wohl Kontexte gibt, in denen allein zu sitzen, ein Stigma darstellt. In (nicht Hotel-) Restaurants oder im Urlaub möchten niemand allein am Katzentisch sitzen. Wobei Männer allein noch eher Akzeptanz finden als Frauen.

  32. @Schleim: Auch bei Tieren Proximität

    Nicht nur dem Menschen, auch Tieren kann man zu nahe kommen. Alle höheren Säugetiere unterscheiden zwischen intimer Distanz und öffentlicher Distanz und wahrscheinlich gibt es nicht nur beim Menschen noch die zusätzlichen Distanzen “Wahrnehmungsdistanz” und “persönliche Distanz”. Dieses Distanzbewusstsein ist also gar nicht in der Stammesgeschichte des Homo sapiens entstanden sondern schon viel früher. Dies schreibe ich nur um die frühere Diskussionen über die Bedeutung der Jäger-/Sammlergesellschaften für unser heutiges Verhalten etwas zu relativieren.

    Auf der Website Die richtige Distanz findet sich zum Distanzverhalten von Tieren folgendes Beispiel:

    Interessanterweise halten sich auch bestimmte Tierarten dem Menschen gegenüber an die nahe öffentliche Distanz und lassen ihn nur bis auf diese Entfernung herankommen. Kommt der Mensch näher, weichen sie zurück, fliehen oder gehen zum Angriff über. Diese Eigenschaft machen sich Dompteure in der Manege zunutze. Der Dompteur geht geradewegs auf den Löwen zu. Sobald er sich ihm mehr als 4 – 6 m nähert, weicht der Löwe so lange zurück, bis ihn die Gitterstäbe des Käfigs hindern. Nähert sich der Dompteur weiter, geht nunmehr der Löwe auf den Dompteur zu. Der Dompteur nutzt die Situation und stellt das für den Löwen bestimmte Podest zwischen sich und das Tier. Um auf kürzestem Weg an den Dompteur heranzukommen, muss der Löwe auf das Podest klettern. In diesem Augenblick entfernt sich der Dompteur schnell aus der öffentlichen Distanz und hat den Löwen genau dort, wo er ihn haben wollte.

  33. Azadeh Sepehri: Kultur als Modulator

    Es gibt nicht Kultur versus Natur, denn Kultur moduliert ja moderiert das biologisch vorgegebene.

    Auch Leute, die mit Wildfremden ins Gespräch kommen oder die sich ungeniert zu Unbekannten setzen haben das gleiche biologische Distanzverhalten, nur gehen sie anders damit um als die “Untrainierten”. Es ist vielleicht ähnlich wie mit dem Dompteur, der die Reaktion des Löwens auf das Zu-Nahe-Kommen ausnützt um den Löwen zu manipulieren. Gigolos und Frauenversteher und -verführer benutzen übrigens häufig bewusste Distanzverletzungen, die sie anschliessend wieder “ausbügeln” um an ihr Ziel zu kommen.

  34. @Azadeh Sepehri: Umgang und Hierarchien

    Von Hochschuldozierenden, die ihren Studierenden Küsschen geben, habe ich vorher noch nichts gehört; wohl aber von der Praxis des sich gegenseitigen Duzens.

    Meine Intuitionen sind da ambivalent: Einerseits finde ich in der Lehre den persönlichen Kontakt näher, d.h. will ich viel lieber mit den Studierenden zusammenarbeiten, anstatt vor einer anonymen Menge hunderter zu stehen. Wenn mich nun Leute überhaupt nicht kennen, dann finde ich es schon komisch, wenn sie mich gleich mit dem Vornamen ansprechen.

    Ich handhabe das so: In kleineren, persönlicheren Kursen biete ich das Du an, in größeren bin ich dann Herr Schleim (beziehungsweise Mr Schleim oder meneer Schleim). Für manche Studierende bleibe ich das übrigens, auch wenn ich Ihnen das Du anbiete.

    Vielleicht würde ich das noch einmal ein Stück anders sehen, wäre unsere Lehre nicht so sehr auf Standardisierung und Evaluierung, sondern wirklich auf Inhalte und Menschlichkeit ausgerichtet. Letztlich sollen wir aber doch die Leute dafür fit machen, möglichst viel zum Bruttoinlandsprodukt beizutragen. Dazu passen Küsschen einfach nicht.

  35. @Studierendenfutter

    Schönes Beispiel – das Wort “Katzentisch” kannte ich noch gar nicht.

    Als jemand, der schon in Deutschland mehrmals umgezogen ist und zweimal ins Ausland ging, blieb mir oft gar nichts anderes übrig, als alleine raus zu gehen oder zu reisen, wenn ich nicht nur zuhause sitzen wollte.

    Auch wenn ich von diesen Stereotypen nicht so viel halte, entspricht es auch meiner Wahrnehmung, dass Frauen sich das tendenziell weniger trauen; vielleicht liegt das am Selbstvertrauen? Es kann nämlich ganzschön schwierig sein, als Einzelner in einer Gruppe von Gruppen zu sein.

  36. vielleicht liegt das am Selbstvertrauen?

    Ich glaube, es liegt an Geschlechtsstereotypen. Eine Frau allein, dem haftet – bewusst oder unbewusst – noch immer etwas Anstößiges an.

    Allerdings gehe ich z.b auch nur dort allein in ein Restaurant, wo es üblich und aus dem Kontext heraus erklärlich ist, allein zu sein. Also z.b. auf dem Bahnhof oder Airport. Dort hat man quasi ein Alibi und steht nicht unter dem Verdacht, als Sozialversager allein essen zu müssen.

  37. @Studierendenfutter: Anstößig?

    Sorry, “anstößig” scheint mir hier schlicht die falsche Kategorie zu sein. Wobei, wenn ich mir die Synonyme dazu anschaue, dann will ich nicht leugnen, dass eines davon doch passt:

    anrüchig, anstoßerregend, anzüglich, doppeldeutig, frivol, gewagt, nicht salonfähig, pikant, schockierend, shocking, unanständig, zweideutig; (schweizerisch) stoßend; (bildungssprachlich) lasziv, obszön; (scherzhaft) nicht stubenrein; (abwertend) schlüpfrig; (veraltend) schockant (duden.de)

    Ich gehe allein ins Restaurant, wenn ich hunger habe, keine Lust zum Kochen und niemand sonst mitkommt.

    Dort hat man quasi ein Alibi und steht nicht unter dem Verdacht, als Sozialversager allein essen zu müssen.

    Und der Sozialversager geht jetzt allein auf eine Tanzparty und wird dort ein paar allein oder in Gruppen stehende Damen zum Tanz auffordern.

  38. Mit anstößig meine ich einfach, dass man daran Anstoß nimmt. Ich gehe öfter essen, in Begleitung von Freunden, Kollegen, Bekannten. Wenn dann überhaupt mal eine Frau allein im Restaurint sitzt, kommen regelmäßig Kommentare, was die da wohl so allein macht. Ich sage dann, essen. Bei einem Mann allein wurde diese Frage noch nie in den Raum gestellt, denn da geht man davon aus, dass er einfach nicht kochen will oder einen anderen – in jedem Falle plausiblen – Grund hat, abends allein essen zu gehen. Bei einer Frau schwingt immer etwas mit von “die will wohl angsprochen werden, oder warum sitzt die da sonst allein?”. Das gilt übrigens nicht für Internetcafès, denn da hat man ja seinen Computer als Begleitung dabei und ist quasi nicht allein.

    Was ich sagen wollte ist, dass es Orte gibt, an denen es üblich ist, allein zu sein, und Orte, wo das absolut unüblich ist. Je nachdem, an welchem Ort man sich aufhält, variieren die Beurteilung des Alleinseins und die Üblichkeiten des persönlichen Raumes.

  39. @ Tom
    Da stimme ich dir voll und ganz zu. Die Bevölkerungsdichte wird höchstwahrscheinlich nicht der einzige bestimmende Faktor sein. Vielmehr wird es ebenso von Persönlichkeitsmerkmalen, Narrationen und kulturellen, wie auch regionalen „Gewohnheiten“ mitbestimmt. Allerdings würde ich dein „Gedankenexperiment“ noch weiter differenzieren, und zwar um eine „territoriale Variable“. Eine interessante Frage in diesem Zusammenhang ist, inwiefern der „Bekanntheitsgrad resp. Unbekanntheitsgrad der Umgebung/Situation“ eine Rolle spielt (ist das „reservierte Verhalten“ durch die Ungewissheit mitbestimmt?).
    Des Weiteren sollte man zwischen Kontaktaufnahme (Wieso nimmt der Mensch Kontakt zu Fremden auf; hierbei spielen Faktoren wie „Austausch-Theorie“, „Theorie der kognitiven Balance“, aber auch körperliche Attraktivität, soziale und demografische Ähnlichkeit etc. eine Rolle) und dem „Aushalten räumlicher Nähe in der Intimdistanz, Persönliche Distanz“ ohne Kontaktaufnahme?!
    Addendum: Hier noch ein interessanter (?) Artikel (habe ihn selbst noch nicht gelesen) zum Thema „Zwangsgemeinschaft“ (Soziologie des Fahrstuhlfahrens: http://www.soziologie.uni-mainz.de/FB02/hirschauer/Dateien/Hirschauer_Praxis_des_Fahrstuhlfahrens.pdf).

  40. @Stefan

    Mit der Kultur hat man zweifellos etwas Handefesteres als mit enticklunsggeschichtlichen Theorien, die sich wiederum selbst auf Rekonstruktionen der Umweltverhältnisse in der “Frühzeit” stützen. Dennoch ist es möglich, dass auch solche Theorien authentisch werden, solange sie etwas taugen, also nicht sofort widerlegt werden können und man idealerweise weitere Forschung darauf aufbauen kann.
    Wenn man sie nicht widerlegen kann, weil die jeweilige Fragenbogen-Studie eben kein anderes Ergebnis zuließ und man das Ergebnis zudem so interpretieren kann, wie man denn gerade möchte, ist das etwas anderes. Solcherlei “Erkenntisse” sind dann der Aufmacher im Wissensteil eines beliebigen Klatschblattes, aber ernst zu nehmen sind sie nicht.

    @Christian

    Ja, alle Faktoren aus der Herkunft (Landmensch oder Stadtmensch) müssten idealerweise miteingebracht werden, das ist wahr.
    Was die Umgebung angeht, so wäre die dem Stadtmensch vertraute Bahn oder der Bus wohl tatsächlich unpassend.
    Eine “neutrale” Umgebung wäre gut, die sowohl dem Landmensch wie auch dem Stadtmensch gleichermaßen bekannt ist – vielleicht irgendein Amt.
    Was die übrigen Faktoren angeht die du ansprachst, so ließe sich wohl nur randomisiert eine möglichst große Gruppe von Stadt- bzw. Landmenschen zusammenstellen, um alle Menschentypen zu erfassen.
    Aber soweit hatte ich ehrlich gesagt gar nicht gedacht.

    Gruß

  41. @Studierendenfutter

    Wenn dann überhaupt mal eine Frau allein im Restaurint sitzt, kommen regelmäßig Kommentare, was die da wohl so allein macht. Ich sage dann, essen.

    Ersteres sagt vielleicht mehr über diejenigen aus, die diesen Satz sagen, als über diejenige, die da sitzt.

    Mir ist dieser Gedanke jedenfalls noch nicht gekommen. Also wenn eine Frau im knallroten Kleid an der Bar sitzt und mit ihrer Körperhaltung offen in den Raum gerichtet ist, dann kommt mir wohl der Gedanke, dass sie flirten will; doch selbst das würde ich nicht anstößig nennen, sondern vielleicht mutig – oder überraschend.

  42. @Tom: plausibler

    Okay, das hört sich schon plausibler an und damit kann ich leben. Mir schien diese evolutionäre Erklärung am Anfang doch etwas voreilig und allgemein. Ich wundere mich jedenfalls regelmäßig darüber, dass so viele Menschen diesen Erklärungen ungeprüft so eine große Kraft beimessen.

    Wenn Sie es irgendwann noch schaffen, meinen Namen richtig zu schreiben, dann bin ich fast glücklich. 😉

  43. Ersteres sagt vielleicht mehr über diejenigen aus, die diesen Satz sagen, als über diejenige, die da sitzt.

    Sicher, denn warum sie da sitzt (außer essen), kann man nur vermuten. Allerdings wissen Frauen um diese Vermutungen und vermeiden aus diesem Grund, allein im Restaurant zu sitzen. Auf diesem Umweg kann man sicher auch argumentieren, es läge am Selbstbewusstsein, dass sie sich ungern in eine unangenehme Situatio begeben.

    Mir ist dieser Gedanke jedenfalls noch nicht gekommen.

    Das will ja nichts heißen.

  44. In dem Artikel kommt Ihre Unsicherheit rüber. Immer noch denken Sie darüber nach, was daran so komisch war und wer zuerst und wie man das einer Dritten, dazugekommenen Person erklären muss.
    Normal fragt man aber schon, ob man sich dazu setzen kann, bzw. ob die Plätze frei sind. Andererseits, wenn das nicht der Fall wäre, dann würde man das auch sagen. Ist doch cool, so gesellig zu sein, vermutlich sind Einzelkinder auch territorialer in der Hinsicht.
    Wir sollten kommunikativer werden…
    Ich sitze, wenn ich meine Ruhe haben will und nicht auffallen will in einem Restaurant in der hinterletzten Ecke, wenn ich gut drauf bin sitz ich mitten im Raum und auf dem nächstbesten Platz und hätte auch nichts dagegen angesprochen oder Gesellschaft zu haben, ist auch eine Frage der Verfassung, ob man offen ist. 😀

  45. diese Rollenklischees sind leider nicht von vorgestern. Den Frauen wird aufoktroyiert, Freiwild und ein Sexobjekt zu sein, bzw. so werden sie gesehen und dargestellt. Gleichzeitig werden die Frauen so veräppelt, weil es die Männer wissen und von jeder Frau sofort denken, die nur unterwegs ist und nicht 200% bieder aussieht, dass es eine Prostituierte ist. Das ist eine gesellschaftliche Katastrophe und liegt daran, dass Deutschland eine Sexindustriehochburg ist und das Bordell Europas und jedes Gespür für normal abhanden gekommen ist weitenteils (“sowas muss es geben”, daher schicken wir die Mädchen drein). Nachdem ich nun den Wechseljahren nah bin und auch noch heilfroh darüber nun nicht mehr ständig dumm angemacht zu werden, sehe ich die Dinge noch klarer und mir tun Frauen leid, dass sie in solche Sexrollen gedrängt werden und damit viel Zeit verplempern um zu gefallen und nicht aufzufallen usw. Auch diese Gier nach künstlichen Möpsen von jungen Frauen ist eine Katastrophe und Irreführung. Die meisten Frauen haben in jungen Jahren enorme Komplexe und ich denke von wegen, dass nur in anderen Ländern Frauen unterdrückt werden, Deutschland ist in der Hinsicht Spitzenreiter und um so beschämender, dass sich hier immer mehr Frauen verkaufen sollen, es nur noch um Sexthemen geht und das uns permanten über die Medien berieselt und alles zu kaufen gibt. Es sind also verklemmte Individuen unterwegs, die die gezeigten Rollen von allen erwarten.
    Gerade Deutschland ist verklemmt. Man soll dies nicht, das nicht, um gesellschaftlich anerkannt zu sein und obendrein, versinkt man in einer sterilen Anonymität und kann nicht mehr seinen Nachbar wahrnehmen, weil man das nicht tut, bzw. nur alle eine Rolle sein zu haben… 😉

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