Plädoyer für eine Neurogeschichte?

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Neuroästhetik, Neurogermanistik, Neuropädagogik – wir haben inzwischen viele Neuroschöpfungen kennengelernt. Gesellt sich zu ihnen nun eine „Neurogeschichte“? Diesen Eindruck kann man gewinnen, wenn man Johannes Fried folgt, Professor emeritus für Mittelalterliche Geschichte an der Universität Frankfurt. Mit seiner „historischen Memorik“, die sich an Kenntnissen von Psychologie und Hirnforschung orientiert, möchte er die historische Quellenanalyse verändern. Können die Neurowissenschaften unser Geschichtsverständnis revolutionieren?

In einem Streitgespräch in der aktuellen Ausgabe des Geschichtsmagazins epoc plädiert der Mediävist Johannes Fried für die Berücksichtigung neuerer Erkenntnisse über menschliche Wahrnehmung und Gedächtnis. Die Wahrnehmung könne niemals objektiv sein und unser Erinnerungsvermögen sei alles andere als perfekt.

Nicht allein der Vorgang der Verschriftlichung bringt Abweichungen mit sich, die aktuelle Psychologie und Hirnforschung lehren uns vielmehr, dass unser episodisches Gedächtnis kein simpler Datenspeicher ist! Da werden Informationen schon beim Speichern mit altbekannten Inhalten verknüpft, und jedes Abrufen geht mit einem anschließenden Neuspeichern einher. (Johannes Fried)

Kriminalisten würden diesen verzerrenden Effekten bereits Rechnung tragen. Historiker zeigten sich hingegen von den neueren Erkenntnissen unbeeindruckt.

Frieds Gesprächspartner Hans-Joachim Gehrke, Althistoriker und Präsident des Deutschen Archäologischen Instituts, sieht in dieser Diagnose eher die Historikern altbekannte Mahnung zur kritischen Quellenauswertung. Auch ohne Psychologie und Hirnforschung stünden ihnen Verfahren zur Überprüfung ihrer Quellen zur Verfügung. So könne man mithilfe der Sachkritik die Stimmigkeit historischer Angaben überprüfen. Dass Geschichtsschreiber in ihren Darstellungen Partei ergreifen würden oder manches nur selektiv wahrnähmen, sei unter Geschichtswissenschaftlern längst kein Geheimnis mehr. Schließlich könnten sie auch einfach ihre kritische Rationalität, ihren Verstand gebrauchen, um ihre Quellen stimmig auszuwerten.

Dennoch hält Fried an der Bedeutung seiner Memorik fest, ein Kunstwort aus „Historik“ und „Memoria“. Beispielsweise habe man bisher nicht genügend beachtet, welche unbewussten Einflüsse die überlieferten Erinnerungen und Zeugnisse beeinträchtigt haben könnten. Ein typischer Fehler sei etwa, dass zeitlich getrennte Ereignisse miteinander verschmolzen, also als zeitgleich erinnert würden. Das habe er von den Neurowissenschaften gelernt. Für das Geschichtsverständnis könnten solche Irrtümer entscheidend sein. Insgesamt zwanzig sogenannte Verformungsfaktoren will er identifiziert haben, welche eine Neubewertung mancher Quellen notwendig machten.

Meine Meinung

Ich bin nun kein Historiker, allenfalls ein Geschichtsinteressierter. Dennoch glaube ich, die Überzeugungskraft der Forderungen des Mediävisten Frieds auf die Probe stellen zu können: Erstens finde ich den Verweis auf die Neurowissenschaften verdächtig. Zugegeben, die Entdeckungen der Gedächtnisforschung sind durchaus verblüffend und deuten auf systematische Fehler unseres Erinnerungsvermögens. Doch sind das nun Entdeckungen der Psychologie oder der Hirnforschung? Diese Phänomene wurden durch Verhaltensexperimente und Berichte von Versuchspersonen entdeckt, nicht durch Gehirnuntersuchungen. Indem wir also selbst sachkritisch vorgehen, so wie es Gehrke von den Historikern behauptet, können wir eine berichtete Erinnerung als falsch entlarven. Erst nachdem wir bereits wissen, was eine falsche und was eine richtige Erinnerung ist, können wir die Hirnvorgänge unterscheiden. Dabei mag es durchaus interessant sein, die dazugehörigen Gehirnprozesse zu untersuchen; aber das Phänomen selbst ist ein psychologisches und stellt sich uns in zwischenmenschlicher Interaktion dar. Wir sollten also zurückhaltend damit sein, eine geschichtliche Erkenntnis auf die Hirnforschung zu stützen. Andernfalls haben wir es vielleicht mit einem Fall unzulässiger Neuroautorität zu tun.

Zweitens stehen uns die Gehirne der Menschen, die uns historische Zeugnisse liefern, für funktionelle Untersuchungen nicht zur Verfügung. Das heißt, selbst wenn wir den Beitrag der Neurowissenschaften zum Verständnis des Gedächtnisses ernst nähmen, würde das unser Problem nicht lösen. Denn aus der Tatsache, dass man sich manchmal in einer bestimmten Weise irren kann – laut Fried können bis zu 40 Prozent unserer Gedächtnisinhalte falsch sein –, folgt nicht, dass man sich immer irrt. Für die Auswertung einer Quelle scheint es mir aber nicht hinreichend zu sein, an die prinzipielle Fehlbarkeit zu denken. Relevant ist doch, ob der Geschichtsschreiber in diesem konkreten Einzelfall Opfer einer Täuschung wurde. Wenn uns die Neurowissenschaften bei der Beantwortung dieser Fragen helfen sollen, dann müsste doch der Mensch beim Anfertigen seines Zeugnisses untersucht werden – und das ist im Bereich von alter und mittelalterlicher Geschichte unmöglich.

Drittens frage ich mich, wie der Memoriker aus seinem Katalog diejenigen Verzerrungsfaktoren heraussuchen will, die bei einer vorliegenden Quelle zu berücksichtigen seien. Wie will er sich gegen den Verdacht verteidigen, wiederum selbst unbewussten Einflüssen und Verzerrungen seiner Einschätzung zum Opfer zu fallen? Wie können wir wissen, ob es sich nicht um eine Rekonstruktion post hoc handelt, dass also der Geschichtswissenschaftler zuerst eine Idee hat, wie ein historisches Ereignis neu interpretiert werden könnte, und sich danach aus dem Katalog die passende Begründung heraussucht, um mit einer Neubewertung der Quellen seine Interpretation zu stützen? Er würde also nicht mit den Quellen beginnen, sondern die Quellen im Licht seiner neuen Idee verstehen. Zeugnisse, die dann nicht recht ins Mosaik passen wollen, könnte man aufgrund eines vermeintlichen Verzerrungsfaktors diskreditieren, damit das Gesamtbild stimmt. Womöglich wird sich der Memoriker also den Vorwurf gefallen lassen müssen, sich bei der Quellenanalyse selbst mit neurowissenschaftlichen Verfahren untersuchen zu lassen, um unbewusste Einflüsse, systematische Verzerrungen und verborgene Motive aufzudecken.

epoc 1/2010, S. 56-61.

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1 Kommentar

  1. Neurologische Geschichtsschreibung

    Ein Sprichwort sagt: Die Geschichte ist immer die Geschichte der Sieger. Und die schreiben in ihre Geschichte was ihnen genehm ist. Ich denke, das ist ein gewollter, wissentlicher Akt und hat nicht viel mit neurologischen Vorgängen zu tun, es sei denn, man untersucht, welche neurologischen Prozesse stattfinden, wenn man seine Geschichte schreibt. Wie schwer das ist mit der Geschichte zeigt doch allein die Aufarbeitung des Dritten Reiches und der DDR. Das Überlebende des Holocaust nicht über ihr Erleben gesprochen haben, hat auch weniger mit Neurologie zu tun, sondern mit Verdrängung des Schrecklichen. Vielleicht kann man sagen, dass jeder Prozess der in der Psychologie untersucht wird, auch mit Neurologie zu tun hat. Schließlich ist vieles, worüber Freud seinerzeit spekuliert hat, heute neurologisch nachgewiesen.
    Ich denke, wenn ein Historiker seine Arbeit ordentlich macht, kommt auch eine ordentliche Geschichtsschreibung heraus.

    Melanie

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