Seid polyedrisch!

Ohne ein intimer Kenner der Kirchengeschichte zu sein, wage ich zu behaupten: Selten noch hat ein Papst ein so menschliches Bild von Gesellschaft so mathematisch beschrieben wie der dieses Jahr gewählte Papst Franziskus in seiner Enzyklika “Evangelii gaudium” (“Die Freude des Evangeliums”),

“Das Modell ist nicht die Kugel, die den Teilen nicht übergeordnet ist, wo jeder Punkt gleich weit vom Zentrum entfernt ist und es keine Unterschiede zwischen dem einen und dem anderen Punkt gibt. Das Modell ist das Polyeder, welches das Zusammentreffen aller Teile wiedergibt, die in ihm ihre Eigenart bewahren. Sowohl das pastorale als auch das politische Handeln sucht in diesem Polyeder das Beste jedes Einzelnen zu sammeln. Dort sind die Armen mit ihrer Kultur, ihren Plänen und ihren eigenen Möglichkeiten eingegliedert. Sogar die Menschen, die wegen ihrer Fehler kritisiert werden können, haben etwas beizutragen, das nicht verloren gehen darf. Es ist der Zusammenschluss der Völker, die in der Weltordnung ihre Besonderheit bewahren; es ist die Gesamtheit der Menschen in einer Gesellschaft, die ein Gemeinwohl sucht, das wirklich alle einschließt.”

… und zwar im Abschnitt mit dem Titel “Das Ganze ist dem Teil übergeordnet”, was vielleicht etwas sozialistisch klingt, oder auch nach Werner Heisenberg, aber sehr humanistisch gemeint ist.

Das Konzept des Polyeders – das gar nicht rund ist, sondern in dem Spitzen weit weg von einer wie auch immer gewählten oder konstruierten oder gefühlten Mitte sind, das ist Gegenstand unserer Forschung. So beschäftigt sich Projekt A03 des Berlin-Münchener Transregio-Sonderforschungsbereichs “Diskretisierung in Geometrie und Dynamik” der DFG mit der Frage, wie rund denn Polyeder im Allgemeinen sind, und was man daraus schließen kann, und im Seminar “Roundness” an der FU Berlin wird das auch öffentlich erörtert, allerdings nicht von der Kanzel, sondern – wie das Mathematikerinnen und Mathematikern angemessener vorkommt – an der Tafel.

Das Bild des Polyeders – das gar nicht rund ist, sondern in dem Spitzen weit weg von einer wie auch immer gewählten oder konstruierten Mitte sind, das ist auch Gegenstand meines mathematik-historischen Interesses: So geht es im Kapitel “Ein Genie macht einen Fehler” von “Mathematik – Das ist doch keine Kunst!” um eine Zeichnung des gesternten Rhombenkuboktaeders, die das Renaissance-Genie Leonardo da Vinci für das Geometriebuch seines WG-Genossens, Mathematiklehrers und Freundes, den Franziskanerpater Luca Pacioli.

Das gesternte Rhombenkuboktaeder, gezeichnet von Leonardo da Vinci
Credit: Foto: Christoph Eyrich Das gesternte Rhombenkuboktaeder, gezeichnet von Leonardo da Vinci

Das gesternte Kuboctaeder ist aus vielerlei Hinsicht interessant, und passt auch zur Botschaft der päpstlichen Enzyklika: Denn erstens enthält nicht nur Leonardos Zeichnung einen bemerkenswerten Fehler (für den ich in aller Bescheidenheit auf mein Buch verweise), sondern das von Leonardo entworfene Objekt hat Karriere als Weihnachtsstern gemacht, mit sehr viel längeren Spitzen als in der Originalzeichnung von Leonardo, als “Herrnhuther Weihnachstsstern”, den ich hier mit einem wunderbaren Foto von Christoph Eyrich (Danke, Christoph) an das Ende meines Weihnachtsblogs stelle. Seid polyedrisch!

Herrnhuter Stern
Credit: Foto: Christoph Eyrich Herrnhuter Stern

 

 

 

 

Veröffentlicht von

Professor für Mathematik an der Freien Universität Berlin, Leiter des “Medienbüros” der Deutschen Mathematiker-Vereinigung, Aktivist, Kommunikator, Sekttrinker, Gelegenheitsblogger, Kolumnist und Buch-Autor: "Darf ich Zahlen?" und "Mathematik - Das ist doch keine Kunst!".

6 Kommentare

  1. Ja, über das Polyeder-Bild habe ich auch ein wenig gestaunt. Ob es damit zusammen hängt, dass Franziskus (auch) studierter Chemiker ist? Hat der Polyeder in der Chemie eine besondere Bedeutung?

    Auf jeden Fall kann man sich ja nur darüber freuen, dass mathematische Formen durch Papstschreiben promotet werden. Am Besten, ihr benennt jetzt einen coolen Polyeder nach ihm! 😉

    • “Ob es damit zusammen hängt, dass Franziskus (auch) studierter Chemiker ist?”

      Auch wenn sich das argentinische und das deutsche Bildungssystem voneinander unterscheiden und sich aus diesem Grund die Bildungsabschlüsse nicht 1:1 vergleichen lassen, so sollte man trotzdem anmerken, dass nach deutschem Verständnis der Papst wohl eher als “gelernter” und nicht als “studierter” Chemiker gelten würde. Er besuchte nämlich eine technische Schule in Buenos Aires und keine Universität. Mit 21 Jahren wechselte er dann aber in ein Priesterseminar, wo er “richtig” studierte.

    • Vielen Dank, @Karl Bednarik!

      Ich hatte schon vermutet, dass die Chemie bei Franziskus fortwirkt; er fordert u.a. die Theologen auf, aktiv auf die anderen Wissenschaften zuzugehen. Und benutzt ein mathematisches Bild und Symbol zur Verdeutlichung seines Kirchenbildes.

      Spannend….

    • Genau – und hier würde es sich ja sogar direkt auf eine ungewöhnlich “interdisziplinäre“ Aussage beziehen und damit Wahrnehmungen von überraschenden Bezügen zwischen Mathematik, Chemie und (Reform-)Theologie in die Medien und auch wissenschaftliche Öffentlichkeit tragen. Wäre für viele – auf allen Seiten – sicher ein fruchtbares Aha-Erlebnis! 🙂

Schreibe einen Kommentar