Organismen gibt es, weil wir unseren Tod fürchten

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Unsere Umwelt zwischen Kultur und Natur
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In dem Artikel „Nur Lebewesen leben“ habe ich argumentiert, daß das Wesentliche dessen, was wir Lebewesen zuschreiben – insbesondere, daß die Teile sowie Teile und Ganzes wechselseitig als Ursache und Wirkung erscheinen, daß alles in ihnen als zweckmäßig füreinander eingerichtet erscheint, daß sie uns als sich selbst erzeugende und erhaltende Systeme erscheinen, kurz, daß sie uns als „Organismen“ erscheinen – nur für die einzelnen Lebewesen gilt. Es gilt nicht bereits für physikalische Kreislaufsysteme, die infolge negativer Rückkoppelungen dauerhaft erhalten bleiben, und auch nicht für Ökosysteme (wie man oft meint, und zwar, weil diese solche Kreisläufe enthalten und weil man in ihnen Kooperationsbeziehungen der Art zu finden scheint, wie sie zwischen Organen eines Organismus bestehen). Darum kann man Ökosysteme auch nicht, wie in der Öko-Ideologie weithin üblich, als Organismen höherer Ordnung oder als organismenartige Systeme begreifen. Einige der Hauptglaubensätze dieser Ideologie sind damit sinnlos.

In diesem Zusammenhang habe ich (in Übereinstimmung mit einem Großteil der philosophischen Tradition) argumentiert, daß die Selbstzweckhaftigkeit der lebenden Natur dieser nicht objektiv zukommt, daß wir sie den Organismen vielmehr zuschreiben. Ich habe – mit Kant – versucht zu zeigen, daß das eine regulative Idee ist, mit der wir uns die Organismen verständlich machen, aber nicht die Organismen und die Prozesse, die in ihnen ablaufen, erklären; daß etwas einen Zweck für etwas anderes erfüllt, erklärt nicht – jedenfalls nicht fürs Erste, ich komme noch darauf zu sprechen, daß es komplizierter ist –, daß ein bestimmter Prozeß abläuft oder ein Organ in bestimmter Weise geformt ist. Wenn die Biologie ein Objekt mittels dieser Analogie des Handelns nach Zwecken als in ihre Wissenschaft gehörend identifiziert hat, dann kann sie sich an seine Erklärung machen, die wie in Physik und Chemie kausal ist.

Ein Referat von Marianne Schark[1], das ich kürzlich auf einer philosophischen Tagung an der Humboldt-Universität zum Thema „Organismus“ gehört habe, brachte mich darauf, daß der entscheidende Gedanke sich auch auf einem ganz anderen Weg[2] begründen läßt: der Gedanke, daß wir Lebewesen von nicht-lebenden Dingen nicht mit naturwissenschaftlichen Mitteln unterscheiden können. Wir unterscheiden hier also nicht so, wie wir etwa ein Sauerstoffatom von einem Wasserstoffatom unterscheiden, wozu naturwissenschaftliche Mittel hinreichend sind. Vielmehr tun wir das durch Ideen, die wir aufgrund von Erfahrungen bilden, welche wir an uns selbst oder in unserer Lebenswelt machen. Nur so können wir auch Prozesse identifizieren, die Organismen zugehören und für sie Funktionen ausüben. Es handelt sich bei der Zweckmäßigkeit dieser Funktionen für den Organismus nicht um eine Bestimmung, die wir als der Natur objektiv zukommend betrachten können in dem Sinne, wie wir etwa die Verursachung einer bestimmten Bewegung durch Druck oder Stoß als objektiv der Natur zukommend auffassen.[3]

Der Argumentationsgang, der zum genannten Ergebnis führt und den ich nun skizzieren will,[4] ist, wie gesagt, ein ganz anderer als der, dem ich in „Nur Lebewesen leben“ gefolgt bin. Ich gehe nun von der Frage aus, was denn eigentlich der Begriff Funktion bedeute. Gemeint ist nicht der mathematische Funktionsbegriff, sondern „Funktion für etwas“. Wenn man einem Prozeß oder einem Ding oder einer Eigenschaft eine Funktion zuschreibt (oder, wie es auch oft der Fall ist, den Prozeß eine Funktion nennt), meint man, daß man diesen Prozeß usw. insofern betrachtet, als er zu etwas dient, d. h. insofern als er (bzw. „die Funktion“) einen Zweck erfüllt. In der Biologie wird überaus oft der Funktionsbegriff einfach nur deshalb benutzt, um den Zweckbegriff, der als verboten gilt, weil man (in bestimmtem Sinne zu recht) meint, er setze eine zwecksetzende Instanz voraus und man (in bestimmtem Sinne nicht zu recht) meint, das dürfe man in einer Naturwissenschaft nicht tun, zu vermeiden. Aber vermeidet man ihn bereits, wenn man nicht mehr von Zweck spricht, sondern nur noch von Funktion? In welchem Verhältnis stehen Zweck- und Funktionsbegriff zueinander? So wie ich eben formuliert habe, setzt der Funktionsbegriff ja den Zweckbegriff voraus. Doch setzt er damit auch voraus, daß es eine zwecksetzende, d. h. Absichten verfolgende Instanz gibt?

Es gibt mehrere Argumentationswege, auf denen versucht wurde, den Funktionsbegriff und damit auch den Zweckbegriff für den Bereich der Biologie zu naturalisieren, d. h. Vorgänge, in denen zunächst eine Zwecksetzung am Werk scheint, auf kausale Prozesse zu reduzieren und sie so ganz ohne intentionale Begriffe zu beschreiben. Einer davon ist der, der am Begriff der ätiologischen Funktion ansetzt (verbunden mit Namen wie Millikan, Neander, auch Larry Wright).

Wir machen im allgemeinen Sprachgebrauch einen Unterschied zwischen einer Funktion, die etwas hat, und der Funktion, die etwas hat. Das trifft nicht ganz die Besonderheit dessen, was man ätiologische Funktionen nennt, kann aber helfen, sie verständlich zu machen:

Man kann nach Belieben ein System definieren und einen Zustand desselben als seinen Sollzustand bezeichnen. Alles, was zur Herbeiführung oder Erhaltung dieses Zustands beiträgt (was, teleologisch, als Mittel dazu betrachtet werden kann), übt bezogen auf diesen eine Funktion aus, ist funktional für diesen. Diesen Funktionsbegriff kann man als dispositional bezeichnen.[5] Jede beliebige Ursache-Wirkungs-Beziehung kann man, wenn man den bewirkten Zustand als Sollzustand betrachtet, funktional in diesem Sinne nennen. Knollenblätterpilze würden wir nicht als funktional, sondern als dysfunktional für den Menschen betrachten, der sie ißt. Wenn wir aber den dadurch hervorgerufenen Tod als Sollzustand definieren, also die Perspektive des Giftmörders einnehmen, dann üben die Pilze eine erwünschte Funktion aus, sie sind funktional, nicht dysfunktional. Daß – und das ist nun der entscheidende Punkt – die Pilze Gift enthalten, kann aber nicht dadurch erklärt werden, daß ein Mörder sich diese Funktion zunutze machen kann. Oder: Daß eine Funktion des Regens darin besteht, das Pflanzenwachstum zu ermöglichen, erklärt nicht, daß es regnet. Das ist im folgenden Fall anders:

Wir sprechen nicht nur von einer Funktion, die etwas für etwas anders hat (eine Funktion der Nase ist es, die Brille zu tragen, Voltaire, Candide), sondern auch von der Funktion. Diese letztere Verwendungsweise des Funktionsbegriffs zeichnet sich dadurch aus, daß nicht nach Belieben festgesetzt werden kann, was das System sein soll, für das die Funktion ausgeübt wird, und daß auch der Sollzustand nicht nach Belieben oder nach unseren Interessen festsetzbar ist. Wenn wir von solchen Systemen, bei denen man überhaupt von der Funktion sprechen kann, sagen, daß etwas ihnen „dient“ oder für sie „gut“ sei, dann meinen wir das nicht in einem relativen Sinn (gut im Hinblick auf das, was wir – im Prinzip willkürlich – als Sollzustand definiert haben). Es sind nur Systeme ganz bestimmten Typs, bei denen Funktionszuschreibungen dieser Art möglich sind. Wenn wir von Systemen dieses Typs sprechen und den Funktionsbegriff auf sie anwenden, setzen wir, in welchem Sinn auch immer, bereits voraus, daß sie von sich aus Sollzustände haben; wir können solche Zustände also nicht einfach nach Belieben definieren.

Diese Verwendungsweise des Funktionsbegriffs zeichnet sich nun dadurch aus, daß sie erklärenden Charakter hat; daher hat man diese Funktionen ätiologisch genannt. Es gibt zwei[6] Arten von Systemen, bezüglich derer der Funktionsbegriff in einem erklärenden Sinn gebraucht werden kann: Artefakte und Organismen.

Die Funktion der Uhr ist es, die Zeit anzuzeigen. Die Existenz der Uhr (damit auch ihrer „wesentlichen“ Eigenschaften) kann dadurch erklärt werden, daß sie konstruiert wurde, um diese Funktion auszuüben. Ihre Funktion erklärt, daß Artefkte sind, wie sie sind und daß sie überhaupt sind. Artefakte dienen, das ist das Wesentliche an ihnen, einem außer ihnen liegenden Zweck und sie wurden von einer äußeren Instanz (zumindest virtuell) hergestellt. – Die Funktion der Nase ist es, die Atemluft zu erwärmen, oder die Funktion der Nase ist es, den Geruchssinn zu verbessern. Diese Funktionen, die es nur bei Organismen gibt, dienen, anders als bei Artefakten, nicht einem außerhalb des Organismus liegenden Zweck, sie dienen dem Organismus selbst. Sie erklären aber, wie bei Artefakten, die Existenz des Funktionsträgers. Die eben genannten erklären zumindest mit, daß es Nasen gibt. Dagegen: Eine Funktion der Nase ist es, die Brille zu tragen. Diese (dispositionale) Funktion erklärt nicht, daß es Nasen gibt.

„Erklären“ kann im Falle eines Organismus aber zweierlei, und zwar sehr Unterschiedliches, bedeuten:

 (1) Die Funktion (oder eine ätiologische Funktion) eines Teils, eines Prozesses oder einer Eigenschaft eines Organismus nennen wir deren Wirkung dann, wenn sie zu seiner Selbstreproduktion beträgt. Das heißt aber, daß der Organismus, da er ja im Zuge seiner Selbstreproduktion sich (wieder)herstellt, auch den Funktionsträger (wieder)herstellt, denn dieser gehört wesentlich zum Organismus. So tragen also die Teile, Prozesse oder Eigenschaften, indem sie ihre Funktionen für den Organismus als Ganzen ausüben, in einem Rückkoppelungsprozeß zu ihrer eigenen Erhaltung bei. Ohne Ausübung ihrer Funktion könnte der Organismus und könnten damit sie selbst nicht bestehen, und in diesem Sinne erklärt ihre Funktion ihre Existenz.

 (2) Die (ätiologische) Funktion des Herzens ist es, Blut durch die Gefäße zu pumpen. Weil es diese seine Funktion bisher ausübte und solange es sie ausübt, existiert es, wie eben gesehen. Aber erklärt die Funktion nur diese Noch-Existenz oder auch die Entstehung des Funktionsträgers? Letzteres ist behauptet worden (Neander, Millikan), man hat das die ätiologische Theorie des Funktionsbegriffs genannt. Das ist einer der oben genannten Argumentationswege, den Begriff der Funktion und mit ihm die Teleologie bezogen auf Organismen zu naturalisieren, d. h., auf kausale Prozesse zu reduzieren.

Die Funktionsträger sind in der biologischen Evolution als Produkte der Selektion entstanden. Die (ätiologische) Funktion eines Merkmals ist es, das zu tun, wofür es selektiert wurde. In Anwesenheit bestimmter Herbivoren hatten Pflanzen, die genetisch bedingt Ansätze zu Dornen aufwiesen, größeren Reproduktionserfolg, und im Laufe der Generationen sind so aus den Ansätzen zu Dornen richtige und immer besser funktionierende Dornen geworden. Was wie eine absichtliche Erzeugung zum Zwecke der Erfüllung bestimmter, für den Organismus nützlicher Funktionen scheint, wird reduziert auf eine Kausalkette von Mutationen und Selektionen.

 

Peter McLaughlin[7] hat diese Auffassung kritisiert. In der Tat: Eine Organismuskomponente oder eine Eigenschaft, die soeben neu entstanden ist, kann doch eine ätiologische Funktion haben. Sie kann, da neu entstanden, gar keine Selektionsgeschichte haben. „Ätiologische Funktion von etwas“ kann also nicht bedeutungsgleich damit sein, daß dieses Etwas im Zuge einer Kette von Mutationen und Selektionen auf diese Funktion entstanden ist. Die Organismuskomponente oder -eigenschaft muß nur aktuell „gut“ für den Organismus sein, wenn wir von der Funktion für den Organismus sprechen sollen.

Selbst der ganze Organismus muß nicht eine Selektionsgeschichte haben. McLaughlin bringt ein in der einschlägigen Debatte beliebtes (wenn auch zu anderen Zwecken erfundenes) fiktives Beispiel: Der Hund Lassie bekommt einen Doppelgänger, den Sumpfhund Massie. Dieser ist dadurch entstanden, daß ein gewaltiger Blitz, der in einen Sumpf einschlug, die Energie für ein außergewöhnliches zufälliges Ereignis lieferte, nämlich die Zusammenordnung der Moleküle zu dem Hund Massie. Würden wir nun Massie, der von Lassie nicht zu unterscheiden ist, nicht als Organismus betrachten, und das impliziert: würden wir den (ätiologischen) Funktionsbegriff nicht auf ihn anwenden? Würden wir nicht sagen, sein Herz habe die Funktion, den Blutkreislauf in Gang zu halten? Wir würden es sagen, und Massie wäre zweifellos ein lebender Organismus. Denn wir schreiben ihm ein „Wohl“ zu, es kann ihm gut gehen.

Gut für ihn ist, was seinem Wohlergehen dient. Dazu dient, was zu seiner Selbstreproduktion beiträgt, d. h. gut sind in der Tat die ätiologischen Funktionen. Sie sind erklärend (ätiologisch) für diese Funktion, jedoch nicht, weil sie im Zuge einer Kette von Mutations- und Selektionsprozessen entstanden sind – Massie ist in einem Augenblick entstanden –, sondern weil sie erklären, daß der Organismus lebt bzw. daß es ihm gut geht und daß, da „gut gehen“ auf die Selbstreproduktion bezogen ist, sie die (Noch-)Existenz des Funktionsträgers erklären. Würde das Blutpumpen nicht (richtig) ausgeübt, stürbe Massie und mit ihm ginge sein Herz zugrunde. Daß diese Funktionen bzw. die Funktionsträger normalerweise im Zuge einer Selektionsgeschichte entstanden sind – besser sollte man sagen: sich zu ihrer jetzigen Ausprägung hin verändert haben –, ist richtig, aber das muß nicht sein, es ist nicht das Wesentliche im Hinblick darauf, was bezogen auf Organismen (ätiologische) „Funktion“ bedeutet und auf diese Weise ist Funktionalität nicht auf Kausalität zu reduzieren.[8] Der Begriff der Funktion scheint Begriffe vorauszusetzen wie „Wohlergehen“, denen man ansieht, daß sie dem kausalmechanische Denken unzugänglich sind.

Marianne Schark hat nun die meines Erachtens entscheidende weiterführende Frage gestellt. Warum soll es denn gut für das Lebewesen sein, wenn es lebt, und schlecht, wenn es stirbt? Sie schreibt:

„Doch so billig kommen wir meines Erachtens nicht davon. Denn ich bezweifle, daß allein das Faktum, daß die charakteristische Aktivität von Lebewesen Selbst-Reproduktion ist[9], uns schon veranlaßt zu sagen, daß der kontinuierliche Vollzug dieser Tätigkeit für sie selbst gut ist. Vielmehr ist die […] These, nämlich daß die stete Regeneration seiner materiellen Bestandteile gut für das Lebewesen ist – insbesondere, wenn der Verweis darauf, daß es sich auf diese Weise im Dasein erhält, als Begründung dieser These gemeint ist – nur dann richtig, wenn (der Effekt der Tätigkeit, nämlich) erhalten zu bleiben, d.h. zu persistieren gut für ein Lebewesen ist […].

Eine Begründung für dieses implizite Werturteil findet sich bei McLaughlin nicht mehr. Und in der Tat fordert die Begründung dieser Annahme einen höheren „metaphysischen Preis“ von uns als bloß die Annahme der Existenz selbst-reproduzierender Systeme.

Die Grundlage hierfür scheint mir vielmehr unser generelles Werturteil zu sein, daß der Tod ein Übel ist, wogegen zu leben und sich selbst zu erhalten gut, m.a.W. erstrebenswert ist. Es sind wir – die wir in der Regel den Tod als ein Übel begreifen – , die sehen, was Gutes einem lebenden Wesen de facto aus bestimmten Ereignissen oder Folgen des Daseins von bestimmten Dingen erwächst – auch wenn es sich bei diesem Lebewesen um eines handelt, das selbst keinen Begriff davon hat. Unsere Präferenzordnung als Maßstab angelegt, bewirkt, daß wir, was immer zum Weiterleben dieses Wesens beiträgt, als etwas Gutes für es ansehen.

Wenn wir daher urteilen, daß beispielsweise der Herzschlag eines Wirbeltiers funktional, ein Herz mit verwachsenen Klappen, die die Blutgefäße nicht ganz abdichten, dysfunktional, und Herztöne afunktional sind, dann beruhen solche Urteile nach dieser Analyse letztlich auf unserer Wertschätzung des Weiterlebens gegenüber dem Tod. Diese ist der Grund, weshalb uns das der Lebensfähigkeit eines Wesens Zuträgliche als funktional, das sie Beeinträchtigende als dysfunktional, und das, was sich nicht auf sie beziehen läßt, als afunktional gilt. Pointiert ausgedrückt: Wären wir davon überzeugt, daß der Tod der Zweck des Lebens ist, oder hielten wir ihn für etwas grundsätzlich Erstrebenswertes, dann würden auch unsere Funktionsbestimmungen in Reiche des Organischen ganz anders ausfallen als sie es tatsächlich tun.“

 

Zu zweien der in diesen Ausführungen angesprochenen Punkte möchte ich einige Bemerkungen machen:

(1) Gegenstand der Biologie sind die lebenden Wesen. Diesen ihren Gegenstand kann die Biologie selbst nicht definieren (ausführlich dazu s. den Exkurs „Zur Definition von Leben“ in Trepl 2005). Es ist nicht so wie etwa im Falle der Atomphysik: Diese kann definieren, was ein Atom ist. Aber die Biologie versucht mit all ihren Definitionsversuchen immer nur zu treffen, was außerhalb der Biologie, in der „Lebenswelt“, als Leben gilt, d. h. was Leben „wirklich“ ist.[10] Im Biologielehrbuch von Czihak, Lange und Ziegler etwa glaubt man die Frage der Definition so gelöst: „[…] und somit läßt sich heute eine sehr präzise Definition von Lebewesen geben: Lebewesen sind diejenigen Naturkörper, die Nucleinsäuren und Proteine besitzen und imstande sind, solche Moleküle selbst zu synthetisieren“ (S. 1 in 92). Ein Einwand drängt sich sofort auf: Auch wenn alle Lebewesen auf der Erde beschrieben wären und sich herausgestellt hätte, daß sie alle von dieser Definition erfaßt werden, so ist es doch nicht ausgeschlossen, daß es Naturdinge gibt, die jene Definition nicht erfüllen und bei denen wir uns doch genötigt sähen, von Lebewesen zu sprechen. Es mag auf anderen Planeten so etwas geben, es mag auch zu Beginn des Lebens auf der Erde Lebewesen mit anderer chemischer Basis gegeben haben. Wann würden wir ein Naturding ein Lebewesen nennen? Wenn es sterben kann. Und wenn wir das Weiterleben wertschätzen, dann ist dieses Lebewesen ein Organismus, ein Gebilde, in dem die Teile fürs Ganze, d. h. für dessen Weiterleben funktional sind, u. d. h. zweckmäßig für dieses funktionieren.

Der Begriff der Organismus ist anders als der  Begriff des Lebewesens recht spät entstanden (18. Jahrhundert). Es mußte erst klar werden, was eine Naturwissenschaft ausmacht: daß sie die Natur kausalmechanisch analysiert, daß sie die Natur nach dem Modell der Maschine zu betrachten hat (also als etwas, das wir grundsätzlich selbst hervorbringen können), daß man darum die Lebewesen so betrachten muß, daß sie „einen Organismus haben“, ein Werkzeug (Organon), mittels dessen sie sich selbst am Leben erhalten (schließlich sind sie selbst ein Organismus). Es mußte auch erst klar geworden sein, daß die Naturwissenschaft teleologische Erklärungen als objektive nicht zuläßt, daß damit die Vorstellung des Lebewesens als Maschine, die ja einen aus Absichten handelnden Konstrukteur impliziert, nicht im Sinne einer objektiven Erkenntnis der Natur gemeint sein kann. Erst dann konnte der Begriff des Organismus in der Philosophie (insbesondere bei Locke, Leibniz, Kant) und in der (damit entstehenden) Biologie (insbesondere Cuvier) ausgearbeitet werden (vgl. Cheung 2000). Organismus ist ein theoretischer Begriff, mit dem die moderne Biologie versucht zu erfassen, was Lebewesen als naturwissenschaftliche Gegenstände ausmacht, ohne damit doch, wie man insbesondere bei Kant sehen kann, bei diesem Begriff allein mit dem auszukommen, was in einer Naturwissenschaft möglich ist, d. h. ohne der Teleologie eine bestimmte (regulative) Rolle zuzuweisen. Die lebensweltlichen Begriffe  des Lebens und des Lebewesens sind weit älter. Die Naturwissenschaft setzt sie voraus, und sie werden zu Konstitutionsmomenten einer besonderen Naturwissenschaft, der Biologie. Zu begreifen, worum es sich beim Leben und bei Lebewesen handelt, und damit ihren konstitutiven Gegenstand zu definieren, ist der Biologie als Naturwissenschaft aber nicht möglich.

(2) Naturalisten könnten meinen, die Argumentation von Schark käme ihnen entgegen. Sie würden, wenn sie  szientifische Naturalisten (und etwas belesenere als üblich) sind, vielleicht sagen: Zugegeben, man kann bei nicht-menschlichen Lebewesen so etwas wie „Wertschätzung des Weiterlebens gegenüber dem Tod“ nicht finden; dies nicht nur, weil sie vom Tod nichts wissen, sondern vor allem, weil „Wertschätzung“ weder ein beobachtbares Faktum ist noch ein von beobachteten Fakten ausgehend zu gewinnender Begriff, vielmehr schreiben wir das den Lebewesen zu aufgrund dessen, was wir „introspektiv“ über uns selbst wissen. Aber die „Wertschätzung des Weiterlebens gegenüber dem Tod“ ist doch eine Natureigenschaft des Menschen. Und zwar, so würde vielleicht ein Anhänger der sog. evolutionären Erkenntnistheorie (Vollmer u. a.) argumentieren, eine genetisch bedingte. Wer die nicht hat, hat einen Selektionsnachteil, seine Gene verschwinden tendenziell aus der Population. Folglich ist selbst dann, wenn wir es sind, die den Lebewesen unsere Liebe zum Leben zuschreiben, die Naturalisierung des Funktionsbegriffs und des Zweckbegriffs doch gelungen. Denn wir schreiben den Lebewesen ja etwas zu, was für uns Naturnotwendigkeit hat.

Aber hat es das? Sicher nicht, denn es gibt bekanntlich von Natur aus Menschen, die lieber sterben als leben. Es gibt genetisch bedingte Depressionen, die mit Suizidneigung einhergehen, und es gibt Dispositionen statt zu heftiger zu nur lascher Gegenwehr, wenn es ans Leben geht, und darunter mag manches sein, was eine genetische Komponente hat. Doch der Naturalismus muß sich damit nicht geschlagen geben: Es ist ja für die evolutionsmetaphysische Deutung gar nicht nötig, daß die Wertschätzung des Lebens für uns Naturnotwendigkeit hat in dem Sinne, daß sie jedem Menschen von Natur aus zukommt. Es reicht, wenn die dem Weiterleben jeweils förderlichen „Triebe“ (das Wort soll alles bezeichnen, was zu bestimmtem Verhalten antreibt und nicht in Gründen besteht), soweit sie genetisch bedingt sind, einen Selektionsvorteil haben. Die gegenteilige Triebe, was immer deren evolutionsbiologische Ursache sein mag und wie auch immer sie fortwährend von neuem entstehen mögen, werden dadurch ständig zurückgedrängt und auf einen relativ geringen Anteil in der Population begrenzt. Abstammungslinien, in denen jene gegenteiligen Triebe zu stark waren, sind ausgestorben.

Schark aber argumentiert ganz anders: „Wären wir davon überzeugt, daß der Tod der Zweck des Lebens ist, oder hielten wir ihn für etwas grundsätzlich Erstrebenswertes […]“. Sie verweist also nicht auf Triebhaftes bzw. auf Gefühle, sondern auf eine Überzeugung, damit auf eine Zustimmung zu in bestimmten Kulturen vorhandenen Denksystemen oder Schußfolgerungen, die in solchen Systemen über den Sinn des Lebens, also unseres Lebens, getroffen werden.

In manchen Kulturen (oder Religionen) gilt der Tod durchaus als erstrebenswert. Man könnte zunächst eine Ähnlichkeit sehen zu jenen dem Leben nicht förderlichen Trieben insofern, als auch die Überzeugungen vom hohen Wert des Todes zwar vorhanden, aber doch minoritär sind: Die nicht lebensdienlichen Überzeugungen haben einen Selektionsnachteil. Aber es handelt sich doch um einen ganz anderen Fall. Denn Überzeugungen werden nicht biologisch vererbt, und darum kann auch keine Selektionsgeschichte ihren Wandel erklären. Zwar findet man gelegentlich die Meinung, daß die Entstehung und der Wandel von Überzeugungen, darunter auch religiösen oder nicht-religiösen Vorstellungen vom Sinn des Lebens, evolutionsbiologisch erklärbar sind, aber das ist ganz abwegig. Selbst Vollmer wendet sich gegen die Auffassung, daß die Inhalte von Theorien der Selektion unterlägen. Und es sind Inhalte von „Theorien“, jedenfalls von etwas von der Art von Theorien (Denksysteme im weitesten Sinn, Ideologien, Weltanschauungen), die uns dazu bringen, dem Leben einen hohen Wert beizumessen, von denen viele aber auch dazu führen, das Leben geringzuschätzen und den Tod für etwas grundsätzlich Erstrebenswertes zu halten. Die Inhalte des Denkens sind auf keinen Fall erblich. Ein Gegner von Newtons Theorie mag seinen Nachkommen ein gewisses Vermögen des Denkens biologisch vererbt haben, aber nie und nimmer die Ergebnisse seines Denkens, hier seine Ablehnung der Newton’schen Theorie; sonst müßte man annehmen, daß Theorieentwicklungen in Veränderungen des Genoms ihre Ursache haben, daß also von der vor-newtonschen zur newtonschen Physik eine diesen Wandel verursachende genotypische Revolution unter den Physikern stattgefunden hat. Nicht anders ist es, wenn z. B. todessehnsüchtige Religionen durch lebensbejahende Religionen oder lebensbejahende nicht-religiöse Überzeugungen abgelöst werden.

Dennoch hat es eine gewisse Plausibilität, daß die den Tod wertschätzenden Überzeugungen minoritär bleiben müssen. Wenn sie auch nicht auf biologische Weise entstehen oder verschwinden – das „Gottesgen“ und seine ganze Verwandtschaft gehören auf den Boulevard, nicht in die Wissenschaft –, so fehlt es ihnen doch, so könnte man argumentieren, angesichts dessen, was die Menschen vor aller Theorie über den Wert des Lebens normalerweise (und nun zum Teil doch biologisch bedingt) eher fühlen als denken, an Attraktivität. Auch wenn der Märtyrer sich noch so sehr nach dem Ende seines Lebens sehnt, weil er davon überzeugt ist, daß er gleich im Paradies erwacht – es bleibt doch eine Art ursprünglicher Angst ums Leben sogar bei Gläubigen dieser Art, was dazu führt, daß es nie besonders viele Märtyrer gibt. Ähnlich wird es bei der Sehnsucht nach dem Nirwana sein. Das biologisch bedingte Gefühl, das in der Regel dazu treibt, am Leben zu hängen, mag dazu beitragen, daß man nicht so gern Anhänger von Denksystemen wird, die das Leben geringschätzen, oder es mit diesen Denksystemen, auch wenn man ihnen z. B. als Mitglied einer bestimmten Kirche irgendwie anhängt, im Leben besonders ernst zu nehmen. – Man beachte, daß diese Art der Verteidigung des Naturalismus mit der doch etwas sehr flachen Ausweitung des Prinzips der biologischen Selektion auf kulturelle Phänomene in dem Sinne, daß weniger gut aufs Überleben ausgerichtete Denksysteme negativ ausgelesen werden und sich darum nicht durchsetzen können, nichts zu tun hat. (Gegen solche Selektionstheorien spricht: Es ist nicht nur zu berücksichtigen, daß die das Leben geringschätzenden Denksysteme politisch-gesellschaftlich überaus durchsetzungsfähig sein können; zahllose Beispiele sprechen dafür, daß gerade die Lebensverachtung stark machen kann. Die typischen Werthaltungen kriegerischer Kulturen sind solche Beispiele, auch die mancher asketisch-lebensfeindlicher religiöser Orden. Vor allem muß man bedenken: das Annehmen von Überzeugungen z. B. weltanschaulicher Art folgt einfach überwiegend ganz anderen Regeln als denen des damit zu erzielenden (Über-)Lebenserfolgs. Aber damit sind, wie gesehen, den Naturalisten noch nicht alle Argumente genommen.)

An all solchen Überlegungen mag etwas dran sein. Gegen all das gibt es aber auch naheliegende Einwände. Man könnte etwa fragen, ob das Denken des Todes überhaupt in einen Bereich gehört, zu dem die Naturwissenschaft aufgrund der für sie konstitutiven methodischen Beschränkungen einen Zugang hat. Gibt es (folglich) überhaupt ein biologisch bedingtes Gefühl der Angst vor dem Tod? Man könnte auch noch andere Fragen stellen als solche, die mit der Wertschätzung des Lebens gegenüber dem Tod zu tun haben: Wenn „die“ Funktion eines Organs das an ihm ist, was „gut“ ist für das Lebewesen – wieso soll „gut“ denn „gut für die Selbstreproduktion“ bedeuten? Jeder weiß (manche Evolutionsbiologen vielleicht ausgenommen), daß „gut für“ keineswegs nur heißen muß, der Selbstreproduktion, damit dem individuellen Weiterleben oder dem Weiterleben in den Nachkommen dienlich zu sein. „Gut für“ hat in unserem Zusammenhang auch die Bedeutung, dem Genuß zu dienen. Was in diesem Sinne gut für das Lebewesen ist, ist irrelevant oder gar schädlich im Hinblick aufs Weiterleben, gar in kommenden Generationen. Warum nennen wir die Funktion des Ausstoßes einer bestimmten Substanz nicht, daß sie dem Lebewesen ein für sein Weiterleben völlig nutzloses Hochgefühl verschafft? „Gut“ für es ist das doch auch. Und „das Leben“ zu schätzen bedeutet doch in unserem lebensweltlichen Denken nicht nur, das Weiterleben gegenüber dem Tod zu schätzen, sondern ein genußvolles und eben darum „lebenswertes“ Leben zu schätzen, auch, wenn es nur kurz und ohne Nachkommen ist.

Das stärkste Argument dafür, daß die möglicherweise biologisch bedingten „lebensbejahenden“ Gefühle gegenüber der Rolle, die die kulturell bedingten Denksysteme über das Leben und seinen Sinn spielen, von geringer Bedeutung sind, ist vielleicht folgendes. Wir sind geneigt zu glauben, daß Lebewesen zu allen Zeiten und in allen Kulturen immer diejenigen unter den Naturdingen waren, die sterben können. Das stimmt aber nicht. Im 17. und 18. Jahrhundert galt der Graben zwischen den Reichen des Lebenden und des Nichtlebenden keineswegs für tiefer als der zwischen dem Reich der Tiere und dem der Pflanzen (bei Foucault, in Die Ordnung der Dinge, ist das ausgeführt). Üblich war es damals auch, nur Tiere, nicht aber Pflanzen als Lebewesen zu bezeichnen. Nicht im Sterbenkönnen, sondern z. B. in der Beweglichkeit sah man das, was ein Lebewesen ausmacht.

Kurz, es bleiben einige Fragen, auch wenn mir Scharks These unbezweifelbar scheint: Hielten wir den Tod „für etwas grundsätzlich Erstrebenswertes, dann würden auch unsere Funktionsbestimmungen in Reiche des Organischen ganz anders ausfallen als sie es tatsächlich tun.“ Es gibt nur diesen Schluß: dann wäre etwa das Absterben bestimmter Zellen mit zunehmenden Alter funktional, denn es führt zum erstrebenswerten Zustand.

Es erscheint uns als etwas Bedeutendes, daß wir streben müssen, und das bringt uns dazu, unter den Dingen der Natur eine fundamentale Differenz wahrzunehmen: Es gibt solche, die sterben können und solche, die es nicht können. Und es ist die Wertschätzung unseres Lebens, die dazu führt, daß die Zuschreibung von (ätiologischen) Funktionen ausgehend davon erfolgt, daß es den Lebewesen aufgrund der Ausübung dieser Funktionen „gut“ geht, und daß „gut“ dabei bedeutet, daß ihre Selbstreproduktionsprozesse weiterlaufen. Wir unterscheiden zwischen sterbenkönnenden Dingen und nicht sterbenkönnenden Dingen, weil für uns Leben und Sterben etwas bedeuten – sei es positives oder negatives. Aber was uns als „gut“ gilt für das Lebewesen, so daß damit unsere Funktionsbestimmungen in Reiche des Organischen eben so ausfallen wie sie es tatsächlich tun und nicht etwa das, was zum Tode führt oder was bloßen Genuß verschafft, als „funktional“ gilt statt als dys- oder afunktional, hängt davon ab, daß wir in unser Weiterleben einen hohen Wert setzen.

Aber wieso, auf welcher Ebene, in welchem Sinne halten wir das Weiterleben für etwas Erstrebenswertes? Was ist die Relevanz von evolutionsbiologisch erklärbaren Gefühlen, was die Relevanz kultureller Denksysteme, zu deren Erklärung die Evolutionsbiologie nichts beiträgt? Was sind damit die Konsequenzen der Einsicht, daß es Lebewesen gibt, weil wir den Tod nicht lieben, für die Kontroverse um den Naturalismus? Diese Fragen scheinen mir noch nicht ganz geklärt.

 

Literatur:

Cheung, Tobias 2000: Die Organisation des Lebendigen. Zur Entstehung des biologischen Organismusbegriffs bei Cuvier, Leibniz und Kant. Frankfurt/M.

Czihak, G., H. Langer & H. Ziegler 1996: Biologie. 3. Aufl., Berlin, Heidelberg, New York.

McLaughlin, Peter 1999: What functions explain: functional explanation and self-reproducing systems. Cambridge.

Nagel, Ernest 1977: Teleology revisited. Journal of Philosophy 74: 261-301.

Schark, Marianne 2012: Der Organismusbegriff, der Lebewesenbegriff und die Frage der Naturalisierbarkeit des Funktionsbegriffs. Vortragsmanuskript. Tagung „Organismus – Die Erklärung der Lebendigkeit“, HU Berlin, 6.-8.2012.

Trepl, Ludwig  2005: Allgemeine Ökologie, Band 1 – Organismus und Umwelt, Frankfurt am Main: Peter Lang. 

Blogartikel mit Bezug zum Thema: 1, 2, 3, 4, 5, 6, 7, 8, 9, 10, 11, 12, 13

[1] Marianne Schark ist Philosophin und hat Biologie studiert; sie arbeitet an der Charité.

[2] Schark zufolge ist dieser Begründungsweg unvereinbar mit dem, den ich im „Nur Lebewesen leben“ zu gehen versucht habe. Das halte ich nicht für richtig. Es würde aber zu weit führen, hier darauf einzugehen; es sei nur angemerkt, daß ich hier der Argumentation von Schark nicht in allen Punkten folge.

[3] Schark argumentiert, daß einem „das zu erklärende Phänomen abhanden zu kommen scheint“, wenn sich die „durch besondere Erfahrungen“ (KU, § 70) gegebene „objektive, reale Zweckmäßigkeit“ (§ 62) „als eine bloß durch unsere Beurteilung in sie [die natürlichen Wesen] hineingelegte Eigenschaft herausstellt (Schark S. 6). Die „besondere Erfahrung“ ist aber, scheint mir, nicht eine „objektive, reale Zweckmäßigkeit“ in dem hier unterstellten Sinn, sondern es sind empirische Phänomene, die uns zur Annahme eines Handelns aus Absicht veranlassen (an der zitierten Stelle aus der KU steht veranlaßt, nicht gegeben), weil sie anders (zumindest zunächst) unverständlich sind. „Objektiv“ und „real“ bezieht sich darauf, daß wir eben diese unerklärlichen Phänomene empirisch vorfinden; keineswegs finden wir die Zwecksetzung empirisch vor,  sie ist nur unsere (regulative) Idee. Die Zweckmäßigkeit dagegen kann man durchaus als einen objektiver Sachverhalt bezeichnen. Allerdings „ist die objektive Zweckmäßigkeit, die sich auf Zuträglichkeit gründet“ – im Beispiel die des Sandbodens für die Fichten – „nicht eine objektive Zweckmäßigkeit der Dinge an sich selbst“ (KU § 63). Sie ist nur relativ, ist vom Erkenntnissubjekt zugeschrieben dadurch, daß es eine bestimte Wirkung zum Zweck erklärt. Bei der inneren Zweckmäßigkeit ist die Zwecksetzung das, was als regulative Idee vom Erkenntnissubjekt zugeschrieben wird.

[4] Ich weiche im folgenden von der Schark’schen Darstellung stark ab. Es kommt mir nur auf das an, was ich für deren Pointe halte.

[5] In Anlehnung an McLaughlin, der mit damit Ernest Nagels (1977) Begriffsgebrauch bezeichnet hat.

[6] Manche meinen, es gebe noch mehr, z. B. die menschliche Gesellschaft.

[7] McLaughlin ist ein amerikanischer Philosoph und zur Zeit Professor an der Universität Heidelberg.

[8] Schark argumentiert, daß diese Reduktion deshalb nicht gelingen kann, weil die Selektionstheorie bereits den Funktionsbegriff voraussetzt (die Selektion erfolgt auf die Funktion). Ich habe daran Zweifel, meine aber, daß die Reduktion dennoch nicht möglich ist. Das kann ich hier nicht ausführen.

[9] Das ist ein aristotelischer Gedanke, dessen sich McLaughlin bedient, LT.

[10] Eine Analogie: Liebe, Angst, Freude gehen mit physischen Phänomenen einher, z. B. erhöhtem Pulsschlag; manche von diesen sind nur mit besonderen naturwissenschaftlichen Methoden beschreibbar, z. B. bestimmte biochemische Prozesse. Diese Phänomene können als Indikatoren benutzt werden. Man kann aber mittels ihrer nicht definieren – auch nicht mittels ihrer Gesamtheit – was Liebe usw. ist. Nun könnte man sagen: Als naturwissenschaftliche Gegenstände müssen sie eben so definiert werden, wie es einer Naturwissenschaft möglich ist; wer sich auf andere Art mit Liebe usw. befaßt, z. B. als Theologe oder Poet, befaßt sich mit einem anderen Gegenstand. So richtig das ist, so ist doch zu bedenken, daß sich die Naturwissenschaft in diesem Fall vorgeben läßt, was diese Gegenstände sind: Würde ein naturwissenschaftlich arbeitender Psychologe auf etwas stoßen, was seiner Definition von Angst nicht entspricht, aber „offensichtlich“ Angst ist, so würde er zugeben, daß seine Definition die „wirkliche“ Angst nicht immer trifft, und meinen, er bräuchte eigentlich eine bessere Definition. Ein Physiker dagegen würde sich im entsprechenden Fall von einer solchen lebensweltlichen Einsicht z. B. darüber, was „Kraft“ sei, nicht irritieren lassen. Nicht irgendein vortheoretisches Wissen über „Offensichtliches“, sondern nur eine überlegene physikalische Theorie könnte ihn davon überzeugen, daß seine Definition verändert werden müßte. 

 

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Ich habe von 1969-1973 an der Ludwig-Maximilians-Universität München und der FU Berlin Biologie studiert. Von 1994 bis zu meiner Emeritierung im Jahre 2011 war ich Inhaber des Lehrstuhls für Landschaftsökologie der Technischen Universität München. Nach meinem Studium war ich zehn Jahre lang ausschließlich in der empirischen Forschung (Geobotanik, Vegetationsökologie) tätig, dann habe ich mich vor allem mit Theorie und Geschichte der Ökologie befaßt, aber auch – besonders im Zusammenhang mit der Ausbildung von Landschaftsplanern und Landschaftsarchitekten – mit der Idee der Landschaft. Ludwig Trepl

104 Kommentare

  1. @Ludwig Trepl

    Auch mir hat die Diskussion im von Ihnen angesprochenen Sinne viel gebracht und ich freue mich auf weitere inspirierende Blogartikel von Ihnen mit erfahrungsreichem Austausch. Vielleicht werde ich zukünftig dann auch mal versuchen, meinen Schutzgürtel abzubauen…

    Kurz nur zu Ihrer Frage: Ja, ich könnte auch die Kausalreaktionen Illusionen nennen und die Zuschreibungen real. Und ich würde es in gewissen Situationen wohl auch tun, denn mir sind alle Perspektiven jedenfalls insofern ‘wahr’ als sich damit sinnvolle(re) Erkenntnisse gewinnen lassen.
    Dass ich die Zuschreibungen hier als fiktional oder Illusionen bezeichnete, das liegt (neben meiner Position in dieser Diskussion) an der Überzeugung, dass sich der schon in der Vergangenheit abgelaufene Erkenntnis- und Umdenkungsprozess fortsetzen wird und wir deshalb immer weniger Intentionen zur Erklärung des uns Umgebenden brauchen werden.
    Aber ganz unvermeidlich werden sie nicht werden, da stimme ich Ihnen zu, denn zumindest für uns selbst als Menschen werden wir sie immer (teils) benötigen…

  2. Schluss /@Ludwig Trepl

    Danke für die anregende Diskussion, Herr Trepl.

    Dank dieser bin ich beim Rumstöbern auf den Philosophen Markus Wild gestoßen (z.Zt. wohl in Fribourg, CH). In der Zeitschrift EWE (2012, 23/1) wurde sein Aufsatz über Tierphilosophie diskutiert. In seiner Replik auf die Kommentare mokiert Wild sich über die „reflexive Enthaltsamkeit“ der naturwissenschaftlichen Beiträge.
    Irgendwie verstehe ich ihn… 🙂

  3. @ Noit Atiga @ Balanus u.a.

    Ich will jetzt einen ganz langen Kommetar schreiben und mit diesem das Kommentieren beenden; nicht, weil sich die Diskussion erschöpfen würde, das keineswegs, sondern einfach, weil ich ein neues Thema anfangen will. Für mich war die Diskussion sehr ergiebig, und das ist alles, was ich davon haben will, ich verhalte mich da ganz wie ein Seminarteilnehmer – für mich will ich etwas herausziehen –, nicht wie ein Seminarleiter, der anderen etwas beibringen will.

    Man konnte an unserer Diskussion sehr schön das Funktionieren von Paradigmen sehen, obwohl wir uns nicht im Rahmen harter Naturwissenschaften bewegten, für die die Paradigmentheorie ja erfunden worden ist, sondern um philosophische Fragen, wo eigentlich völlig vorurteilsfrei reflektiert werden soll. Doch es ging ganz so zu wie Lakatos schreibt: Keiner gibt den Kern seines „Forschungsprogramms“ auf, jeder ist ständig am Schutzgürtelbauen. Aber dabei lernt man ja auch etwas.

    Nun abschließend noch ein paar Bemerkungen zu den letzten Kommentaren.

    Solange Sie beim Problem der Definition im Hinblick auf Dinge und auf Lebewesen naturwissenschaftlich argumentieren, kommen Sie nicht dahin, wo für mich das Problem besteht:

    „die Spitze eines Gebirges kann ich aus der Definition ‚Gebirge’ genauso wenig ausschließen wie den Kopf aus der des ‚Hundes’“. (@ Noit Atiga)

    Wenn Sie im Geiste des Nominalismus denken, worauf man als szientifischer Naturalist ja mehr oder weniger verpflichtet ist, können Sie das schon, in beiden Fällen. Jede Eigenschaft kann einen neuen Gegenstand ergeben, und man kann Eigenschaften beliebig zusammenfassen, um Gegenstände zu konstituieren. Man kann ohne weiteres definieren: Es gibt einen Gegenstand „Berg“, und auf dem sitzt ein zweiter Gegenstand namens „Gipfel“ (die Frage der genauen Grenzziehung – „Beginn und das Ende der personalen menschlichen Existenz „Befruchtung oder Geburt, klinischer Tod, Exitus“, @ Balanus – können wir bei Dingen ebenso wie bei Lebewesen hier vergessen, es handelt sich nicht um Klassenbegriffe, die eine eindeutige Zuordnung ermöglichen, sondern um Typenbegriffe, wo nur ein Kern hinreichend gut umgrenzt sein muß). Mit dem eben Zitierten begeben Sie, Noit Atiga, sich aber in eine ganz andere Denkwelt als es die des Nominalismus ist: Sie fragen: Was impliziert der Begriff Berg, ist es eine analytische Wahrheit, daß er einen Gipfel hat? So denken etwa Ordinary-Language-Philosophen, aber szientifische Naturalisten würden eher sagen: Was interessiert uns das? Uns interessiert, wie die Natur wirklich ist, nicht, was die Normalsprache impliziert, das sind ja doch nur Vorurteile; eben die wollen wir berichtigen. Mich freut es natürlich, daß Sie diesen Schritt gehen.

    Sie bekommen damit aber den kategorialen Unterschied zwischen dem Hundekopf und dem Gipfel nicht weg. Die „absolute Identität“, von der wir bei einem Lebewesen ausgehen, ist keine Wahrheit über die Sache als eine empirische, sondern eine Zuschreibung, die wir von unserer Erfahrung mit uns selbst aus machen. Wir wissen um uns als Subjekte unserer Handlungen, und das schreiben wir auch den Lebewesen zu (die wir vorher schon, primär, weil sie sterben können, mit uns identifiziert haben im Hinblick darauf, daß sie eben „leben“). Die absolute Identität über die Zeit, die wir von uns selbst kennen, schreiben wir aber nicht dem Berg oder dem Stein zu. (@ Balanus: Artefakte wie Autos sind ein Sonderfall, sie sind aufgrund von Zwecken, die wir uns setzen, real entstanden; auf die damit verbundenen Probleme will ich hier nicht eingehen.) Die Identitätsbedingung ist eine ganz andere: Nicht weil wir sie als Subjekte von Handlungen, d. h. als „aktiv“, denken, bleiben sie mit sich über die Zeit identisch, sondern weil bestimmte Strukturen, anhand derer wir sie, sei es explizit, sei es implizit und aufgrund lebensweltlicher Gewohnheit, hinreichend gleich bleiben. An den Lebewesen aber muß gar nichts gleich bleiben, die Materie sowieso nicht, und auch die Gestalt kann sich beliebig ändern. Die dient uns allenfalls zur Zuweisung zu typologischen Arten, aber wenn einem Papagei plötzlich Hörner wüchsen, würde es nichts daran ändern, daß es immer noch dasselbe individuelle Lebewesen ist wie vorher ohne die Hörner. Würde aber aus einem Stein ein riesiger Schlammklumpen herausquellen, würden wir das neue Gesamtgebilde kaum mehr als „diesen Stein“ bezeichnen: seine Identitätsbedingungen, die in der Struktur (und zum Teil auch in der Materie) liegen, sind nicht mehr gegeben.

    Fundamental dafür, daß wir dem Lebewesen Aktivität und damit ein Minimum an Subjektivität zuschreiben, ist, daß es sich selbst gegen die Umwelt abgrenzt. Wenn wir in gleicher Weise von einem leblosen Ding reden, einem Ding (oder einem Ereignis), das vielleicht „verlöschen“ oder „aufhören“ kann, aber nicht sterben, ist das nur eine Redeweise, die man auch lassen könnte, genauso wie bei den dispositionalen Funktionen, da könnte man genauso von Wirkungen von Kausalursachen (nexus effectivus) sprechen.

    Sie, Noit Atiga, sprechen ja auch von „Zuschreibungen“, aber lehnen (a) ab, daß sie uns unvermeidlich sind, und (b), nennen Sie sie „fiktional“ oder „Illusionen“. Warum eigentlich? Sie könnten, das schrieb ich schon oben, die Sache genauso gut umdrehen und die Kausalrelationen Illusionen nennen. Ich nenne lieber das eine wie das andere „wahr“ und frage mich, in welcher Hinsicht sie jeweils wahr sind.

    Daß es Zustände gibt, in denen man von sich selbst nicht mehr als einer Einheit weiß, spielt für unsere Frage keinerlei Rolle. Selbstverständlich kann ein Lebewesen geschädigt oder zerstört werden, und genauso wie die physische Reproduktion nicht mehr richtig funktionieren kann, so auch die Bewußtseinsfunktionen. Und daß man mitunter den Jugendfreund nicht mehr erkennen kann, hat auch nichts mit der Frage zu tun: Wenn es der Jugendfreund ist, dann ist es derselbe individuelle Mensch wie damals, und wenn es ein anderer ist, dann ist eben dieser derselbe wie der, der er in seiner Jugend war.

    Das hat, um es noch einmal zu betonen, nicht das Geringste mit einem empirisch feststellbaren Gleichbleiben von irgend etwas an diesem Individuum zu tun, sondern mit einem vorempirischen Wissen um sich als Subjekt, das aber keine Illusion ist, die empirisch widerlegt werden könnte, denn da wird die empirische Veränderlichkeit ja gar nicht bestritten. Es kann schlechterdings kein naturwissenschaftliches Argument geben gegen Ihr Wissen: Es war ich, nicht ein mit mir durch eine bestimmte physische Kontinuität verbundenes Wesen, das aber ein ganz anderes war, der damals das Geld hat mitgehen lassen. Nicht nur der Richter tippt sich an die Stirn, sondern Sie selbst können das gar nicht denken. Es kann keine naturwissenschaftliche Widerlegung geben, auch wenn die Natur bis ins letzte erforscht wäre, weil es keine naturwissenschaftliche Behauptung ist, daß Sie es damals waren und nicht ein anderer.

    Eine etwas andere Frage ist die nach der Legitimität der Übertragung auf alle Lebewesen. Es ist eine „Zuschreibung“, und Kant ist da vorsichtig gewesen. Er war überzeugt, einen „Newton des Grashalms“ könne die Menschheit nie hervorbringen, aber meinte doch, für einen anderen, nicht so beschränkten Verstand als den unseren könnte sich die Sache doch kausalmechanisch erklären lassen. Ich glaube im Moment, es geht grundsätzlich nicht, aber das will ich jetzt nicht vertiefen.

    „Es kam also (im römischen Reich) zu einer Teilung – und mit ihr hat die antik-römische Gesellschaft als Individuum aufgehört zu existieren wie die Bakterie nach der Teilung.“

    Keineswegs, man kann doch ebenso sagen, daß die (antik-römische Gesellschaft nun auf verschiedenen Staaten verteilt lebte wie die deutsche vor Bismarck. Es kommt ganz darauf an, welche Merkmale ich zur Definition von „einer“ Gesellschaft herausgreife, auch wenn es zu bestimmten Zeiten bestimmte („ideologische“) Präferenzen für die eine oder andere Auswahl gibt. Viele haben ja auch gesagt, nach der deutschen Einigung bestanden mehrere deutsche Gesellschaften noch längere Zeit fort, die bayerische war eine andere als die preußische, und das entsprach auch dem Selbstverständnis vieler Menschen nach der Vereinigung. Aber daß nun zwei Bakterien da sind, während vorher nur ein Bakterium da war, kann wohl nicht einmal der radikalste Nominalist bestreiten. Auch er würde sagen: ich habe jetzt halt „künstlich“ die beiden Bakterien zu einem Gegenstand zusammengefaßt, aber sie „sind“ zwei Individuen (klassischerweise waren die individuellen Dinge für die Nominalisten das einzige Reale).

  4. @ Balanus Glaubensüberzeugung

    „Mit Glaubensüberzeugung meinte ich nicht das, was Kinder lernen und was Sie in Ihrer Antwort zutreffend ausführen, sondern ich meinte das, was einem im Erwachsenenalter zufällt, passiert, wie ein Blitz aus heiterem Himmel, oder nach und nach, wie bei einem längeren Reifeprozess.“

    Ach so, das ist natürlich etwas anderes. Es ist im Grunde das, was man bezogen auf die Wissenschaft als „context of discovery“ beschrieben hat (ich dagegen habe von Glaubensüberzeugungen analog zum „context of justification“ geschrieben). Im „context of discovery“ „kommen“ einem Ideen, sie „fallen“ einem ein, manche sind nur hypothetisch, man sagt, die müssen wir überprüfen, manche sind unhinterfragte und sogar (im Paradigma) unhinterfragbare Überzeugungen, im allgemeinen metaphysischer Art. Gemeinsam ist ihnen, daß sie einem eben „einfallen“, nicht in einem kontrollieren Prozeß des Schußfolgerns erzeugt und geprüft werden.

    Aber die Parallele zu den genetischen Dispositionen scheint mir nur darin zu liegen, daß man „nichts dafür kann“. Solche „Einfälle“, ob sie nun zu unhinterfragten oder auch bei Hinterfragung nicht abzuweisenden Überzeugungen führen oder nur zu „Ideen“, an denen man nicht hängt, haben ihre Ursachen außerhalb dessen, was das Individuum in der Hand hat, so wie die genetische Dispositionen (die zudem durchaus auch zu diesen Einfällen, neben vielem anderen, beitragen). Eine interessante Frage wäre, wo dergleichen relevant wird. Wie weit ist das individuell verschieden, wie weit spielen unbegriffene, in der Gesellschaft gängige Strukturen von „Weltanschauungen“ oder von „Diskursen“ (im Foucault’schen Sinn) eine Rolle, die vielleicht die „Einfälle“, die unbegriffenen „Intuitionen“ ganzer Gesellschaften und Zeitalter in eine bestimmte Richtung lenken?

  5. Identität – @Ludwig Trepl, @Balanus

    Es ist nicht eine Definitionsfrage, sondern man muß herausfinden, was alles zum Hund gehört. Definieren kann man die Gattung der Hunde in Abgrenzung zu anderen Gattungen, aber nicht das Hundeindividuum.

    Aber ist dieser Übergang nicht ebenso fließend wie beim Unbelebten?
    Ist es nicht durchaus Definitionsfrage, was das Individuum nun alles enthält und wie weit es zu ziehen ist? Beim Hund etwa: gehören die Bakterien im Darm noch dazu? Die Mundflora, die natürliche Hautflora etc.?
    Und bei Stein, Fluss oder Gebirge ist das dort nicht ähnlich?

    In jedem Fall gibt es natürlich Teile, die nicht wegdefiniert werden können – die Spitze eines Gebirges kann ich aus der Definition “Gebirge” genauso wenig ausschließen wie den Kopf aus der des “Hundes”. Und immer gibt es Randbereiche, die nicht ebenso klar geschnitten sind. Und immer können wir ‘Gattungen’ beliebig definieren. Und doch werden ‘sich’ ‘Individuen’ dieser ‘Gattungen’ auch immer verschmelzen bzw. teilen oder sterben (und mit ihnen die ‘Gattungen’).

    Und bei ‘Staaten’ gilt das wohl ebenso. Die antik-römische Gesellschaft etwa hat sich zunächst nur gewandelt, war noch Individuum wie eine die Teilung vorbereitende Bakterie. Später aber hat sich die Teilung sukzessive verwirklicht indem die Verbindungen zwischen Siedlungsgebieten durch Grenzen ersetzt wurden. Es kam also zu einer Teilung – und mit ihr hat die antik-römische Gesellschaft als Individuum aufgehört zu existieren wie die Bakterie nach der Teilung.
    Und nun sind die verschiedenen nationalen Gesellschaften seit längerer Zeit auf dem Wege zur Fusion, nicht nur in Europa. Damit bleibt den Nationalstaaten eine ‘Funktion’ als Organ – den verschiedenen soziologischen Subsystemen (jedenfalls oft) mehr die ‘Funktion’ von Kreisläufen.

    Und dass der Tod von Lebewesen (entgegen Habermas) keineswegs klar geschnitten ist, das wissen wir spätestens seit den Diskussionen um den Todeszeitpunkt von Menschen. Auch dort ist doch alles fließend, und auch dort gibt es sichere Lebens- wie Todeszeiten und nur durch Definitionen für uns Menschen zu klärende Übergänge.

    Kurz: Ist nicht die Problematik letztlich ähnlich der, die Sie beim Zwischenruf zu Darwin vorgetragen haben? Es bedarf immer der konträren Ideologie (oder mehrerer alternativer Ideologien), um die Erkenntnisse zu vervollständigen? Mir scheint das so, denn einerseits ist Leben etwas wie oben geschrieben Besonderes, Intentionales – andererseits aber doch nur ein emergentes naturwissenschaftliches Phänomen.
    Insofern kann dann sogar der Dualismus Körper/Individuum wieder sinnvoll sein – indem er aufzeigt: Die Ähnlichkeit der Materie ist objektiv vorgegeben, während die Gleichsetzung zweier zeitlicher Zustände als ein Individuum eine Frage des definierenden Individuums ist (ob nun der Gattung Mensch oder Gesellschaft).

  6. @ Balanus Zwischenruf zu Darwin

    „…die begründete Annahme, (»daß Darwins Theorie die in die Natur projizierte (im Sinne des Liberalismus ideologisch verarbeitete) Erfahrung des englischen Konkurrenzkapitalismus ist « (L.T.), (darf aber nicht dazu verleiten, zu glauben, dadurch würde die Schlüssigkeit der darwinschen Theorie in irgendeiner Weise geschmälert. Denn das wäre ein fulminanter Trugschluss.“

    Das ist richtig und wichtig. Es gibt eine Tendenz, etwas als widerlegt zu betrachten, wenn man gezeigt hat, welche ideologischen Quellen es hat. Man muß aber bedenken, daß Ideologie nicht einfach nur „falsches Bewußtsein“ ist, sondern daß jede Ideologie auch Modelle bereitstellt, mit denen man in Natur und Gesellschaft Untersuchungen anstellen kann und dabei teils zu „ideologisch verzerrten“, falschen Ergebnissen kommt, so gut wie immer aber auch zu richtigen, zu haltbaren Ergebnissen, auf die man nicht gekommen wäre, wenn einem die Ideologie nicht das Suchinstrument bereitgestellt hätte. Die zum liberalen Gesellschaftsbild (Gesellschaft unabhängiger, im wesentlichen konkurrierender Einzelner) konträre gleichzeitige Ideologie, die konservative Ideologie der organischen Gemeinschaft, hat auch zu Erkenntnissen in der Biologie geführt, auf die man mit dem darwinistisch-liberalistischen Blick nie gekommen wäre.

  7. @Noït Atiga @Balanus

    „Wenn sich ein Staat spaltet, dann ist es doch Definitionsfrage, welcher der zwei noch derselbe wie vorher ist … Warum nicht auch so bei Lebewesen? Gilt für die nicht auch das als Definitionsproblem?(Wenn eine Bakterie sich teilt – welche ist denn dann identisch mit der vorangehenden?“

    Daran läßt sich das Problem, um das sich der Großteil der Diskussion hier dreht, vielleicht am besten verdeutlichen. Wenn sich ein Staat spaltet, dann ist es eine Definitionsfrage, welcher der alte Staat ist, ebenso wenn sich in Staat oder Gesellschaft verändert: ist es noch diese Gesellschaft oder ist es schon einen andere? So haben analytische Philosophen die holistisch-funktionalistisch-systemtheoretischen Soziologen (Parsons…) kritisiert: Die Gesellschaft soll sich diesen zufolge in Subsysteme differenzieren, um sich zu erhalten. Die Subsysteme (Rechtssystem usw.) entsprechen den Organen eines Organismus. Aber, so fragte etwa Ernest Nagel, was soll es denn überhaupt bedeuten, daß die Gesellschaft mit sich identisch bleibt (persistiert, sich erhält)? Die antik-römische Gesellschaft ist in der Völkerwanderung untergegangen, sagt man. Aber das ist eine Definitionsfrage. Die Gesellschaft war nach wie vor christlich, nach wie vor lebten die Bewohner des römischen Reiches im Alltag sehr ähnlich wie vorher, das Rechtswesen hat sich kaum verändert usw. Man könnte folglich auch die Gesellschaft durch andere Merkmale definieren und sagen, die antik-römische Gesellschaft hat sich über die Völkerwanderung hinweg erhalten, hat sich nur etwas verändert: Es gab keinen Kaiser mehr, die Einwohnerzahl sank usw.

    Habermas hat das später gegen Luhmann so formuliert: bei Gesellschaften oder Staaten „fehlt das klar geschnittene Phänomen des Todes“, und deshalb kann man die Identitätsbedingungen von Organismen nicht auf Gesellschaften oder Staaten übertragen.

    Bei Lebewesen gibt es diese Definitionsproblem nicht. Das ist wohl das stärkste Argument gegen den cartesianischen Dualismus (dem die Naturalisten, obwohl sie immer auf ihren Monismus insistieren, doch anhängen: es gibt eben nicht nur die Natur, sondern auch die Gedanken über die Natur im Kopf der Naturalisten, nur daß es Gedanken „gibt“, hat für sie nicht den gleichen Sinn wie daß es Naturdinge „gibt“): Lebewesen sind nicht einfach Dinge (Körper), sondern eine eigene Kategorie.

    Wenn Sie nun fragen: „Warum nicht auch so bei Lebewesen? Gilt für die nicht auch das als Definitionsproblem?“, dann springt doch in die Augen: ich kann, wenn ich ein Lebewesen wie einen Hund definieren will, nicht per Definition festlegen, daß der Kopf nicht zum Hund gehört. Es ist nicht eine Definitionsfrage, sondern man muß herausfinden, was alles zum Hund gehört. Definieren kann man die Gattung der Hunde in Abgrenzung zu anderen Gattungen, aber nicht das Hundeindividuum. – Diejenigen Naturalisten, die sich explizit als Systemtheoretiker verstehen, kennen übrigens dieses Problem auch, sie versuchen es mit den Begriffen beobachterdefiniertes System vs. selbstreferentielles System zu fassen: Letzteres grenzt sich selbst ab, ersteres wird vom Beobachter abgegrenzt.

    Wie ist es nun mit der sich teilenden Zelle? Die Materie bleibt vollständig erhalten, die Strukturen weitgehend auch, bzw. sie verdoppeln sich zunächst, noch in der „Mutterzelle“. Aber wir haben nach der Teilung zweifellos zwei Individuen, zwei individuelle Lebewesen vor uns. Ein Individuum im strengen Sinn (also nicht eines, das der Beobachter durch Individuierung erzeugt, sondern eines, das „sich selbst“ aus der Welt herausnimmt, sich ihr gegenüberstellt, sich selbst erzeugt usw. – also das, was man immer ein „Wesen“ im Unterschied zu einem „Ding“ genannt hat) kann grundsätzlich auf drei Weisen zu existieren aufhören: durch Tod, durch Teilung, durch Fusion. Und jedesmal hat es in einem absoluten Sinn aufgehört zu existieren, da ist die Grenze nur durch Definitionen hin- und herzuschieben. Man sieht hier deutlich, daß ein Lebewesen etwas anderes ist als seine Materie und auch als sein Körper. Wir denken es anders und können nicht anders. Das merkt man aber nur, wenn man Begriffe wie Individuum und Identität analysiert, sie dadurch differenziert und dann differenziert anwendet.

  8. @Ludwig Trepl

    Man müßte zeigen können, daß Sich-Erhalten bedeutungsgleich ist mit „an ihm findet keine Veränderung statt“ – wobei dieses „ihm“ sich auf einen Gegenstand bezieht, der sich naturwissenschaftlich, ohne intentionale Begriffe, beschreiben läßt.

    Genau das kann aber (zumindest aus meiner Sicht) die oben zitierte dynamische Stabilität, jedenfalls legt Andy Pross das in den von Chrys (11.01.2013, 22:36) und mir (12.01.2013, 21:13) zitierten Beiträgen zumindest plausibel dar.
    Allerdings unter der Prämisse, dass “keine Veränderung” gleichgesetzt wird mit “keine wesensändernde Veränderung” – denn Änderungen an Teilen geschehen permanent, während das System stabil bleibt. Aber das gestehen wir ja auch aus intentionaler Perspektive zu, jedenfalls für den Körper.

    Dass die Identität (anders als Sie oben an @Balanus schreiben) ebenso fiktional ist wie die unbelebter Gegenstände, das erkennt man bei ‘Störungen’ im Gehirn (oder der Persönlichkeit). Ich hatte oben schon vom fehlenden Hippocampus gesprochen, der zum Problem der Wiedererkennung des alternden Spiegelbildes führt. Ähnlich aber auch die Rubber-Hand-Illusion oder die Fälle, wo jemand Bekannte als ausgetauschte Menschen wahrnehmen. All das deutet darauf hin (oder belegt), dass die behauptete ‘a priori’-Identität nur eine Illusion (unseres Gehirns) ist – eben weil ‘wir’ als dynamisches System auf Ähnlichkeit reagieren.
    Und diese Illusion hätten wir auch bei unbelebten Gegenständen wie dem Rhein oder der Schwäbischen Jura – wenn wir sie denn ausreichend regelmäßig betrachteten. Denn auch bei Lebewesen können wir durchaus Zweifel an der Identität haben (und müssen dann wie beim Unbelebten implizit definieren) – etwa wenn wir einen Jugendfreund jahrzehntelang nicht gesehen haben und ihn nun nicht einmal erkennen.

    Ein Lebewesen erhält sich durch den Stoffwechsel, es hört auf, ein Lebewesen zu sein, wenn der Stoffwechsel aufhört, es erhält sich nicht trotz des Stoffwechsels. Genau das aber tut ein lebloses Di[ng] … Die Struktur bzw. der Materiestrom bleiben/sind nicht deshalb so wie sie sind, damit das Ding mit sich identisch bleibt. Genau das denken wir aber bei Lebewesen.

    Aber dieses “damit” ist doch eine reine Definitionsfrage, eine reine Zuschreibung von uns. Und diese Zuschreibung brauchen wir (so zumindest meine Sicht) doch nur, weil wir die Kausalitäten nicht ausreichend verstehen – oder (nach dem Verständnis) weil deren ständige Einbeziehung alles zu stark verkompliziert.

    Was ist denn der objektive Unterschied zwischen “durch” und “trotz”?
    Wenn ein Gebilde ähnlich bleibt während sowohl Materie/Energie hinzukommt als auch Materie/Energie es verlässt – wie bestimmen wir denn dann, ob dieses Gebilde durch diesen Fluss ähnlich bleibt oder trotz dieses Flusses?

    Wie schon oben erwähnt: Aus meiner Sicht nur aufgrund unseres (impliziten) Wissens über die Abläufe. Früher schrieben die Menschen ja auch vielen unbelebten Vorgängen einen Zweck zu, weil sie die Kausalabläufe nicht ausreichend verstanden hatten. Und wir können heute sagen, die Erde (als Gesamtheit) erhält sich durch den Materie/Energiestrom, denn sonst würde das Leben relativ schnell alle Energie verbrauchen und ‘sich’ damit immer unähnlicher werden.

    Ich habe den Eindruck, daß Sie ständig zwischen (a) einem naturwissenschaftlichen Monismus und (b) einem Panpsychismus oder Panvitalismus hin- und herschwanken.

    Das überrascht mich nicht sonderlich. Zwar halte ich nichts von den meisten konkreten Ausführungen des Panpsychismus, aber ich sehe beides nicht als unvereinbar an – sondern nur als zwei Seiten derselben Medaille oder als Beschreibungen derselben Kontinuität aus verschiedener Perspektive.

    Meines Erachtens entsteht Leben nämlich aus dynamisch stabilen Netzwerken – und auch das Unbelebte beruht im Kleinsten auf dynamisch stabilen Netzwerken. Unterschiede bestehen nur darin, bis auf welche Ebene jeweils Dynamik, Stabilität und Netzwerk bestehen bleiben.

    Und dann kann man mit dem naturwissenschaftlichen Monismus von den einzelnen Teilen und deren Eignung zu ‘Beziehungen’ oder ‘Bindungen’ ausgehend alle relativ stabilen höheren Formen als ’emergente Phänomene’ beschreiben. Oder man kann mit dem Panpsychismus alle stabile Dynamik wie Leben als ‘intentional’ beschreiben und dann feststellen, dass auch Atome ‘leben’.

    Darum auch bin ich überzeugt, dass das Leben prinzipiell naturwissenschaftlich erklärbar ist. Mit dem Menschsein bin ich aber etwas vorsichtiger – zwar sollte auch hier theoretisch dieses Prinzip gelten, nur sind wir selbst Teile des ‘Systems’ und können uns darum nicht vollkommen selbst erklären. Nur aus diesem Grunde hat der Mensch und mehr noch seine Gesellschaft dann aber auch eine Sonderstellung – für den Menschen.

  9. Identität /@Ludwig Trepl

    »Wirdefinieren, unter welchen Bedingungen wir ein lebloses Ding als noch dieses Ding oder als ein anderes bezeichnen wollen, ob wir das nun bewußt […] oder unbewußt unter der Hand tun, wie beim Rhein.«

    Wir definieren auch den Beginn und das Ende der personalen menschlichen Existenz (Befruchtung oder Geburt, klinischer Tod, Exitus).

    Die Existenz der Lebewesen als Individuum ist vergleichbar mit der Existenz eines Gasbläschens in einem Sektglas: Es beginnt winzig (Befruchtung), löst sich von der Glaswand (Geburt), steigt auf, und zerplatzt dann an der Oberfläche. Die Identität das Gasbläschens war zu jeder Zeit ebenso eindeutig wie die Identität eines Lebewesens von der Zeugung bis zum Tod.

    Die individuelle Existenz eines Fahrzeugs, also die Zeit zwischen dem Rollen vom Band (Geburt) und dem Ende in der Schrottpresse (Bestattung), lässt sich ebenfalls schön mit der individuellen Existenz eines Lebewesens parallelisieren.

  10. @ Balanus

    »Und doch denken wir uns ein Lebewesen, und zwar unvermeidlich, als absolut identisch über die Zeit;[…] «([Zitat von mir] Aber das tun wir doch auch mit toten Gegenständen. … Der Rhein bleibt immer der Rhein, auch wenn in ihm immer neues Wasser fließt.“

    Aber ist die Isar noch der Fluß, der vor einigen Zehntausend Jahren durchs Alpenvorland floß? Er floß auf einem ganz anderen Weg. Ist der Schwäbische Jura das Gebirge, das irgendwann im Erdaltertum an dieser Stelle war? Wir definieren, unter welchen Bedingungen wir ein lebloses Ding als noch dieses Ding oder als ein anderes bezeichnen wollen, ob wir das nun bewußt (wie ein Geologe, der festlegt: vom Jahre x vor Chr. an wollen wir bei diesem Flußlauf von „Isar“ sprechen) oder unbewußt unter der Hand tun, wie beim Rhein. Eben das aber können wir bei der absoluten Identität, von der wir im Hinblick auf uns selbst wissen, und von der, die wir Lebewesen zuschreiben, nicht tun. Es geht nicht, versuchen Sie’s.

  11. @ Noït Atiga

    „….Götter, die die Gestirne schufen …. Und gleiches postuliert(e) man für Lebewesen durch die Seele.(“

    Das gab es, vor allem in der christlichen Zeit. Doch sollte man nicht vergessen, daß lange vorher, bei Aristoteles, die Seele keineswegs eine Art Wesen mit göttlichen, schöpferischen Eigenschaften war, sondern einfach der Inbegriff der spezifischen Vermögen der Lebewesen.

    „Chemisch lässt sich nicht erklären, warum diese Systeme einmal entstanden sind ….(Allerdings kann physikalisch-chemisch erklärt werden, wieso sie sich erhalten.“

    Eher umgekehrt. Vielleicht läßt sich chemisch erklären, warum diese Systeme einmal entstanden sind. Die einschlägig arbeitenden Wissenschaftler behaupten das zumindest. Aber wieso sie sich erhalten, kann physikalisch-chemisch gerade nicht erklärt werden. Es kann nur erklärt werden, warum an ihnen bestimmte Veränderungen nicht stattfinden. Sich erhalten bedeutet, daß da etwas, ein Subjekt, etwas tut. Solche Begriffe können in Physik und Chemie nicht vorkommen. Das macht gerade das Wesen dieser Wissenschaften aus, und das ist auch ihr eigener Anspruch: ohne solche Begriffe auszukommen. Man müßte zeigen können, daß Sich-Erhalten bedeutungsgleich ist mit „an ihm findet keine Veränderung statt“ – wobei dieses „ihm“ sich auf einen Gegenstand bezieht, der sich naturwissenschaftlich, ohne intentionale Begriffe, beschreiben läßt. Ich kann nicht sehen, wie das gehen könnte.

    „Denn auch die Erde etwa erhält sich durch eine Art Stoffwechsel auf Kosten der Umwelt (insbesondere der Sonne).“

    Keineswegs, die Erde erhält sich überhaupt nicht, sie unterliegt nur auf lange Zeit nur geringen Veränderungen, weil es keine Einflüsse von außen gibt, die eine stärkere Veränderung bewirken. Z. B. ist der Materieregen aus dem Weltall so gering, daß die Erde für uns nur kaum merklich dicker wird. Andere nicht-lebende Dinge, z. B. auf der Erde herumliegende Steine aus relativ weichem Material, unterliegen sehr schnellen Veränderungen, nach wenigen Jahrhunderten sind sie schon nicht mehr da. – „Sich“ läßt sich auf Dinge wie die Erde und die Steine überhaupt nicht anwenden. Sie haben auch keinen Stoffwechsel in dem Sinn, wie ihn Lebewesen haben. Ein Lebewesen erhält sich durch den Stoffwechsel, es hört auf, ein Lebewesen zu sein, wenn der Stoffwechsel aufhört, es erhält sich nicht trotz des Stoffwechsels. Genau das aber tut ein lebloses Dich (wenn wir, nur metaphorisch, „sich“ auf diese Dinge anwenden): Obwohl Materie das Ding verläßt, bleibt es dieses Ding (d. h. entspricht der von uns gewählten Definition, wir hätten auch eine andere wählen können), weil nämlich genau so viel Materie von außen hinzukommt wie verloren geht, oder es bleibt dieses Ding, weil eine von uns für die Definition dieses Dings gewählte Struktur sich nur wenig, nicht über die definierten Grenzen hinaus, ändert (gar nicht gibt es nicht). Die Struktur bzw. der Materiestrom bleiben/sind nicht deshalb so wie sie sind, damit das Ding mit sich identisch bleibt. Genau das denken wir aber bei Lebewesen.

    Ich habe den Eindruck, daß Sie ständig zwischen (a) einem naturwissenschaftlichen Monismus und (b) einem Panpsychismus oder Panvitalismus hin- und herschwanken. Wenn Sie (a) verteidigen möchten, dann dürften Sie nicht Begriffe verwenden wie „sich“, sondern müßten sagen: das ist nur eine unserer Unwissenheit geschuldete Redeweise. Wenn wir einmal weit genug sind mit der naturwissenschaftlichen Forschung, dann werden sich solche Begriffe – wie alle intentionalen – als überflüssig erweisen. Wenn Sie aber (b) einen Panpsychismus oder Panvitalismus vertreten wollen, dann müßten Sie gerade darauf bestehen, daß man intentionale Begriffe braucht und die nicht-intentionalen, auf die die Naturwissenschaft alles reduzieren muß (sonst wäre sie keine), müßten einen bloß abgeleitetet Rang erhalten; es scheint nur so, als ob alles kausalmechanisch zuginge, müßten Sie sagen. Sie könnten z. B. mit dem, was uns nicht-lebend, bloß kausalmechanisch erscheint, so verfahren wie Leibniz: das scheint uns nur so, weil unsere Perzeptionen verworren sind usw. Also: Hü oder Hott?

    „…Vorgänge, die wir alltagssprachlich mit ‚Gedanken’ bezeichnen“

    Keineswegs nur alltagssprachlich, diejenigen Wissenschaftler, die den Begriff Gedanken kennen (müssen), sind von der Alltagssprache nicht weniger weit entfernt als die Naturwissenschaftler, die diesen Begriff als Naturwissenschaftler nicht kennen können, aber ihn gleichwohl unausweichlich verwenden, indem sie handeln, denn sie schreiben ja immerzu ihre Gedanken in ihre Texte.

    „Aber ich gebe zu, dass diese [Ihre] Gedanken durchaus recht weit ab vom philosophischen Mainstream sind…(“

    Sofern Sie einen szientifischen Naturalismus vertreten: keineswegs. Da sind Sie sich einig mit dem angloamerikanischen, empiristischen mainstream, der aber nicht deshalb heutzutage ein solches Gewicht hat, weil er so überzeugend argumentiert, sondern weil er zur angloamerikanischen Kultur gehört und an deren ökonomischer, politischer und militärischer Stärke partizipiert.

  12. Heutzutage /@fegalo

    Sicher, die Zeit war reif für plausible Evolutionstheorien, dennoch fiel es manchen Zeitgenossen wie Schuppen von den Augen, als sie Darwins Theorie von der Entstehung und dem Wandel der Arten lasen.

    »Genauso, wie jemand, der heute käme und wie Rubens malen würde, am Markt keine Chance hätte, so bin ich sicher, dass jemand, der erst heutzutage mit der Selektionstheorie daherkäme, zum Teufel gejagt würde.«

    Wie meinen Sie das, welchen aktuellen Kenntnisstand legen Sie zugrunde für den Fall, dass einer heutzutage mit Darwins Theorie von der natürlichen Selektion käme: Träfe sie auf andere (bessere?) Evolutionstheorien, oder gäbe es diesbezüglich noch immer eine Leerstelle im Theoriengebäude (also wie vor Darwins Zeit)?

  13. @ Balanus: Zwischenruf

    Nicht einmal die real existierende Nicht-Schlüssigkeit der Darwinschen Theorie lässt sich dadurch argumentativ unterstützen. Allerdings sind auch Theorien immer Kulturereignisse, die ihre Zeit, ihren historischen Ort haben. Wie wir wissen, wurde die Selektionstheorie parallel von mehreren Wissenschaftlern entwickelt. Das ist auch kein Einzelfall, wie das spektakuläre Beispiel der Erfindung der Infinitesimalrechnung zeigt. Weitere Beispiele dafür gibt es in der Entwicklung der Elektrizitätslehre.

    Genauso, wie jemand, der heute käme und wie Rubens malen würde, am Markt keine Chance hätte, so bin ich sicher, dass jemand, der erst heutzutage mit der Selektionstheorie daherkäme, zum Teufel gejagt würde.

  14. Zwischenruf zu Darwin /@fegalo

    »Nietzsche: „Um den ganzen englischen Darwinismus herum haucht etwas wie englische Überbevölkerungs-Stickluft, wie Kleiner-Leute-Geruch von Not und Enge“ (Die fröhliche Wissenschaft #349) «

    Dies, und die begründete Annahme,

    »daß Darwins Theorie die in die Natur projizierte (im Sinne des Liberalismus ideologisch verarbeitete) Erfahrung des englischen Konkurrenzkapitalismus ist « (L.T.),

    darf aber nicht dazu verleiten, zu glauben, dadurch würde die Schlüssigkeit der darwinschen Theorie in irgendeiner Weise geschmälert. Denn das wäre ein fulminanter Trugschluss.

  15. Glaubensüberzeugung /@Ludwig Trepl

    »Hat die tatsächlich praktisch das Gewicht einer genetisch fixierten Eigenschaft? Sicher, da paßt der Begriff der kulturellen Vererbung vielleicht ganz gut, denn da nehmen die Kinder doch im wesentlichen das an, was ihnen die Eltern „vererben“. Aber das war so, heute ist es definitiv nicht mehr so, die Tradition ist abgerissen, und sieht man genauer hin, war es nie wirklich anders. Die Kontinuität reichte über einige wenige Generationen, dann war der Glaube ein sehr anderer geworden, auch wenn das wegen der Fixierungen durch offizielle Dogmen u. ä. einigermaßen verdeckt war. «

    Mit Glaubensüberzeugung meinte ich nicht das, was Kinder lernen und was Sie in Ihrer Antwort zutreffend ausführen, sondern ich meinte das, was einem im Erwachsenenalter zufällt, passiert, wie ein Blitz aus heiterem Himmel, oder nach und nach, wie bei einem längeren Reifeprozess.

    Zufallen können einem, als Grenzfälle sozusagen, theistische oder atheistische Überzeugungen, für die man dann jeweils mehr oder weniger vernünftige Gründe aufführen kann. Und wenn nicht, dann wird die jeweilige Überzeugung eben mit einem tief sitzenden Gefühl oder einer Ahnung begründet. Auf jeden Fall ist es dem so Überzeugten idR nicht möglich, willentlich eine andere Überzeugung zu wählen. Wohl aber kann ein treffendes Argument zu einer Art Erleuchtung führen, in die eine oder andere Richtung. Aber auch die Erleuchtung kann nicht willentlich herbeigeführt werden.

    In diesem Sinne sind, so meine ich, gereifte Glaubensüberzeugungen, theistische wie atheistische, von genetischen Dispositionen kaum zu unterscheiden.

  16. @Trepl,Atiga: Beispiele dynam.Stabilität

    Dynamische Stabilität ähnlich wie in Lebewesen – nur auf einer einfacheren Ebene – gibt es auch in der unbelebten Natur. Voraussetzung ist eine Energiequelle, die angezapft wird und den dynamischen Zustand aufrechterhält.
    Beispiel 1: Hurrikan/Tornado: Das Wirbelsystem benötigt ständige Energiezufuhr (warme Ozeanoberfläche) und existiert in einem dynamischen Gleichgewicht
    Beispiel 2: (trivialer) Aufsteigende warme Luft über warmer Oberfläche

    Lebewesen (und Computer) unterhalten viele dynamische Gleichgewichte und können dies nur, weil sie programmgesteuert sind und verschiedene Programmstücke aufeinander abgestimmt sind.

    Das meiste was Leben oder Dinge wie Denken ausmacht besteht eben nicht in einer Substanz, sondern in einem Prozess. Der Prozess hat eine ähnliche Realität wie ein Hurrikanwirbel: Stoppt man ihn ist alles weg.

  17. @Ludwig Trepl: Kategorienfehler

    Möglicherweise dauert es manchmal etwas länger bis ich das von Anderen Gemeinte richtig verstehe, zumal ich oft andere als die klassichen Ansichten verinnerlicht habe – aber ich möchte gern die Brücken zu bauen versuchen.

    Das konkrete Problem hier scheint mir aber in einem Postulat zu stecken, das ich nicht teile, siehe Ihren vorangegangenen Post:

    Physikalisch-chemisch kann man nicht zwischen einem seinsollenden und einem nicht seinsollenden Zustand unterscheiden. Da nützt es auch nicht, wenn man den Begriff der dynamischen Stabilität einführt.

    Absolut kann man es nicht – da stimme ich Ihnen voll und ganz zu. Aber historisch kann man es sehr wohl und an dieser Stelle scheinen mir viele philosophische Gedankenexperimente zu hinken. Denn sie gehen meist davon aus, dass sich seinsollende Zustände absolut und quasi ahistorisch begründen lassen müssen – allerdings gibt es da mit Hegel auch einen sehr treffenden Vertreter des Gegenteils. Denn wie wollen wir ahistorisch das Seinsollen von Leben philosophisch begründen?

    Die Erklärung des existierenden Lebens hingegen ist mir dann auch nicht besonders aufregend – und zwar sowohl philosophisch wie naturwissenschaftlich nicht. Es geht nur um Stabilität des Ganzen im konkreten Umfeld. Das ist der philosophische Zweck oder auch die naturwissenschaftliche Dynamik.

    In der Thermodynamik gehen wir da (heute) alle mit: Alles reagiert immer hin zur größten Entropie. Aber oft eben nicht sofort, sondern in natürlicher Abhängigkeit von den historisch vorgefundenen Umständen.
    In der Chemie ebenfalls: Die Knallgasreaktion etwa läuft nur bei bestimmten Temperaturen spontan ab und in Anwesenheit von Wasserstoff und Sauerstoff. Aber diese Umstände müssen erstmal historisch entstanden sein.
    Gleichermaßen bei dynamischen selbsterhaltenden Systemen: Sie erhalten sich automatisch soweit sie einmal entstanden sind und die Umwelt alle physikalisch-chemischen Erhaltungsvoraussetzungen bereithält. All das aber ist historisch, denn sie müssen entstanden sein und die nötigen Elemente vorfinden.

    Chemisch lässt sich nicht erklären, warum diese Systeme einmal entstanden sind – aber das geht auch philosophisch nicht wirklich.
    Allerdings kann physikalisch-chemisch erklärt werden, wieso sie sich erhalten. Und der Vorzug (so direkt ist mir das nirgendwo begegnet, daher eigene Prognose) ist wohl der, dass sich dadurch die Gesamtentropie schneller erhöht als mit dem rein unbelebten. Die Chemie braucht dafür aber natürlich die Umwelt. Und darum kann Leben nicht auf das Unbelebte verzichten – könnte doch die Gesamtentropie nicht erhöht werden, wenn alle Teile die ihrige permanent verringerten bzw. konstant hielten.

    Nun würden Sie mir vielleicht erstmal zu Recht entgegnen, dass wir für die philosophische Sichtweise diese Umwelt nicht (gleichermaßen) brauchen. Aber das scheint mir unvollständig – wie ich schon ganz zu Anfang schrieb. Denn dann postulieren wir Zwecke aus unserer eigenen aktuellen Umwelt heraus – ohne diese Basis der Philosophie explizit aufzuführen. Jedenfalls mit Hegel können wir auch philosophisch nämlich nur etwas als seinsollend angeben, wenn wir die historisch gewachsene Umgebung kennen für die dieses Etwas sein soll.

    Ich habe dann auch kein Problem damit, dass die dynamische Stabilität bei Planeten o.ä. in einer scheinbar unbelebten Welt existiert. Im Gegenteil scheint mir unser beschränktes Wissen ausschlaggebend für die kategoriale alltägliche Teilung. Leben wird von uns immer dann postuliert, wenn (soweit) wir eine Gesamtheit nicht rein kausalmechanisch begreifen können. Darum gab es ja auch für die heute als unbelebt angesehene Welt früher lebende Erklärungen – es waren Götter, die die Gestirne schufen und bewegten oder diese selbst waren. Und gleiches postuliert(e) man für Lebewesen durch die Seele.

    Für die Gestirne haben wir die physikalisch-chemischen Kausalitäten mittlerweile derart gut verstanden und allgemein verinnerlicht, dass wir sie nicht mehr als Lebewesen bezeichnen – auch wenn Manches vermutlich nicht so (kategorial) verschieden von den (kleineren) Lebewesen ist. Denn auch die Erde etwa erhält sich durch eine Art Stoffwechsel auf Kosten der Umwelt (insbesondere der Sonne).

    Damit könnten aber auch ‘Reparatur’, ‘Funktion’, ‘Zweck’ etc. wenigstens prinzipiell als auf reine Kausalreaktionen zurückführbar gedacht werden. Und zwar soweit zurückführbar, dass sich diese Zuschreibungen mit der Zeit auflösen oder nur noch als vereinfachende Beschreibungen komplexer Vorgänge verstanden werden – wie es etwa schon heute (zumindest teils) bei Göttern der Fall ist.

    Wenn wir also heute behaupten, sie seien kategorial verschieden, es handele sich um einen Kategorienfehler – dann scheint mir das zu sehr aus unserer subjektiven, aktuellen Perspektive gedacht zu sein. Und damit mag man deskriptiv Recht haben und arbeiten können – man erklärt aber nicht viel, vor allem keine Änderungen. Mir scheint daher für wirkliche Philosophie der Versuch notwendig, ihre Kategorien auf niedrigere Ebenen zurückzuführen.
    Dann finden wir in der Chemie des Gehirns zwar keine Gedanken, aber wir finden die Kreisläufe bzw. Vorgänge, die wir alltagssprachlich mit Gedanken bezeichnen. Und damit wird uns vielleicht klarer, warum wir als Menschen etwas mit Zweck, Funktion oder Reparatur bezeichnen, was doch ein rein kausales System ist.
    Und damit geben wir auch philosophisch zu, dass unsere (philosophischen) Kategorien oft nur darum existieren, weil uns Rückführungen nicht denkbar (er)scheinen oder noch nicht ausreichend verallgemeinert sind.
    Aber ich gebe zu, dass diese Gedanken durchaus recht weit ab vom philosophischen Mainstream sind…

  18. Identität /@Ludwig Trepl

    »Und doch denken wir uns ein Lebewesen, und zwar unvermeidlich, als absolut identisch über die Zeit;[…] «

    Aber das tun wir doch auch mit toten Gegenständen. Mein „Herbie“ genanntes Auto ist auch nach 20 Jahren immer noch mit „Herbie“ identisch, selbst wenn der Wagen dann nur noch ein Rostgerippe ist. Der Rhein bleibt immer der Rhein, auch wenn in ihm immer neues Wasser fließt.

  19. @ Noït Atiga @fegalo: Balanus vs.Schark

    „Dass es bei der ‘Reparatur’ nicht notwendigerweise um die Verfolgung eines Zweckes geht, sondern das Ganze auch rein chemisch erklärbar scheint,…“

    Hinter solchen Behauptungen steckt ein Kategorienfehler. Natürlich kann man physikalisch-chemisch erklären, was bei der Reparatur vor sich geht. Auch wenn wir es zur Zeit noch nicht können, so ist der ganze Vorgang gar nicht anders zu denken, als daß er uns als ein physikalisch-chemischer erschiene, wenn wir die entsprechenden Untersuchungen abgeschlossen haben würden. Es ist nicht anders als bei trivialeren Fragen auch: Wir kennen die Beschaffenheit eines Staubkorns nicht bis auf die atomare Ebene, aber wir können uns sicher sein: wenn wir sie physikalisch-chemisch bis zum Ende untersuchen, dann bekämen wir ein vollständiges Bild, in dem nichts als Physik und Chemie vorkommt. Doch wie schon Leibniz gesagt hat: wenn wir in einem Gehirn umhergehen könnten wie in einer Mühle, so würden wir darin doch keinen Gedanken finden. „Reparatur“, „Funktion“ (es sei denn, „dispositionale“ Funktionen, diesen Unterschied übersehen Sie hartnäckig), „Zweck“ sind etwas von einer Art, daß man sie mit noch so weit getriebenen physikalisch-chemischen Forschungen nicht „finden“ kann.

    Physikalisch-chemisch kann man nicht zwischen einem seinsollenden und einem nicht seinsollenden Zustand unterscheiden. Da nützt es auch nicht, wenn man den Begriff der dynamischen Stabilität einführt. Physikalisch-chemisch ist nicht zu begreifen, warum denn der Zustand der dynamischen Stabilität einen Vorzug haben soll von anderen Zuständen. Man kann so nur erklären, warum bestimmte Zustände, nämlich solcher dynamischer Stabilität, sich immer wieder herstellen (womit man allerdings noch lange nicht beim Lebewesen ist, denn solche Zustände gibt es auch in der unbeliebten Natur). Das ist nichts weiter Aufregendes. Auch ein Zustand eines Planetensystems stellt sich immer wieder her, denn nach einer bestimmten Zeit ist ein Planet wieder am gleichen Ort relativ zum Fixstern. Das hat aber nichts mit einer Reparatur oder einer Funktionserfüllung oder dem Anstreben eines seinsollenden Zustands zu tun.

    „Und wirklich gleich bleibt kein einziges Lebewesen – alle bleiben sich nur ähnlich.“

    Eben. Und doch denken wir uns ein Lebewesen, und zwar unvermeidlich, als absolut identisch über die Zeit; das habe ich oben in einem Kommentar sowie in „Nur Lebewesen leben“ etwas ausgeführt. Es war eben dieser, genau dieser Nachbarshund, der jetzt vor mir steht, welcher mich vorige Woche gebissen hat, obwohl es naturwissenschaftlich betrachtet nur ein ähnlicher Hund war. Naturwissenschaftlich ist das gar nicht zu denken, und das zeigt, daß der Begriff des Lebewesens kein naturwissenschaftlicher sein kann. Jeder Versuch, naturwissenschaftlich zu bestimmen, was ein Lebewesen ist, muß sich aber immer an diesem lebensweltlichen Wissen, was ein Lebewesen ist, ausrichten. Dazu gehört aber auch: es war genau dieser Hund.

  20. @Balanus,all: Philosophisches

    Das ganze Buch von Schark ist mir noch nicht zugänglich, doch auch sie weist (jedenfalls in der Einleitung) darauf hin, dass die Philosophie sich nicht neben die Biologie stellen sollte:

    Diese [wohl die Philosophie] tut indes selbstverständlich gut daran, bei der Beantwortung dieser Frage den Erkenntnisstand der Biologie nicht unberücksichtigt zu lassen.
    […] Statt die in den Kausalerklärungen der Lebensphänomene verwendeten Modelle zu einer Uminterpretation des Vorverständnisses zu nutzen, sollte das gewonnene Kausalwissen vielmehr als Informierung und Erweiterung dieses Begriffs gesehen und in diesen integriert werden. Es ist so gesehen fragwürdig, von einem separaten, biologischen Sinn von Leben und Lebewesen auszugehen, der neben unserem lebensweltlichen besteht. (Schark, S. 6)

    Wenn sie dann weiter ausführt, dass der Subjektcharakter, das Aktivsein oder das Haben eines Anfangs von Bewegung bzw. bemüht sein, sich am Leben zu halten – dann geht es (jedenfalls in meinem Verständnis) genau um die Frage, wie man diese alltagsweltliche Sicht mit der biologisch-chemischen vereinbaren kann.

    Schark konnte zwar das Modell von Pross noch nicht kennen, wir aber. Und es bietet einen Weg zur “Informierung und Erweiterung” des alltagsweltlichen Begriffes, also auf philosophischer Ebene – wie ich ihn oben angesprochen habe: Alle diese alltagsweltlichen (in des despriptiven Methaphysik aufzugreifenden) Begriffe verweisen auf die Abweichung von der für die physikalisch-chemische Umwelt typischen Entwicklung hin zu termodynamischen Gleichgewichten. Alles Unbewegte geht diesen Weg weg von der Ordnung hin zur Unordnung. Während Lebewesen sich permanent in einem ‘Zustand’ der Ordnung halten. Und dieses Faktum erklären wir uns eben als aktiv, als Bemühen eines Subjektes etc.

    Und dass wir auch alltagssprachlich durchaus bereit sind, ein Netzwerk als Wesen zu bezeichen, darauf hat @Ludwig Trepl oben (13.01.2013, 17:02) ja schon hingewiesen. Und dieses Netzwerk sehen wir als ein Ganzes an, ohne einen Dualismus zu postulieren – denn wir sagen nicht es gebe einen Staat als Wesen und einen Staat als Körper, sondern nur einen Staat und dessen Teile.
    Analog müssten wir dann aber auch beim enger definierten Lebewesen verfahren: Es gibt das Lebewesen und seine Teile – also den Menschen und seine Organe oder Zellen etc. Wobei der Dualismus eher ein Problem der Philosophie oder Religion ist als der Alltagswelt, denn kaum ein diesbezüglich Unvoreingenommener sieht wohl eine Trennung zwischen Körper und Individuum.
    Und das gilt auch für die Gleichheit – niemand wird behaupten, der Staat sei heute derselbe wie vor 60 Jahren, und doch wird er als identisch angesehen. Warum aber wird dann behauptet, Lebewesen seien dieselben? Bei ihnen müsste doch dann ebenfalls gelten, dass sie trotz der Änderungen in den Teilen in der Perspektive des Ganzen als identisch gelten?

    Und weiter noch – ist die Frage der Identität dann nicht auch bei Lebewesen eine der Definition? @Ludwig Trepl hat oben vorgetragen, dass die Abgrenzung von den Lebewesen vorgegeben wird – aber das überzeugt mich auch philosophisch nicht, was am Staats-Beispiel leicht klar wird: Wenn sich ein Staat spaltet, dann ist es doch Definitionsfrage, welcher der zwei noch derselbe wie vorher ist (Ausgliederung) – wenn überhaupt (Zerfall). Warum nicht auch so bei Lebewesen? Gilt für die nicht auch das als Definitionsproblem?
    Wenn eine Bakterie sich teilt – welche ist denn dann identisch mit der vorangehenden? Und haben wir dieses Problem nicht entsprechend auch auf höheren Ebenen? Obgleich dort eher ‘Ausgliederung’ denn ‘Zerfall’?

  21. @ fegalo Begründungslast

    „Wer diese Konzepte (Schmerzempfinden von Tieren, Subjektsein seiner Kinder, Verantwortlichkeit bei Straftätern etc.) bestreitet, und sein Handeln darauf gründet, handelt der dann, wenn er selbst noch begründete Zweifel behält, nicht einfach barbarisch? Wenn er aber davon überzeugt ist: Trägt er nicht ganz allein die Begründungslast?“

    Ich stimme Ihnen ja in fast allem zu, was Sie hier schreiben, insbesondere was die naturalistischen Versuche angeht, die Naturwissenschaft zu einer Metaphysik zu überhöhen. Ich schreibe sie einer krassen philosophischen Unbildung zu, und bei diesem Vorwurf bleibe ich, als Laie, auch promovierten und habilitierten Philosophen der naturalistischen Richtung gegenüber. – Wer( Verantwortlichkeit, sei es seiner selbst, sei es bei Straftätern, bestreitet, weil sie naturwissenschaftlich nicht zu finden ist, weiß einfach nicht, daß es ein Wissen gibt, das viel fester gegründet ist als alles naturwissenschaftliche Wissen. Um unsere Verantwortlichkeit wissen wir, wir wissen, daß wir unter dem Sittengesetz stehen, und es gibt gute Gründe für die Behauptung, daß alles Wissen über die Kausalität der Natur seinen letzten Grund darin hat, daß wir von uns als Verursacher der Folgen unserer Handlung wissen.

    Dennoch: man müßte die Differenz angeben können der Art von Wissen über das Fallen eines Steines und des Wissens über die Schmerzempfindlichkeit der Tiere. Ich habe dazu noch nichts gefunden. Kant konnte die Differenz zwischen dem Wissen über unsere Freiheit (und dem „Wissen“, das kein Wissen ist, über die zwei anderen „Postulate“) und dem Wissen angeben, das uns unsere theoretische Vernunft liefert. Was die Schmerzempfindlichkeit der Tiere angeht, so war es für ihn zwar selbstverständlich, daß Tiere leidensfähig sind und daß daraus unbedingte moralische Konsequenzen zu ziehen sind, aber begründen, was für eine Art Wissen das ist, bzw. wie wir darüber überhaupt etwas wissen können, konnte er nicht. Zumindest habe ich das in seinen Schriften und denen seiner Interpreten nicht gefunden. In anderen Typen von Philosophie, z. B. lebensphilosophischer, phänomenologischer, existenzphilosophischer oder hermeneutischer Art, bekommt man das wohl irgendwie hin, die Frage ist aber, ob man damit nicht einiges aufgibt, was man nicht aufgeben darf.

  22. @ fegalo (viel weiter oben)

    @ fegalo: „Schark schreibt übrigens richtig vom Individuum als dem, das da dasselbe bleibt, und nicht zum Beispiel von einem System. Denn auch die Struktur des Systems unterliegt ständiger Transformation …“

    in der Tat, das Individuum bleibt dasselbe Individuum, nicht ein System. Ich meine, man muß das noch viel radikaler fassen als Schark es tut. Für sie bleibt auch ein lebloser Körper derselbe, wenn sich (anders als beim Lebewesen) an ihm materiell nichts ändert, was der Fall wäre, wenn er keinen Störungen von außen unterläge. Der wichtigere Unterschied scheint mir aber der: (a) Nehme ich von einem Stein ein kleines Stück weg, ist es reine Definitionssache, ob ich von einem Stein-Individuum, an dem sich eine Veränderung vollzogen hat, spreche oder vom Vorliegen zweier Stein-Individuen. Das ist bei Lebewesen nicht möglich. (b) Das völlige Gleichbleiben des nicht-lebenden Dings kann zwar gedacht werden, aber wir können die „Natur“ nicht so denken, daß die Dinge darin völlig isoliert sind und es deshalb keinerlei Einwirkungen („Störungen“) auf die Dinge in ihr gibt. Deshalb müssen wir uns leblose Dinge als nie wirklich mit sich über die Zeit hin identisch (persistierend) denken. Gleichbleibend an dem leblosen Ding sind nur Anstrakta.

    Lebewesen aber denken wir uns als über ihre Lebenszeit absolut identisch. Ich habe in dem Artikel „Nur Lebewesen leben“ ein wenig ausgeführt, wie man das m. E. verstehen muß. Ich habe da auch ausgeführt, daß ich das – anders als wohl @fegalo, der mir da davon abgesehen sicher sofort zustimmen wird – nur im Sinne einer regulativen Idee meine, die wir an uns selbst gewinnen und übertragen: Von uns selbst wissen wir unwiderleglich, und zwar letztlich, weil wir moralische Wesen sind, daß wir früher ganz genau der Gleiche waren wie heute. Nur in diesem Zusammenhang kennen wir eine absolute Identität über die Zeit, die nicht nur die eines abstrakten Gegenstandes ist, sondern des allerkonkretesten.

  23. „Leben ist…“ /@Noït Atiga

    Ich finde diese von Addy Pross vorgeschlagene funktionale Definition ebenfalls recht brauchbar (“A self-sustained kinetically stable dynamic reaction network derived from the replication reaction.”).

    Allerdings geht es hier im Blog mehr um das Philosophische (Lebewesen vs. Dinge, ätiologische Funktionen). Ich muss mich auch immer wieder daran erinnern, dass insofern die Biologie oder Naturwissenschaften ganz allgemein nur insofern relevant sind, als dass die philosophische Theorienbildung in Kontinuität mit den empirischen Fakten erfolgen sollte.

    Und was die Frage angeht, wie Quanten leben können: Viele Quanten sind des Hundes Leben.

  24. @Balanus: Anstoß – Quantenleben?

    Nicht unbedingt. Wenn wir uns auf die Ebene der Quanten begeben, dann gibt es ohnehin keine stetigen Prozesse mehr, sondern nur noch Sprünge. Die Schaffung des Zufallswesens könnte so schnell geschehen, dass sie genau einen Quantenzustand erfasst—und zack, schon kommt der nächste, und das Leben geht weiter.

    Vielleicht – aber wie sollen den Quanten leben können?
    Mir riecht das dann doch etwas zu sehr nach Panpsychismus

  25. @fegalo: Balanus vs.Schark [13.01 14:15]

    Dass es bei der ‘Reparatur’ nicht notwendigerweise um die Verfolgung eines Zweckes geht, sondern das Ganze auch rein chemisch erklärbar scheint, darauf weist übrigens Stephan in dem zitierten G&G-Artikel hin (S. 68 “Lockruf der Botenstoffe”).

    Aber nicht nur aus diesem Grunde ist mir die Ansicht von @Balanus sympathischer: Sie kommt ohne den verkomplizierenden Dualismus aus. Und das was mit “Systemeigenschaft eines materiellen Systems” angeblich unterschlagen wird, das erklärt der obige Artikel von Pross sehr gut: Es reicht nämlich, dass wir Stabilität nicht nur statisch definieren, sondern auch dynamische Stabilität akzeptieren – die übrigens jeder kennt, der auf einem Bein zu stehen vermag. Und die Quintessenz von Leben ist dann genau diese dynamische Stabilität entgegen der statischen Stabilität des Unbelebten. Und dieser chemische Kreislauf des Lebenden ist sogar (solange die Energiezufuhr geregelt ist) stabiler als die statische Stabilität – gerade bei Umweltänderungen (das sieht man übrigens in anderen Wissenschaften ähnlich).

    Und wirklich gleich bleibt kein einziges Lebewesen – alle bleiben sich nur ähnlich. Was wir tun (als dynamisch stabile Lebewesen!), ist eine Mustererklennung und ständige Korrektur unseres Bildes, weswegen wir das jeweilige Individuum als dasselbe ‘erkennen’. Dass wir dazu unsere dynamische Stabilität bemühen wird übrigens dann schnell klar, wenn man an Personen mit Hirnschädigungen im Hippocampus denkt: Diese Menschen erkennen sich nicht mehr im Spiegel, ihr Bild wird ihnen mit zunehmdem Alter immer fremder – denn anders als wir erinnern sie sich immer an jenes Spiegelbild, das bei der Schädigung aktuell war; es fehlt an der gleitenden Anpassung (was uns übrigens auch manchmal das Wiedererkennen sehr alter Bekannter verkompliziert bis unmöglich macht).

    Die ‘Krücke’ des Dualismus scheint mir also entbehrlich, zumal auch die Problematik der Reparatur ohne sie gelöst werden kann. Anders als bei technischen Plänen scheint nämlich in den Genen (meist) kein Bauplan des zu fertigenden Wesens kodiert zu sein – sondern nur eine Folge von Änderungsanreizen. Fehlt also ein Element (eine Zelle oder mehrere Zellen), dann fallen gewisse Anreize (anders) aus oder wirken sich anders aus. Und damit wird dann auch eine ganz andere Struktur geschaffen als die bei normaler Entwicklung – und zwar ganz ohne irgendeine Reparaturanleitung und ohne Zweck, einfach weil die chemischen Reaktionen dann anders ablaufen (so auch schon bei Stephan angedeutet). Die ‘Funktion’ wird dann aber teils trotzdem noch realisiert, nur eben anders und vermutlich nicht gleichermaßen redundant – das Mädchen würde ja schon bei leichter Schädigung des anderen Gehirnteils wesentlich weniger gut sehen als ein ‘normaler’ Mensch. Allerdings werden auch tatsächlich nur Schäden in einer frühen Phase so weitgehend kompensiert, später kommt es oft nur zu teilweisem Ausgleich – der sich aber wieder durch Anpassungsanreize ganz ohne Reparaturplan erklären lässt, rein chemisch.

  26. @ Ludwig Trepl: Begründungslast

    “Da liegt meines Erachtens die Schwierigkeit Ihrer Auffassung, so wie ich sie verstehe: sie ist metaphysisch, und zwar nicht in dem Sinne, wie die analytische Philosophie heutzutage Metaphysik betreibt (als deskriptive Metaphysik), das ist unproblematisch, sondern sie ist eine Metaphysik, die von der Kant’schen Kritik getroffen ist. Damit muß sie nicht falsch sein, aber man lädt sich eine große Begründungslast auf.“

    Die Frage der Begründungslast würde ich anders beantworten.

    Es gibt „metaphysische“ Überzeugungen, die in der Lebenspraxis so tief verankert sind, dass jemand, der sie in der Praxis bestreitet, nach geltenden Maßstäben unmoralisch ist. Beispiele dafür sind etwa Vivisektionen, wie sie der Überlieferung nach von Cartesianern durchgeführt worden sein sollen, die den Tieren das Schmerzempfinden absprachen, oder ein (hypothetisches) Verweigern der Anerkennung, dass die eigenen Kinder Subjekte und nicht Biomaschinen mit epiphänomenalem Bewusstsein sind. Ebenso könnte man Thesen wie die von Gerhard Roth als bedenklich einstufen, der einst auszog, um das Konzept der Verantwortlichkeit im Strafrecht zu bekämpfen.

    Und in derlei Fällen fragt es sich: Wer trägt hier die Begründungslast? Derjenige, der an diesen metaphysischen Konzepten festhält (von denen einige sogar die Basis für unser Zusammenleben bilden) oder derjenige, der sie im Rahmen naturwissenschaftlicher Hypothesen bestreitet?

    Müssen wir nicht sagen: Wer diese Konzepte (Schmerzempfinden von Tieren, Subjektsein seiner Kinder, Verantwortlichkeit bei Straftätern etc.) bestreitet, und sein Handeln darauf gründet, handelt der dann, wenn er selbst noch begründete Zweifel behält, nicht einfach barbarisch? Wenn er aber davon überzeugt ist: Trägt er nicht ganz allein die Begründungslast?

    Wenn Sie meinen, dass meine Auffassung von Kants Kritik an der Metaphysik getroffen sei, vielleicht weil ich „aristotelisch“ argumentiere, so ist das für mich schwierig zu beurteilen. Metaphysikfreies Argumentieren gibt es wohl nicht, außer in dem fiktiven Fall, dass wir alles, aber auch alles, was wir äußern, hypothetisch meinen. Das wäre aber unmöglich und völlig lebensfremd. Schon die Behauptung, dass es da draußen überhaupt eine reale Welt gibt, ist Metaphysik.

    Es scheint mir wichtig, immer wieder klarzustellen, dass Naturwissenschaft ein Projekt ist, das auf einem methodischen Naturalismus fußt, aber dass mittels dieser Wissenschaft auf keine Weise ein metaphysischer Naturalismus bewiesen oder auch nur plausibel gemacht werden kann. Leider ist es oft extrem schwierig, diesen Unterschied zu vermitteln.

    Ferner ist Naturwissenschaft ein Projekt, das von Menschen betrieben wird, die damit einen Zweck verwirklichen: Entweder das Bestreben, die Natur mittels dieses Wissens zu beherrschen – (wie in der Aussage „Wissen ist Macht“ von dem englischen Frühaufklärer und Apologeten der Naturwissenschaft der ersten Stunde, Francis Bacon), oder aber das kulturell verankerte Bestreben, uns selbst über die Beschaffenheit der Welt möglichst umfassend aufzuklären. Das bedeutet, dass Naturwissenschaft notgedrungen perspektivisch ist, und ganz bestimmt eines nicht: Die Rekonstruktion der objektiven Strukturen der Welt an sich (aber das wäre ein ganz eigenes Thema). Hier soll damit nur gesagt sein, dass Naturwissenschaft immer aus unserer Lebenswelt herauswächst, und trotz ihres programmatischen methodischen Naturalismus auf einem umfangreichen Set von metaphysischen Annahmen ruht, welche sie aus dieser Lebenswelt mitbringt. Sie kann diese zwar benennen und Axiome taufen, aber sie kann sie nicht loswerden.

    In der realen Diskussion über naturwissenschaftliche Theorien verschwimmt der angesprochene Unterschied zwischen dem methodischen und dem metaphysischen Naturalismus regelmäßig, und zwar dahingehend, dass aus den Ergebnissen des methodischen Naturalismus Behauptungen über einen metaphysischen Naturalismus werden, also eine Behauptung über dessen schlechthinnige oder zumindest partiell objektive Richtigkeit.

  27. @ fegalo Zwischenruf

    “Haben Sie das im weiteren Sinne auch schon mal für Darwins Theorie in Betracht gezogen?”

    Ja. Das ist es ja, was jedem sofort einfällt, wenn man so einen Gedanken äußert: daß Darwins Theorie die in die Natur projizierte (im Sinne des Liberalismus ideologisch verarbeitete) Erfahrung des englischen Konkurrenzkapitalismus ist. Friedrich Engels soll das als erster bemerkt haben. Nicht speziell auf Darwinismus und Kapitalismus bezogen, sondern ganz grundsätzlich-philosophisch hat die Frage der Wirkung von Metaphysiken dieses weltanschaulichen Zuschnitts in der Biologie, speziell der Ökologie biologischer Gesellschaften, Thomas Kirchhoff in seiner Dissertation “Systemauffassungen und biologische Theorien. Zur Herkunft von Individualitätskonzeptionen und ihrer Bedeutung für die Theorie ökologischer Einheiten” behandelt: http://www.wzw.tum.de/…chhoff/kirchhoff-2007.pdf

  28. Zwischenruf @ Ludwig Trepl

    Noch eine andere Fährte, von den Biologiephilosophen meist ganz übersehen, ist die: die Vorstellung des Organismus kommt vielleicht gar nicht vom Nachdenken darüber her, was den Körper eines Lebewesens ausmacht, und wird dann auf den Staat übertragen, sondern umgekehrt daher, wie man sich in bestimmten Ideologien die Gesellschaft oder den Staat denkt. D. h. zuerst waren die Staatsvorstellungen des Menenius Agrippa da, und von da aus kam er darauf, daß der Körper auch so beschaffen sein dürfte.

    Haben Sie das im weiteren Sinne auch schon mal für Darwins Theorie in Betracht gezogen?

    Stichworte: Historismus, Materialismus, historischer Materialismus, Herbert Spencer (obwohl nachfolgend dennoch zeitgeistig), Nietzsche: „Um den ganzen englischen Darwinismus herum haucht etwas wie englische Überbevölkerungs-Stickluft, wie Kleiner-Leute-Geruch von Not und Enge“ (Die fröhliche Wissenschaft #349) etc.

  29. @Balanus

    „…Zellen, die wiederum als Individuen aufgefasst werden müssen, weil sie einen Stoffwechsel haben. Ergo setzt sich der Organismus, den ein Lebewesen hat, aus weiteren Lebewesen zusammen.“

    Hmm, müßte man nicht sagen: aus weiteren Organismen? Wenn das Lebewesen ein lebensweltlicher Begriff ist, dann ist das ganze Tier ein Lebewesen und nicht jede seiner Zellen. Eine Körperzelle muß aber biologisch als ein Organismus angesehen werden, der seine Selbständigkeit verloren hat, indem er mit anderen Organismen zusammen eine funktionale Einheit bildet, zum bloßen Teil des Körpers eines Lebewesens geworden ist (die Zelle hätte sich bei der Teilung ja auch lösen können). In den Leibniz’schen Begriffen: Jede Monade entspricht (biologisch gesehen) einem Organismus, aber nur die Zentralmonade ist ein Lebewesen. (Das ist natürlich nur eine ganz entfernte Ähnlichkeit, u.a, deshalb, weil es eine Entsprechung der Leibniz’schen Teilbarkeit der Monade – teilbar wiederum in Monaden – bis ins Unendliche in der Biologie nicht kommt, und diese Vorstellung ist wohl auch als metaphysische heute nicht haltbar.)

    Warum ist nur das ganze Tier lebensweltlich ein Lebewesen und nicht jede seiner Zellen? Weil man von Zellen nur wissenschaftlich etwas weiß. In der lebensweltlichen Erfahrung gibt es nicht Lebewesen, die zu Lebewesen vereint sind, oder Lebewesen, die sich in zusammenbleibende Lebewesen teilen, sondern immer nur einfache Lebewesen (einfach wie eine einzelne freilebende Zelle).

    Aber die Frage müßte doch zulässig sein, als was einem Zellen (in Mehrzellern) lebensweltlich erscheinen würden, wenn man sie sehen könnte? Wohl doch als Lebewesen. Das führt auf eine andere Fährte als von den Biologiephilosophen gewöhnlich verfolgt: Man kennt lebensweltlich durchaus “Wesen”, die Wesen enthalten, z. B. Staaten. Das dürfte nicht eine metaphorische Übertragung sein, die ausgeht vom Organismusbegriff (als einem theoretischen Begriff, der mit der beginnenden Biologie entstand), sondern die ausgeht von einem „Organismusbegriff“, den es lebensweltlich schon gibt: Der Körper des lebenden Wesens wird immer schon als eine Art Organismus gedacht; Organe wirken im Dienste des Ganzen zusammen, die Hand hat ihre Aufgabe, der Fuß auch usw., siehe das Gleichnis des Menenius Agrippa.

    Noch eine andere Fährte, von den Biologiephilosophen meist ganz übersehen, ist die: die Vorstellung des Organismus kommt vielleicht gar nicht vom Nachdenken darüber her, was den Körper eines Lebewesens ausmacht, und wird dann auf den Staat übertragen, sondern umgekehrt daher, wie man sich in bestimmten Ideologien die Gesellschaft oder den Staat denkt. D. h. zuerst waren die Staatsvorstellungen des Menenius Agrippa da, und von da aus kam er darauf, daß der Körper auch so beschaffen sein dürfte.

  30. @Ludwig Trepl @ Balanus

    Beim Thema „Leben als Systemeigenschaft materieller Systeme“ im Sinne von Balanus

    versus

    Schark:
    „Ein Individuum, was über seine körperlichen Grenzen hinweg Stoffteilchen in sich hinein und aus sich heraus lassen kann, kann nicht bloß in dem Sinne als ein Individuum aufgefaßt werden, daß es schlicht als ein bestimmter spezifisch geordneter Bestandteil der Materie ist, die die Raumzeit erfüllt. Es muß vielmehr als Individuum abgehoben werden von dem Körper, der zu jedem Zeitpunkt seiner Existenz besteht.“

    möchte ich Schark zustimmen und in derselben Richtung weiter argumentieren:

    Die Materie selbst ist offensichtlich nicht dasjenige, was das Lebewesen definiert, da sie stets nur „durchrauscht“, und zwar in einem zunächst wachsenden und später auch alternden, aber nie einfach vollkommen identisch bleibenden Organismus. Allein das zeigt, dass das Leben des Lebewesens nicht als Folge des zufälligen Vorhandenseins diverser Moleküle an bestimmten raumzeitlichen Stellen erkannt werden kann.

    Die Rede von der „Systemeigenschaft eines materiellen Systems“ unterschlägt, dass diese „Eigenschaft“ sich zum Herrn über die Materie aufgeschwungen hat, indem es diese ständig austauscht. Was sagt der Naturalist dazu? Die Eigenschaft bleibt stabil, dagegen die Materie, durch die sie angeblich hervorgebracht wird, kommt und geht. Ferner kann diese „Eigenschaft“ auch Störungen und Beschädigungen kompensieren oder heilen, wobei sie die Materie in den Dienst nimmt.

    Dies ist eine außerordentliche Fähigkeit, die in einer physikalistischen Deutung kaum unterzubringen ist. Schließlich müsste die Reparatur jeder einzelnen möglichen Störung oder Beschädigung (oder zumindest jedes Typs) per Selektion in das genetische Programm gekommen sein, und das ist schier unglaubhaft.

    Bei der Kompensation einer Störung wird oftmals deutlich, ob hier nur ein Programm abläuft, oder tatsächlich ein Ziel verfolgt wird. Ein spektakulärer Fall ist dieser hier:

    http://www.gehirn-und-geist.de/…n-gehirn/1005792

    Wir können sicher sein, dass diese Kompensationsfähigkeit für diese Störung nicht auf dem Weg der Selektion in unser genetisches Programm gekommen ist, einfach weil es viel zu selten vorkommt. Tatsächlich wurde hier auf einer massiv gestörten materiellen Basis der volle Umfang der gesunden Funktionen erreicht. Wenn aber die materielles Basis gestört oder nur zur Hälfte vorhanden ist, woher weiß das „System“, welche Funktionen am Schluss vorhanden sein sollen, und mit welchen Mitteln es dies trotz des Fehlens der vollständigen materiellen Grundlage dennoch erreichen kann? Die Funktionen entstehen hier ganz eindeutig nicht auf die Weise, dass alle Gehirnteile ihrer vorgesehenen Arbeit nachgehen und dadurch! die mentalen Leistungen „emergieren“. Vielmehr hat sich anscheinend der „lebendige Drang“, diese Funktionen auszuüben, das rudimentäre Gehirn zurechtgebogen.

    Schark schreibt übrigens richtig vom Individuum als dem, das da dasselbe bleibt, und nicht zum Beispiel von einem System. Denn auch die Struktur des Systems unterliegt ständiger Transformation und dabei einer Steuerung im Lebewesen. Diese Transformationen machen den Lebenszyklus aus mit seinen Phasen Gezeugtwerden, Wachstum, Fortpflanzung, Alterung und Tod. Und genau dies sind universelle Konstanten, vom Physikalismus aus gesehen also das Abstrakteste von allem.

  31. Anstoß /@Noït Atiga

    »Und wenn wir dann im Gedankenexperiment irgendein ‘Lebewesen’ ganz durch Zufall entstehen lassen, dann reicht nicht die Herstellung der Molekularstruktur, sondern diese Struktur muss auch noch angestoßen werden.«

    Nicht unbedingt. Wenn wir uns auf die Ebene der Quanten begeben, dann gibt es ohnehin keine stetigen Prozesse mehr, sondern nur noch Sprünge. Die Schaffung des Zufallswesens könnte so schnell geschehen, dass sie genau einen Quantenzustand erfasst—und zack, schon kommt der nächste, und das Leben geht weiter.

  32. Aktiv = thermodyn. instabile Stabilität?

    Die oben von @Balanus angesprochene Ausdehnung der Selektion auf die Lebensentstehung wird aus meiner Sicht recht plausibel entwickelt von Pross: Toward a general theory of evolution: Extending Darwinian theory to inanimate matter. Journal of Systems Chemistry 2011 2:1 (ebenfalls auf der von Chris angegebenen Seite des Autors). Dort wird auch ein Vorschlag zur Definition von Leben gemacht, der mir wissenschaftlich und für unbekanntes Leben offen scheint:

    A self-sustained kinetically stable dynamic reaction network derived from the replication reaction. S. 11

    Mit dieser Erklärung könnte sich dann auch das Problem der Zuschreibung als “aktiv” oder als “Bestreben” habend auflösen. Gehen wir doch üblicherweise davon aus, dass alles Inaktive sich ohne äußere Einwirkung hin zur thermodynamischen Stabilität entwickelt, also zur Erhöhung der Entropie. Bei den Lebewesen ist das nicht der Fall – und das wird uns nur plausibel, wenn sie aktiv sind bzw. ein Bestreben haben. Die Teleonomie ist also eine für uns plausible Erklärung dieser Abweichung von dem sonst (implizit) als grundlegend erkannten Prozess hin zu höherer Entropie. Dass sich diese Abweichung auch rein chemisch erklären lässt ist ja ein recht neuer Vorschlag.

    Das passt dann auch zu dem Einwurf von @fegalo 11.01.2013, 01:45, dass es eine Funktion noch nicht bei Existenz aller notwendigen Teile gibt, sondern erst mit Aufnahme des Lebens selbst. Und wir erst dann auch Subjektsein und Interessehaben zuschreiben. Und wenn wir dann im Gedankenexperiment irgendein ‘Lebewesen’ ganz durch Zufall entstehen lassen, dann reicht nicht die Herstellung der Molekularstruktur, sondern diese Struktur muss auch noch angestoßen werden (siehe dazu auch Pross, ebenda S. 11).

  33. @ Balanus Überzeugungen

    „Aber man kann Überzeugung auch mit Gewissheit gleichsetzen, und in Gewissheit steckt der Begriff Wissen. ‚Wissen’ wiederum wird entweder individuell im Laufe des Lebens erworben, oder ist bereits niedergelegt in den phylogenetisch erworbenen Strukturen (a priori Wissen, genetisch verankerte Fähigkeiten, etwas tun zu können.“

    Ja, Überzeugung ist subjektive Gewißheit. Genetisch verankerte Fähigkeiten haben aber mit Wissen nichts zu tun. Die Angst vor dem Abgrund mag genetisch verankert sein, aber sie kommt eben gerade nicht durch ein Wissen darüber zustande, daß man tot ist, wenn man hinunterfällt. So ein Wissen kann sogar derartige Gefühle (oft) am Aufkommen hindern. Die Angst vor dem Abgrund bekommt man ja oft auch in völlig ungefährlichen Situationen. Man darf die Nützlichkeit solcher Gefühle (fürs Weiterleben) nicht mit einem Wissen, das „Richtigkeit“ impliziert, verwechseln.

    Schwieriger ist es mit dem apriorischen Wissen, z. B. dem mathematischen. In gewissem, trivialem Sinne ist das natürlich „phylogenetisch erworben“, denn die Vorfahren der Menschen hatten es nicht. Dennoch ist es nicht einfach eine Disposition, die jederzeit aktualisiert werden kann wie etwa das Schreien eines Säuglings, sondern man muß Mathematik ja erst einmal lernen. Es ist nicht anders als mit dem Denkvermögen überhaupt. Das Vermögen, denken lernen zu können, ist zu unterscheiden vom Denkenkönnen, das man eben erst lernen muß, und Denkenkönnen bedeutet noch nicht, daß die Inhalte des Denkens schon da wären. Die werden erst wirklich und sind in der Welt, wenn aus dem Können, einer Disposition, eine Realität, nämlich ein Denkprozeß wird und wenn der an seinem (vorläufigen)Ende angekommen ist. Zwischen dem, was da genetisch verankert ist, und dem, was dann als „Überzeugung“ z. B. von der richtigen Lösung einer Rechenaufgabe oder vom Sinn des Lebens herauskommt, liegt also nicht nur ein Schritt. Zwei Individuen können identische genetische Voraussetzungen hinsichtlich der Entwicklung von Denkfähigkeit haben, und doch kann ihre Denkfähigkeit und erst recht das Ergebnis des Denkens, die Überzeugung (der Glaube, oder die Meinung) ganz unterschiedlich sein.

    „Diese Metapher [„kulturelle Vererbung“] trifft meines Erachtens auch nicht so ganz das, was dabei wirklich geschieht. Vererbung ist die Weitergabe von genetisch fixierten Merkmalen und Eigenschaften von den Eltern zum Kind. Traditionen können aber nicht von den Eltern zum Kind weitergegeben werden, sondern sie müssen vom Kind von den Eltern bzw. der Gesellschaft aktiv erworben werden…“

    Das ist ein guter Hinweis. Die Historiker und Soziologen haben die Metapher der Vererbung nur duckmäuserisch von den Biologen übernommen und auf ihren Gegenstand übertragen. Tatsächlich geschieht da etwas ganz anderes, u. a. aus dem Grund, den sie genannt haben. Überhaupt hat der Begriff der Entwicklung im Bezug auf die Geschichte (im engeren Sinn, also die der „Kulturmenschen“) einen vollkommen anderen Sinn als der Begriff der Entwicklung („Evolution“) in der Evolutionsbiologie.

    „Es gibt (mindestens) eine kulturelle Überzeugung, die praktisch das Gewicht einer genetisch fixierten Eigenschaft hat, nämlich die Überzeugung, die („ethnische“) Abstammung sei von wirklicher Relevanz für die individuelle Identität. Das soziale Konstrukt von Stämmen, Völkern, Ethnien und Rassen scheint in den in Köpfen vieler Menschen eine übermächtige Wirkung zu haben. Gleiches dürfte für Glaubensüberzeugungen gelten“.

    Da vermischen Sie etwas, weil in „Stämmen“, „Völkern“, „Ethnien“ etwas vermischt wird, nämlich Biologie und Soziokultuelles. Die Überzeugung, daß die Gesellschaft relevant für die individuelle Identität ist, ist ja nicht zu bestreiten, man lernt halt von den Älteren, man wird „sozialisiert“, und daraus folgt, daß man sich mehr oder weniger „identifiziert“ mit dieser Gesellschaft oder einer bestimmten Gruppe darin. „Rasse“ aber ist im wesentlichen ein Begriff des 19. Jahrhunderts, vorher kam man kaum auf den Gedanken, daß dergleichen von irgendeiner Bedeutung ist, ich habe hier schon öfter darüber geschrieben.

    Und die Glaubensüberzeugung? Hat die tatsächlich praktisch das Gewicht einer genetisch fixierten Eigenschaft? Sicher, da paßt der Begriff der kulturellen Vererbung vielleicht ganz gut, denn da nehmen die Kinder doch im wesentlichen das an, was ihnen die Eltern „vererben“. Aber das war so, heute ist es definitiv nicht mehr so, die Tradition ist abgerissen, und sieht man genauer hin, war es nie wirklich anders. Die Kontinuität reichte über einige wenige Generationen, dann war der Glaube ein sehr anderer geworden, auch wenn das wegen der Fixierungen durch offizielle Dogmen u. ä. einigermaßen verdeckt war. Kein Lutheraner des 19. Jahrhunderts glaubte mehr als nur entfernt ähnlich wie Luther, auch wenn er seinen Katechismus auswendiglernen mußte.

    „Wenn es Ihnen zu viel wird mit den Kommentaren …“ Nein, wird es ganz bestimmt nicht. Ich habe unter „Warum dieser Blog“ (April) darüber geschrieben, daß ich diesen Blog nicht als eine Art journalistischer Arbeit verstehe, wo ich den Leuten etwas mitteilen, wo ich „popularisieren“ will. Sondern ich will hier wissenschaftlich diskutieren, damit ich selbst etwas lerne. Und anders als in richtigen Publikationen hat man ja hier die Möglichkeit, wie in einem Gespräch unausgegorene Gedanken zur Diskussion zu stellen. Hier, zu diesem Artikel, klappt das ausgesprochen gut. Ich habe unausgegorene Gedanken zur Diskussion gestellt, und das Niveau der Kommentare ist im allgemeinen so hoch, daß ich davon lerne.

  34. Lebewesen /@L.Trepl [12.01.2013, 13:33]

    Marianne Schark schreibt in der Einleitung zu „Lebewesen versus Dinge“:

    Es wäre ein Fehler, diesen [Begriff Lebewesen] für einen biologischen Begriff zu halten: er ist vielmehr ein ontologischer. Ich plädiere dafür, der Biologie nur den Organismusbegriff zu überlassen, nicht jedoch den des Lebewesens.

    Ich plädiere dafür, die Begriffe Lebewesen, Organismus und lebendes System weiterhin synonym gebrauchen zu dürfen. Ich bin da auf eine Dissertation zum Thema „Der Funktionsbegriff in den Lebenswissenschaften“ von Simone Hornbergs-Schwetzel (2008, Uni Bonn) gestoßen. Sie schreibt in einer Fußnote:

    Es ist darauf hinzuweisen, dass die Begriffe „Organismus“, „Lebewesen“ und „lebendes System“ in dieser Arbeit weitgehend gleichbedeutend verwendet werden. Häufig wird unter einem Organismus eher ein organisierter Körper mit statisch vorgegebener Organisation verstanden, während unter einem lebenden System eher ein sich selbst organisierender Körper gefasst wird. Der Begriff des Lebewesens wird indes oftmals auf die Gesamtheit eines Körpers und seiner Seele oder Kraft bezogen und als ontologisches Konzept gedeutet, während mit dem Organismus oft nur auf den Körper eines Lebewesens Bezug genommen wird. […] (Vgl. Schark 2005a).

    Lebewesen als Gesamtheit eines Körpers und seiner Kraft. Es ist diese Trennung von Körper (Materie) und Kraft (?), mit der ich meine größten Probleme habe.

    »Schark […]: (1) „Ein Individuum, was über seine körperlichen Grenzen hinweg Stoffteilchen in sich hinein und aus sich heraus lassen kann, kann nicht bloß in dem Sinne als ein Individuum aufgefaßt werden, daß es schlicht als ein bestimmter spezifisch geordneter Bestandteil der Materie ist, die die Raumzeit erfüllt. Es muß vielmehr als Individuum abgehoben werden von dem Körper, der zu jedem Zeitpunkt seiner Existenz besteht.“ (S. 294)«

    Ein komplexes Individuum hat gemäß Schark einen komplexen Körper oder Organismus. Ein komplexer Organismus besteht aus einer Vielzahl von körpereigenen und fremden Zellen, die wiederum als Individuen aufgefasst werden müssen, weil sie einen Stoffwechsel haben. Ergo setzt sich der Organismus, den ein Lebewesen hat, aus weiteren Lebewesen zusammen.

  35. @ Balanus @fegalo

    Eine immer wieder diskutierte Frage war hier, ob ein Lebewesen einen Körper hat oder ob es einer ist. @ Balanus hat dazu geschrieben: „Wenn ‚Lebewesen’ einen Körper haben, statt ein ‚lebender’ Körper zu sein, dann wird der Begriff oder auch der Gegenstand ‚Lebewesen’, nach meinem Gefühl, zu einem Abstraktum.“ Das ist nur im Rahmen einer physikalistischen Monismus so oder im Rahmen eines cartesianischen Dualismus, denn in beiden Arten von Philosophien bleibt die Stelle der Lebewesen sozusagen leer. In anderen Philosophien, etwa bei Leibniz, sind die Körper Abstrakta. Ich will kurz zwei Gedanken referieren, die bei Schark dazu stehen: (1) „Ein Individuum, was über seine körperlichen Grenzen hinweg Stoffteilchen in sich hinein und aus sich heraus lassen kann, kann nicht bloß in dem Sinne als ein Individuum aufgefaßt werden, daß es schlicht als ein bestimmter spezifisch geordneter Bestandteil der Materie ist, die die Raumzeit erfüllt. Es muß vielmehr als Individuum abgehoben werden von dem Körper, der zu jedem Zeitpunkt seiner Existenz besteht.“ (S. 294)

    Ein ähnlich gewichtiges Thema wa das der Lebewesen als Subjekt (was hier vor allem @fegalo betont). Dazu ist wichtig zu bedenken, daß „Körper“ immer von uns, unter irgendeiner Fragestellung, von dem abgegrenzt werden, was nicht dieser Körper ist. Bei einem Lebewesen haben wir diese Möglichkeit nicht, wir müssen uns an die Außengrenze halten, die der Organismus selbst zieht. Wir können nicht die Haut von dem Lebewesen wegdefinieren und die Grenze tieferlegen (so wie wir etwa den Wald vom Berg wegdefinieren können und sagen, er steht „auf“ dem Berg), sondern müssen die Grenze finden. „Ein solcher Begriff von Lebewesen als den einzigen Individuen in der Welt, die sich selbst, d. h. durch eigene Leistung, von der Umwelt abgrenzen, ist offenbar ein Begriff von ihnen, mit dem ihnen – und zwar allen – eine minimale Form von Subjektivität zugestanden wird: sie werden damit als Wesen begriffen, die nicht nur Bestandteil der Körperwelt sind, sondern ihr zugleich auch in dem eben beschriebenen Sinn gegenübergestellt sind.“ (S. 295)

  36. Innen vs. Außen /@Trepl [11.01., 16:14]

    »Es ist logisch unmöglich, zugleich die Innen- und die Außenperspektive eines selbstreferentiellen Systems einzunehmen.«

    Deshalb wird wohl auch kaum einer das versuchen zu tun. Wie Sie selbst sagen: Der Forscher nimmt stets die Außenperspektive ein.

    Sein Wissen um die eigene Innenperspektive hilft vielleicht bei Spekulationen über die Innenperspektive von anderen Lebewesen, aber das ist dann keine Wissenschaft mehr, da haben Sie völlig Recht.

    »Es geht, wenn man einmal den Begriff der selbstreferentiellen Systeme hat, nicht mehr darum, daß Systeme mit steigender Komplexität Eigenschaften aufweisen, die sie bei geringerer nicht haben […], sondern es geht darum, was die Implikationen sind, wenn ein System sich bildet, indem es sich von seiner Umwelt als ein informationell geschlossenes abgrenzt und sich permanent selbst erzeugt. Da taucht unvermeidlich das Problem der Innen-Außen-Perspektive (wieder) auf.«

    Ich habe Schwierigkeiten, hier ein Problem zu erkennen. Wenn ich „Leben“ als eine Systemeigenschaft spezieller Systeme betrachte, dann sind diese speziellen Systeme klarerweise selbstreferentielle Systeme. Die sich selbsterhaltende Organisation ist dann aber keine Eigenschaft, sondern die Art und Weise des Seins lebender Systeme. Und da mir die Innenperspektive anderer Organismen ohnehin verschlossen bleibt, brauche ich mich damit auch nicht wissenschaftlich zu beschäftigen (das heißt natürlich nicht, dass man die kognitiven Leistungen eines stecknadelkopfgroßen Bienengehirns nicht untersuchen könnte–von außen, wohlgemerkt).

    Heinz Penzlin schreibt in seinem The riddle of “life,” a biologist’s critical view (Naturwissenschaften 2009; 96:1–23), dass er Maturanas Begriff „Autopoiesis“ meidet, weil er ihm für eine biologische Betrachtungsweise zu philosophisch aufgeladen erscheint (radikaler Konstruktivismus). Mir geht es da ganz ähnlich, zumal ich auf der philosophischen Ebene ohnehin nicht mitreden kann. Ich kann hier nur berichten, welche philosophischen Ideen mir einsichtig erscheinen und welche nicht.

    (Wenn es Ihnen zu viel wird mit den Kommentaren, Herr Trepl, werden Sie es sagen, ja?)

  37. Überzeugungen /L. Trepl [09.01., 16:28]

    Okay, wenn man unter „Überzeugung“ nur etwas Erworbenes verstanden wissen will, dann sind die Einwände gegen meine Ausführungen berechtigt.

    Aber man kann Überzeugung auch mit Gewissheit gleichsetzen, und in Gewissheit steckt der Begriff Wissen. „Wissen“ wiederum wird entweder individuell im Laufe des Lebens erworben, oder ist bereits niedergelegt in den phylogenetisch erworbenen Strukturen (a priori Wissen, genetisch verankerte Fähigkeiten, etwas tun zu können).

    Ad „kulturelle Vererbung“:

    Diese Metapher trifft meines Erachtens auch nicht so ganz das, was dabei wirklich geschieht. Vererbung ist die Weitergabe von genetisch fixierten Merkmalen und Eigenschaften von den Eltern zum Kind. Traditionen können aber nicht von den Eltern zum Kind weitergegeben werden, sondern sie müssen vom Kind von den Eltern bzw. der Gesellschaft aktiv erworben werden, nämlich von den Eltern bzw. der Gesellschaft. Das ist ein kleiner, aber wesentlicher Unterschied.

    Was wir landläufig als „Prägung“ bezeichnen, ist also ein Vorgang, der von dem „Geprägten“ ausgeht. Es ist so, als würde sich ein Rohling an den Prägestempel pressen, um zur Münze zu werden. Der Prägestempel ist das, was die Elterngeneration bereithalten muss, damit das Kind sich prägen kann.

    (Dass man durch physische und psychische Gewalt quasi irreversible Modifikationen im Gehirn des Kindes bewirken kann, steht auf einem anderen Blatt.)

    Ad „Ebene des Sozialen“:

    Das Gehirn ist nicht nur unser Organ fürs Denken und Lernen, sondern auch das fürs Soziale. Es darf vermutet werden, dass etliche der grundlegenden sozialen Verhaltensmuster genetisch bedingt sind, und dass diese Grundmuster durch das individuell Erworbene modifiziert, erweitert und an die gegebenen sozialen Umweltbedingungen angepasst werden.

    »Meine Frage ist aber nun die: Welche Rolle spielen Eigenschaften, Verhaltensweisen, Fähigkeiten, die in der Tat biologisch vererbt werden können wie z. B. bestimmte Gefühle in bestimmten Situationen, für das Gewicht, das Überzeugungen für den Einzelnen und in der Gesellschaft bekommen?«

    Es gibt (mindestens) eine kulturelle Überzeugung, die praktisch das Gewicht einer genetisch fixierten Eigenschaft hat, nämlich die Überzeugung, die („ethnische“) Abstammung sei von wirklicher Relevanz für die individuelle Identität. Das soziale Konstrukt von Stämmen, Völkern, Ethnien und Rassen scheint in den in Köpfen vieler Menschen eine übermächtige Wirkung zu haben. Gleiches dürfte für Glaubensüberzeugungen gelten. Es gibt offenbar Überzeugungen, die sich der Überprüfung durch die Vernunft entziehen. Ganz analog zu den genetisch fixierten Persönlichkeitsmerkmalen, die auch nicht einfach durch freie Willensentscheidungen verändert werden können.

  38. “Chemische Teleonomie”

    Das folgende Paper dürfte nach meiner Einschätzung den Geschmack von Balanus treffen, ist aber vielleicht auch für andere hier noch von Interesse:

    Pross, A. (2008), How can a chemical system act purposefully? Bridging between life and non-life. J. Phys. Org. Chem., 21: 724–730 [Abstract]

    N.B. PDF auf der Homepage des Autors, http://www.bgu.ac.il/~pross/

  39. @all:Präbiotische Evolution,Autokatalyse

    Einige kürzlich hier gemachte Kommentare beschäftigen sich mit der präbiotischen Evolution.

    Dass es Evolutionsprozesse vor der Entstehung des Lebens gegeben haben muss und es solche abiotische evolutive Prozesse wahrscheinlich immer noch gibt ist für mich ein Beispiel für die Bedeutung von emergenten Phänomenen. Interessant daran ist zweierlei:
    1) Ohne Selbstschöpfungsprozesse wäre das Universum unbelebt und aus menschlicher Sicht uninteressant
    2) Man sieht den Naturgesetzen nicht unbedingt an, dass präbiotische evolutive Prozesse möglich sind und wahrscheinlich immer noch stattfinden.

    Das vielversprechenste Konzept, welches prä- oder extrabiotische evolutive Systeme ermöglicht ist das Konzept der autokatalytischen Sets. Diese haben eine lange Geschichte, länger als das Wissen über die Rolle der DNA in der Biologie, wurden zwischenzeitlich aber wieder vergessen.

    Heute werden autokatalytische Sets neu erforscht – bis auf die mathematische Ebene.

    Autokatayltische Sets können evolvieren wobei neue voneinander abhängige Subsets entstehen. Sie sind nicht auf chemische Prozesse beschränkt können aber im Falle von chemischen autokatalytischen Sets das bekannte Problem lösen, dass das Leben scheinbar nicht aus Aminosäuren oder RNA allein entstehen kann, sondern eine Suppe von gegenseitig abhängigen Substanzen benötigt.

    Im oben verlinkten Artikel liest man dazu folgendes:

    “In other words, autocatalytic sets can have a rich complex structure of their own.

    They go on to show how evolution can work on a single autocatalytic set, producing new subsets within it that are mutually dependent on each other. This process sets up an environment in which newer subsets can evolve.

    “In other words, self-sustaining, functionally closed structures can arise at a higher level (an autocatalytic set of autocatalytic sets), i.e., true emergence,” they say.

  40. @ Balanus

    „man kann, meine ich, den Begriff Selektion auch auf die Prozesse der Lebensentstehung anwenden. Die Entstehung von relativ stabilen Makromolekülen und zirkulären chemischen Reaktionen, das Zusammenfinden aller „lebensnotwendigen“ Teile, kann man sich doch ohne eine Unzahl von „Fehlversuchen“ gar nicht vorstellen.“

    Das könnte so gewesen sein. Damit sind aber unsere Probleme nicht gelöst: Man kann auf diese Weise erklären, wie bestimmte körperliche Gebilde entstehen. Doch daß wir diesen Gebilden Subjekteigenschaften zuschreiben, daß wir sagen, sie seien „aktiv“, sie haben ein „Bestreben“, sie „fühlen“ etwas – alles Begriffe, die es in der Wissenschaft, die wir anwenden, um die Entstehung dieser Gebilde zu erklären (kausalmechanisch erklären, mit den Möglichkeiten von Physik und Chemie), schlechterdings nicht geben kann – dem sind wir dadurch kein bißchen nähergekommen.

    Die Theoretiker selbstreferentieller Systeme (die sich ja für harte Physiker zumindest halten) sagen: Es ist logisch unmöglich, zugleich die Innen- und die Außenperspektive eines selbstreferentiellen Systems einzunehmen. Demnach müßte man vielleicht formulieren: Wenn solche Systeme einmal entstanden sind (was sich, so meinen Sie ja mit vielen anderen, naturwissenschaftlich, also aus der „Außenperspektive“, erklären läßt), dann ist zugleich etwas entstanden, das sich dieser Perspektive und damit der Naturwissenschaft (d. h. hier der Physik) grundsätzlich entzieht, eben die Innenperspektive, die solche Systeme nun einmal haben. Sie haben eine Innenperspektive so wie das sie beobachtende selbstreferentielle System, d. h. der Forscher, auch. Dadurch hat dieser einen Zugang zur Innenperspektive dieser Systeme: die Analogie mit seiner eigenen. Es ist aber kein naturwissenschaftliches Wissen, das so zustande kommt.

    Wenn Sie sagen „Ich bevorzuge den Begriff ‚Systemeigenschaft’“ (statt Emergenz), so würden Autopoiesistheoretiker wie Luhmann dazu wohl sagen: Da haben Sie einen veralteten Systembegriff. Es geht, wenn man einmal den Begriff der selbstreferentiellen Systeme hat, nicht mehr darum, daß Systeme mit steigender Komplexität Eigenschaften aufweisen, die sie bei geringerer nicht haben (geschweige denn, daß die Bestandteile sie hätten, was schon logisch nicht geht), sondern es geht darum, was die Implikationen sind, wenn ein System sich bildet, indem es sich von seiner Umwelt als ein informationell geschlossenes abgrenzt und sich permanent selbst erzeugt. Da taucht unvermeidlich das Problem der Innen-Außen-Perspektive (wieder) auf.

    Ich verstehe leider von Logik und von Systemtheorie (dieser Art) allzu wenig, so daß ich nicht einmal eine ordentliche Meinung dazu habe, ob ich nicht vielleicht diesen ganzen Autopoiesis-Ansatz verwerfen sollte. Ich gebe nur halbverstandenes angelesenes Zeug wieder.

  41. @Ludwig Trepl [11.01.2013, 11:25]

    »Dann ist Leben nichts als eine Eigenschaft von materiellen Gegenständen, von Körpern. Die Probleme damit muß ich Ihnen sicher nicht aufzählen. Man versteckt sie in dem Zauberwort „Emergenz“, das eine Erklärung vorgaukelt.«

    Ich bevorzuge den ja Begriff „Systemeigenschaft“. Es ist eine alltägliche Beobachtung, dass ein System in der Regel andere Eigenschaften hat als die einzelnen Teile. Inwieweit sich die Eigenschaften eines Systems aus den interagierenden Teilen erklären lassen, ist eine andere Frage, kann aber idR untersucht werden.

  42. @Ludwig Trepl [10.01.2013, 14:42]

    »Lebewesen können nicht in einem Selektionsprozeß entstanden sein, weil dieser immer schon Lebewesen voraussetzt. Sie können – für die Naturwissenschaft – nur durch einen „einfachen“ Zufall, ohne Selektion, entstanden sein. Was bedeutet es aber für die Frage der Relevanz der Teleologie, wenn man naturwissenschaftlich zeigen kann, daß dieser Zufall so unwahrscheinlich nicht ist?? Ich kenne die einschlägigen Forschungen nicht, höre immer nur, daß man das zeigen kann.«

    Darwins „natürliche Selektion“ bezog sich auf Lebewesen. Aber man kann, meine ich, den Begriff Selektion auch auf die Prozesse der Lebensentstehung anwenden. Die Entstehung von relativ stabilen Makromolekülen und zirkulären chemischen Reaktionen, das Zusammenfinden aller „lebensnotwendigen“ Teile, kann man sich doch ohne eine Unzahl von „Fehlversuchen“ gar nicht vorstellen. Es ist auch sicher nicht abwegig, anzunehmen, dass es anfangs eine Vielzahl von „lebensähnlichen“ Gebilden (nach heutigen Vorstellungen vom Leben) gegeben hat, die aber schlussendlich den „echten“ Lebewesen das Feld überlassen mussten.

  43. Funktionen /@Ano Nym

    Ergänzend zu @fegalos Replik:

    Sie kennen doch sicher den alten Designer-Spruch „form follows function“.

    Der (intelligente) Designer hat also erst die Funktion im Auge, und kreiert daraufhin die Form. Das ist die klassische teleologische Vorgehensweise.

    Im freien Spiel der Kräfte der belebten Natur ist es umgekehrt. Der Zufall variiert die Form, und ob diese Variation eine Funktion erfüllt oder nicht, stellt sich erst später heraus. Diese Abfolge der Ereignisse ist gemeint, wenn von Teleonomie gesprochen wird.

    Wie man diese unterschiedlichen Vorgänge in ein in sich stimmiges philosophisches Begriffssystem bringt, so habe ich es zumindest verstanden, ist letztlich das Thema des Blog-Beitrags.

  44. @ fegalo

    „Ich sehe die Lösung darin, dass der Adressat des „gut für“ eben immer ein Subjekt ist, und nicht ein physischer Organismus.“

    Dem kann ich weitgehend zustimmen, aber damit scheinen mir nicht alle Probleme gelöst. Was ist hier des Staus des „ist“? Wenn Sie den Begriff „physischer Organismus“ benutzen, dann, so vermute ich, haben Sie einen Naturbegriff im Sinn, wie er den Naturwissenschaften zugrunde liegt, einen formalen („das, was den Gesetzen gehorcht“, Kant). In dieser Natur können Subjekte nicht vorkommen. Will man das aber haben, braucht man einen inhaltlichen, materialen Naturbegriff. Diese Natur zerfällt dann in Subkategorien: leblose Natur (wobei man dann noch Dinge im eigentlichen Sinne und bloße Materiequanta unterscheiden könnte) und Lebewesen.

    Jenen formalen Naturbegriff könnte man vielleicht so bestimmen, daß er auf die leblose Natur angewendet werden kann, aber auch nur auf sie. Wendet man ihn auf die Lebewesen an, dann gibt es, scheint mir, zwei Möglichkeiten:
    (1) Die naturalistische. Dann ist Leben nichts als eine Eigenschaft von materiellen Gegenständen, von Körpern. Die Probleme damit muß ich Ihnen sicher nicht aufzählen. Man versteckt sie in dem Zauberwort „Emergenz“, das eine Erklärung vorgaukelt.
    (2) Die transzendentalphilosophische (im Kant’schen Sinn, nicht im Husserl’schen, der Ihnen, wie Ihr Kommentar zeigt, wohl sympathischer ist). Daß Lebewesen Subjekte sind, ist eine Zuschreibung, eine regulative Idee, keine konstitutive Bestimmung dieser Naturdinge. Sie kommt aus unserer Erfahrung mit uns selbst.

    Sie schreiben: „Kant hat die unmittelbare Selbsterfahrung als Quelle der Erkenntnis über die Natur nicht in Betracht gezogen, sondern nur die Vernunftkraft bemüht.“ Das stimmt natürlich insofern, als er keinen Begriff von Erfahrung etwa im Dilthey’schen oder gar Gadamer’schen Sinn hatte. Dennoch meine ich, daß man auch im Hinblick auf Kant von „unserer Erfahrung mit uns selbst“ sprechen kann, denn wir kennen das Handeln aus Absicht (damit das Handeln von Subjekten), also Zwecksetzungen, mittels derer uns allein die Lebewesen „zugänglich“ sind, nur von uns selbst, nur da haben wir eine Erfahrung davon. Daß die Lebewesen Subjekte sind, wird hier nicht abgelehnt, sondern es wird gesagt, daß wir darüber nichts wissen können.

    Das liegt meines Erachtens die Schwierigkeit Ihrer Auffassung, so wie ich sie verstehe: sie ist metaphysisch, und zwar nicht in dem Sinne, wie die analytische Philosophie heutzutage Metaphysik betreibt (als deskriptive Metaphysik), das ist unproblematisch, sondern sie ist eine Metaphysik, die von der Kant’schen Kritik getroffen ist. Damit muß sie nicht falsch sein, aber man lädt sich eine große Begründungslast auf. Man kann nicht wissen, daß die Lebewesen Subjekte sind, man kann sie sich nur so denken. Was man allerdings wohl sagen kann: Wenn wir sie uns als solche denken, dann hat man eine ganze Menge Probleme nicht, die der Naturalismus (Physikalismus) hat.

    Nun könnte es aber möglich sein, Ihre Auffassung mit der transzendentalphilosophischen Kritik zu versöhnen, indem man sagt: In jener auf unserer Erfahrung mit uns selbst beruhenden Zuschreibung liegt nur die ratio cognescendi dessen, was Sie behaupten: daß die Lebewesen tatsächlich Subjekte sind. Man müßte dann aber sagen können, welcher Art von Wissen das ist, in welchem Sinne es den Titel „Wissen“ verdient, denn naturwissenschaftliches Wissen ist es nicht.

  45. @Ludwig Trepl

    Vielen Dank für Ihre ausführliche Antwort vom 07.01.2013, 10:08, auf die ich leider nicht eher eingehen konnte. Ich will mit dem Schluss beginnen, denn daran lässt sich meine abweichende (An)Sicht vielleicht am besten erklären.

    Ich habe übrigens diese Hoffnung, die ja für den Kommunismus typisch war, weniger: daß die Angst vor dem Tod aufhört, wenn das Leben wahrhaft lebenswert („wahre Interaktion“) wird. Warum soll es nicht umgekehrt sein: je lebenswerter das Leben, desto mehr fürchtet man sein Ende?

    Mir scheint: Wer Leben wirklich als wahre Interaktion begreifen kann, wird den Tod vermutlich weniger fürchten – weil er ja in der Gesellschaft weiter lebt. Wichtiger wird dann lebensweltliches Sein in dieser Gesellschaft, dieweil mir die Angst vor dem Tode immer mit einer Fixierung auf das individuelle Haben verbunden scheint.
    Das lese ich auch in Ihrer Antwort an Georg Hausladen (08.01.2013, 11:20), denn: (1) die Todesverachtung als Extremform der Liebe zum Leben will ja nur sein und schätzt daher das Leben nicht als etwas zu Habendes und als solches zu Erhaltendes. Und (2) auch hochabstrakte Ideen wie Ehre wirken nur dann so weit auf das Leben, wenn ihre Verletzung die Interaktion zu unterbinden vermag.

    Ein Problem habe ich mit „kann sich so die ‘Funktion’ des Lebens wohl nicht zeigen“. Das klingt, als gäbe es „die Funktion des Lebens“ etwa im Sinne von „der wahre Sinn des Lebens“ oder „der Lebensvorgänge“, und den verdeckt uns unsere westliche Kultur. Mir scheint der Gedanke attraktiver, daß die Art, wie die westliche Kultur […] des Zweck der Lebensvorgänge bestimmt (im Weiterleben), durchaus enorme Einsichten gezeitigt hat, daß aber nicht ausgeschlossen ist, daß andere Kulturen mit anderen Vorstellungen von „Leben“ eine Perspektive eröffnen könnten, die ebenfalls ertragreich ist, vielleicht noch ertragreicher. Allerdings frage ich mich, ob da so viel an anderen Perspektiven zu erwarten ist.

    Dass das Weiterleben als Zweck viele Einsichten gezeitigt hat, das will ich nicht bestreiten. Mir ging es eher um die Fixierung auf Überleben des Individuums. Meiner Ansicht nach lässt sich Leben nur im Rahmen der Spezies (oder Gruppe) sinnvoll verstehen – denn nur innnerhalb derselben kann das Individuum wirklich inter-agieren. Damit werden aber gewisse, scheinbar unangepasste Verhaltensweisen erklärbar, ja dienen regelrecht dem Leben. Zweck des Lebens (und zwar wirklich im von Ihnen abgelehnten Sinn wie “der wahre Sinn des Lebens”) wäre dann die anpassende Interaktion. Ist diese für das Individuum aus irgendeinem Grunde nicht (mehr) möglich, dann ist das Ziel entweder die schnelle Suche neuer Interaktionen oder der Tod.

    Wandlungsfähigkeit war dann vielleicht auch nicht das richtige Wort, besser wäre Anpassungsfähigkeit trotz gewisser Konstanz. Denn auch wir bleiben ja nie absolut identisch mit uns, und zwar nicht nur in den Molekülen nicht, sondern auch nicht in Struktur und Charakter. Alles was bleibt ist eine gewisse Konstanz der Hülle und der grundlegenden Charakteristika – aber auch da kommt es sehr auf die Umwelt an, denn wer viel wandert muss(te) auch viel sich wandeln, jedenfalls bei längerem Verweilen. Und wenn man es genau nimmt wandelt sich auch diese Struktur enorm – von der Befruchtung bis zum voll funktionierenden Lebewesen.

    Sterbenkönnen ist das Kriterium, Wandlungsfähigkeit eine zusätzliche Eigenschaft, auf die man spät kam. Man sieht dann auch, daß die Wandlungsfähigkeit ein Mittel ist, eingesetzt, um nicht sterben zu müssen, vielleicht auch, daß das Sterbenkönnen etwas ist, was das Leben zur Wandlungsfähigkeit zwingt u. dgl. mehr. Dann dürfte man aber nicht, wie Sie, sagen, daß das Absterben der Zellen der Wandlung dient, sondern daß es dem Weiterleben (in der Stammesgeschichte) dient und die Wandlung dazu „nutzt“. Fraglich ist aber, ob auf dieser evolutionsbiologischen Ebene diese teleologische Redeweise überhaupt sinnvoll ist (so wie sie als regulative Idee für die Vorgänge im Organismus sinnvoll ist).

    Mir scheinen hier Ursache und Wirkung verdreht. Mir ist die aktive Anpassungfähigkeit eher das Kriterium – Sterben nur ein Mittel dazu (auch wenn man das früher erkennen konnte). Denn auch Flüsse oder Berge ‘sterben’ ja – wenn sie austrocknen oder erodieren. Aber anders als bei den Lebewesen geschieht das eben von Außen, nicht von Innen. Will man also sauber zwischen Leben und Nichtleben unterscheiden, dann scheint mir das Abstellen auf die aktive Anpassungsfähigkeit sinnvoller. Ansonsten muss man sich eben unsauber bzw. unwissenschaftlich auf die Alltagsansichten über Leben berufen. Mir scheint auch Ihr Passus aus der Antwort zur Umwelt darauf zu deuten: “Das Lebewesen war […] ein sich in Auseinandersetzung/Austausch mit der Umwelt permanent selbst erzeugendes.”

    Warum nimmt man denn nicht diese Erkenntnis als Ausgangspunkt der Definition von Leben? Denn vielleicht würde sich dann tatsächlich die teleologische Redeweise erübrigen (ich zweifle daran), aber dieses Abstellen auf aktives Selbsterzeugen in Interaktion mit der Umwelt, das wäre doch eine wissenschaftliche Definition, die vom Alltagsverständnis abstrahieren kann und noch dazu bis auf kausalmechinische Ursachen zurückführbar wäre…

    PS: Das schiene mir dann auch auf die Frage von @Balanus zu antworten: Das im Labor Geschaffene ist noch kein Lebewesen – sondern wird es erst durch die Selbst(wieder)erzeugung in Auseinandersetzung mit der Umwelt. Darin sehe ich dann auch den Unterschied begründet, dass für uns (wie Sie an Balanus schrieben) “ein nicht-lebendes Ding zumindest typischerweise zu einem anderen wird, wenn seine Materie ausgetauscht wird, ein Lebewesen aber im Austausch und trotz völligen Austauschs der Materie das selbe bleibt [.]”

    Weitergehend scheint mir damit auch das Problem Genetik vs. Kultur gelöst. Das Lebewesen muss sich aktiv selbst erzeugen – und zwar von der (befruchteten) Zelle an, also sowohl vor wie nach der Geburt. Die Umwelt kann diese Selbsterzeugung allenfalls begünstigen oder leiten, nicht jedoch selbst die Form bestimmen (wie bei Dingen). Bei einfacheren Lebensformen sind diese Beeinflussungen eher beschränkt und erfolgen kaum durch die eigene Spezies. Bei höheren Lebewesen gewinnt beides jedoch an Bedeutung – einerseits duch die Tragezeit der Säugetiere und dann noch durch die Kindessorge. Aber auch dort muss sich das werdende Lebewesen selbst erzeugen. Insofern scheint mir der Unterschied zwischen genetischer und kultureller Vererbung zu schwinden, das umso mehr als ja auch die vererbten Gene nicht alle gleichermaßen aktiv werden – sondern wie die Kulturangebote (teils) nur dann wirksam werden, wenn gewisse (andere) Umweltbedingungen die Realisierung durch das Lebewesen anregen bzw. begünstigen.

  46. @ Ano Nym

    Der Funktionsbegriff benötigt m.E. übrigens nicht zwingend Lebenswesen als Träger eines Zwecks. Etwa kann man dem “Verbindungsstück” in dieser Gesteinsformation (nennt man das so?):
    die Funktion zuschreiben, den auf ihm ruhenden Stein zu tragen. Mit Sicherheit lassen sich noch bessere “abiotische” Beispiele finden.

    Es geht ja hier um „ätiologische“ Funktion, also solche Strukturen, deren Existenz sich selbst erst damit erklären lässt, dass sie einem bestimmten Zweck dienlich sind – und das ist immer der Zweck Funktionen in Lebewesen.

    Grammatisch können Sie das daran festmachen, ob die Frage nach einem „um zu“ sinnvolle Antworten hervorbringt.

    In Ihrem Beispiel ist das wohl nicht der Fall.

  47. @ Ludwig Trepl

    Die Gegner der Theorie der Reduktion des Funktionalen auf Kausalprozesse argumentieren im allgemeinen anders, nämlich daß die Funktionalität in diesen Reduktionismen bereits vorausgesetzt wird, also im Zirkel argumentiert wird (positiv wird ausgelesen, was eine Funktion für den Organismus hat, „gut“ für sein Weiterleben ist, d. h. wohl auch: einen Organismus, dessen Möglichkeit ja erklärt werden soll, muß es immer schon geben). Wie paßt das mit der wohl auch richtigen Behauptung zusammen, daß die Mutations-Selektionsgeschichte ein zeitlich entzerrtes Zufallsereignis ist? Das wäre meine Hauptfrage.”

    Ich sehe die Lösung darin, dass der Adressat des „gut für“ eben immer ein Subjekt ist, und nicht ein physischer Organismus. Wir können von Funktion ab dem Zeitpunkt reden, ab dem wir von einem Subjekt (einem Selbstsein) sprechen können, also ab dem Beginn des Lebendigseins. Nur für ein Subjekt ist etwas gut. Und wir können die Existenz eines Subjekts logisch trennen von der Existenz seines Körpers (=Organismus – wenn auch nicht empirisch). Wenn man eine Story erfindet, in der sich materielle Teile zusammenfügen oder gefügt werden, bis eine fertige (lebendige) Ur-Zelle vorhanden ist, dann gibt es keinerlei Funktion, bis sie zu leben anfängt. Erst durch das Lebendigsein mit seinen Eigenschaften des Subjektseins, des Interessenhabens etc. werden bestimmte Strukturen zu Funktionen.

    Diese Überlegungen zeigen meiner Ansicht nach, wie problematisch die Vorstellung ist, dass das Leben ein Ergebnis zufälliger materieller Zusammenschlüsse ist. Ob Urzelle oder Sumpfhund ist nämlich einerlei.

    Persönlich halte ich die Vorstellung, dass das Leben durch zufällige Ereignisse auf molekularer Ebene entstanden ist, für vollkommen phantastisch. Derzeit versuchen gewisse „Bioingenieure“, Zellen aus Fertigbauteilen zu synthetisieren. Natürlich klappt es nicht. Dabei frage ich mich stets, aufgrund von was ein solcher Komplex zu leben anfangen sollte, und nicht nur einfach der Nachbau einer toten Zelle ist.

    Ganz offensichtlich spielt es für die Diskussion hier durchaus eine Rolle, ob die Vorstellung, dass Leben eine Funktion zufälliger materieller Zusammenschlüsse ist, überhaupt stimmt.
    Die ganze Problematik wäre also auf die Frage nach der Entstehung des Lebens als solchem verlagert. In einem anderen Kommentar zur Teleologie habe ich schon argumentiert, dass dem Evolutionsprozess entweder eine „Zauberknete“ namens lebendige Zelle mit allen echten! teleologischen Merkmalen zugrunde liegt, oder aber die lebendige Zelle tatsächlich nichts anderes als ein chemischer Mechanismus mit „emergenten“ Effekten ist, die wir mit „lebendig“ bezeichnen, so wie es unsere Naturalisten sehen. Im zweiten Fall würden wir alle unsere theoretischen Probleme niemals los.

    Auf Basis von etwas, was wir an uns selbst vorfinden, konstituieren wir „Lebewesen“. Daß (nach Kant) der Zweckbegriff kein konstitutiver Begriff im Bezug auf die Organismen ist, heißt nicht, daß wir nicht die Lebewesen als eine Kategorie des „Seienden“ eben damit konstituieren.”

    Kant hat die unmittelbare Selbsterfahrung als Quelle der Erkenntnis über die Natur nicht in Betracht gezogen, sondern nur die Vernunftkraft bemüht. Hierin mag sich das zeitgenössische Selbstverständnis spiegeln, das den Menschen bloß als ein „animal rationale“ verstand, und seine Erkenntniskraft als völlig losgelöst sah von seiner leiblich-lebendigen Existenz. Der Zweckbegriff ist, wie ich glaube, in Wirklichkeit weit besser fundiert als in Kants Diskussion desselben in der KdU, eben weil die Selbsterfahrung als Naturwesen für uns eine legitime Quelle unabweisbarer Erkenntnis darstellt.
    Lebewesen können nicht in einem Selektionsprozeß entstanden sein, weil dieser immer schon Lebewesen voraussetzt. Sie können – für die Naturwissenschaft – nur durch einen „einfachen“ Zufall, ohne Selektion, entstanden sein (…) Ich kenne die einschlägigen Forschungen nicht, höre immer nur, daß man das zeigen kann.”

    Ich vermute, mehr als einschlägiges Geraune wird da nicht kommen. Wer es zeigen kann, der soll es auf den Tisch legen und dann wird man sehen.

    Aber: Was will er zeigen? Er kann nur ein Modell entwickeln, das auf der Basis vollkommen fiktiver Annahmen Wege und Wahrscheinlichkeiten angibt für das zufällige Zustandekommen eines bestimmten Molekülkomplexes –immer unter der Voraussetzung, dass mit dem Zustandekommen dieses bestimmten Molekülkomplexes das Leben „anspringt“, wie ein Motor.
    Allerdings ist dies eine völlig spekulative Hypothese. Mithin kann niemand irgendetwas definitiv „zeigen“.

  48. @Balanus: L&M

    Wenn in McLaughlins Zufallsprodukt Massie die Organe funktional sind, dann deshalb, weil sie so gestaltet sind, als wären sie im Evolutionsprozess entstanden (ganz ohne Teleologie), oder weil sie von einem intelligenten Designer gemacht wurden (teleologisch).

    Ich mag diese Formulierungen ganz und gar nicht. Organe haben eine bestimmte Funktion, wenn und weil ein bestimmter Kaussalzusammenhang formulierbar ist, innerhalb dessen die Organbeseitigung den Wegfall des Kausalzusammenhangs bedeutet.

    (auch @fegalo):

    Der Funktionsbegriff benötigt m.E. übrigens nicht zwingend Lebenswesen als Träger eines Zwecks. Etwa kann man dem “Verbindungsstück” in dieser Gesteinsformation (nennt man das so?):

    http://us.123rf.com/…on-arches-national-park.jpg

    die Funktion zuschreiben, den auf ihm ruhenden Stein zu tragen. Mit Sicherheit lassen sich noch bessere “abiotische” Beispiele finden.

    »Wo die Organe herkommen, […] spielt keine Rolle dafür, ob Strukturkomponenten eines Gegenstands für den Gegenstand eine Funktion erfüllen.«

    Sehe ich auch so.

    Das kommt aus Ihren Formulierungen aber irgendwie nicht heraus, denn Sie legen zumindest scheinbar Wert darauf, dass die Funktionshaftigkeit von Organen entweder aus ihrer Eigenschaft Kopie eines “anerkannten Organs” oder Schöpfung zu sein, stammt. Das ist aber nicht meine Meinung.

    Massies Organe stammen, wie Massie selbst, aus einem singulären Zufallsereignis. Weil sie zufällig die Gestalt funktionsfähiger Organe haben (wie wir sie aus der Evolution oder der Werkstatt des intelligenten Designers kennen), sind sie auch in Massie funktional.

    Ein Organ ist nicht deshalb funktional, weil es die Form eines (“auf anerkanntem Weg erzeugten”) Organs hat, sondern weil es unter die Definition von “Funktion” fällt, es also einen (Kausal)zusammenhang gibt, der ohne das Organ nicht gedacht werden kann.

    (Ich hoffe, diese Formulierungen finden nun Ihren Segen…)

    Naja.

  49. @fegalo

    »Allerdings will ich hinzufügen, dass das Vorhandensein, das Ausbleiben sowie etwaige Stärke und Richtung eines Selektionsdrucks ebenfalls rein zufallsabhängig ist.«

    Ich würde nicht von einem „Selektionsdruck“ sprechen, aber dass der Prozess der „Selektion“ viele Zufallskomponenten hat, ist klar. Ansonsten ist die Umwelt mit all ihren Zufallsereignissen einfach gegeben. Eine Selektion in eine bestimmte „Richtung“ ist aber etwas, was man nur rückblickend konstatieren kann. Und dann kann man sich überlegen, warum die Entwicklung so verlaufen ist und nicht anders. Ist Ihrer Meinung nach die rasante evolutionäre Entwicklung des menschlichen Gehirns nur dem reinen Zufall geschuldet?

    » “Anders als auf diese Weise (Variation, Prüfung auf Funktionalität) scheint in diesem Universum die Entstehungen ätiologischer Funktionen nicht möglich zu sein“.

    Aus der Sicht eines Naturalisten vom Zuschnitt eines Carl Vogt oder Mario Bunge mag das so aussehen. Ein Beweis oder zwingendes Argument lässt sich dafür jedenfalls nicht erbringen.«

    Ein „Beweis“ dafür, dass etwas so „scheint“?

    Zu Massies Organfunktionen siehe meine obigen Antworten an Ano Nym und Herrn Trepl.

    »Der Überraschungseffekt des Sumpfhund-Gedankenexperiments kommt möglicherweise daher, dass wir uns über die Entstehung einer Funktion „ex nihilo“ wundern, aber die Entstehung eines Lebewesens, also eines Subjekts und Trägers von Interessen, durch einen Blitzeinschlag innerhalb dieses Gedankenexperiments fraglos akzeptieren. «

    Das verstehe ich nicht. Wenn ich mich auf dieses Gedankenexperiment einlasse, dann akzeptiere ich die zufällige Entstehung eines Lebewesens und damit auch die zufällige Entstehung der Organe mit ihren Funktionen.

    Die Funktion kommt ja nicht aus dem Nichts, sondern tritt in Erscheinung (wird beobachtbar), sobald die entsprechenden Strukturen vorhanden sind.

    Apropos Abiogenese:

    Wenn man von der Vorstellung ausgeht, dass Lebewesen einen materiellen Köper haben und nicht lebende Körper sind, stellt sich die Frage, wie das erste Lebewesen zu seinem materiellen Körper gekommen ist.

    Oder anders gefragt: Was war zuerst da, das Lebewesen oder sein materieller Körper?

  50. @Ludwig Trepl

    Habe nun doch wieder grundsätzliche Probleme mit der Fragestellung.

    Menschen benutzen das Wort “Funktion” mit unterschiedlicher Konnotation. Einige Menschen benutzen den Begriff synonym zu “Zweck”, was m.E. eine zweckgebende Instanz impliziert (und das sind wir selbst – wer sonst sollte entscheiden, was der Zweck von x ist?). Andere benutzen den Begriff “Funktion” als Abkürzung für die Aussage “die Eigenschaft erhöht die Wahrscheinlichkeit der Verbreitung der zugrundeliegenden Gene”. Egal, ob die Eigenschaft durch eine Kausalkette von Ereignissen (Variation/Selektion) entstanden ist (bei komplexen Eigenschaften die Regel), oder aber spontan (bei einfachen Mutationen / Rekombinationen die Regel)!

    Mir ist die zweite Verwendung attraktiver, und zwar weil sie weniger Annahmen macht. Im Grunde sagt sie aus: “Die Eigenschaft existiert, weil sie der Verbeitung der zugrundeliegenden Gene, und damit dem Fortbestehen eben dieser Eigenschaft dienlich ist.” Es existieren diejenigen Dinge, die ihre eigene Existenz fördern. Eine Tautologie.

    Verwende ich den Begriff “Funktion” mit der ersten Konnotation, stellt sich mir immer die Frage, auf welcher Ebene denn diese (zweckgebende) Funktion gegeben sein soll. Was für eine Funktion hat die Nase? Atmen? Einatmen? Ausatmen? Filtern von Schmutzpartikeln? Signalisieren der Größe des Geschlechtsteils? Oder etwas anderes?

    Das wird deutlicher, wenn wir eine (oder mehrere) Ebenen tiefer gehen. Sehen wir uns nicht eine komplexe Eigenschaft wie eine Nase an, sondern ein einzelnes Protein. Ein Gen mutiert, das codierte Protein erhält eine andere räumliche Konformation und dockt nun an andere Rezeptoren der Zellmembranen an, was zu einem veränderten Stoffwechsel führt, so dass mehr Pheromone ausgeschüttet werden, so dass Sexualpartner angelockt werden, so dass… (Sie wissen schon). Was ist nun der Zweck dieses Proteins? An andere Rezeptoren zu binden? Einen anderen Stoffwechsel einzuleiten? Mehr Pheromone zu produzieren? Mehr Sexualpartner anzulocken? Fertilere Sexualpartner anzulocken? Etc. etc. Wir könnten uns unendlich viele zweckgebende Funktionen ausdenken.

    In diesem Zusammenhang ist mir auch nicht klar, warum es sinnvol sein soll, von “der” (einzigen) Funktion von etwas zu sprechen (im Vergleich zu “den” Funktionen).

    Wenn wir sinnvoll von einer zweckgebenden Funktion sprechen wollen, kommt da m.E. nur ein Zweck in Frage: Die Eigenschaft x erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass die zugrundeliegenden Gene vermehrt werden. Das trifft auf die Nase zu genau so wie auf das Protein, das für mehr Pheromone sorgt. Und da schließt sich der Kreis, denn diese zweckgebende Funktion ist identisch mit einer kausalen Erklärung.

    Wir könnten das natürlich auch umdrehen. Legen wir einfach fest, die Funktion von x sei es, die Wahrscheinlichkeit der Vermehrung der zugrundeliegenden Gene zu vermindern. Kein Problem. Wenn alle Beteiligten im Sprachspiel diese Defintion akzeptieren, können wir mit Fug und Recht sagen, die Funktion von Krebszellen ist: den Träger zu töten. Üblicherweise tun wir dies aber nicht, weil wir uns mit Biologie befassen, nicht mit Nekrologie.

  51. @Ludwig Trepl [10.01.2013, 19:43]

    »Doch dazu müßte er [Massie] nicht völlig identisch sein [mit Lassie]. Er könnte auch aussehen wie kein Tier auf der Welt und doch von uns als ein Lebewesen (und damit unter heutigen Bedingungen als Organismus) angesehen werden müssen.«

    Das sehe ich genauso. Sofern es organisch aufgebaut ist, wie eben die in der Evolution entstandenen Lebensformen.

    So könnte das Zufallswesen z.B. statt eines Herzens auch eine Art Umwälzpumpe haben. Oder etwas ganz anderes, mit einem uns völlig unbekannten Pumpprinzip. Aber organisch, nehme ich an, sollte es schon sein. Also kein Kunstherz, ferner keine Kunstniere, keine Sensoren, kein Prozessor, und so weiter und so fort, bis am Ende gar keine organischen Organe mehr vorhanden sind.

    Das führt uns zu der Frage: Wie viele Organe in diesem Zufallswesen dürften anorganischer Natur sein, um noch berechtigterweise von einem „Lebewesen“ sprechen zu dürfen?

  52. Lassie vs. Massie III /@Ano Nym

    »Organe haben aber – unabhängig und eben nicht nur deshalb, wenn sie perfekte Kopie sind – genau dann eine Funktion, etwa für den Kreislauf, wenn ohne sie der Kreislauf nicht stattfindet.«

    Das bestreite ich nicht. Wenn meine Aussage anderes nahelegt, dann habe ich sie schlecht formuliert.

    Also, zweiter Versuch:

    Anders als auf diese Weise (Variation, Prüfung auf Funktionalität) scheint in diesem Universum die Entstehungen ätiologischer Funktionen nicht möglich zu sein.

    Wenn in McLaughlins Zufallsprodukt Massie die Organe funktional sind, dann deshalb, weil sie so gestaltet sind, als wären sie im Evolutionsprozess entstanden (ganz ohne Teleologie), oder weil sie von einem intelligenten Designer gemacht wurden (teleologisch).

    »Wo die Organe herkommen, […] spielt keine Rolle dafür, ob Strukturkomponenten eines Gegenstands für den Gegenstand eine Funktion erfüllen.«

    Sehe ich auch so. Massies Organe stammen, wie Massie selbst, aus einem singulären Zufallsereignis. Weil sie zufällig die Gestalt funktionsfähiger Organe haben (wie wir sie aus der Evolution oder der Werkstatt des intelligenten Designers kennen), sind sie auch in Massie funktional.

    (Ich hoffe, diese Formulierungen finden nun Ihren Segen…)

  53. Formatierung

    Mist, leider sind alle Formatierungen daneben, bitte sinnentnehmend lesen, und Zitate und eigenen Text unterscheiden…

  54. @ Balanus

    “Das Entscheidende am Prinzip der „natürlichen Selektion“ scheint mir zu sein, dass jede Zufallsvariante „getestet“ wird. Die Prüfung gilt als bestanden, wenn die Variante sich erfolgreich fortpflanzen konnte.“

    Das verstehe ich genauso. Allerdings will ich hinzufügen, dass das Vorhandensein, das Ausbleiben sowie etwaige Stärke und Richtung eines Selektionsdrucks ebenfalls rein zufallsabhängig ist. Die Umweltbedingungen sind als solche vollkommen kontingent und damit prüft die Selektion nur Kompatibilität mit den jeweiligen Umweltbedingungen und nicht irgendeinen Nutzen oder eine Funktion schlechthin.

    “Anders als auf diese Weise (Variation, Prüfung auf Funktionalität) scheint in diesem Universum die Entstehungen ätiologischer Funktionen nicht möglich zu sein“.

    Aus der Sicht eines Naturalisten vom Zuschnitt eines Carl Vogt oder Mario Bunge mag das so aussehen. Ein Beweis oder zwingendes Argument lässt sich dafür jedenfalls nicht erbringen.

    So haben in McLaughlins Zufallsprodukt Massie die Organe auch nur deshalb eine Funktion, weil sie sich von den evolutionär entstandenen Organen strukturell nicht unterscheiden.

    Der Satz ist sicherlich falsch, besonders das „weil“ darin. Die Organe haben genau deswegen eine Funktion, weil sie eine Funktion fürein Wesen haben. Man muss bei der Frage nach der Funktion am Ende immer bei einem Interessenträger ankommen, welches immer ein Lebewesen ist, das einen Organismus hat und nicht einfach ist. (Ich betone diese Position, die auch Ludwig Trepl schon mehrfach ins Spiel gebracht hat, weil sie möglicherweise die einzige ist, mittels derer sich Zirkelbegründungen vermeiden lassen.)
    Auch nicht-ätiologische Funktionen wie in Ökosystemen sind überhaupt nur Funktionen in Bezug auf die Lebewesen darin (wie der Regen mit seinem Nutzen für das Pflanzenwachstum etc.)
    Die Entstehungsgeschichte wiederum spielt überhaupt keine Rolle. Der Überraschungseffekt des Sumpfhund-Gedankenexperiments kommt möglicherweise daher, dass wir uns über die Entstehung einer Funktion „ex nihilo“ wundern, aber die Entstehung eines Lebewesens, also eines Subjekts und Trägers von Interessen, durch einen Blitzeinschlag innerhalb dieses Gedankenexperiments fraglos akzeptieren.

    Oben habe ich zu zeigen versucht, dass die Evolutionsstory mit ihrer Zufallsgebundenheit sich logisch nicht vom Blitzeinschlag unterscheidet, sondern anstelle eines Blitzeinschlags eine Abfolge vieler kleiner setzt. Die Selektion ermöglicht deren Akkumulation.

    Und nur weil innerhalb der Biologie die Vorstellung verbreitet ist, dass auch die Entstehung der ersten Lebewesen (Abiogenese, die manche von der Evolutionsgeschichte trennen wollen) durch (materielle) Zufallsereignisse (Blitzeinschläge) stattgefunden hat, lassen wir uns auf das Sumpfhund-Gedankenexperiment (= ein einziger Monsterblitzeinschlag) ein, und sind am Schluss verblüfft.

  55. @Balanus: ?

    Worauf wollen Sie hinaus?

    a)Massie ist ein perfektes Duplikat von Lassie.
    b)Lassie hat ein funktionierendes Herz.
    c)Daraus folgt: Massie hat ein funktionierendes Herz.

    Nein?

    Wo ist mein Denkfehler?

    Da ist keiner. Mir geht es um diese Ihrer Aussagen (mit meinen Hervorhebungen):

    So haben in McLaughlins Zufallsprodukt Massie die Organe auch nur deshalb eine Funktion, weil sie sich von den evolutionär entstandenen Organen strukturell nicht unterscheiden.

    Organe haben aber – unabhängig und eben nicht nur deshalb, wenn sie perfekte Kopie sind – genau dann eine Funktion, etwa für den Kreislauf, wenn ohne sie der Kreislauf nicht stattfindet. Wo die Organe herkommen, also

    1. von intelligenten Designer,
    2. aus der Evolution,
    3. durch Klonierung oder
    4. durch ein Zufallsereignis

    spielt keine Rolle dafür, ob Strukturkomponenten eines Gegenstands für den Gegenstand eine Funktion erfüllen.

  56. @ Balanus @ Ano Nym

    Nur zur Information: Die vollkommene Identität des Aufbaus von Lassie und Massie kommt daher, daß das Gedankenexperiment ursprünglich zu einem anderen Zweck erdacht worden ist, da war die Identität wichtig. In unserem Zusammenhang kann man sie dafür nehmen, daß Massie eben auch ein Organismus sein muß, wenn sein Aufbau mit dem des Organismus Lassie identisch ist. Doch dazu müßte er nicht völlig identisch sein. Er könnte auch aussehen wie kein Tier auf der Welt und doch von uns als ein Lebewesen (und damit unter heutigen Bedingungen als Organismus) angesehen werden müssen.

  57. Lassie vs. Massie II /@Ano Nym

    »Aber die Funktion von Massies Herz, Blut durch den Kreislauf zu pumpen, ist doch logisch nicht davon abhängig, dass es einen Lassie gibt, dem Massie strukturell ähnelt. Auch ohne einen Lassie, pumpt das Herz Massies das Blut durch den Kreislauf.«

    Worauf wollen Sie hinaus?

    a)Massie ist ein perfektes Duplikat von Lassie.
    b)Lassie hat ein funktionierendes Herz.
    c)Daraus folgt: Massie hat ein funktionierendes Herz.

    Nein?

    Wo ist mein Denkfehler?

    (Ich behaupte ja nicht, dass auch Massies Herz zu schlagen aufhört, wenn Lassie stirbt).

  58. @Balanus: Lassie vs. Massie

    Massie ist eine 1:1 Kopie von Lassie. Wenn Lassies Herz eine Funktion für Lassie hat, dann sollte Massies Herz logischerweise eine Funktion für Massie haben.

    Wenn Massie eine 1:1-Kopie, also „down to the last molecule” (Searle) gleich Lassie ist, dann ist es zwar nicht verwunderlich, wenn man überdies noch feststellt, dass sich auch in Massie ein Herz befindet und das dieses (auch dort) konstitutiv für einen Kreislauf ist, dort eine Funktion ausführt. Aber die Funktion von Massies Herz, Blut durch den Kreislauf zu pumpen, ist doch logisch nicht davon abhängig, dass es einen Lassie gibt, dem Massie strukturell ähnelt. Auch ohne einen Lassie, pumpt das Herz Massies das Blut durch den Kreislauf.

    Wenn ich den Sinn des Gedankenexperiments richtig erfasst habe, dann ist der Witz dabei, dass bei Massie die Funktionalität rein zufällig entstanden ist. Was beweisen soll, dass Funktionalität auch unabhängig von der kausalen Entstehungsgeschichte gedacht werden kann. Oder so ähnlich.

    Ja offensichtlich kann sie unabhängig von der Entstehungsgeschichte gedacht werden. Wieso denn nicht?

  59. Lassie vs. Massie /@Ano Nym

    »Die Funktionalität von Massies Herz für Massies Kreislauf wird doch nicht dadurch bewirkt, dass eine strukturelle Gleichheit Massies zu Lassie in der Welt existiert (ist damit eigentlich vorhanden oder gewusst gemeint?) ist, sondern völlig unabhängig davon.«

    Ich bin mir nicht sicher, ob ich ihren Einwand verstehe.

    Massie ist eine 1:1 Kopie von Lassie. Wenn Lassies Herz eine Funktion für Lassie hat, dann sollte Massies Herz logischerweise eine Funktion für Massie haben.

    Wenn ich den Sinn des Gedankenexperiments richtig erfasst habe, dann ist der Witz dabei, dass bei Massie die Funktionalität rein zufällig entstanden ist. Was beweisen soll, dass Funktionalität auch unabhängig von der kausalen Entstehungsgeschichte gedacht werden kann. Oder so ähnlich.

    Viel interessanter als die Sache mit der Funktionalität finde ich ja, dass Massie auf den Namen „Lassie“ hört und Timmy für sein Herrchen hält.

  60. @Balanus: ?

    Anders als auf diese Weise (Variation, Prüfung auf Funktionalität) scheint in diesem Universum die Entstehungen ätiologischer Funktionen nicht möglich zu sein.

    So haben in McLaughlins Zufallsprodukt Massie die Organe auch nur deshalb eine Funktion, weil sie sich von den evolutionär entstandenen Organen strukturell nicht unterscheiden.

    Das ist mir nicht klar. Die Funktionalität von Massies Herz für Massies Kreislauf wird doch nicht dadurch bewirkt, dass eine strukturelle Gleichheit Massies zu Lassie in der Welt existiert (ist damit eigentlich vorhanden oder gewusst gemeint?) ist, sondern völlig unabhängig davon.

  61. @ Fegalo Nachtrag

    Ich merke eben, daß ich von meinem langen Kommentar ein Stcük bei Kopieren abgeschnitten habe. Der Kommentar geht so weiter:

    [“Nur ein Drang …”]

    Lebewesen können nicht in einem Selektionsprozeß entstanden sein, weil dieser immer schon Lebewesen voraussetzt. Sie können – für die Naturwissenschaft – nur durch einen „einfachen“ Zufall, ohne Selektion, entstanden sein. Was bedeutet es aber für die Frage der Relevanz der Teleologie, wenn man naturwissenschaftlich zeigen kann, daß dieser Zufall so unwahrscheinlich nicht ist?? Ich kenne die einschlägigen Forschungen nicht, höre immer nur, daß man das zeigen kann.

    Sie sehen: anders als Sie habe ich wenig Antworten, mehr Fragen. Und ich vermute, daß die Sache auf den (von uns) bisher angesprochenen Wegen nicht lösen läßt. Ich ahne, ohne es ausführen zu können, daß man vor allem zwei Fragen nachgehen muß: (1) was bedeutet es, daß wir bei der Frage nach den „Gesetzen“, die singuläre Dinge regieren, grundsätzlich im Bereich der reflektierenden Urteilskraft sind und nicht der bestimmenden, also etwas völlig anderes tun, als Naturgesetze anzuwenden? (2) was geschieht – in den Begriffen der Systemtheorie, was vielleicht von vornherein einigermaßen schief ist – wenn ein „selbstreferentielles“ System entsteht, in logischer Hinsicht? Die Systemtheoretiker reden (wie viele Philosophen vor ihnen) von einer logischen Unvereinbarkeit des Blicks von innen und des Blicks von außen. Das könnte auf eine Reformulierung des alten Perspektivendualismus hinauslaufen mit dem Ergebnis, daß es für die Frage der metaphysischen Verortung der Lebewesen (etwa, ob für sie das Begehren konstitutiv ist) egal ist, ob die Selektionstheorie naturwissenschaftlich das leistet, was sie beansprucht.

  62. @Chrys

    »Also keine Sorge, man überlebt’s 😉 «

    …und kann mit dem, “which we never know what we are talking about”(B.R.), sogar ganze Bibliotheken füllen…

    Danke für den hilfreichen Trost! 😉

  63. »Worin besteht der Trick?« /@fegalo

    »Mutationen werden ebenso wie die Folgen von Blitzeinschlägen als Zufallsereignisse gedeutet. Dagegen scheint man sich mit dem Begriff der Selektion so etwas wie das Wirken von Naturgesetzen suggerieren zu wollen, denn schließlich arbeitet man hier mit statistischen Modellen, wie sie für die empirische Wissenschaft üblich sind.
    Ich würde dagegen halten, dass die Wirkung der Selektion hinsichtlich der Ausbildung von Funktionen genauso zufällig ist wie die der Mutation, indem die Richtung des Selektionsdrucks in keiner Weise auf den Nutzen für das Individuum bezogen ist.
    «

    Das Entscheidende am Prinzip der „natürlichen Selektion“ scheint mir zu sein, dass jede Zufallsvariante „getestet“ wird. Die Prüfung gilt als bestanden, wenn die Variante sich erfolgreich fortpflanzen konnte.

    Anders als auf diese Weise (Variation, Prüfung auf Funktionalität) scheint in diesem Universum die Entstehungen ätiologischer Funktionen nicht möglich zu sein.

    So haben in McLaughlins Zufallsprodukt Massie die Organe auch nur deshalb eine Funktion, weil sie sich von den evolutionär entstandenen Organen strukturell nicht unterscheiden.

    (Wie ich sehe, hat Ludwig Trepl inzwischen schon geantwortet…)

  64. @Balanus / Trost

    »Hier könnte der Eindruck entstehen, die Biologen wüssten gar nicht, über was sie eigentlich arbeiten und forschen.«

    Na dann, Welcome to the Club! Es könnte sogar noch schlimmer sein.

    “Mathematics may be defined as the subject in which we never know what we are talking about, nor whether what we are saying is true.”

    – Bertrand Russell

    Also keine Sorge, man überlebt’s 😉

  65. @fegalo

    Das finde ich hochinteressant, was Sie da schreiben. Nur scheint mir das Problem dadurch nicht gelöst, doch führt es auf die entscheidenden Punkte. Ich schreibe jetzt mal wild drauflos, ohne viel Rücksicht darauf, daß das ein anderer auch verstehen kann, ich will die Sache nur für mich etwas klären.

    „Die Behauptung, dadurch eine Naturalisierung des Zweck- und Funktionsbegriffs geleistet zu haben, kommt mir wie eine Art Taschenspielertrick vor.“ Das scheint mir auch so.

    „Beides [Sumpfhund und Selektionsgeschichte] sind absichtslose Zufallsereignisse, nur dass vielleicht die Selektionsgeschichte in Schrittchen vorgeht, damit das Zufallsereignis zeitlich entzerrt und mithin etwas plausibler (statistisch wahrscheinlicher) erscheint.“

    Die Gegner der Theorie der Reduktion der Funktionalen auf Kausalprozesse argumentieren im allgemeinen anders, nämlich daß die Funktionalität in diesen Reduktionismen bereits vorausgesetzt wird, also im Zirkel argumentiert wird (positiv wird ausgelesen, was eine Funktion für den Organismus hat, „gut“ für sein Weiterleben ist, d. h. wohl auch: einen Organismus, dessen Möglichkeit ja erklärt werden soll, muß es immer schon geben). Wie paßt das mit der wohl auch richtigen Behauptung zusammen, daß die Mutations-Selektionsgeschichte ein zeitlich entzerrtes Zufallsereignis ist? Das wäre meine Hauptfrage.

    Wenn sich die Unmöglichkeit eines Organismus für die Naturwissenschaft gerade dadurch ergibt, daß es einen Zufall dieser Art nicht geben kann (man deshalb nach Kant den Zweck als einen „Fremdling“ in der Naturwissenschaft braucht), dann wäre der Szientismus gerettet, wenn man – durch „zeitliche Entzerrung“ – zeigen kann, daß so ein Zufall doch möglich ist. (Es wäre ähnlich wie mit dem – Hume’schen? – Beispiel von dem Schiff, von dem man glaubt, es könne nur das Werk eines überragenden Geistes sein, dabei waren’s nur einfältige Handwerker, die Generation nach Generation aufeinander aufbauten.) – Der Zufall, der die Selektion in dem Sinne möglich macht, daß nicht nur das überlebt, was zufällig gerade zur bestehenden Umwelt paßt, sondern das, was auch in Zukunft lebensfähig ist, besteht darin, daß die Umweltbedingungen der nächsten Generation sich meist nicht so sehr von denen der vorigen Generationen unterscheiden, daß die Organismen, die so beschaffen sind wie die der vorigen Generation, nicht mehr leben könnten. Das ist kein Naturgesetz, sondern zufällig: es könnte ja auch sein, daß die Umweltbedingungen sich so rasch wandeln, daß kein einziger Organismus mit Eigenschaften, die in seiner Lebenszeit ihm das Leben erlaubten, mit eben diesen Eigenschaften in der Zeit nach seinem Tod überleben könnte. Man könnte es aber auch so formulieren: Unter relativ konstanten Umweltbedingungen ist die Selektion ein Mechanismus, der notwendig dazu führt, daß die in der vorigen Generation Lebensfähigen auch in der jetzigen und kommenden dies sind und daß es kumulative Verbesserungen gibt (Fell wird in Kälte allmählich dicker). Die von Ihnen angesprochenen komplexen Strukturen allerdings brauchen weiterhin den Zufall: die Flossen der Quastenflosser funktionierten zufällig auch als Beine. Doch könnte man argumentieren, daß solche Zufälle häufig genug sind. Mir scheint hier also kein prinzipielles Problem vorzuliegen. Die Unmöglichkeit, damit die Teleologie auf Kausalität zu reduzieren, dürfte woanders liegen.

    „Die Formulierung ‚gut für den Organismus’ scheint mir auf die falsche Fährte zu führen, denn der Adressat des Guten ist wohl nicht der Organismus als materielles System, sondern das wahrnehmende, fühlende, (im Falle der Tiere:) strebende Subjekt, das einen Körper hat.“

    So etwa argumentieren Schark und die anderen Neuaristoteliker, die, wie mir scheint, in der einschlägigen Diskussion zur Zeit die Nase vorn haben, auch. „Organismus“ ist ein theoretischer, naturwissenschaftlicher, sich auf ein materielles System beziehender Begriff (nur extensionsgleich mit „Lebewesen“), und wenn man hier „gut für“ sagen will, dann kann man das nur im Sinne einer regulativen Idee tun.

    „Und dieses ‚Im-Sein-beharren-Wollen’ ist nicht das Resultat einer Wertentscheidung, sondern elementar und konstitutiv für Lebendigsein. Erst im Menschen können wir darüber reflektieren und es wie eine Wertentscheidung diskutieren. Aber zunächst finden wir es an uns selbst vor.“

    „Wollen“ sollte man das nicht nennen, aber ich stimme zu: Auf Basis von etwas, was wir an uns selbst vorfinden, konstituieren wir „Lebewesen“. Daß (nach Kant) der Zweckbegriff kein konstitutiver Begriff im Bezug auf die Organismen ist, heißt nicht, daß wir nicht die Lebewesen als eine Kategorie des „Seienden“ eben damit konstituieren.

    „Darüber hinaus kann es auch nicht in einem Selektionsprozess entstanden sein, da Leben von Anfang an stets im Zustand der Gefahr seiner Vernichtung existiert und zerstörerischen Einflüssen ausgesetzt ist. Nur ein Drang …“

  66. Schark-Buch II /@L. Trepl

    Die Leseprobe weist ab Seite 65 doch größere Lücken auf, als zunächst von mir angenommen.

  67. Holtzherr: Chinesen …

    “Auch die Muttersprache wird nicht vererbt. Chinesen gebären nicht chinesisch sprechende Kinder.”

    Jain, vererben nicht, aber die Babies nehmen die Sprache der Mutter und Umgebung auch im Mutterleib schon wahr. Daher sind “chinesische Babies” durchaus schon bei der Geburt auf die chinesische Sprache vorgeprägt.

    Ergo … schlechtes Beispiel 😉

  68. Schark-Buch /@L. Trepl

    Marianne Schark, „Lebewesen versus Dinge: Eine metaphysische Studie“:

    http://books.google.de/…Kontinuanten&f=false

    Schark versucht hier — auf Grundlage biologischer Erkenntnisse — ein philosophisches Problem zu lösen. Mir gerät das bei meinen Überlegungen immer wieder aus dem Blick.

    Wenn „Lebewesen“ einen Körper haben, statt ein „lebender“ Körper zu sein, dann wird der Begriff oder auch der Gegenstand „Lebewesen“, nach meinem Gefühl, zu einem Abstraktum. Das ist alles ganz schön kompliziert…

  69. @ Balanus Kategorien

    Daß die physischen Gegenstände nicht in sich in kategorial verschiedene zerfallen, scheint mir eine kartesianische Ontologie vorauszusetzen. Für Schark ist ein Lebewesen zwar ein physischer Gegenstand, aber es ist nicht ein „Ding“. Für Descartes ist es eines, nämlich ein „Körper“, und zwar einer, der lebt. Für Schark aber ist – in aristotelischer Tradition – ein Lebewesen kein Körper, sondern hateinen. Das läßt erkennen: Es gehört einer anderen Kategorie an als ein Körper.

    Wo ist denn das Schark-Buch online zu finden?

  70. @ Ludwig Trepl (08.01.2013, 14:51)

    Eigentlich verstehe ich Ihre Probleme nicht. Die Frage die Sie am Schluss stellen, scheint mir durchaus beantwortet:
    …die Theorie der ätiologischen Funktion nach Neander und Millikan falsch ist, daß für den Begriff der ätiologischen Funktion die Selektionsgeschichte vielmehr nicht nötig ist bzw. sich anders herum dieser Begriff nicht in eine Kausalkette von Mutationen und Selektionen auflösen läßt?
    (Die Antwort lautet: ja, ist falsch)

    Mir wird nämlich (mit McLaughlin) nicht klar, worin der grundsätzliche Unterschied zwischen der Selektionsgeschichte und dem Sumpfhundereignis in Hinsicht auf die Anwendbarkeit des Begriffs „Funktion“ bestehen soll. Beides sind absichtslose Zufallsereignisse, nur dass vielleicht die Selektionsgeschichte in Schrittchen vorgeht, damit das Zufallsereignis zeitlich entzerrt und mithin etwas plausibler (statistisch wahrscheinlicher) erscheint. Die Behauptung, dadurch eine Naturalisierung des Zweck- und Funktionsbegriffs geleistet zu haben, kommt mir wie eine Art Taschenspielertrick vor.

    Worin besteht der Trick?

    Mutationen werden ebenso wie die Folgen von Blitzeinschlägen als Zufallsereignisse gedeutet. Dagegen scheint man sich mit dem Begriff der Selektion so etwas wie das Wirken von Naturgesetzen suggerieren zu wollen, denn schließlich arbeitet man hier mit statistischen Modellen, wie sie für die empirische Wissenschaft üblich sind.

    Ich würde dagegen halten, dass die Wirkung der Selektion hinsichtlich der Ausbildung von Funktionen genauso zufällig ist wie die der Mutation, indem die Richtung des Selektionsdrucks in keiner Weise auf den Nutzen für das Individuum bezogen ist. Die statistischen Modelle sind vollkommen ohne Erklärungswert für die Herausbildung spezifischer Merkmale. Erst das zusätzliche (stets empiriefreie Ad-hoc-)Postulat einer spezifischen vergangenen Umweltsituation liefert deren inhaltliche „Erklärung“.
    Die Selektion kann theoretisch nur ans Licht bringen, ob eine singuläre Mutation unter den gegebenen Umweltbedingungen vorteilhaft war oder nicht, sie generiert per se keine Funktionen. Das „schöpferische“ Prinzip der Evolutionstheorie ist und bleibt die Mutation, die zufällige Variation, und somit wäre auch die Entstehung von funktionalen Strukturen der Mutation zuzuschreiben. Die Wirkungen des Bewahrens und Verwerfens, welche die Selektion ausmachen, sind in keiner Weise verstärkend in Hinsicht auf Entstehung neuer komplexer Strukturen, sofern diese nicht als Ergebnis bloßer Akkumulation von Selektionsvorteilen rekonstruierbar sind, sondern in der komplexen Wechselwirkung vieler per se afunktionaler oder in anderer Hinsicht funktionaler Teile in einer übergeordneten Funktion bestehen, innerhalb welcher die Anwesenheit der Einzelteile erst ätiologisch begründbar wird. Doch genau daraus besteht offenbar ein Großteil der Organe lebendiger Wesen.
    (Ich argumentiere hier entlang der Selektionstheorie natürlich nur im Sinne eines Als-ob, da ich sie ja bestreite.)

    Zur Frage des „gut für“:

    Die Formulierung „gut für den Organismus“ scheint mir auf die falsche Fährte zu führen, denn der Adressat des Guten ist wohl nicht der Organismus als materielles System, sondern das wahrnehmende, fühlende, (im Falle der Tiere:) strebende Subjekt, das einen Körper hat.

    Es ist ein Subjekt, das da lebt und „im Sein beharren“ will, wofür es sogar seine Materie austauschen muss. Und dieses „Im-Sein-beharren-Wollen“ ist nicht das Resultat einer Wertentscheidung, sondern elementar und konstitutiv für Lebendigsein. Erst im Menschen können wir darüber reflektieren und es wie eine Wertentscheidung diskutieren. Aber zunächst finden wir es an uns selbst vor. Darüber hinaus kann es auch nicht es auch nicht in einem Selektionsprozess entstanden sein, da Leben von Anfang an stets im Zustand der Gefahr seiner Vernichtung existiert und zerstörerischen Einflüssen ausgesetzt ist. Nur ein Drang, der diese Einflüsse zurückdrängt und die sich mit dem Lebendigsein stellenden Herausforderungen meistert, kann den Fortbestand garantieren, und zwar von der ersten Zelle an.

  71. @ Balanus @ Holzherr Gene

    „Chinesen gebären nicht chinesisch sprechende Kinder“ (Martin Holzherr). Das ist der entscheidende Satz. Katholiken gebären nicht Katholiken, Anhänger des Lamarckismus nicht Lamarckisten. Überzeugungen sind Ergebnis von Denkprozessen (überzeugt ist man, wenn man glaubt zu wissen; subjektiv ist für uns Wissen immer nur als Überzeugung zu haben, denn es ist nie ausgeschlossen, daß man im Irrtum ist). Das Baby an der Mutterbrust (@ Balanus) ist nicht „überzeugt“, daß ihm das gut tut, sondern es folgt – so müssen wir es wohl deuten, erinnern können wir uns ja nicht – einem (biologisch ererbten) Gefühl. – Vererbt wird das Denkvermögen, nicht das Resultat von Denkprozessen.

    Nun werden aber Überzeugungen doch vererbt: So wie Chinesen meist Kinder gebären, die im Alter von 3 Jahren Chinesisch sprechen, gebären Katholiken meist Kinder, die als Erwachsene Katholiken sind. Diese Vererbung ist kulturell.

    Kulturell vererbt werden auch erworbene Eigenschaften, Fähigkeiten usw., weshalb die kulturelle Vererbung um Größenordnungen schneller erfolgt als die biologische. Sie ist aber nicht nur schneller, sondern es können auch Eigenschaften, Fähigkeiten usw. solcher Art vererbt werden, die biologisch prinzipiell nicht vererbt werden können. Die chinesische Sprache wird nicht biologisch vererbt (sondern nur die Fähigkeit, überhaupt eine Sprache lernen zu können), und eine religiöse, wissenschaftliche, moralische, politische usw. Überzeugung wird nicht biologisch vererbt u kann es nicht werden, nur die Fähigkeit, überhaupt so eine Überzeugung entwickeln zu können.

    Kulturell kann die Überzeugung vererbt werden insofern, als man zu Überzeugungen durch Lernen (im weitesten Sinn) kommt; insofern man durch Überzeugungen durch Nachdenken kommt, werden sie nicht kulturell vererbt; darum bleiben nicht alle geborenen Katholiken Katholiken.

    „Aber schließlich unterliegt die gesamte ontogenetische Entwicklung der genetischen Steuerung, einschließlich der des lernfähigen Erkenntnisorgans Gehirn“ (@ Balanus). Eben: des lernfähigen Gehirns (ich glaub’s allerdings nicht ganz, daß das Gehirn lernt), nicht aber die Ergebnisse des Lernens und die Inhalte des Erlernten. Religiöse Überzeugungen gehören zu Letzterem. Weder die Überzeugung, daß es „überempirische Akteure“ gibt noch die Überzeugung, daß der Papst eine besondere Beziehung zu so einem Akteur hat, wird biologisch vererbt.

    „Letztendlich hat uns die Biologie voll im Griff“(@ Balanus) ist völlig nichtssagend. Man kann genauso sagen: Letztendlich hat uns die Physik voll im Griff, weil wir aus Atomen bestehen und weil wir bei minus 100 Grad nicht leben können, aber was soll das? Man darf nicht aus der Tatsache, daß es auf der Ebene des Biologischen nichts gibt, was den physikalischen Gesetzen widerspricht, schließen, daß die Physik auf der Ebene des biologischen allzu viel erklären kann, und so ist es im Verhältnis der Biologie zur Ebene des Sozialen auch. Wer meint, daß die Genetik wichtig ist und man mit dem, was in Physikbüchern steht, nicht auskommt, wenn man biologische Phänomene erklären will, sondern eben Genetikbücher braucht, sollte auch zugestehen, daß man mit dem Begriff der biologischen Vererbung nicht auskommt, wenn man z. B. Soziales erklären will, man vielmehr unter vielem anderen den Begriff der kulturellen Vererbung braucht, und daß verglichen damit, was einem die erklärt, das, was einem die biologische Vererbung erklärt, extrem dürftig ist (aus den oben genannten Gründen).

    Meine Frage ist aber nun die: Welche Rolle spielen Eigenschaften, Verhaltensweisen, Fähigkeiten, die in der Tat biologisch vererbt werden können wie z. B. bestimmte Gefühle in bestimmten Situationen, für das Gewicht, das Überzeugungen für den Einzelnen und in der Gesellschaft bekommen? Man kann sich das gut vorstellen: Wenn es eine biologisch ererbte Angst vor bestimmten Tieren gibt, dann wird es eine Meinung, die durch wissenschaftliche Kenntnisse darüber, daß diese Tiere harmlos sind, entsteht, schwerer haben, akzeptiert zu werden, also zur Überzeugung zu werden und sich als Überzeugung in der Gesellschaft ausbreiten zu können, als dann, wenn es so eine Angst nicht gibt. Das dürfte in unserem Fall (Wertschätzung des Weiterlebens) von Bedeutung sein.

  72. Kategorien /@Ludwig Trepl

    „Lebende und nicht lebende Entitäten gehören beide zur Kategorie der materiellen Dinge.“ [B.]

    »Darüber streitet man in der einschlägigen Diskussion. Schark, die ich für die erste Autorität in diesen Fragen halte, hält das für falsch.«

    Mit „materiellen Dinge“ sind (natürlich) die „physischen Gegenstände“ (im Ggs. zu den abstrakten) gemeint. Und zu den „physischen Gegenständen“ zählen, laut Schark, sowohl „Dinge“ als auch „Lebewesen“. Streiten kann man also allenfalls darüber, ob es sich bei dieser Dichotomie tatsächlich um einen „kategorialen“ Unterschied handelt. Schark jedenfalls spricht da nur von verschiedenen „Arten“ von Kontinuanten (S. 119).

    Und schließlich muss ja auch der Begriff vom „Kategorienfehler“ seinen angestammten Sinn behalten.

    Scharks Buch „Lebewesen versus Dinge: Eine metaphysische Studie“ ist online ziemlich vollständig verfügbar. Ich habe aber erst wenig darin gelesen.

  73. @Trepl: Genetik schafft nur Grundlagen

    (Zitat)“Überzeugungen sind nicht biologisch vererbbar.”
    Auch die Muttersprache wird nicht vererbt. Chinesen gebären nicht chinesisch sprechende Kinder.
    Ähnlich verhält es sich mit „Lebewesen“ .. die den Tod fürchten.
    Das meiste was ein Lebewesen macht, macht es ohne zu wissen warum. Bei einfacheren Lebewesen besteht ja auch keine höhere Denkfähigkeit, so dass das für sie kein Problem ist. Erst für den Menschen wird dann der Überlebenswille rationalisiert. Dieses Vordringen in die Ratio – das Denken an und Fürchten des Todes – ist sicher nicht direkt vererbt. Es hat aber eine Basis, die unterhalb der Ratio liegt. Das Denken, das eben auch Gefühle, Neigungen etc. als Denkmaterial aufnimmt, geht dann seine eigenen Wege ist aber nicht frei von den Einflüssen von Gefühlen, Instinkten etc.

  74. Relevanz der Gene / L. Trepl

    »Doch er [der Begriff „Lebewesen“] stammt letztlich daher, daß wir den Tod fürchten.«

    Das lese ich so, dass das (genetisch verankerte) Bestreben der Lebewesen, zumindest bis zur Fortpflanzung am Leben zu bleiben, dafür gesorgt hat, dass es auch heute noch Lebewesen gibt, sogar solche, die das Leben auch bewusst wertschätzen können.

    Wenn diese Lesart den Naturalismus rettet, so freut mich das.

    Was sind „Überzeugungen“? Begründete Meinungen über den Wahrheitsgehalt von Sachverhalten (oder so ähnlich).

    Ich denke, es gibt bewusste und unbewusste Überzeugungen. Bereits dann, wenn ein Baby das erste Mal an der Mutterbrust saugt, ist es davon (unbewusst) „überzeugt“, dass ihm das gut tun wird (genetisch verankertes a priori Wissen).

    Wir müssen nicht lernen, die Augen zu schließen, wenn ihnen ein Objekt zu nahe kommt. Wir sind intuitiv der „Überzeugung“, dass dies besser für die Augen ist.

    Normalerweise verhalten sich Menschen so, dass sie ihr Weiterleben nicht ernsthaft gefährden. Sie essen regelmäßig und weichen heranrollenden Felsbrocken aus. Die Ursache hierfür sehe ich in der genetisch verankerten Überzeugung vom Wert des Weiterlebens.

    Das klingt natürlich sehr merkwürdig, denn wie könnten „Werte“ in Genen, die doch bloß die Vorlage für die Proteinsynthese liefern, codiert sein?

    Aber schließlich unterliegt die gesamte ontogenetische Entwicklung der genetischen Steuerung, einschließlich der des lernfähigen Erkenntnisorgans Gehirn.

    Die Fähigkeit der Lebewesen, andere Lebewesen als solche zu erkennen, ist ebenfalls genetisch verankert. Entweder direkt, als a priori Wissen, oder indirekt, als die Fähigkeit, lernen zu können.

    Letztendlich hat uns die Biologie voll im Griff. Selbst dann, wenn wir religiöse Überzeugungen haben.

    (das klingt wie das Glaubensbekenntnis eines Naturalisten, aber sei’s drum)

  75. Relevanz der Genetik

    Überzeugungen vom Wert des Weiterlebens sind nicht genetisch verankert: Ich würde gerne eine Diskussion anstoßen, die – erstaunlicherweise, denn hier auf Scilogs führt man sie sonst mit Leidenschaft – nicht aufkommt, obwohl im Artikel dazu Thesen vertreten werden, die sicher mancher heftig ablehnt: Ich habe argumentiert, daß eine Naturalisierung (im Sinne des szientifischen Naturalismus) der Teleologie (des Funktionsbegriffs) bezogen auf Organismen auf folgendem Weg nicht möglich oder doch problematisch ist: Zwar ist „Lebewesen“ ein Begriff, den die Naturwissenschaft voraussetzt und nicht selber definieren kann, ein Begriff, der aus unserer Erfahrung mit uns selbst und mit unserer Lebenswelt stammt. Doch er stammt letztlich daher, daß wir den Tod fürchten. Das aber ist eine Natureigenschaft des Menschen, und zwar eine naturwissenschaftlich, nämlich evolutionsbiologisch erklärbare, über den Selektionsnachteil, den eine das Weiterleben nicht wertschätzende Haltung hat. So ist der Naturalismus gerettet.

    Ich habe dagegen argumentiert, daß zwar vielleicht Gefühle, die für die Wertschätzung des Weiterlebens von Bedeutung sind, auf diese Weise erklärt werden können, aber nicht Überzeugungen (z. B. religiöser Art). Die sind nicht biologisch vererbbar.

  76. @ Balanus

    @ Balanus:
    Vielen Dank für den Hinweis auf den Artikel von Cord Friebe; ich hoffe, ich sehe klarer, wenn ich ihn gelesen habe. Bis jetzt habe ich jedenfalls mit dem Sumpfhund meine Schwierigkeiten. Ich will versuchen anzudeuten, worin sie bestehen.

    Das Gedankenexperiment zeigt – so weit, so gut –, daß wir nicht wissen müssen, ob etwas eine Selektionsgeschichte hat, um sagen zu müssen: das ist „die“ Funktion dieses Funktionsträgers. Dazu muß man nur wissen, ob der Funktionsträger bzw. die Funktion für die Fortexistenz des Organismus „gut“ ist. Zu diesem Zweck haben wir aber den Sumpfhund, d. h. einen ganzen Organismus ohne Selektionsgeschichte, nicht nötig: Eine durch Mutation oder Rekombination entstandene einzelne neue Eigenschaft kann auch eine ätiologische Funktion haben, und doch hat sie keine Selektionsgeschichte. (Und das gibt es wirklich, den Sumpfhund nicht.)

    Aber: Zu sagen, daß die neue, durch Mutation entstandene Eigenschaft „gut“ für das Lebewesen ist, setzt ja voraus, daß die Mutation in einem Lebewesen stattfindet. Wir denken auch bei der funktionalen einzelnen neu entstandenen Eigenschaft die Existenz des ganzen Organismus immer mit, und wir müssen auch bei der (normalerweise dann einsetzenden, die neue Eigenschaft auf ihre Funktion hin verbessernde) Selektionsgeschichte dessen Existenz mitdenken. Denn ohne den ganzen Organismus ist die Mutation keine, sondern eine „bedeutungslose“ chemische Veränderung, ohne Bezug auf den ganzen Organismus und seine Fortexistenz gibt es auch keinen „Selektionswert“ einer Eigenschaft. Das heißt: (a) wir setzen den ganzen Organismus, dessen Existenz wir zur Erklärung der Funktionalität der einzelnen neu entstandenen Eigenschaft brauchen, bereits voraus, und (b) wir setzen einen ganzen Organismus bereits voraus, wenn wir den Organismus als Resultat einer Selektionsgeschichte erklären wollen.
    Auf irgendeine, mir nicht ganz verständliche Weise versucht nun der Sumpfhund diese Probleme mit einem Schlag zu lösen: Der Organismus kommt mit einem Schlag, nämlich zufällig, auf die Welt. Nun bildet aber nach Kant den Anlaß dafür, daß wir bezogen auf manche Naturdinge teleologische (intentionale) Begriffe, wozu „Funktion für“, „gut für“ gehört, benutzen müssen (wenn auch nur regulativ), folgende Tatsache: Wir beobachten Naturdinge, deren Existenz wir uns nicht kausalmechanisch und auch nicht durch Zufall erklären können: Sumpfhunde kann es nicht geben, weil es einen derartigen Zufall nicht geben kann. Daher müssen wir, um uns diese Gegenstände verständlich zu machen, zur regulativen Idee des Zwecks greifen. Organismen, also „Naturzwecke“ (Kant) gibt es demnach nur, weil es Sumpfhunde nicht geben kann. Wären Sumpfhunde möglich, dann gäbe es gar kein Problem mit der Teleologie: Sie sind durch Zufall entstanden, und das hieße ja, kausal-mechanisch entstanden, nur halt so, daß wir, mit unserem beschränkten Möglichkeiten, die Entstehung nicht nachvollziehen können. Ein Laplace’scher Dämon könnte es. Die Selektionsgeschichte setzt den ganzen Organismus und damit auch dessen (regulative) teleologische Deutung voraus, aber der Zufallshund nicht, der macht das „gut für“ zu einer Art von abkürzender, doch im Prinzip überflüssiger Redeweise, denn wir wissen ja, daß der Hund auf kausalmechanische Weise, wenn auch für uns nicht im Einzelnen nachvollziehbar, entstanden ist.

    Darf man, dies vorausgesetzt, das Gedankenexperiment Sumpfhund einsetzen, um nachzuweisen, daß die Theorie der ätiologischen Funktion nach Neander und Millikan falsch ist, daß für den Begriff der ätiologischen Funktion die Selektionsgeschichte vielmehr nicht nötig ist bzw. sich anders herum dieser Begriff nicht in eine Kausalkette von Mutationen und Selektionen auflösen läßt? Man sieht, in diesen Diskussionen sind (oder scheinen mir) an mehreren Stellen Zirkel und Widersprüche drin, aus denen ich nicht herauskomme.

  77. @ Georg Hausladen

    Hallo Schorsch, schön mal wieder von Dir zu hören.

    „Der Buddhist würde wohl sagen: je weniger man sein Ende fürchtet, desto lebenswerter ist das Leben.“

    Ich bin ja, wie Du weißt, kein Buddhismus-Experte, geradezu der Gegenteil eines solchen. Aber kann man nicht sagen, daß in seiner Wiedergeburtslehre eine Sehnsucht nach dem Aufhören dessen steckt, was man eigentlich das Leben nennt? Mehr noch als in der antiken Idee der Kontemplation, in der ja auch das „Leben“ irgendwie aufhört zugunsten eines rein betrachtenden Daseins? Im Buddhismus gilt doch ein Zustand als anstrebenswert, der eigentlich kein Leben mehr ist, auch wenn das eingebunden ist in eine Vorstellung, daß das jetzige Leben lebenswerter wird, wenn man auf diesen Zustand hinlebt.

    Eigentliche Todessehnsucht, also die Sehnsucht danach, daß es schlechthin aus ist, nicht irgendwie doch weitergeht, sei es in einem lustigen islamischen Paradies, sei es ewig singend auf einer Wolke wie im bayerischen Himmel, dürfte in Religionen und Philosophien kaum je vorkommen, privat ist es sicher nicht gerade selten. Aber als tendenziell lebensfeindlich würde ich auch christliche Vorstellungen von einem Weiterleben der Seele bezeichnen (die Orthodoxie hat allerdings immer auf der Auferstehung „in meinem Leib“ bestanden). Denn ein Weiterleben als Geist ist kein richtiges Leben mehr, es fehlt all das Widerständige, aktiv Sich-Erhaltende, das nötig ist, um „am Leben zu bleiben“, und das ist essentiell für „Leben“. Die Leibabtötung in verschiedenen Klostergemeinschaften gehört meines Erachtens unter die Überschrift Lebensfeindlichkeit.

    Weniger todessehnsüchtig als todesverachtend sind die typischen Denkweisen von Krieger-Gesellschaften und -Kasten. Man fürchtet da den Tod nicht – aus zwei sehr verschiedenen Gründen: (1) die Todesverachtung gehört zum wahren Leben (sich ausleben), ist insofern eine Extremform der Liebe zu Leben, (2) hochabstrakte Ideen, insbesondere „Ehre“, werden über das Leben gestellt, das insofern wenig gilt.

    Aber was es da immer auch geben mag: in unserem Zusammenhang scheint mir nur wichtig, daß das Weiterleben „in diesem Leib“ an Wertschätzung verliert. Diese aber ist, der Schark-These zufolge, Bedingung dafür, daß „gut für“ ein Lebewesen das bedeuten kann, was es für uns lebensweltlich bedeutet und auch dafür, was „funktional“ in der Biologie bedeutet.

    „Was ich weiß ist, dass auch Heidegger damit nicht eine Todessehnsucht oder Todesverherrlichung meint …). Erst durch das Bewusstsein des Todes (nicht durch die Furcht davor wohlgemerkt und nicht durch die (moralische) Konnotation von Leben mit „gut“ und Tod mit dem Gegenteil, was auch immer das ist) wird das Leben im Horizont seiner Möglichkeiten erkannt.“

    Das scheint mir sehr christlich („Herr, lehre uns bedenken, daß wir sterben müssen, auf daß wir klug werden“), ist also – so grob gesehen – in unserer Tradition tief verankert und nicht erst mit Heidegger aufgekommen. Ich glaube aber nicht, daß das „für unser Verständnis von andersartigen Lebewesen“ von großer Bedeutung ist. Man soll sich des Todes bewußt sein wegen des Lebens und ist sich dessen auch bewußt, kann erst so als Mensch leben – das dürfte für die Frage der Wertschätzung des Weiterlebens auch keine anderen Konsequenzen haben als eine schlichte alltags-hedonistische Weltanschauung.

    Herzliche Grüße
    Ludwig

  78. Sumpf-Hund Massie /@Ludwig Trepl

    Manche Gedankenexperimente setzen sich ganz schön fest. Und wenn Sie dann auch noch schreiben, »Ich habe mit diesem Sumpfhund andere Probleme, aber das kann ich hier nicht ausführen«, dann wird man erst recht neugierig (war vielleicht ja beabsichtigt).

    Ich habe einen Aufsatz von Cord Friebe (Institut für Philosophie der Uni Bonn) gefunden, der sich u.a. mit Sumpf-Hunden und „hopeful-monsters“ beschäftigt und dessen Kritik an McLauglins Gedankenexperiment ich gut nachvollziehen kann.

    Hier ist er, für alle, die es interessiert:

    “Kant’s Ontology of Organisms”, in: L. Illeterati/F. Michelini (Hg.), Purposiveness: Between Nature and Intention, Frankfurt/Lancaster:Ontos, 2008, 59-74.

    http://books.google.de/…0GRj8rKVu1XZQFHK5NpsCu5U

  79. @L.Trepl @ Balanus – 07.01.2013, 19:02

    Nur zu einem Punkt noch eine Anmerkung. Sie schrieben:

    »Was nicht funktional auf die Selbstreproduktion bezogen ist, gehört ebensowenig zur Biologie wie die Tatsache, daß auf einem Bild von Dürer gerade eine Fliege sitzt, zur Kunstgeschichte gehört.«

    Das bezog sich auf mein: „… man kann unterscheiden zwischen lebensnotwendigen und sonstigen Vorgängen. Biologisch interessant sind sie alle (mehr oder weniger).“

    Bei „Vorgängen“ und Prozessen könnten Sie Recht haben. Zumindest fällt mir im Moment kein Beispiel eines physiologischen Prozesses ein, auf den ein Organismus gut verzichten könnte (außer Tumorwachstum und dergleichen).

    Oder halt, alle körperlichen Merkmale entstehen ja in einem Entwicklungsprozess. Und da gibt es Merkmale, die nicht „funktional auf die Selbstreproduktion“ bezogen sind, für die es also keinen Selektionsdruck gab (Goulds „Spandrels“). Zufällig entstandene Merkmale ohne funktionalen Nutzen, die in der Population (per Gendrift) erhalten geblieben sind.

  80. @ Ludwig Trepl

    „Warum soll es nicht umgekehrt sein: je lebenswerter das Leben, desto mehr fürchtet man sein Ende?“

    Der Buddhist würde wohl sagen: je weniger man sein Ende fürchtet, desto lebenswerter ist das Leben. Damit würde er aber keineswegs so etwas wie Todessehnsucht meinen, sondern vielmehr eine Art „Bewusstsein des Todes“ (insofern man davon überhaupt sprechen kann, da wir ja keine Erfahrung davon haben können), das Voraussetzung dafür ist, überhaupt zu „leben“ (im spirituellen Sinn).

    In ähnlicher (sicher nicht gleicher) Weise wäre vermutlich auch Heidegger zu verstehen, wenn er vom „Sein zum Tode“ spricht. (Die entsprechenden Stellen „Sein und Zeit“ wären für die Diskussion hier wohl nicht uninteressant, aber ich hab momentan zuwenig davon parat, um etwas Sinnvolles dazu zu sagen. Was ich weiß ist, dass auch Heidegger damit nicht eine Todessehnsucht oder Todesverherrlichung meint, wie ihm manchmal nachgesagt wird). Erst durch das Bewusstsein des Todes (nicht durch die Furcht davor wohlgemerkt und nicht durch die (moralische) Konnotation von Leben mit „gut“ und Tod mit dem Gegenteil, was auch immer das ist) wird das Leben im Horizont seiner Möglichkeiten erkannt, das scheint mir in diesem Zusammenhang relevant zu sein (weniger, dass wir Leben für „erstrebenswert“ halten, d. h. generell als „gut“ erachten; obwohl es da aber vielleicht einen tiefgreifenden Zusammenhang gibt). „Tod“ in diesem Sinn ist weniger ein (kulturrelativer) moralischer Orientierungspunkt als vielmehr eine Art regulative Idee, die das (wie Heidegger sagen würde) „eigentliche“ Leben, und d.h. schließlich das gute, ermöglicht.

    Ich weiß allerdings nicht, welche Konsequenzen sich daraus für unser Verständnis von andersartigen Lebewesen ergeben, oder inwiefern das dafür überhaupt relevant wäre.

  81. @ Balanus

    @ Balanus:
    „Sicher, aber ich meinte vor allem, dass Biologen (auch) wissen, wie man lebende von toten Zellen (etwa in einer Zellkultur) unterscheidet. Denen sieht man nicht immer auf die Schnelle an, ob sie noch leben, oder schon tot sind.“

    Ja, das scheint mir richtig und wichtig. Mit dem Alltagsverstand kann man ja auch nicht immer entscheiden, ob bestimmte Dauerstadien leben oder nicht. Die Biologie verfeinert gewissermaßen das Wissen darum, was Leben ist. Das bedeutet aber auch: sie kann sich von dem, was Leben lebensweltlich bedeutet, nicht lösen, das ist für sie unhintergehbare Referenz. Das meinte ich mit meinen Psychologen-Analogien (Liebe, Angst …) oben in der Fußnote: die Biologen (wie die Psychologen) können anders als die Atomphysiker ihren zentralen Gegenstand nicht selbst definieren, sondern müssen immer sehen, ob sie mit ihren Definitionen auch das treffen, was man im normalen Leben mit „Lebewesen“ meint.

    „…wenn ich von einem System ausgehe, mag zunächst unklar sein, ob dieses System lebt oder nicht. Wenn es denn lebt, ist es ein Organismus. Wenn ich aber von einem Organismus ausgehe, dann ist von vorneherein klar, dass er lebt …“

    Das stimmt, und dann müßte man wohl sagen: Der Begriff „lebendes System“ ist nicht, wie ich formuliert habe, an die Stelle von „Organismus“ getreten, denn der lebt immer, ein toter Organismus ist gar keiner. Sondern „lebendes System“ ist an die Stelle von „lebender Körper“ getreten. Daß die Lebewesen lebende Körper sind (und nicht etwa einen Körper haben), ist ein Ergebnis der cartesianischen Metaphysik, in der es nur noch zwei „Substanzen“ (res extensa und res cogitans) gab, so die die Lebewesen nicht mehr eine eigene, dritte Kategorie sind (dazu wurden sie später (wieder), bei Leibniz vor allem), sondern nur Köper sein können, aber halt solche mit einer besonderen Eigenschaft, nämlich lebendig zu sein, und das mußte konsequenterweise als körperliche Eigenschaft gesehen werden (Lebewesen als Automaten). Voraussetzung einer solchen Metaphysik war paradoxerweise die (vor allem christliche, auch platonische und natürlich weit verbreitete lebensweltliche) Vorstellung, daß das Leben etwas unkörperliches ist, das beim Tod aus dem Körper entweicht. Nur so konnte dieser Geist-Körper-Dualismus (in dem Leben Entwicklung körperliches ist) zustandekommen.

    „Und bei einem Organismus ist auch von vorneherein klar, dass er eine Evolutionsgeschichte hinter sich hat.“

    Das war in der Biologie aber nicht von Anfang an klar. Cuvier mußte es bestreiten. – Man sollte in unserem Zusammenhang immer gut unterscheiden: Geht es um Biologie oder geht es um den lebensweltlichen Begriff von Lebewesen, den die Biologie voraussetzt, von dem sie ausgeht? Gäbe es ein Wesen, das keine Evolutionsgeschichte hat oder von dem man das einfach nicht weiß, das aber doch sterblich ist, Aktivität zeigt, Stoffwechsel usw., so würden wir uns doch genötigt sehen, von einem Lebewesen zu sprechen. Und wenn es um Biologie geht: geht es um das, was in der Geschichte der Biologie (der modernen, also etwa seit 200 Jahren) alles schon an Theorien da war (innerhalb des Großparadigmas der Biologie möglich ist), oder geht es um das, was die Biologie (bisher) erkannt hat oder glaubt erkannt zu haben, was wir also heute über Lebewesen wissen oder denken?

    „Ein einfaches lebendes System könnte theoretisch auch im Labor geschaffen werden (…) . Ich frage mich, ob man ein solches sich selbst erhaltendes Gebilde auch ohne weiteres einen Organismus nennen würde.“

    Weil, wie ich ja auch geschrieben habe, zwar der Organismusbegriff sich scharf abgrenzen läßt, man empirisch (naturwissenschaftlich) aber immer Übergänge findet (in der empirischen Forschung der Organismusbegriff darum als Typenbegriff und nicht Klassenbegriff verwendet wird), darf man wohl vermuten, daß es einen Bereich gibt, in dem man nicht sagen kann (oder nur durch willkürliche Grenzziehung sagen kann), ob so ein konstruiertes einfaches „Lebewesen“ wirklich eines bzw. ein Organismus ist oder nicht. Eine vage Vermutung, der man mal nachgehen könnte: Vielleicht kann man nie Systeme konstruieren, von denen man, trotz bestimmter Eigenschaften wie Selbsterhaltung, sagen würde, daß sie Lebewesen sind. Sondern dazu ist Voraussetzung, daß sie sich „von selbst“ weiterentwickelt haben; denn das Prinzip der Aktivität, des Selbertuns statt des Gemachtwerdens, ist doch sicher ein wesentliches Element dessen, was uns zu einem Lebewesen (lebensweltlich) notwendig erscheint. Ich könnte mir denken, daß man sich im Rahmen der Autopoiesistheorie dazu Gedanken gemacht hat.

    „… man kann unterscheiden zwischen lebensnotwendigen und sonstigen Vorgängen. Biologisch interessant sind sie alle (mehr oder weniger).“

    Das halte ich für falsch. Was nicht funktional auf die Selbstreproduktion bezogen ist, gehört ebensowenig zur Biologie wie die Tatsache, daß auf einem Bild von Dürer gerade eine Fliege sitzt, zur Kunstgeschichte gehört. Ein berühmter Biologe (Bertalanffy??) hat das mal ungefähr so ausgedrückt: Wenn zwei Lebewesen sich zum Zwecke sexueller Vereinigung begegnen, gehört das zur Biologie, wenn sie zufällig aufeinanderprallen, nicht. – Die Funktionen im Dienste der Selbstreproduktion (auf allen Ebenen, auch phylogenetisch) sind gegenstandkonstitutiv für die Biologie, nicht etwa die Raumgrenzen eines Organismus. Was nicht auf diese Weise zum Gegenstand der Biologie gemacht wird und „am“ Lebewesen (bzw. innerhalb seiner Raumgrenzen) geschieht, ist Gegenstand anderer Wissenschaften, vielleicht der Physik oder die Chemie oder auch der Ökonomie (Eier sind hinsichtlich ihrer Funktion im Lebenszyklus Gegenstand der Biologie, hinsichtlich ihrer Preise auf dem Markt aber nicht, da sind sie Gegenstand der Ökonomie).

    „Und wenn Vorgänge in einem größeren System eine kausale Rolle spielen, kann gesagt werden, dass sie in diesem System eine Funktion haben.“

    Das gilt nur für die „dispositionalen“ Funktionen, nicht für die „ätiologischen“, für diese ist Voraussetzung, daß es sich um ganz bestimmte Systeme handelt (Organismen, Artefakte).

    „Bei einem nicht lebenden System kämen wir kaum auf den Gedanken, zu sagen, dass eine Funktion für das System als Ganzes ‚gut’ ist. Bei lebenden Systemen kann man das machen, muss man aber nicht.“

    Das stimmt, nur: wenn man es nicht macht, macht man nicht Biologie, sondern Physik oder Chemie an Gegenständen, die extensional identisch sind mit den Gegenständen der Biologie, aber nicht intensional. Wenn man eine bestimmte chemische Reaktion untersucht, dann betreibt man Chemie, egal, ob diese Reaktion in einem Organismus stattfindet oder nicht. Zu Biologie wird die Untersuchung erst, wenn man sie unter die Frage stellt, ob „sie für das System als Ganzes ‚gut’ ist“.

    „Es ist auch nur schwer einzusehen, dass es zwischen kategorial Verschiedenem einen fließenden Übergang geben kann.“

    Da kommt es natürlich darauf an, was man unter Kategorie versteht. Ich meine es so: Wenn man z. B. mal den cartesianischen Dualismus annimmt, dann fällt das „Seiende“ unter zwei Kategorien: res extensa und res cogitans. Da ist ein kategorialer Unterschied, das eine ist ausgedehnt, das andere nicht usw. Begrifflich ist da also eine klare Trennung, es gibt keine Übergänge zwischen etwas, das ausgedehnt ist und etwas, das das konstitutiv nicht ist. Empirisch bekommt man aber Probleme, weil man immerzu Überhänge sieht: Hat ein Tier „Geist“ oder ist es nur „Körper“? Und wie ist es mit dem Menschen? Die Cartesianer, die die scharfe Trennung im Empirischen aufrechterhalten wollten, haben bekanntlich enorme Bocksprünge machen müssen.

    „Lebende und nicht lebende Entitäten gehören beide zur Kategorie der materiellen Dinge.“

    Darüber streitet man in der einschlägigen Diskussion. Schark, die ich für die erste Autorität in diesen Fragen halte, hält das für falsch. „Dinge“ und „Lebewesen“ sind für sie parallele Unter-Kategorien der Kategorie „Kontinuanten“ (der persistierenden physischen Entitäten, denen, in traditionellen Begriffen, „Ereignisse“ als die Parallelkategorie gegenüberstehen). Lebewesen sind dann nicht materielle Körper, sondern haben einen. Der Unterschied ist vielleicht nicht gleich verständlich. Er wird es, wenn man bedenkt, daß ein nicht-lebendes Ding zumindest typischerweise zu einem anderen wird, wenn seine Materie ausgetauscht wird, ein Lebewesen aber im Austausch und trotz völligen Austauschs der Materie das selbe bleibt: Es „ist“ nicht der materielle Körper, den es im Moment gerade „hat“. Aber, wie gesagt, das ist umstritten. Wer zum Physikalismus neigt (und da zähle ich Sie dazu), kann wohl kaum anders, als zu sagen: sie sind materielle Körper.

  82. @Noït Atiga

    „Das Hauptproblem scheint mir die Fixierung auf EINEN Zweck für jedes Lebewesen. Sie liegt in der Tradition der westlichen Kultur, doch kann sich so die ‘Funktion’ des Lebens wohl nicht zeigen.“

    Ein Problem habe ich mit „kann sich so die ‘Funktion’ des Lebens wohl nicht zeigen“. Das klingt, als gäbe es „die Funktion des Lebens“ etwa im Sinne von „der wahre Sinn des Lebens“ oder „der Lebensvorgänge“, und den verdeckt uns unsere westliche Kultur. Mir scheint der Gedanke attraktiver, daß die Art, wie die westliche Kultur (seit 200 Jahren, aber mit Vorläufern in der Antike und wohl auch teilweise im Alltagsdenken lange davor) des Zweck der Lebensvorgänge bestimmt (im Weiterleben), durchaus enorme Einsichten gezeitigt hat, daß aber nicht ausgeschlossen ist, daß andere Kulturen mit anderen Vorstellungen von „Leben“ eine Perspektive eröffnen könnten, die ebenfalls ertragreich ist, vielleicht noch ertragreicher. Allerdings frage ich mich, ob da so viel an anderen Perspektiven zu erwarten ist. Die Differenz Leben/Tod und die Wertschätzung des Weiterlebens dürfte nicht so spezifisch westlich sein; spezifisch westlich ist eher das Aufeinandertreffen dieser (älteren und weit verbreiteten) Vorstellungen mit der Entstehung der modernen Naturwissenschaft (Physik), in deren Gefolge dann der Organismusbegriff entstand und auch die Vorstellung, daß Leben nichts als eine letztlich physikalisch erklärbare Eigenschaft besonders komplizierter „Körper“ sei.

    „…und das scheint mir auf das Entscheidende zu deuten: auf die Wandlungsfähigkeit in den Zielen.“

    Mir scheint in gewissem Sinne das Gegenteil wichtiger: die Vorstellung, daß es unter den Naturdingen welche gibt, die über die Zeit absolut identisch bleiben – so wie wir selber. Bzw. bei denen es nicht von unserer letztlich willkürlichen Definition abhängt, ob sie noch dieses Ding, wenn auch mit anderen Eigenschaften, oder schon ein anderes sind. Also daß es in der Natur etwas gibt, was irgendwie „von unserer Art“ ist – das so wie wir eine „Lebensgeschichte“ durchläuft und dabei doch immer absolut das gleiche Individuum bleibt. Da kam man dann darauf, daß das Gleichleiben trotz oder vielmehr gerade im ständigen Wechsel der Materie geschieht.

    „Das Hauptproblem der Biologie liegt dann wohl auch in ihrer Fixierung auf das Individuum – denn so begrenzt kann das aktuell Gute nicht adaptiv gefunden werden. Vielmehr muss aufgrund dieser Fixierung und des mit ihr verbundenen Ausschlusses der Umwelt eine externe Teleologie bemüht werden, um das Ziel zu definieren.“

    Da kann ich nicht erkennen, wo Sie das Problem sehen. Die Einbeziehung der Umwelt war seit Beginn der modernen, sich so nennenden Biologie (vor allem mit Cuvier) für diese Wissenschaft konstitutiv. Von den „Bedingungen des Daseins“ – also auch und vor allem das, was wir heute Umweltbedingungen nennen – sagte Cuvier, daß sie (bisher) „gewöhnlich die Endursachen“ genannt werden. Die Teleologie (das Erzeugen aus Absicht) wird also in die Umweltbeziehung, eine kausale Beziehung, verwandelt. Das Lebewesen war nicht mehr wie vorher ein im wesentlichen morphologisch gedachtes und strikt von der Außenwelt getrenntes Ding, sondern ein sich in Auseinandersetzung/Austausch mit der Umwelt permanent selbst erzeugendes. Eine Folge war, daß dann das Lebewesen als sich verändernd gedacht werden mußte, während es vorher (und noch bei Cuvier selbst) nicht so gedacht werden konnte. Das ist dann mit Lamarck und Darwin Standard geworden (in meinem Buch „Geschichte der Ökologie“, Ffm 1986, habe ich das in den Kapiteln 3 und 4 ausführlich beschrieben, allerdings halte ich inzwischen nicht mehr alles für richtig).

    „Kriterium des Lebens wäre dann nicht das Sterbenkönnen, sondern die Wandlungsfähigkeit“

    Die Frage ist, was das genau bedeutet. „Wandlungsfähig“ sind ja auch nicht-lebende Dinge: Berge, Flüsse … Aber die Grunddifferenz ist doch, daß die einen sterben können und die anderen nicht, und dann erst sieht man, daß bei den sterbenkönnenden Dingen „Wandlungsfähigkeit“ etwas ganz anderes bedeutet als bei den nicht sterbenkönnenden. Sterbenkönnen ist das Kriterium, Wandlungsfähigkeit eine zusätzliche Eigenschaft, auf die man spät kam. Man sieht dann auch, daß die Wandlungsfähigkeit ein Mittel ist, eingesetzt, um nicht sterben zu müssen, vielleicht auch, daß das Sterbenkönnen etwas ist, was das Leben zur Wandlungsfähigkeit zwingt u. dgl. mehr. Dann dürfte man aber nicht, wie Sie, sagen, daß das Absterben der Zellen der Wandlung dient, sondern daß es dem Weiterleben (in der Stammesgeschichte) dient und die Wandlung dazu „nutzt“. Fraglich ist aber, ob auf dieser evolutionsbiologischen Ebene diese teleologische Redeweise überhaupt sinnvoll ist (so wie sie als regulative Idee für die Vorgänge im Organismus sinnvoll ist).

    „Und dort scheint mir auch das Massie-Beispiel zu hinken. Der Hund als Hund ist eben noch kein Leben, sondern er wird es erst durch seine Interaktion mit der Umwelt.“

    Das ist in dem Massie-Beispiel durchaus mitgedacht. Er funktioniert sofort in seiner Umwelt, seine Funktionen sind nicht nur potentiell. Ich habe mit diesem Sumpfhund andere Probleme, aber das kann ich hier nicht ausführen.

    „Während die todessehnsüchtigen Kulturen wohl den jeweiligen Menschen derart wenig Spielraum für Wandlung und wahre Interaktion geben, dass deren Verwirklichung auf ein Leben nach dem Tode projiziert werden muss“

    Wirklich todessehnsüchtig sind wohl nicht die, die an ein Weiterleben im Jenseits glauben – denn die wollen ja leben, eben dort und viel besser als jetzt –, sondern diejenigen, die wollen, daß das Leben schlechterdings aufhört (Buddhismus, Schopenhauer …). – Ich habe übrigens diese Hoffnung, die ja für den Kommunismus typisch war, weniger: daß die Angst vor dem Tod aufhört, wenn das Leben wahrhaft lebenswert („wahre Interaktion“) wird. Warum soll es nicht umgekehrt sein: je lebenswerter das Leben, desto mehr fürchtet man sein Ende?

  83. @Ludwig Trepl

    Danke für die Antwort.

    Sie schreiben:

    »Was ein Lebewesen ist, weiß der künftige Biologe aber schon lange vor der ersten Biologiestunde.«

    Sicher, aber ich meinte vor allem, dass Biologen (auch) wissen, wie man lebende von toten Zellen (etwa in einer Zellkultur) unterscheidet. Denen sieht man nicht immer auf die Schnelle an, ob sie noch leben, oder schon tot sind. Dito bei einem Samenkorn. Da kennt aber die Biologie Methoden, das herauszufinden.

    »Ja, genau, und genau diese Einheiten nennt man etwa seit 200 Jahren „Organismen“. Heute spricht man mehr von „lebenden Systemen“, doch bei genauerer Betrachtung sieht man, daß lebende Systeme doch nichts anderes sind als Organismen.«

    Schon, aber wenn ich von einem System ausgehe, mag zunächst unklar sein, ob dieses System lebt oder nicht. Wenn es denn lebt, ist es ein Organismus. Wenn ich aber von einem Organismus ausgehe, dann ist von vorneherein klar, dass er lebt oder mal gelebt hat.

    Und bei einem Organismus ist auch von vorneherein klar, dass er eine Evolutionsgeschichte hinter sich hat, dass alle seine Eigenschaften und Strukturen durch physikalische und biochemische Kausalprozesse entstanden sind (was ich weitestgehend für unstrittig halte).

    Ein einfaches lebendes System könnte theoretisch auch im Labor geschaffen werden (ist auf jeden Fall wahrscheinlicher als die Entstehung von Massie). Ich frage mich, ob man ein solches sich selbst erhaltende Gebilde auch ohne weiteres einen Organismus nennen würde.

    »Im „Körper“ eines Lebewesens laufen unzählige Vorgänge ab, die ohne Bezug sind zu dem, was für das Lebewesen „gut“ ist (afunktionale Vorgänge), und die interessieren die Biologie auch nicht.«

    Nun ja, man kann unterscheiden zwischen lebensnotwendigen und sonstigen Vorgängen. Biologisch interessant sind sie alle (mehr oder weniger). Und wenn Vorgänge in einem größeren System eine kausale Rolle spielen, kann gesagt werden, dass sie in diesem System eine Funktion haben. Bei einem nicht lebenden System kämen wir kaum auf den Gedanken, zu sagen, dass eine Funktion für das System als Ganzes „gut“ ist. Bei lebenden Systemen kann man das machen, muss man aber nicht.

    »Das ist sicher in jeder Hinsicht so: Entstehung des Lebens überhaupt, Übergang vom Leben zum Tod (Sterben), Unterscheidung zwischen Lebewesen und nicht-lebenden Dingen: zumindest naturwissenschaftlich ist da immer eine Übergangszone. Dennoch liegt ein kategorialer Unterschied vor.«

    Das Wörtchen „dennoch“ signalisiert, dass dieser postulierte kategoriale Unterschied nicht ohne weiteres ins Auge springt. Es ist auch nur schwer einzusehen, dass es zwischen kategorial Verschiedenem einen fließenden Übergang geben kann.

    Ich würde da eher von einem qualitativen Unterschied sprechen. Lebende und nicht lebende Entitäten gehören beide zur Kategorie der materiellen Dinge. Sämtliche zellulären biochemischen Prozesse sind für sich genommen leblose Vorgänge. Erst der organisierten Gesamtheit dieser Prozesse innerhalb eines umgrenzten Raums schreiben wir die Qualität „lebend“ zu.

  84. @ Balanus

    „Hier könnte der Eindruck entstehen, die Biologen wüssten gar nicht, über was sie eigentlich arbeiten und forschen.“

    Natürlich können sie das – sie konnten es alle schon, bevor sie Biologen wurden. Das ist es ja: vor der ersten Physikstunde, in er es um Atomphysik geht, weiß der künftige Atomphysiker nicht, was ein Atom ist. Was ein Lebewesen ist, weiß der künftige Biologe aber schon lange vor der ersten Biologiestunde. Und wenn er dann Biologie studiert, lernt er, wie Sie richtig anmerken, nicht, »was Leben ‚wirklich’ ist«. Das ist vielmehr für die Biologen wie für alle Menschen lebensweltliches Wissen (auch wenn es immer auch mit der Aura eines Geheimnisses umgeben ist: man weiß es doch hinreichend, um die Naturdinge sortieren zu können), sondern die Biologie interessiert sich nur dafür, wie es da zugeht, wo wir vor aller Wissenschaft sagen, daß etwas lebt, dafür, was die kausalen Ursachen sind und was die Funktionen sind.

    „Der Gegenstand, um den es hier im Blog-Beitrag geht und den die Biologie nicht definieren kann, dürfte in der Tat ein Gegenstand der Philosophie sein“

    Aber auch da muß man bedenken: Der Gegenstand ist auch für die Philosophen in gewissem Sinne definiert, nämlich durch den alltagssprachlichen Gebrauch; sie können nur versuchen, die der in der Alltagssprache implizite Definition explizit zu machen und zu präzisieren (deskriptive Metaphysik nennen das die analytischen Philosophen heute, und wenn einer der Meinung ist, die Alltagssprache enthielte mehr Unsinn als Sinn, man müsse sich an die Verbesserungen der Sprache halten, die die Naturwissenschaften vornehmen, dann heißt das revisionäre Metaphysik).

    „Die ‚wahren’ Gegenstände der Biologie dürften u.a. diskrete raumzeitliche Einheiten sein, die dann als ‚lebend’ oder ‚lebensfähig’ bezeichnet werden, wenn und solange sie ihre innere funktionale Ordnung aufrechterhalten und so ihrem Zerfall entgegen wirken (können).“

    Ja, genau, und genau diese Einheiten nennt man etwa seit 200 Jahren „Organismen“. Heute spricht man mehr von „lebenden Systemen“, doch bei genauerer Betrachtung sieht man, daß lebende Systeme doch nichts anderes sind als Organismen. Zum Begriff des Organismus kommt man, wenn man fragt, wie denn der lebensweltliche Begriff des Lebewesens in einer Theorie der Naturwissenschaft zu fassen ist.

    „Ich finde es überhaupt nicht zwingend, der Tatsache, dass etwas in einem dynamischen Gesamtsystem eine „Funktion“ hat, also für den Zustand oder das „Funktionieren“ des Systems kausal von Bedeutung ist, einen ‚Wert’ zuzuschreiben, dass also bestimmte Strukturen und Prozesse für etwas ‚gut’ sind.“

    Ich glaube, das muß man eher umdrehen: Weil wir – lebensweltlich – bestimmte Zustände oder Vorgänge als „gut“ ansehen, kommen wir überhaupt dahin, diese Zustände/Vorgänge als etwas auszuzeichnen, das der biologischen Untersuchung wert ist. Im „Körper“ eines Lebewesens laufen unzählige Vorgänge ab, die ohne Bezug sind zu dem, was für das Lebewesen „gut“ ist (afunktionale Vorgänge), und die interessieren die Biologie auch nicht. Bzw. wenn man sagt, daß etwas für „das ’Funktionieren’ des Systems kausal von Bedeutung ist“, dann hat man mit dem Begriff „Funktionieren“ bereits dieses „gut für“ vorausgesetzt. Oder noch mal anders gesagt: Kausal von Bedeutung ist für einen „Zustand“ schlichtweg alles, was in einem Lebewesen vorgeht, auch das Afunktionale. Irgendwie beeinflussen ja z. B. auch die Herzgeräusche den „Zustand“, physikalisch läßt sich kein Unterschied feststellen zwischen der Geräuscherzeugung und dem Blutpumpen: für die Physik sind beides einfach Prozesse. Aber um eine Unterscheidung von biologisch Relevantem und für sie Uninteressantem, nicht zu ihren Gegenständen Gehörigem machen zu können, braucht man den Begriff der Funktion im Sinne von „gut fürs Weiterleben“ (individuell oder in der Generationenfolge). Die strittige Frage ist, ob sich diese „ätiologischen“ Funktionen evolutionsbiologisch auf Kausalprozesse reduzieren lassen.

    „…wobei der Übergang vom lebenden zum toten Körper meist fließend ist“.

    Das ist sicher in jeder Hinsicht so: Entstehung des Lebens überhaupt, Übergang vom Leben zum Tod (Sterben), Unterscheidung zwischen Lebewesen und nicht-lebenden Dingen: zumindest naturwissenschaftlich ist da immer eine Übergangszone. Dennoch liegt ein kategorialer Unterschied vor. Das sieht man am deutlichsten, wenn man fragt, was es denn bedeutet, daß ein nicht-lebendes Ding über die Zeit hin dasselbe bleibt und was das bei einem Lebewesen bedeutet: bei diesem kann die Materie vollkommen wechseln und sie muß immerzu wechseln, bei jenem sprechen wir zumindest typischerweise gerade dann von Persistieren, wenn die Materie die gleiche bleibt.

  85. Kausalmechanische Deutung möglich?

    Vielen Dank für den interessanten Beitrag, der bei mir viele Assoziationen geweckt hat – auch wenn oft abweichende Ansichten. In der Kürze hier aber nur wenige zentrale, unvollkommene Überlegungen.

    Das Hauptproblem scheint mir die Fixierung auf EINEN Zweck für jedes Lebewesen. Sie liegt in der Tradition der westlichen Kultur, doch kann sich so die ‘Funktion’ des Lebens wohl nicht zeigen (anders als die Funktion von Artefakten). Sie schrieben an einer Stelle, dass die “Organismuskomponente oder -eigenschaft […] nur aktuell „gut“ für den Organismus sein muss” – und das scheint mir auf das Entscheidende zu deuten: auf die Wandlungsfähigkeit in den Zielen. Das Hauptproblem der Biologie liegt dann wohl auch in ihrer Fixierung auf das Individuum – denn so begrenzt kann das aktuell Gute nicht adaptiv gefunden werden. Vielmehr muss aufgrund dieser Fixierung und des mit ihr verbundenen Ausschlusses der Umwelt eine externe Teleologie bemüht werden, um das Ziel zu definieren. Würde die Biologie wie das Individuum auch die Umwelt einbeziehen, dann könnte sie wohl durchaus rein kausalmechanisch definieren…

    Kriterium des Lebens wäre dann nicht das Sterbenkönnen, sondern die Wandlungsfähigkeit – wiewohl auch Menschen meist erst sterben, wenn ihnen die Anpassungsfähigkeit an die (akute) Umwelt verloren geht. Hinzunehmen müsste man noch eine gewisse Selbstwirksamkeit bzw. Einbindung in die Umwelt. Und dort scheint mir auch das Massie-Beispiel zu hinken. Der Hund als Hund ist eben noch kein Leben, sondern er wird es erst durch seine Interaktion mit der Umwelt, wenn er frisst, spielt, kämpft… also durch Interaktion mit seiner Umwelt wandelt und damit auch eine Geschichte bekommt. Vorher haben alle seine Organe allenfalls die potentielle ätiologische Funktion.

    Nimmt man aber die Wandlungsfähigkeit durch Interaktion als Kennzeichen des Lebens, dann erklären sich sowohl die todessehnsüchtigen Kulturen als auch das Absterben der Zellen im Alter. Dieses Absterben ist dann ebenso “gut” wie das Wachsen in jungen Jahren – beides dient der Wandlung. Denn wenn das Alte nicht mehr eingebunden ist und sich nicht in die Umwelt einzubringen weiß, bleibt ihm nur noch ein Weg zur Wandlung (der übrigens auch bei den suizidgefährdeten Depressiven gelten dürfte). Während die totessehnsüchten Kulturen wohl den jeweiligen Menschen derart wenig Spielraum für Wandlung und wahre Interaktion geben, dass deren Verwirklichung auf ein Leben nach dem Tode projiziert werden muss (vielleicht ja auch in Wandlung der Gesellschaft/Umwelt durch ihren Tod).

    Auch die Selbstreproduktion wäre dann nur eine Teilfunktion des Lebens, ein genialer Weg zur interaktiven Verbindung von Starrheit und Wandelbarkeit. Aber auch einer, der vielleicht nicht für alles Leben essentiel ist…

  86. Gegenstand der Biologie

    » (1) Gegenstand der Biologie sind die lebenden Wesen. Diesen ihren Gegenstand kann die Biologie selbst nicht definieren […]. Aber die Biologie versucht mit all ihren Definitionsversuchen immer nur zu treffen, was außerhalb der Biologie, in der „Lebenswelt“, als Leben gilt, d. h. was Leben „wirklich“ ist. «

    Hier könnte der Eindruck entstehen, die Biologen wüssten gar nicht, über was sie eigentlich arbeiten und forschen.

    In der Regel können Biologen aber durchaus, wie Sie ja selbst sagen, lebende von toten Gegenständen (etwa bei Leberzellen) unterscheiden. Offenbar gibt es da Kriterien, anhand derer diese Unterscheidung getroffen werden kann (wobei der Übergang vom lebenden zum toten Körper meist fließend ist).

    Der Gegenstand, um den es hier im Blog-Beitrag geht und den die Biologie nicht definieren kann, dürfte in der Tat ein Gegenstand der Philosophie sein, denn die Biologie fragt idR nicht danach, »was Leben „wirklich“ ist«.

    Die „wahren“ Gegenstände der Biologie dürften u.a. diskrete raumzeitliche Einheiten sein, die dann als „lebend“ oder „lebensfähig“ bezeichnet werden, wenn und solange sie ihre innere funktionale Ordnung aufrechterhalten und so ihrem Zerfall entgegen wirken (können).

    Die „funktionale Ordnung“ ist die Gesamtheit der lebenserhaltenden Strukturen und Prozesse. Man könnte also sagen, die funktionale Ordnung oder Organisation lebender Systeme ist der Gegenstand der Biologie.

    Ich finde es überhaupt nicht zwingend, der Tatsache, dass etwas in einem dynamischen Gesamtsystem eine „Funktion“ hat, also für den Zustand oder das „Funktionieren“ des Systems kausal von Bedeutung ist, einen „Wert“ zuzuschreiben, dass also bestimmte Strukturen und Prozesse für etwas „gut“ sind.

    Aber es geht in diesem interessanten Beitrag ja auch weniger um biologische, denn um philosophische Probleme mit dem Begriff „Funktion“, die ich so noch nicht kannte. Danke dafür!

  87. @ Fossilium

    Schwierige Fragen. Auf „[Wirkungen]….nur zuschreiben, die sie aber nicht wirklich haben – ja dann sind die „wahren“ Wirkungen noch unbekannt – jedenfalls nicht der herrschenden Naturwissenschaft bekannt“ würde ich – ganz, ganz vorsichtig und jederzeit widerrufbar – antworten:

    Die Wirkungen kann die Naturwissenschaft schon erkennen, darin besteht ist ja ihr Wesen: Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge zu finden. Aber die Frage nach der Funktion, d. h. danach, wofür diese Wirkungen gut sind, geschieht auf Basis von Ideen, die wir aufgrund unseres nicht-naturwissenschaftlichen Wissens um uns selbst an die Natur herantragen; „gut für“ ist kein Begriff, den die Naturwissenschaft haben kann. Naturwissenschaft – d. h. hier: die Physik, also die Wissenschaft, die die Biologie auch ständig bestrebt ist, ja sein muß, zu werden, aber doch nie in gleicher Reinheit werden kann, weil ihr sonst ihr spezifischer Gegenstand verlorengeht.

    Hier aber wird es schwierig. Wenn wir dieses „gut für“ auf der Ebene überorganismischer Einheiten (Lebensgemeinschaften, Ökosysteme) benutzen, dann ist es klar, daß wir hier in die Natur etwas (Sollzustände) hineinlegen, was letztlich aus unseren Interessen stammt. Bei den einzelnen Organismen aber ist das anders. Wenn wir da von einem Sollzustand sprechen, dann ist das zumindest nicht im gleichen Sinne eine Projektion oder eine willkürliche Definition. Organismen sind objektiv etwas anderes als nicht-lebende Dinge, sie haben Sollzustände von sich aus, Sollzustände, wie wir erkennen können, aber nicht mit den Mitteln der Naturwissenschaft. Die Unterscheidung nicht-lebende Dinge – Lebewesen ist unhintergehbar; nicht in dieser Unterscheidung liegt die Projektion, sondern in der Art, wie wir uns die Vorgänge in den Organismen verständlich machen (Zweckbegriff). Diese fundamentale Unterscheidung ist aber nicht eine, die die Naturwissenschaft herausfindet, sondern sie setzt sie voraus, sie stammt aus dem (d. h. unserem) Leben, die Naturwissenschaft muß sie übernehmen und auf ihr aufbauen.

    Aus unserem Leben stammt sie insofern, als wir um unseren Tod wissen, das ist die primäre Erfahrung (genauer: der Tod der anderen; vom eigenen Tod haben wir natürlich keine Erfahrung). Wir unterscheiden unter den Dingen der Natur sterbenkönnende und nicht stebenkönnende. Wenn wir nun (so würde ich Marianne Schark interpretieren) der (vor allem kulturell bedingten) Überzeugung sind, daß der Tod ein Übel ist, dann versieht uns das mit einer Perspektive, einer „Brille“, die es erlaubt, an den Lebewesen etwas zu entdecken – also nicht einfach etwas in die Natur hineinzuprojizieren, sondern etwas, was es in wirklich ihr gibt, zu finden –, nämlich „Funktionen“ („gut für“ = „gut fürs Weiterleben“). Oder: Das ermöglicht uns, einer Frage nachzugehen, die die Physik nicht kennen kann: nicht nur, daß es bestimmte Wirkungen gibt (nur danach kann die Physik fragen), sondern wie etwas für etwas anderes oder für sich selbst wirkt, „gut“ dafür ist.

    Ich würde also nicht sagen, daß „die ‚wahren’ Wirkungen noch unbekannt“ sind. Die Physik (oder die Biologie, soweit sie kausalmechanisch, also im Prinzip auf physikalische Weise, forscht) bekommt durchaus die „wahren Wirkungen“ heraus. Aber daß etwas für etwas eine Funktion hat, daß etwas „gut“ für etwas ist – durchaus auch „etwas Wahres“ – ist eine Erkenntnis, die überhaupt erst möglich wird, weil wir, veranlaßt durch unser eigenes „Leben“, die Dinge der Natur in bestimmter Weise sehen/einteilen; teils unausweichlich sehen müssen als Menschen, weil wir nun einmal sterblich sind, teil sehen „müssen“ als Angehörige bestimmter Kulturen (Überzeugung davon, daß der Tod ein Übel ist, als „kulturelles Apriori“). Wenn man freilich physikalistisch (szientistisch) denkt in dem Sinne, daß alles, was die Physik nicht erklären kann, nicht wirklich ist („eliminativer Materialismus“), oder in dem Sinne, daß sich alles auf Physik reduzieren läßt, dann werden die organismischen Funktionen, falls sie sich nicht reduzieren lassen (das behaupte ich ja), zu bloßen Projektionen oder Illusionen oder zur bloßen Heuristik.

    Sie schreiben, „dass wir den Grund des Lebendigen durch naturwiss. Erforschung der Funktionen der Bestandteile des Lebendigen nicht finden (weil uns das eigene Lebendige im Weg ist)“. Dazu würde ich also sagen: den Grund des Lebendigen findet die naturwissenschaftliche Forschung tatsächlich nicht, sondern sie setzt voraus, daß wir von unserem eigenen Leben her wissen, was das Lebendige ist. Aber das eigene Lebendige ist uns dabei nicht im Weg, vielmehr ermöglicht es uns überhaupt erst, in der Natur etwas zu bemerken, was der Erforschung, auch der kausalmechanischen, wert ist.

  88. Wirkungen und ihre Ursache

    Hallo Herr Trepl,
    ich habe Ihren Beitrag mit grossem Interesse gelesen. Dazu eine Frage:
    Wenn die die ätiologischen Funktionen der Bestandteile von Organismen eine Wirkung haben, die wir ihnen aus Angst vor dem Tod nur zuschreiben, die sie aber nicht wirklich haben – ja dann sind die „wahren“ Wirkungen noch unbekannt – jedenfalls nicht der herrschenden Naturwissenschaft bekannt. Ungewisse Wirkungen haben ungewisse Gründe. Womit letztendlich Ihr Argument darauf hinausläuft, dass wir den Grund des Lebendigen durch naturwiss. Erforschung der Funktionen der Bestandteile des Lebendigen nicht finden (weil uns das eigene Lebendige im Weg ist) Was auch meine Meinung wäre – aber habe ich Sie so richtig verstanden ?
    Das kratzt natürlich am Selbstverständnis der Biologen als Naturwissenchaftler, aber was sollen sie machen, statt Funktionen untersuchen ?
    Grüsse Fossilium

  89. Herr Trepl,

    vielen Dank für die ausführlichen Klarstellungen. Ich verstehe Ihr Anliegen nun besser. Ob es wirklich keine Rolle spielt, dass Massie konstruiert ist, darüber bin ich mir noch nicht im Klaren. Eine interessante Fragestellung. Ich werde Ihren Blog in Zukunft mal öfter besuchen 🙂

  90. @ Morten

    „… was es heißt, dass eine Definition “die Sache trifft” oder “dem Gegenstand gemäß” ist. M.E. kann eine Definition nur hilfreich sein; sie muss sich als viabel im wissenschaftlichen Diskurs erweisen. Alles “darüber hinaus” klingt für mich so, als ob wir eine ontologische Realität vermuteten, ….”

    In der instrumentalistischen Sicht, für die Sie hier plädieren, verschwindet, daß es bei den Definitionen doch immer um etwas geht, nämlich um einen Gegenstand. Die instrumentalistische Sicht sagt: das ist egal (bzw. wie der wirklich ist, können wir sowieso nicht wissen), Hauptsache, die Definition ist hilfreich. Doch blendet die instrumentalistischen Sicht die Frage nach der Gegenstandsangemessenheit nicht wirklich aus, denn „hilfreich“ ist die Definition genau dann, wenn sie über den Gegenstand etwas herauszufinden erlaubt.

    „Was der Begriff “wirklich bedeutet” klingt für mich wieder wie eine Suche nach ontologischer Wahrheit.“

    Nein, viel banaler: nach einer empirischen Wahrheit. Es bedeutet ja nur: wir wollen herausfinden, wie der Begriff wirklich verwendet wird. Das „wirklich“ habe ich nur geschrieben, um die Forschungsaufgabe des Suchens nach der „wirklichen“, d. h. im Gegenstandsbereich „Denken/Sprache“ wirklich anzutreffenden Bedeutung von der Methode, einen Begriffsgebrauch (zum Zwecke der Forschung) festzusetzen, abzusetzen. Eine Nominaldefinition zu machen gehört zu den Methoden (der Forschung), eine Realdefinition zu finden ist Forschung. Und erforscht wird etwas Empirisches. Es ist dann eine Anschlußfrage, ob denn der reale Sprachgebrauch „den Gegenstand trifft“; wenn der Gegenstand ein empirischer ist, ist das wieder eine empirische Forschungsaufgabe. Z. B. könnte man ja der Meinung sein, daß die in „Walfisch“ steckende Definition von „Fisch“ falsch ist, nicht einfach eine gleichberechtigte Nominaldefinition – wofür es den Grund geben könnte, daß man anderswo „Wal“ so verwendet, daß damit kein Fisch bezeichnet werden kann. Dann wird man die Definitionen von Fisch und Wal „gegenstandsangemessen“ verbessern. Das ist dann eine Festsetzung des Sprachgebrauchs wie bei einer Nominaldefintion, hat aber mit der Realdefinition das Gemeinsame, daß die Definition nun beansprucht, „richtig“ zu sein – nur eben nicht den Sprachgebrauch richtig zu beschreiben, sondern einen bestimmten empirischen Sachverhalt richtig zu erfassen (woran man sieht, daß der Gegenstand „Realdefinition“ eine bessere, dem Gegenstand angemessenere, nicht so zweideutige Definition bräuchte). – Bei nicht-empirischen Gegenständen wird die Frage schwieriger, da traue ich mich so aus dem Stand nicht ran.

    „Habe ich damit in etwa den Kern getroffen?“ Ja

    „Mein Gefühl ist, dass ein teleologischer Begriff unnötig ist. Aber er ist hilfreich als Abkürzung bei der Erklärung biologischer Phänomene“

    Das ist eine unter Biologen sehr verbreitete Meinung (und war auch meine, solange ich nur Biologe war). Aber sie ist nicht haltbar. Von der schwierigen Frage abgesehen, wie die an allen Ecken und Enden in der Biologie anzutreffenden intentionalen (und teleologischen) Metaphern wirklich nur (verzichtbare) Metaphern sind und der schwierigen Frage, ob intentionale Begriffe in der Evolutionstheorie nicht bereits vorausgesetzt sind (da traue ich mir keine Meinung zu, ich weiß nur, daß man viel mehr über die einschlägigen Diskussionen wissen müßte, als ich weiß, um etwas Sinnvollen dazu sagen zu können), also abgesehen davon gilt auf jeden Fall, daß teleologische Begriffe für die Biologie überhaupt gegenstandskonstitutiv sind. Es gäbe für die Biologie nichts zu untersuchen, wenn ihr nicht von ganz woanders her Gegenstände vorgegeben wären.

    „Der “Zweck” von x ist dann zu verstehen als “x hat sich durch Variation / Selektion herausgebildet, weil ein positiver Selektionsdruck für x vorlag”“

    Genau das ist die Auffassung der ätiologischen Theorie der Funktion (Neander, Millikan). Ich glaube aber nicht, daß Sie bei Ihrer Auffassung bleiben würden, wenn Sie das Buch von McLaughlin lesen würden. Man braucht das Lassie-Beispiel nicht (daß es hochgradig konstruiert ist, ist allerdings egal, es ist ein Gedankenexperiment und als solches zeigt es etwas). Es reicht, daß eine ätiologische Funktion auch einer eben, durch Mutation, also zufällig und ohne Selektion neu entstandenen Eigenschaft zugeschrieben werden muß, wenn sie nur „gut“ für den Organismus ist. Der Kern der Sache liegt in dem „gut“, und das ist ein Begriff, der Teleologie impliziert. Anders als vielleicht Schark meine ich aber (mit Kant), daß die teleologischen Begriffe in der Biologie nur regulativen Charakter haben können, als solche aber unverzichtbar sind; d. h. sie sind nicht nur als Abkürzung oder heuristisch (so daß sie fallengelassen werden können, wenn sie ihren Zweck erfüllt haben, nämlich zu kausalen Erklärungen geführt haben) nötig. In dem ersten Artikel zu diesem Thema („Nur Lebewesen leben“) habe ich darüber etwas ausführlicher geschrieben.

  91. Definitionen

    Mir ist noch nicht klar, was es heißt, dass eine Definition “die Sache trifft” oder “dem Gegenstand gemäß” ist. M.E. kann eine Definition nur hilfreich sein; sie muss sich als viabel im wissenschaftlichen Diskurs erweisen. Alles “darüber hinaus” klingt für mich so, als ob wir eine ontologische Realität vermuteten, an die sich die Definition möglichst nahe annähern solle.

    “Sondern es gilt herauszufinden, was der Begriff Funktion (in verschiedenen Kontexten) wirklich bedeutet, was wir implizieren, wenn wir etwa sagen, das Herz habe die Funktion usw.”

    Das sind m.E zwei unterschiedliche Fragestellungen. Was der Begriff “wirklich bedeutet” klingt für mich wieder wie eine Suche nach ontologischer Wahrheit. “Was wir implizieren” ist aber doch eine andere Frage und mit dieser kann ich auch etwas anfangen.

    Wenn ich Sie nun richtig verstehe, geht es darum, was Menschen (in verschiedenen Kontexten) implizieren, wenn sie den Begriff “Funktion” benutzen, und inwieweit diese Implikationen plausibel sind. Insbesondere, ob der Begriff “Funktion” mit teleologischer Bedeutung innerhalb der biologischen Forschung plausibel und notwendig ist, oder ob er unnötig ist, weil er sich auf kausale Argumentationen reduzieren lässt. Habe ich damit in etwa den Kern getroffen?

    Mein Gefühl ist, dass ein teleologischer Begriff unnötig ist. Aber er ist hilfreich als Abkürzung bei der Erklärung biologischer Phänomene (wie von Ihnen eingangs auch beschrieben). Der “Zweck” von x ist dann zu verstehen als “x hat sich durch Variation / Selektion herausgebildet, weil ein positiver Selektionsdruck für x vorlag”.

    Das Beispiel mit Lassie / Massie finde ich nicht überzeugend. Und zwar weil es hochgradig konstruiert ist. Gerade weil es Bessie nicht gibt, erklären Biologen die Welt mit Hilfe der Evolutionstheorie. Gäbe es Bessie, müsste die Evolutionstheorie vermutlich verworfen (oder stark relativiert) werden – und wir müssten annehmen, dass ein Agent Massie Nase aktiv zum Zweck des Riechens geschaffen hat. Da Massie (soweit bekannt) aber nicht beobachtet wurde, muss dieser Agent bis auf weiteres abgelehnt werden.

    In Bezug auf Ihre Beschreibung (im Originalbeitrag), dass “eine Organismuskomponente oder eine Eigenschaft, die soeben neu entstanden ist, … gar keine Selektionsgeschichte haben [kann]”, möchte ich noch anmerken, dass Organismen bereits bei ihrer Entstehung unmittelbar einem Selektionsdruck ausgesetzt sind. Eine Selektionsgeschichte wäre damit immer gegeben.

  92. @Ludwig Trepl

    Danke, ja, das hilft dem Verständnis. Oft trifft man ja auf zwei unterscheidbare Grundsituationen, nämlich wo

    a) einem bereits gängigen Begriff durch eine Def. eine spezifische Deutung im Rahmen einer Theorie zukommt, oder

    b) ein aus einer Theorie gewonnener Sachverhalt durch eine Def. begrifflich gekennzeichnet werden soll.

    Der Hundename zeigt passend dazu auch schon die Möglichkeit strittiger Fälle auf. Einerseits spricht nichts dagegen, dass irgendein Hund “Lassy” heisst. Andererseits hat sich McLaughlin hier offenbar durch Hollywood-Motive inspirieren lassen, womit die bereits bestehende Vorstellung eines weitläufig bekannten und ganz konkret benannten Hundes heraufbeschworen wird. Es liessen sich gewiss auch weniger triviale Beispiele dazu finden.

  93. @ Chrys

    Das mit den Nominaldefinitionen müßte eigentlich mit meiner Antwort auf @Morten geklärt sein, oder?

    Danke für den Hinweis auf die richtige Schreibweise des Hundenamens, ich hab’s korrigiert. Mein Englisch ist ungefähr so gut wie das unseres Finanzministers, da passiert sowas schon mal.

  94. @ Morten

    Das mit den Realdefinitionen ist wohl in der Tat nicht so einfach, da haben Sie recht. Unter diesem Begriff versteht man erst mal nicht im Sinne von Aristoteles eine Definition, die ontologische Wahrheiten festhält, sondern einfach die Feststellung des Sprachgebrauchs (im Unterschied zu seiner Festlegung wie bei der Nominaldefinition). Damit ist aber die Frage, ob denn der vorgefundene, „festgestellte“ Sprachgebrauch die Sache trifft, nicht beantwortet. Darum pflegt man ja auch (durch Begriffsexplikation, Prüfung auf Konsistenz, auf Kompatibilität mit sonstigem Sprachgebrauch usw.) den vorgefundenen Begriffsgebrauch (Realdefinition) zu verbessern, kommt damit in die Nähe von Nominaldefinitionen, von Festlegungen. Nur ist es nicht wie bei diesen eine im Prinzip willkürliche Festlegung, sondern eine, die dem Gegenstand gemäß sein soll. An diesem Punkt kann man dann diskutieren, ob Gegenstandsangemessenheit nur „Brauchbarkeit“ der Definition ist oder mehr bedeutet, ohne doch eine Wesenschau zu implizieren.

    In unserem Fall scheint mir wichtig zu beachten: Man kann nicht sagen, es ginge nur darum, zu einem „möglichst hilfreichen Begriff von “Funktion” zu gelangen“. Sondern es gilt herauszufinden, was der Begriff Funktion (in verschiedenen Kontexten) wirklich bedeutet, was wir implizieren, wenn wir etwa sagen, das Herz habe die Funktion usw. Vielleicht man kann es so formulieren: Es handelt sich um eine Forschungsfrage , nicht um die Frage der geeigneten Festlegung eines Begriffs zum Zwecke der Forschung. Der Forschungsgegenstand, auf den sich unser Interesse richtet, sind Systeme des Denkens und Sprechens, nur vermittelt sind es die biologischen Objekte, auf die sich Denken und Sprechen ihrerseits richten. – Die Hauptfrage, um die sich die von mir referierte Diskussion dreht, ist ja, ob sich das Reden über Funktionen naturalisieren läßt. Da findet man dann bestimmte Funktionsbegriffe, bei denen das geht, andere, bei denen das nicht geht, und wenn sich zeigt, daß die letzteren für die Biologie relevant sind, dann hat man damit gezeigt, daß diese besondere Naturwissenschaft auf einem Fundament ruht, das ihr selbst, als Naturwissenschaft, unzugänglich ist. Das ist wahrscheinlich bei allen Naturwissenschaften so, aber bei der Biologie in einer ganz spezifischen Weise.

    „Was ist “sterben”? Das Aufhören von Lebensfunktionen? Dann hätten wir einen Zirkelschluss.“

    Ich glaube, das sieht nur auf den ersten Blick so aus. Sterben ist eine elementare lebensweltliche Erfahrung. Dann fragt man, wie kommt es dazu, daß einer stirbt? Und dann sieht man: Das Herz hört auf zu schlagen, der Atem geht nicht mehr usw. Das ist nun kein Zirkel mehr, sondern eine Ursache-Wirkungs-Beziehung.

    „Es kann also durchaus sein, dass Menschen auch schon früher [bevor man Pflanzen nicht zu den Lebewesen rechnete] die “Möglichkeit zu sterben” als Kriterium für Leben angesehen haben“

    Das war sicher so. Die Art, wie bei Aristoteles bestimmt ist, was ein Lebewesen ist, spricht dafür. Sicher spielt für die weitere Entwicklung eine Rolle, daß später im Christentum die Vorstellung an Bedeutung gewann, daß die Seele (anders als bei Aristoteles) etwas ist, was sich vom Körper lösen kann. Unter anderem dadurch stellte sich das ganze Problem, was es denn mit dem Sterben auf sich hat und ob ein Lebewesen ein Körper mit besonderen Eigenschaften ist oder ob es eher etwas Seelenhaftes ist, das einen Körper „hat“ und nicht einer „ist“, auf neue Weise. Wie dann daraus im 18. Jahrhundert die moderne Vorstellung „Lebewesen = Organismus“ wurde, ist m. E. ganz gut erforscht (siehe das oben zitierte Buch von Cheung).

  95. Definitionen

    Danke für die Erläuterungen. Der Knackpunkt liegt wohl darin, dass ich mit Realdefinitionen a la Aristoteles nicht viel anfangen kann. Sie implizieren ontologische Wahrheiten, die ich nicht nachvollziehen kann. Aus meiner Sicht ist es fruchtbarer, Begriffe durch Explikation herauszuarbeiten und in Nominaldefinitionen zu überführen. Wenn ich das richtig sehe, liegt gerade hier das Problem: es besteht keine einigung, wie die Explikation betrieben werden sollte, um zu einem möglichst hilfreichen Begriff von “Funktion” zu gelangen.

    “Ich habe mit Absicht ‘sterben kann’, nicht sterben muß geschrieben. Auch Einzeller können sterben. Alles, was wir heute Lebewesen nennen, kann sterben. Interessant finde ich aber eben, daß nicht immer in unserer Kultur das als das entscheidende Kriterium galt, sondern Pflanzen, die ja sterben können, nicht als Lebewesen galten.”

    OK. Ich habe aber noch ein anderes Problem mit der Aussage. Was ist “sterben”? Das Aufhören von Lebensfunktionen? Dann hätten wir einen Zirkelschluss.

    Aber abgesehen davon finde ich Ihr Beispiel interessant, weil es deutlich macht, wie sehr wir doch von unseren Begriffen abhängig sind. Sie schreiben: “Pflanzen, die ja sterben können”. Ob Pflanzen sterben können, hängt davon ab, was wir als “Lebewesen” einordnen. Wenn wir davon ausgehen, dass nur Lebewesen sterben können, und Pflanzen früher nicht als Lebewesen eingeordnet wurden, dann konnten Pflanzen (logischerweise) auch nicht sterben. Es kann also durchaus sein, dass Menschen auch schon früher die “Möglichkeit zu sterben” als Kriterium für Leben angesehen haben und das wäre auch konsistent mit ihrem Weltbild gewesen.

  96. @Ludwig Trepl / Definitionen

    »Das gilt nur für Nominaldefinitionen, nicht für Realdefinitionen, und mit solchen haben wir es hier zu tun.«

    Insofern die Biologie als empirische Wissenschaft gilt, die befasst ist mit “Erfahrungsgegenständen”, welche auch der Kantschen Logik zufolge “bloß Nominalerklärungen erlauben”, wäre da vielleicht noch ein gewisser Klärungsbedarf.

    N.B. Der Hund heisst übrigens “Lassie” – geschrieben wie “Marjellchen” auf englisch.

  97. @ Morten

    Vielen Dank für den Kommentar. Damit kann ich was anfangen, allerdings bin ich in fast allem anderer Meinung.

    „Letztlich kann man aber beide Definitionen [der ätiologischen Funktion] hernehmen und damit arbeiten.“

    Gemeint sind auf der einen Seite die Auffassung von Wright/Millikan/Neander, auf der anderen die von McLaughlin. Das stimmt schon irgendwie, aber die Behauptung der sog. Theorie der ätiologischen Funktion (Wright/Millikan/Neander) ist, daß sich die ätiologischen Funktionen reduzieren lassen auf Mutations-Selektionsprozesse. McLaughlin hat darauf hingewiesen, daß wir eben diesen Funktionsbegriff auch anwenden, wo es gar keine Selektionsgeschichte gibt. Das heißt nicht, daß man mit einer Selektionsgeschichte nicht die Entwicklung eines Funktionsträgers zu seiner jetzigen Beschaffenheit erklären kann, aber es heißt, daß der Begriff der ätiologischen Funktion mehr umfaßt. – Es gibt aber eine Kritik (z. B. von Schark, ich habe in einer Fußnote darauf hingewiesen), daß die Reduktion auf Evolution (auf Kausalprozesse) schon deshalb nicht gelingen kann, weil dabei der Funktionsbegriff bereits vorausgesetzt werde. Ich bin mir darüber noch nicht im klaren.

    „Über Definitionen kann man gar nicht (sinnvoll) streiten – man kann sich nur darauf einigen“

    Das gilt nur für Nominaldefinitionen, nicht für Realdefinitionen, und mit solchen haben wir es hier zu tun.

    „Nicht die Biologie definiert Begriffe, sondern Menschen tun dies. Und sie können definieren, was sie wollen.“

    Was sie wollen eben nur dann, wenn es sich um Nominaldefinitionen handelt (und auch dann nicht ohne weiteres), aber darum geht es hier, wie gesagt, nicht. Daß „die Biologie definiert“ heißt natürlich nicht, daß das nicht Menschen tun. Gemeint ist, daß man mit den Mitteln der Biologie, d. h. dem für sie konstitutiven Begriffsapparat, Leben/Lebewesen nicht definieren kann, so wie man z. B. mit den Mitteln der Chemie nicht „Kubismus“, „Hinduismus“ oder „Bürgerkrieg“ definieren kann, sondern da braucht man Begriffe anderer Wissenschaften. Hier war aber die Behauptung, daß die Biologie den Begriff Lebewesen voraussetzt und daß er ein lebensweltlicher Begriff (nicht ein Begriff anderer Wissenschaften) ist.

    „Ich kann mit nicht vorstellen, dass ein Evolutionsbiologe ernsthaft behaupten würde, Leben sei “an sich” gut“.

    Es geht ja nicht darum, was der Evolutionsbiologe denkt, sondern was in der Kultur gedacht wird, in der (a) der Begriff des Lebewesens entsteht und (b) in der Lebewesen mit Organismen (also etwa: selbstreproduzierenden Systemen) identifiziert werden. Das war zu einer Zeit, als es noch keine Evolutionsbiologie gab.

    „Für mich ist mein Tod schlecht, für andere kann er gut sein.“

    Ja, eben. Ich habe, wenn auch immer mit Fragezeichen, argumentiert, daß es keine allgemein-menschlich, genetisch bedingte Eigenschaft ist, den Tod für etwas Schlechtes zu halten, sondern daß das Ergebnis bestimmter Denkprozesse ist, die sich in kulturellen Denksystemen (z. B. Religionen) abspielen. Wenn für die allermeisten Menschen in einer bestimmten Kultur der Tod schlecht ist, dann wird das die von Schark genannten Auswirkungen auf das haben, was man als „gut“ für die Lebewesen ansieht: das, was ihr Leben erhält.

    „’Wann würden wir ein Naturding ein Lebewesen nennen? Wenn es sterben kann.’ Diese Definition würde ich eher nicht akzeptieren, da ich (potentiell) unsterbliche Naturdinge wie die Hydra oder viele Einzeller nicht ausschließen möchte 🙂

    Ich habe mit Absicht „sterben kann“, nicht sterben muß geschrieben. Auch Einzeller können sterben. Alles, was wir heute Lebewesen nennen, kann sterben. Interessant finde ich aber eben, daß nicht immer in unserer Kultur das als das entscheidende Kriterium galt, sondern Pflanzen, die ja sterben können, nicht als Lebewesen galten.

    „Die Grenze, was ein Organismus ist, ist meines Wissens allerdings auch nicht so einfach zu ziehen. … Ameisenkolonie …“

    Das ist richtig. Ich würde sagen, daß ein Ameisenvolk ein Organismus höherer Ordnung ist, so wie ein Mehrzeller auch, der ist ja nichts anderes als eine Population von Einzellern, die kooperieren und räumlich beieinander geblieben sind. – Man darf den Organismusbegriff nicht für einen Klassenbegriff halten, d. h. daß es definierende Merkmale gibt, die einem erlauben zu sagen: etwas ist einer oder es ist keiner. Sondern es handelt sich um einen Typenbegriff. Typen haben einen Kern und einen Rand, und weder zwischen Kern und Rand noch zwischen Rand und dem Außen gibt es eine scharfe Grenze.

  98. Definitionen

    Guten Tag Herr Trepl,

    ein paar Gedanken:

    “‘Ätiologische Funktion von etwas’ kann also nicht bedeutungsgleich damit sein, daß dieses Etwas im Zuge einer Kette von Mutationen und Selektionen auf diese Funktion entstanden ist. Die Organismuskomponente oder -eigenschaft muß nur aktuell ‘gut’ für den Organismus sein, wenn wir von der Funktion für den Organismus sprechen sollen.”

    Die beiden Definitionen des Begriffs “Funktion” mag man halt gegenüberstellen. Je nach Definition, die ich als gegeben hinnehme, fällt mein Urteil im Einzelfall dann anders aus. Ich sehe da kein Problem. Die Verwirrung kommt m.E. nur dadurch zustande, dass der ätiologische Begriff den Geigeschmack eines von außen “bewusst und absichtlich” einwirkenden Agenten hat, und dies wird zu Recht in den Naturwissenschaften abgelehnt (da sie nur Vorgänge innerhalb Ihres Forschungsgegenstands betrachten). Letztlich kann man aber beide Definitionen hernehmen und damit arbeiten. Eine Nase dient dem Atmen (ätiologisch). Oder aber hat sich stammesgeschichtlich herausgebildet, weil ein Selektionsdruck dafür vorlag. Oder beides. Solange im naturwissenschaftlichen Diskurs die gleiche Definition benutzt wird – kein Problem. Das betrifft auch Ihre Anmerkung [10]. Über Definitionen kann man gar nicht (sinnvoll) streiten – man kann sich nur darauf einigen (oder eben auch nicht, dann redet man aneinander vorbei).

    “Diesen ihren Gegenstand kann die Biologie selbst nicht definieren.”

    Ist mir hier nicht ganz klar. Nicht die Biologie definiert Begriffe, sondern Menschen tun dies. Und sie können definieren, was sie wollen. Wenn sich mehrere Menschen auf die gleiche Definition einigen, können sie sogar produktiv darüber miteinander sprechen.

    “Wären wir davon überzeugt, daß der Tod der Zweck des Lebens ist, oder hielten wir ihn für etwas grundsätzlich Erstrebenswertes, dann würden auch unsere Funktionsbestimmungen in Reiche des Organischen ganz anders ausfallen als sie es tatsächlich tun.”

    Ich habe generell Probleme mit der Aussage, “wir” würden den Tod bzw. das Leben für etwas Gutes/Schlechtes halten. Wenn ich mich selbst betrachte, halte ich mein Leben sicher für etwas Gutes. Warum das so ist, würde ich eher als psychologische Fragestellung sehen. Da wir hier aber vor allem über Biologie reden, sieht das m.E. anders aus. Ich kann mit nicht vorstellen, dass ein Evolutionsbiologe ernsthaft behaupten würde, Leben sei “an sich” gut, da er erkennt, dass es (höhere) biologische Evolution nur durch den Tod von Organismen geben kann. Es kommt also ganz darauf an. Für mich ist mein Tod schlecht, für andere kann er gut sein.

    “Ein Einwand drängt sich sofort auf: Auch wenn alle Lebewesen auf der Erde beschrieben wären und sich herausgestellt hätte, daß sie alle von dieser Definition erfaßt werden, so ist es doch nicht ausgeschlossen, daß es Naturdinge gibt, die jene Definition nicht erfüllen und bei denen wir uns doch genötigt sähen, von Lebewesen zu sprechen.”

    Den Teil mit “genötigt sehen” habe ich nicht verstanden. Entweder, wir halten an der Definition fest – dann wären diese neu erkannten Naturdinge eben keine Lebewesen (ist ja so definiert). Oder wir ändern die Definition, weil wir denken, dass die neue Definition nützlicher für unser Weltenmodell ist – Problem gelöst.

    “Wann würden wir ein Naturding ein Lebewesen nennen? Wenn es sterben kann.”

    Diese Definition würde ich eher nicht akzeptieren, da ich (potentiell) unsterbliche Naturdinge wie die Hydra oder viele Einzeller nicht ausschließen möchte 🙂

    “Und wenn wir das Weiterleben wertschätzen, dann ist dieses Lebewesen ein Organismus, ein Gebilde, in dem die Teile fürs Ganze, d. h. für dessen Weiterleben funktional sind, u. d. h. zweckmäßig für dieses funktionieren.”

    Die Grenze, was ein Organismus ist, ist meines Wissens allerdings auch nicht so einfach zu ziehen. Es wird oft davon gesprochen, dass eine Ameisenkolonie eher einem einzelnen Organsimus ähnelt, statt einer Population aus Einzelindividuen. Um Ihre Frage zu beleuchten, müsste man vielleicht auch den Begriff “Organismus” näher definieren.

    Grüße,
    Morten

  99. “Ihr Artikel will in Organismen vor allem Selbsterhaltungsautomaten sehen.”

    Wie kommen Sie denn darauf? Oder darauf:

    “Auch die Fragen im letzten Abschnitt rühren meiner Ansicht nach von einer Sinsuche, einer Teleologie, die es in biologischen Systemen in für uns verständlicher Art nicht gibt”.

    Ich habe keinen Satz geschrieben, der sich in diesem Sinne deuten ließe, selbst mit der allergrößten Mühe schafft man das nicht. Vielleicht lesen Sie den Artikel erst mal, statt ihn nur zu überfliegen, bevor Sie sich ans Kommentieren machen.

    “Vielleicht kann man evolutionsbiologisch erklären, warum das Schachspiel für viele Menschen eine interessante Beschäftigung ist, vielleicht aber auch nicht oder nur ganz am Rande. Es können sich eben Dinge und Prozesse entwickeln, die ihre eigene Gesetzmässigkeit haben und wo es müssig ist und nichts bringt das auf evolutionsbiologische Grundlagen zurückzuführen.”

    So ungefähr meine ich das auch, und das kann man dem Artikel auch entnehmen. Dazu ist es aber nötig, daß man ihn liest.

  100. @Trepl : Selbsterhaltung ein Aspekt

    Ihr Artikel will in Organismen vor allem Selbsterhaltungsautomaten sehen. So kann man das sehen, aber andere Sichten sind genauso gerechtfertigt wie ich in meinem Kommentar ausgeführt habe. Biologische Organismen wissen selbst nicht warum sie so sind wie sie sind. Sogar was die Organe betrifft dienen nicht alle der Selbsterhaltung. So machen die Geschlechtsorgane nur Sinn, wenn es ein anderes Geschlecht gibt und dass es ein anderes Geschlecht gibt und dementsprechende Geschlechtsorgane geht über die reine Aufrechterhaltung der Körperfunktionen zum Zwecke der Lebenserhaltung hinaus. Nur schon darum ist die Sicht, ein Organismus wolle vor allem seinen eigenen Tod verhindern, zu eng.
    Organismen folgen letztlich einem Programm, das sie selbst nicht verstehen und dessen Funktion vieles umfassen kann, unter anderem auch die Selbsterhaltung.

    Auch die Fragen im letzten Abschnitt rühren meiner Ansicht nach von einer Sinsuche, einer Teleologie, die es in biologischen Systemen in für uns verständlicher Art nicht gibt:
    “Aber wieso, auf welcher Ebene, in welchem Sinne halten wir das Weiterleben für etwas Erstrebenswertes? Was ist die Relevanz von evolutionsbiologisch erklärbaren Gefühlen, was die Relevanz kultureller Denksysteme, zu deren Erklärung die Evolutionsbiologie nichts beiträgt?”

    Meiner Ansicht nach lässt die Evolution Lebensformen, Lebensweisen und Beschäftigungen zu, die nicht direkt und vielleicht überhaupt nicht mit der Evolution erklärt werden können. Die Evolution ist praktisch ein “Hintergrundsprozess” – ein Prozess der andere parallel laufende Prozesse erlaubt. Vielleicht kann man evolutionsbiologisch erklären, warum das Schachspiel für viele Menschen eine interessante Beschäftigung ist, vielleicht aber auch nicht oder nur ganz am Rande. Es können sich eben Dinge und Prozesse entwickeln, die ihre eigene Gesetzmässigkeit haben und wo es müssig ist und nichts bringt das auf evolutionsbiologische Grundlagen zurückzuführen.

  101. @ Martin Holzherr

    Klingt interessant, und vielem könnte ich zustimmen. Mich würde aber interessieren, in welchem Verhältnis es zu meinem Artikel steht. Wo meinen Sie, mir zu widersprechen, wo, mich zu bestätigen, wo einen Gedanken weiterzuführen?

  102. Every heartbeat saves your life


    You’re walking. And you don’t always realize it,
    but you’re always falling.
    With each step you fall forward slightly.
    And then catch yourself from falling.

    Organismen sind nie in einem statischen Gleichgewichstzustand – ausser wenn sie tot sind.
    Jeder Augenblick des Lebens ist ein Augenblick in einem Prozess – einem Prozess der Abweichungen vom Soll auszugleichen versucht. Das wesentliche am Leben und am Organismus, der lebt, ist gerade dieser Prozess, der durch ständige Aktivität das Leben fortsetzt. Auf der untersten Ebene werden aktive Gene ausgelesen und – unter anderem – in Proteine übersetzt, die es gerade braucht. Auch die Aktivität der Gene wird dynamisch reguliert. Auf höherer Ebene halten miteinander kommunizierende Organe den Prozess in “Schwung”.

    Damit haben meiner Ansicht nach viele klassische Philosophe Mühe – dass nicht eine Substanz, ein Substrat das Leben oder Dinge, die wir z.B. Geist nennen, konstituieren, sondern Prozesse.
    Wie entsteht aber ein Organismus im Rahmen der Evolution. Oder besser gesagt wie entstehen Organe wie befiederte Flügel, Kreislaufpumpen, Lungen, etc. Die Evolution der Vogelfeder demonstriert, dass die Feder nicht entstand damit Vögel fliegen können. Ursprünglich dienten Federn als neue Hautanhangsgebilde dem Wärmeschutz und ästhetischen Zwecken bei Therapoden (Dinosauriern). Die Eigenschaften der Feder (Leichtigkeit und zugleich Festigkeit) machten sie später zu einem idealen Bestandteil von Flügeln. Flügel wiederum entstanden möglicherweise bei Baumspringern, also Tieren, die von Bäumen heruntersprangen. Die Vorfahren der Vögel hatten bereits Federn und diese erleichterten in Kombination mit der Umbildung der Gliedmassen den Gleitflug.
    Ohne dieses Wissen könnten wir Vögel als Ergebnis eines Designs sehen, das einen flugfähigen Organismus schaffen wollte. Doch dieser Eindruck täuscht. Es ist vielmehr so, dass eine Kombination von Zufällen in Kombination mit mehreren Selektionsprozessen schliesslich einen Organismus entsehen liessen, der scheinbar auf einen bestimmten Zweck hin angelegt ist. Wer will kann den Organismen einfach als halbwegs stabile Ausformungen, Materialisationen innerhalb des Evolutionsprozesses sehen. Man kann aber mit gleicher Bereichtigung den Organismus selbst in den Mittelpunkt stellen und die Organe und alle auf tieferen Ebenen ablaufenden Prozesse als das Wesentliche sehen. Damit würde dann die Lebenserhaltung des konkreten Organismus im Vordergrund stehen und die ganze Geschichte mit den Nachkommen wäre ein begleitender Vorgang – ein Vorgang auf den der Organismus, den wir gerade im Visier haben, auch verzichten könnte ohne dass dies ihm unbedingt schaden würde.
    Die Evolution spielt in dieser Sicht erst a posteriori eine Rolle und zwar darum, weil es ohne Fortpflanzung und ohne Variation und Selektion gar keine Zukunft und letzlich auch keine Gegenwart geben würde, denn auch die Gegenwart ist Ergebnis einer Geschichte und akkumuliert das Wissen von vielen Vorläufergenerationen.
    Den gleichen Standpunkt können wir aber auch wiederum gegenüber Organismen an und für sich einnehmen. Wir könnten wiederum den momentan beobachteten Organismus in den Vordergrund stellen und alle Prozesse, die in diesem Organismus ablaufen als funktionell für die momentane Aufgabe ansehen – zum Beispiel für das Klettern auf einen Baum oder für das Abnagen eines Knochens. Ob der Organismus morgen auch noch existiert, könnte uns als Beobachter egal sein.
    In Wirklichkeit koexistieren all diese Perspektiven. In einer Gesamtsicht muss der Organismus mit den momentanen Anforderungen zurechtkommen, es scheinen aber auch Programme in ihm abzulaufen, die dafür sorgen, dass seine Leben länger als nur einen Tag oder länger gar als ein Jahr dauert. Ferner laufen in allen fruchtbaren Organismen auch Programme, die für den Fortbestand der Art sorgen. Genial an der Evolution ist ja, dass es sie überhaupt nicht stört, wenn Organismen die Fortpflanzung verweigern – und zwar darum, weil die verschiedene Arten und Organismen weitgehend autonom und unabhängig voneinander sind – mindestens in einem System mit vielen und ganz verschiedenen Lebensräumen. Es gibt also kein Netz, kein Lebensmycel das alles verbindet und welches, wenn einmal “infiziert” in einem Dominoprozess alles zum Verschwinden brächte. Selbst ein Weltuntergangsereignis, welches die gesamte Oberfläche des Planeten Erde radikal verändern würde, würde das evolutionär verstandenen Leben kaum völlig auslöschen: es gäbe Überlebende in unterirdischen Höhlen- oder in jetzt von hunderten Metern Eis überdeckten Seen.
    Nun könnte man wieder fragen: Warum gibt es kein solches Lebensmycel oder ein Netz an dem alle Lebewesen angeschlossen sind und das sie brauchen um zu überleben. Die Antwort ist wiederum ganz einfach. Es könnte sich ein solches Netz ausgebildet haben. Aber es wären niemals alle Lebewesen an diesem Netz beteiligt, denn 1) Hat die Ausbildung des Netzes einen evolutionären Ausgangspunkt und denselben Ausgangspunkt haben andere Lebewesen nicht und 2) bringt es immer auch Vorteile für gewisse Lebewesen eben nicht “mitzumachen” sondern z.B. einen kargen Lebensraum unangefochten für sich zu haben.