Naturalismus und Relativismus

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Unsere Umwelt zwischen Kultur und Natur
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Das naturwissenschaftliche Denken (im methodologischen Sinne verstanden, also im wesentlichen „science“) richtet sich per definitionem nur auf das Sein, es gehört in die Sphäre dessen, was man einst „theoretische Philosophie“, im Unterschied zur praktischen, genannt hat. Sollen – das, womit sich die praktische Philosophie befaßt – kommt allenfalls als bedingtes vor: Wenn man ein bestimmtes Ziel erreichen will, dann sind, aufgrund der jeweils herrschenden Ausgangsbedingungen und der geltenden Naturgesetze, bestimmte Mittel anzuwenden. Man muß dies nicht, man soll es nur, die Regeln, die sich auf Zweck-Mittel-Relationen beziehen, sind ja keine Naturgesetze, die vor/beschreiben, was (unter bestimmten Bedingungen) immer geschieht. Aber wenn man jene Regeln nicht befolgt, dann wird das Ziel nicht erreicht werden. Dieses bedingte Sollen zu ermitteln ist eine Sache theoretischer Erkenntnis (und in der szientifischen Zuspitzung: naturwissenschaftlicher Erkenntnis, denn andere Objektwissenschaften, z. B. die Soziologie oder die Ökonomie, lassen sich ja, wie man in der wohl häufigsten Variante der szientifischen Ideologie – meist spricht man von Positivismus – meint, auf Naturwissenschaften reduzieren).

Die Ziele aber, es sei denn, sie seien wiederum Mittel für andere Ziele, sind keine Sache der Erkenntnis, sondern der individuellen Entscheidung und der kollektiven Vereinbarung[1]. Man könne nicht wissenschaftlich feststellen, daß es diesen oder jenen Wert, auf dem die Zielformulierung beruht, objektiv gibt, so daß man seine Gültigkeit erkennen könnte. Werte denkt man sich der positivistischen Ideologie zufolge vielmehr aus und entscheidet sich für sie, man findet sie nicht. Man findet ein Naturgesetz oder ein empirisches Ding. Wenn es so etwas wie letzte Werte und damit ein unbedingtes Sollen gibt, wenn es also nachweisbar sein soll, dann wiederum nur als Faktum, als etwas nachweislich Vorliegendes: als Meinung darüber, was unbedingt sein soll; die ist ja in der empirischen Welt anzutreffen.

Diese Auffassung, wenn auch nicht in der szientifischen Gestalt, welche die Entwicklung der modernen Naturwissenschaften und der positivistischen/empiristischen und utilitaristischen Philosophien zur Voraussetzung hat, ist uralt. So argumentierten schon die Gegner des Sokrates. Der (bzw. Plato) aber widersprach. Wissenschaft wurde dabei verstanden im alten, noch vor ca. 200 Jahren weithin üblichen Sinn, nämlich im Sinne eines sicher, d. h. methodisch begründeten Wissens, im Unterschied zur bloßen Empirie, die sich darauf beruft, was man bisher alles gefunden hat, und zur ungeprüften Meinung. Und diese Wissenschaft ist gerade im Hinblick auf die letzten Ziele möglich, die wir uns setzen sollen, d. h. auf dem Gebiet der Ethik. Diese Ziele hängen nicht davon ab, was faktisch getan wird oder bisher immer als richtig angesehen wurde, auch nicht von den Meinungen einer möglichst großen Menge oder der Mächtigen, sondern sie sind als gültig begründbar oder eben nicht. Die Gründe, den Schierlingsbecher zu trinken, überzeugten Sokrates. Die Meinung der Freunde, die ihn retten wollten und die sich wiederum auf die Meinung der Menge berief, die zu erwarten war, wenn sie ihren Meister umkommen ließen, fiel demgegenüber nicht ins Gewicht.

Man mag nun die Gründe des Sokrates für wenig überzeugend halten. Hier kommt es aber nur darauf an, daß er sich überhaupt auf Gründe berief, daß er der Auffassung war, eine bestimmte Handlungskonsequenz folge aus einer Erkenntnis über unbedingtes Sollen, nicht aus irgendeiner Faktizität, etwa daß man etwas immer so gemacht hat oder daß überwältigend viele irgendeiner Meinung sind. Im Rahmen des szientifischen Naturalismus ist das überhaupt nicht zu verstehen, weil Erkenntnis immer nur Erkenntnis von Faktischem ist. Man kann sich in diesem Rahmen die Haltung des Sokrates vielleicht psychologisch erklären, aber nicht nachvollziehen in dem Sinne, daß man eventuell praktisch (von der Vernunft) genötigt sein könnte, seine Schlußfolgerung für richtig zu halten. Denn der Gedanke, daß es in diesen Fragen eine durch Vernunft verpflichtende Wahrheit geben könne, ist hier unmöglich.

Dazu einige weitere Überlegungen:

 

Warum muß der Naturalismus zum Relativismus führen?

Wenn alle wahre Wissenschaft Naturwissenschaft ist, wie der szientifische Naturalismus glaubt, dann gibt es Wissenschaft nur von dem, was ist, vom Sein. Das Sollen, vom bedingten abgesehen, liegt definitionsgemäß außerhalb dessen, was für die Naturwissenschaft (bzw. für die Objektwissenschaft überhaupt) Gegenstand werden kann. Der Szientismus kann damit auf eliminative Weise umgehen (Geert Keil). Dann handelt es sich beim unbedingten Sollen um Illusionen, die man tunlichst als solche erkennen und dann aufgeben sollte; vor allem in den Diskussionen um die philosophischen und rechtlichen Konsequenzen, die aus der neueren Hirnforschung zu ziehen sind, ist das heute eine sehr verbreitete Meinung. Der Szientismus kann damit aber auch auf reduktionistische Weise umgehen (ebd.). Dann wird das, was für das unbedingte Sollen gilt, hergeleitet aus etwas den Objektwissenschaften (positiven Wissenschaften) Zugänglichem. Besonders beliebt ist neuerdings die evolutionsbiologische Herleitung in dem Sinne, daß der Glaube an das unbedingte Sollen in irgendeiner Weise lebensdienlich (bzw. den Selektionswert steigernd) sei. Hierher gehören aber auch gesellschaftswissenschaftliche Erklärungen der Art, daß die Auffassungen davon, was das Gesollte jeweils ist, immer Ideologie sind und nur dies: Es gibt sie wegen irgendeiner sozialen Funktion. Meist liegt diese in der Selbstrechtfertigung dessen, was man aus durch die Klassenlage bedingten Interessen heraus ohnehin tut oder tun möchte.

Ein Ergebnis des Sehens allen moralischen Urteilens nur in seiner Faktizität ist notwendigerweise die Erkenntnis, daß es eine Vielzahl von unterschiedlichen Auffassungen gibt, deren jeweilige Beschaffenheit sich im allgemeinen aus der jeweiligen Kultur erklären läßt. Was man doch als allgemein-menschlich feststellen mag (falls man das überhaupt feststellt), ist dann durch die gemeinsame biologische Evolution der Spezies Homo sapiens bedingt, also durch zufällige Umweltwirkungen auf historisch zufällige Genome bzw. Genpools von Populationen bedingt. Ein unbedingtes Sollen kann das nicht sein: Wäre die Geschichte anders gelaufen, gäbe es andere allgemein-menschliche Auffassungen davon, was man soll.

 

Warum können wir den Relativismus nicht ernsthaft wollen?

Man muß, wenn man den Relativismus kritisieren will, zunächst zugestehen, daß er eine wichtige aufklärerische Funktion hatte und teils auch noch hat. Sie lag in der Ideologiekritik. Die Wissenschaften, die sich mit dem Zusammenleben der Menschen befassen – vor allem die Rechtswissenschaften, die Staatslehre –, waren bis ins 20. Jahrhundert hinein ganz überwiegend Normenwissenschaften. Sie stellten in verschiedener Weise Systeme auf, die zeigen sollten, was normativ richtig ist und sie versuchten zu begründen, daß das, was faktisch an Normen und darauf bezogenen sozialen Institutionen besteht, zu Recht besteht. Die positive Wissenschaft, die sich der Wirklichkeit des Rechts, des Staates, der Gesellschaft zuwandte, konnte aber aufdecken, in welchem Maße es sich bei dem als objektives Sollen Behaupteten nur um verschleiertes Interesse handelt.[2] (Historisch wirksam waren aber in dieser Hinsicht weniger positive Wissenschaften wie die Rechtssoziologie als, vorher schon, ideologiekritische Philosophien, vor allem die von Marx und Nietzsche.)

Mir scheint, diese ideologiekritische Wirkung ist inzwischen überwiegend umgekippt in eine selber ideologische. Denn diese Art der Kritik vergißt die kritische Funktion, die die kritisierte Normenwissenschaft ihrerseits hatte: Sie legitimierte nicht nur den faktischen Zustand, sondern sie maß auch den faktischen Zustand an – zumindest dem Anspruch nach – begründeten Ideen davon, was der normativ richtige Zustand wäre. Können diese Ideen nicht mehr als wahr[3] und damit verpflichtend gedacht werden, dann gibt es kein Maß mehr, um den faktischen Zustand zu kritisieren. Den faktisch bestehenden Werten und Normen ist zwar ihr Anspruch, absolut, also jenen Ideen gemäß zu sein, zerstört worden. Aber es ist auch kein Argument mehr möglich, warum sie denn nicht weiter bestehen sollten.

 

Aus dem erkenntnistheoretischen Relativismus wird auf der politischen Ebene der Pluralismus. Diesen, entstanden im Liberalismus der Aufklärungszeit, setzte man zunächst dem Absolutheitsanspruch des Bestehenden entgegen; jeder sollte seine eigene Meinung haben und äußern dürfen. Aber wenn dem Pluralismus „jegliche Meinung und jegliches Wollen als prinzipiell gleich relativ, gleich berechtigt, im gleichen Grade sicherer Begründbarkeit entbehrend“ (Wagner, 78) gilt, dann gilt die Meinung und das Wollen, jenen berechtigten Pluralismus abzuschaffen, die Rechte des Menschen mit Füßen zu treten, genauso viel wie das Gegenteil. Die Formel „keine Freiheit für die Feinde der Freiheit“ wirkt willkürlich und gegen die Berufung dieser Feinde auf ihre Freiheit hilflos.

Als Forderung nach Freiheit der Meinung funktioniert der Pluralismus nur, wenn man berücksichtigt, was der Begriff Meinung impliziert: Jede Meinung beansprucht, die richtige zu sein; tut eine Aussage dies nicht, kann man sie überhaupt nicht die Äußerung einer Meinung nennen. Die Meinung beansprucht also, den Forderungen der Vernunft gemäß zu sein (sie ist sich nur nicht sicher, weiß, daß sie sich nicht objektiv begründen läßt, sonst würde sie sich nicht Meinung, sondern Glaube oder gar Wissen nennen). Die Freiheit der vielen verschiedenen Meinungen steht damit aber unter dem Vorbehalt, die eigene Meinung aufzugeben, wenn sie einem überzeugend als falsch nachgewiesen wird. Ohne die Bindung der Idee der Meinungsfreiheit an die der richtigen Meinung hebt sich die Meinungsfreiheit selber auf: Die Meinung, eine Meinung nicht zu tolerieren, muß ja auch toleriert werden. Man kann dieser Meinung nur noch sein Interesse an der Freiheit der abweichenden eigenen Meinung entgegensetzen, man kann aber kein Argument mehr beibringen, warum diejenigen, die der Meinung sind, Meinungsfreiheit solle es nicht geben, dieses Interesse berücksichtigen sollten. Sie handeln ja so, wie ihrer freien Meinung nach zu handeln ist. Macht ist dann das Einzige, was eine Berücksichtigung erzwingen kann. (Man könnte das den „amerikanischen Weg“ nennen: Ihr könnt die Freiheit mit Füßen treten wie man es in Saudi-Arabien tut, dagegen haben wir nichts, aber wenn ihr unsere Freiheit bedroht, dann bombardieren wir euch.)

 

Warum ist der Relativismus nicht nötig?

Der szientifische Naturalismus führt notwendig zum Relativismus in ethischen Dingen. Die Folgen sind, wie gesehen, nicht wünschenswert, auch für den Relativisten selbst nicht. Aber läßt sich denn eine andere Position als die relativistische in diesen Fragen überhaupt begründet einnehmen? Es ist nicht zu leugnen, daß das, was als Wahrheit angesehen wird, sehr variabel ist. Das ist eine Tatsache, sie ist beobachtbar, und wenn, wie der Naturalismus glaubt, als wissenschaftliches, d. h. auf seine Zuverlässigkeit geprüftes Denken nur das gelten kann, was sich mit Tatsachen befaßt, dann ist jene Tatsache unverrückbarer Ausgangspunkt. Nun könnte ja, sollte man meinen, auch der Naturalismus zu der Auffassung kommen, daß das, was als Wahrheit angesehen wird, eben wissenschaftlich zu prüfen ist, so daß dann doch nicht alle Meinungen „im gleichen Grade sichere Begründbarkeit entbehren“.[4] Manche haben die Prüfung nicht bestanden. Die Prüfung geschieht (außer durch Beachten der inneren Konsistenz) durch den Vergleich der Meinung mit den Tatsachen; die muß man durch Beobachtung feststellen. Eben das ist aber auch dem Naturalismus zufolge in Fragen der Ethik nicht möglich. Denn die divergierenden Meinungen behaupten hier nichts über Tatsachen, nichts darüber, wie etwas ist, sondern wie etwas sein soll. Naturalistisches Denken kann gar nicht anders, als die Feststellung der Variabilität des auf diesem Gebiet für Wahrheit faktisch Gehaltenen für das letzte Wort zu halten.

 

Gestützt wird das seit geraumer Zeit auf einer ganz anderen Ebene: Der wissenschaftlich denkende Mensch schämt sich. Er schämt sich dafür, daß er wissenschaftlich denkt und dadurch mächtig ist. Seine Kultur, die „westliche“, herrscht über die Welt. Kompensiert wird die Scham dadurch, daß man dort, wo das wissenschaftliche Denken nicht hinreicht, bei den Meinungen über Werte und Normen, den anderen Kulturen ihre Meinungen läßt. Damit hat man sich vom „Eurozentrismus“ losgesagt und ist exkulpiert.

Dieser Gedankengang erfaßt nicht ganz selten die Naturwissenschaft selbst. So naturalistisch der Zeitgeist ist – die Naturwissenschaft gilt dem Zeitgeist, gilt der intellektuellen Mode keineswegs als dem mythischen Denken überlegen. Der Naturalismus muß dann eine andere Form annehmen, er kann nicht mehr szientifisch sein. „Natur“ ist ihm nun, anders als dem rein methodologisch ansetzenden szientifischen Naturalismus, etwas Inhaltliches, und zwar etwas Wertsetzendes, und so können die Meinungen doch nicht alle gleich gelten. Je „naturnäher“ eine Kultur, desto näher an der Wahrheit, denkt man oft (und nennt das “ökologisch”). Doch im allgemeinen muß man nicht so weit gehen. Die Überlegenheit der modernen Naturwissenschaft ist durch die mittels ihrer mögliche Technik bewiesen. Für die Überlegenheit in Fragen der Ethik aber findet man einfach kein Argument. Die Geschichte der westlichen Welt und vor allem ihres Imperialismus spricht eher für das Gegenteil, und ein systematischer, methodisch kontrollierter Vergleich der ethischen Positionen auf ihre Wahrheit ist für den szientifischen Naturalismus von vornherein ausgeschlossen.

Für das Denken, also letztlich für die Wissenschaft ist er aber keineswegs ausgeschlossen. Seit über 2000 Jahren wird dieses Geschäft wissenschaftlich betrieben, die Standards waren und sind keineswegs niedriger als in den modernen Naturwissenschaften, die Präzision ist nicht geringer, der Horizont weiter. Und jeder betreibt dieses Geschäft täglich, wenn auch im allgemeinen nicht wissenschaftlich. Jeder diskutiert immer wieder seine Meinung zu ethischen Fragen mit sich und mit anderen. Diskutieren impliziert, davon auszugehen, daß es in der Frage der widerstreitenden Meinungen eine vernünftige Lösung gibt (sie kann auch darin liegen, daß die Suche nach der einen Wahrheit aufgrund der Fragestellung von vornherein nur ein Irrweg sein kann).

 

Und es kommt ja auch zu Entscheidungen in diesen Fragen, die nicht mehr rückgängig zu machen sind. Es gibt, anders als vielfach behauptet, einen Fortschritt, der nicht kleiner ist als der in Naturwissenschaft und Technik. Daß wir heute, anders als Sokrates, die Sklaverei ablehnen – gibt es einen, der der Meinung ist, dies sei geringer zu schätzen als der medizinische oder militärtechnische Fortschritt? Diese Ablehnung liegt nicht nur an einem wie auch immer zustande gekommenen Gefühl, sondern vor allem daran, daß es Gründe für sie gibt (und „Gefühl“ ist im allgemeinen nur ein hilfloses Wort für die Unklarheit der Gedanken, die die Gründe liefern, es handelt sich nicht um Gefühle von der Art der Körpergefühle oder irrationaler Gefühle wie „grundloser“ Panik.) Wir können nicht nachprüfen, ob die Gründe gegen seine Haltung zur Sklaverei dem Sokrates eingeleuchtet hätten, wenn sie ihm als Argumente vorgetragen worden wären. Aber wir können völlig sicher sein, daß sie ihm hätten einleuchten sollen. Denn die Argumente lassen sich prinzipiell als gültig erweisen, und dieser Nachweis ist in unserem Beispiel im Verlaufe der letzten zweieinhalb Jahrtausende geschehen. Daß ein solcher Nachweis nicht jedem an der Diskussion Beteiligten einleuchtet, liegt nicht daran, daß wir es mit einem grundsätzlich anderen Fall zu tun hätten als in den Naturwissenschaften, nämlich einer grundsätzlichen Unentscheidbarkeit durch die Vernunft, so daß letztlich nur dezisionistische „Lösungen“ möglich wären. Es liegt vielmehr daran, daß ein Argument selten für sich allein akzeptiert oder abgelehnt wird. Es liegt also daran, daß damit in der Regel die Entscheidung für oder gegen eine Fülle von für mehr oder weniger sicher Gehaltenem verbunden ist – nicht anders als in den Naturwissenschaften, wo, den neueren Wissenschaftstheoretikern zufolge, das experimentum crucis ja auch nicht gegen die Fülle der Einsprüche, die das erlernte Paradigma bereithält, ankommt.

Wir müssen und können also gar nicht auf die Entscheidbarkeit von Fragen des unbedingten Sollens verzichten. Auch wo wir sie zur Zeit nicht oder vielleicht nie entscheiden können (was wir nicht wissen können), haben wir doch immer schon unterstellt, daß sie entscheidbar sind, sowie wir anfangen, über sie zu streiten. Den Streit als ein Faktum kann auch der radikale Relativist nicht leugnen. Er kann aber behaupten, daß der Streit sinnlos ist, man pluralistisch jede Meinung tolerieren sollte. Er kann dies aber nicht tun, ohne in Widerspruch zu seinem eigenen alltäglichen Verhalten zu geraten. Denn er wird streiten – und wenn es nur um die Wahrheit seiner eigenen radikal relativistischen Behauptung geht.

 

Literatur:

Hans Wagner, Die Würde des Menschen. Wesen und Normfunktion. Königshausen und Neumann, Würzburg 1992.

 

Längere Passagen dieses Textes sind wörtlich aus dem Blog-Aufatz “Naturalismus und schöne neue Welt” übernommen.

 

[1] Im weitesten Sinn, so daß dann auch als Vereinbarung gilt, wenn jemand unter Zwang dem Willen eines anderen folgt – er müßte das ja nicht tun, er stimmt einem „Angebot“ zu, von dem er meint, „daß er es nicht abschlagen kann“, er könnte das aber.

[2] „Die positive Funktion des Rechtssoziologismus … beruht auf dem deutlichen und in der rechtssoziologischen Forschung sich bestätigenden Gefühl, daß die heutige Rechtswirklichkeit in vielen Stücken erheblich anders aussieht, als man nach den Systemen rechtstheoretischer Normendisziplinen glauben möchte.“ (Wagner, S. 84)

[3] Auf die sich zwischen Empirismus und Rationalismus (und in der Folge vor allem dem transzendentalphilosophischen Idealismus) entfaltenden Diskussion darüber, ob man bezogen auf Ideen überhaupt als wahr sprechen kann und diese darum als verpflichtend gedacht werden müssen oder ob man hier allein von „normativer Richtigkeit“ sprechen dürfe, gehe ich hier nicht ein. Ich halte mich an ersteres.

[4] „Was nicht als allgemein und absolut gültige Forderung der Vernunft nachweisbar ist, das kann nicht als allgemeine und unbedingt zu erfüllende Verpflichtung Anerkennung finden.“ (Wagner, S. 78)

 

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Ich habe von 1969-1973 an der Ludwig-Maximilians-Universität München und der FU Berlin Biologie studiert. Von 1994 bis zu meiner Emeritierung im Jahre 2011 war ich Inhaber des Lehrstuhls für Landschaftsökologie der Technischen Universität München. Nach meinem Studium war ich zehn Jahre lang ausschließlich in der empirischen Forschung (Geobotanik, Vegetationsökologie) tätig, dann habe ich mich vor allem mit Theorie und Geschichte der Ökologie befaßt, aber auch – besonders im Zusammenhang mit der Ausbildung von Landschaftsplanern und Landschaftsarchitekten – mit der Idee der Landschaft. Ludwig Trepl

286 Kommentare

  1. Maciej Zasada schrieb (22. Februar 2016 19:38):
    > @Frank Wappler
    > These
    > Die Selbstidentität der Dinge kann ausschließlich innerhalb des zeitlichen Kontextes ihrer Gegenwart behauptet werden. […]

    Leider ist diese These (und die weiteren Ausführungen) nicht erkennbar unter Benutzung der Begriffe formuliert, die ich (da ich persönlich angesprochen bin) gerne benutze, um Thesen zu formulieren, zu begreifen bzw. zu diskutieren, von denen ich mich angesprochen fühle; d.h. insbesondere Thesen betreffend geometrisch/kinematische Beziehungen (oder wie andere schon vor mir formuliert haben: „Alle unsere zeit-räumlichen Konstatierungen …“).

    Ich sehe mich also vor die Herausforderung(en) gestellt

    – zu versuchen, zitierte These (und die weiteren Ausführungen) in die Begriffe zu übersetzen, mit denen ich mich auszukennen meine,

    – dann zu beurteilen, ob eine solche Übersetzung überhaupt konsistent möglich ist,

    – und falls nicht, welche Schlussfolgerungen sich für die zitierte/gegebene These(n) bzw. Argumentation, die zugrundegelegten Begrifflichkeiten und/oder mein Talent zur Übersetzung zu ziehen sind.

    (Das erscheint ziemlich mühsam bis aussichtslos. Und wir haben das an anderer Stelle schon einmal ziemlich weit verfolgt; es ist vielleicht nicht nötig, hier nochmal das ganze Fass aufzumachen.)

    Allerdings sind die mir gefälligen Begriffe ja nicht ganz willkürlich, sondern so gewählt, dass (sowieso) jedem zuzugestehen und zuzutrauen ist, sie zu begreifen, und (sogar) selbst einzusetzen.
    Also nehme ich mir (zunächst) besonders diejenigen Stellen der Darlegungen vor, für die die Übersetzungsarbeit besonders einfach erscheint, weil sie offenbar u.a. die mir gefälligen Begriffe gebrauchen:
    unterscheidbare Beteiligte und deren Feststellungen hinsichtlich Koinzidenz (oder andernfalls Nicht-Koinzidenz).

    > […] behaupten, dass zwei Menschen, die sich in einem Haus begegnen, dieselbe Gegenwart teilen.

    Zwei Beteiligte, die sich (im Vorübergehen) begegneten/trafen, konnten („bei“ bzw. „wegen“ dieser Koinzidenz) zumindest im Prinzip Mehreres teilen: alles was jeweils der eine Beteiligte „dabei“ wahrgenommen hatte, hätte auch der andere „dabei“ wahrnehmen können. Im Einzelnen:

    – insbesondere ihre gegenseitig koinzidenten Wahrnehmungen: dass jeweils der eine den anderen wahrnahm, und zusammen damit (d.h. der selben Anzeige zugeordnet, entsprechend Pingdauer Null) die Wahrnehmung, dass das so vom anderen wahrgenommen wurde,

    – und zusätzlich alle weiteren dabei/koinzident gemachten Wahrnehmungen von anderen (Koinzidenz-)Ereignissen,

    – und zusätzlich die gesamten Gedächtnisinhalte (einschl. Beurteilungen von Koinzidenz bzw. Reihenfolge) der Beteiligten.

    Was davon wäre mit dem fraglichen, rätselhaften Begriff „Gegenwart“ zu übersetzen; falls überhaupt?

    > aber, dass es die Gegenwart des Sonnensystems nicht gibt.
    Hier handelt es sich beispielhaft um Beteiligte („Sonne“, „Planeten“), die entschieden nicht koinzident (sondern stattdessen paarweise stets „voneinander getrennt“) waren;
    für die aber (trotzdem) gilt, dass sie sich paarweise gegenseitig wahrnahmen; allerdings jeweils mit von Null verschiedenen, aber endlichen Pingdauern.

    Es gab und gibt kein (im Prinzip beobachtbares Koinzidenz-)Ereignis, das von einem bestimmten Bestandteil des Sonnensystems wahrgenommen werden konnte, von einem anderen aber nicht;
    jedenfalls so fern und so lange diese Bestandteile dahingehend als „System“ gelten, dass sie sich gegenseitig wahrnehmen („Pings austauschen“) können und nicht z.B. „hyperbolisch voneinander weg beschleunigen“.

    Und für diese Bestandteile des Sonnensystems gäbe es solche fragliche, rätselhafte „Gegenwart“ (zumindest insgesamt, oder auch paarweise, oder sogar einzeln?) nicht …

    p.s.
    > Gleichzeitigkeit […]

    … bezeichnet eine (mögliche) Beziehung jeweils zwischen Anzeigen von zwei (geeigneten, nämlich gegenüber einander ruhenden) einzelnen Beteiligten.

    Zur Beschreibung der Beziehung zwischen zwei ganzen Ereignissen eignet sich die Bewertung „gleichzeitig (oder ansonsten nicht gleichzeitig)“ dagegen nicht, denn für jedes einzelne Ereignis sind zahlreiche verschiedene, nicht gegenüber einander ruhende Beteiligte denkbar, und eventuell sogar auffindbar, die („dabei“, „im Vorübergehen“) koinzident waren.

    > […] es wird immer möglich sein, einen Raum S’ zu konstruieren, der im S enthalten ist

    Das wäre allenfalls nachvollziehbar und möglicher Weise überzeugend, falls eine entsprechende Konstruktion ausdrücklich (und natürlich unter Benutzung gefälliger Begriffe) beschrieben würde.

    • @Frank Wappler

      These
      Die Selbstidentität der Dinge kann ausschließlich innerhalb des zeitlichen Kontextes ihrer Gegenwart behauptet werden.

      Grund 1. Weil eine Existenz ausschließlich in der Gegenwart erfolgen kann.

      Es ist zwar möglich, von grundsätzlicher Selbstidentität der (reellen) Dinge, genauso wie von der Gegenwart eines Menschen oder der Erde als einer Gesamtheit zu sprechen; spätestens jedoch dann, wenn es sich um die zeitliche Grundlage der Selbstidentität handelt, erweist sich die Annahme der nicht zeitbezogenen Selbstidentität als unlogisch (und zwar wenn “logisch” mit schlüssigem Folgern gleichgesetzt wird).

      Die Problematik, die hier entsteht, betrifft die Gegenwärtigkeit der Dinge. Wir behaupten, dass zwei Menschen, die sich in einem Haus begegnen, dieselbe Gegenwart teilen. Gleichzeitig erkennen wir aber, dass es die Gegenwart des Sonnensystems nicht gibt. Wie müsste dann eine Gegenwart genau beschaffen sein, welche zwei Punkte im Raum betreffen würde?

      Eine solche Gegenwart müsste zwei Raumpunkte gleichzeitig betreffen. Die Existenz einer solchen Gegenwart ist aber nicht möglich.

      Wenn es keine Gleichzeitigkeit zwischen den Ereignissen auf Erden und auf dem Mond gibt, dann gibt es keine Gleichzeitigkeit zwischen zwei sich beliebig nahe stehenden Punkten A und B im Raum (und wenn es keine Gleichzeitigkeit zwischen A und B gibt, dann kann es keine gemeinsame Gegenwart der Punkte A und B geben [wäre eine Gegenwart den Punkten A und B gemeinsam, müsste sie gleichzeitig A und B betreffen, was unmöglich ist {es ist unmöglich, weil die Bewältigung einer beliebigen Entfernung zwischen zwei Punkten im Raum, auch einer minimalen, für jede Art von Signal und für jede Geschwindigkeit innerhalb einer Zeitspanne erfolgt. Vergeht zwischen dem Versenden und dem Empfang eines beliebig schnellen Signals Zeit, erfolgen die Versendung und der Empfang des Signals nicht gleichzeitig. Geschehen die Ereignisse im A und im B nicht gleichzeitig, ist die Gegenwart A verschieden von der Gegenwart B}]).
      Fazit 1: Ereignisse der Gegenwart geschehen gleichzeitig.

      Fazit 2: Ereignisse der Gegenwart sind selbstidentisch.

      Fazit 3: Ereignisse, welche räumlich getrennt stattfinden, geschehen nicht gleichzeitig.

      Fazit 4: Zwei räumlich getrennte Ereignisse geschehen füreinander in der Vergangenheit.

      [These]

      Wenn wir die Gegenwärtigkeit der Dinge als Maßstab ihrer Realität betrachten (in dem Sinne, dass reelle Dinge in ihrer jeweiligen Gegenwart existieren müssen), dann müssen wir zuerst den Bereich, in dem Realität stattfindet, auf eine raumlose Gegenwart des geometrischen Punktes beschränken.

      [Beweis]

      Unabhängig davon, wie klein der Raum S ist, von dem behauptet wird, er enthält die gesamte Gegenwart S – es wird immer möglich sein, einen Raum S’ zu konstruieren, der im S enthalten ist, womit automatisch erwiesen wird, dass S nicht mit sich selbst identisch ist (sondern unabhängige Räume enthält, welche selbst nicht mit S identisch sind).

      Der räumliche Maßstab der Gegenwart muss daher unendlich fein sein (es existiert reell kein Raum der Gegenwart – wo Raum im Spiel ist, findet Vergangenheit statt).
      Die Realität betrachten wir fälschlicherweise als materiell, als eine Menge existierender Gegenstände. Das gerade, was keine Gegenständlichkeit besitzt, existiert in Wirklichkeit real.
      Daher:

      Grund 2. Weil die Realität des Existierenden ausschließlich innerhalb der Gegenwart denkbar ist.

      Denn nur das gegenwärtige geschieht wirklich. Alles Vergangene unabhängig, ob vor einem Jahr, vor einem Tag oder vor einer Sekunde geschehen, geschieht nicht (mehr).
      Daher:

      Grund 3. Weil der Unterschied zwischen dem selbstidentischen, innerhalb der Gegenwart operierenden Subjekt (Beobachter) und dem von ihm verschiedenen Objekt im Raum, genau der Unterschied zwischen Realität und Erinnerung ist.

      Wir dürfen nunmehr annehmen, das zwischen verschiedenen Vergangenheiten kein qualitativer Unterschied besteht – der Unterschied zwischen ihnen besteht nur in ihrer jeweiligen Tiefe. Wenn aber kein Unterschied existiert zwischen der Vergangenheit des heutigen Morgens, den Sie mit Ihrer Frau verbracht haben und der Vergangenheit Ihres (gerade) letzten Atemzugs, dann muss man annehmen, dass sowohl die eine als auch die andere Vergangenheit gleichermaßen unwirklich sind. Für wirklich dürften wir nämlich ausschließlich das halten, was in der Gegenwart stattfindet – alles Vergangene steht zu dieser speziellen Wirklichkeit wie die Realität des heutigen Morgens zur abendlichen Realität des Augenblicks, in dem wir über die vergangene Wirklichkeit des Tages sinnieren.

      Dein materieller Körper, als ein räumlicher Gegenstand, ist nicht mit dir selbst identisch (siehe: [Beweis]). Das selbstidentische an dir ist vielmehr deine immaterielle Seele. Du und dein Körper bildet eine Verbindung, deren zentraler Inhalt, die Verbindung zwischen Geist und Materie ist. Der Zweck dieser Verbindung ist es, deine Seele an der materiellen Welt teilnehmen zu lassen.
      Auch wenn Du davon überzeugt bist, mit deinem materiellen Körper identisch zu sein, ist die Überzeugung falsch – auch innerhalb deines eigenen Körpers, kann von keiner Gleichzeitigkeit und von keiner umfassenden und integrierenden Gegenwart der einzelnen Körperteile die Rede sein.

      Du bist nicht dein Körper. Dein Körper stirbt.

  2. Die Uhr registriert nicht die Zeit, sie zeigt bestimmte Werte an, die zwar mit dem Verlauf der Zeit identifiziert werden, die jedoch ausdrücklich mit der mechanischen Radikalität des Uhr bildenden Systems, nicht mit der mechanischen radikalität der Zeit selbst, zu tun haben; auch übrigens dann nicht, wenn der Zeit eine ideale Regelmäßigkeit, Periodizität und direkte und singuläre (spezifische) Raumverbindung mit dem Ort, an dem ein beliebiger Gegenstand (z.B. eine Uhr) positioniert ist, sprich: auch dann nicht, wenn eine Uhr alle tempologischen, topologischen und mechanischen Voraussetzungen eines idealen Zeitdetektors erfüllen würde.
    Wenn eine Uhr all diese Voraussetzungen erfüllt, kann sie höchstens dazu verwendet werden, die Existenz eines regelmäßigen und gleichmäßigen Zeitverlaufes theoretisierend zu postulieren (mit all den Konsequenzen, die sich daraus ergeben, dass eine Regelmäßigkeit und Gleichmäßigkeit der UhrZeit, bei den sich in Bezug zueinander bewegenden StandOrten, nicht existiert, bzw. relativistischen Verschiebungen unterliegt. Die Zeit tickt nicht. Das Ticken einer Uhr ist kein Parameter.

    Was bedeutet dann im Vergleich mit der Radikalität dieser Erkenntnis die Tatsache, dass das Ticken einer Uhr registriert werden kann?
    Ich habe registriert, dass meine Tochter gestern Flügel aus der Verkleidungskiste herausgenommen und den ganzen Tag an sich trug. Ich habe auch die Existenz der Welt registriert: hat nichts mit dem Gegenstand dieser kleinen Unterhaltung zu tun.
    Der Uhrbasierte Zeitbegriff ist ein Modell. Die Zeit “tickt” nicht.
    Außerdem: das, was wir hier “Zeit” nennen ist in Wirklichkeit Vergangenheit und unmittelbar mit der Existenz des Raumes verbunden.

  3. @Ludwig Trepl (30. Januar 2016 13:26)

    »Man kann, salopp gesagt, nicht zweifeln ohne Anerkennung der Wahrheit (dessen, was man gegen das Bezweifelte anführt).«

    Mir fehlt da eine entscheidende Einschränkung, nämlich so etwas wie “innerhalb einer Objekttheorie“. So lässt sich innerhalb eines Diskurses über Euklidische Geometrie nicht hinterfragen, ob das Parallelenaxiom wahr ist, denn das gehört zu den konstitutiven Prämissen des Diskurses. Aus demselben Grund lässt sich aber auch nicht erst im Verlaufe des Diskurses bestimmen, dass es wahr ist. Was im Rahmen des Diskurses als wahr zu gelten hat, ist demnach in einer zugehörigen Metatheorie festzulegen.

    Wenn Sie nun, Wagners Idee der ganzen Wahrheit folgend, eine Rechtfertigung für absolute Wahrheit zu finden hoffen, dann augenscheinlich durch den als Allheit vorgestellten Grenzbegriff eines idealen, allumfassenden Diskursuniversums, welches, da allumfassend, seine eigene Metatheorie zu umfassen hätte und somit auch die konstitutiven Bedingungen für seine eigene Wahrheit schafft oder bereitstellt, die dann absolut zu nennen wäre. Einer solchen Argumentation würde ich allerdings widersprechen wollen: ein Diskursuniversum, das seinen eigenen Wahrheitsbegriff konstituiert, ist semantisch abgeschlossen und leidet daher am Lügnerparadoxon. Ein Grenzübergang zur Allheit lefert daher gerade nicht die absolute Wahrheit, sondern führt zu Antinomien und somit zum genauen Gegenteil, nämlich zum totalen Verlust von Wahrheit.

    Ich zweifle allerdings, dass Wagner das tatsächlich so gemeint haben kann, wie ich es jetzt hier ausgedeutet und Ihnen gleichsam unterstellt habe. Spricht er denn überhaupt expressis verbis von ‘absoluter Wahrheit’? Falls ja, vielleicht könnten Sie das noch etwas genauer explizieren?

  4. Man versucht mich zu überzeugen, dass die Zeit nicht existiert; ich bin davon überzeugt, dass nichts als Zeit existiert. Man versucht mich zu überzeugen, es gäbe keine Wahrheit; ich behaupte es existiert nichts als Wahrheit (womit sich jedoch die Widersprüchlichkeit der gesamten logischen Ordnung offenbart:)

    “unbedingte Einzelwahrheiten” kommen ganz prinzipiell nicht vor, und danach muss man also nicht suchen.

    Was ist mit Urteilen wie “ich jedenfalls existiere notwendig”?

  5. @Chrys, @Balanus, u.a.

    Meine Wiedergabe der Gedanken Hans Wagners zum Thema das Denkens als des Absoluten ist offenbar nicht so recht verstanden worden (@Balanus schrieb „ich muss gestehen, dass mir dieser Text zu rätselhaft war“, doch bin ich mir nicht sicher, ob sich das auf meine Wiedergabe bezog). Ich habe nun noch eine Stelle bei Wagner zum Thema gefunden, die, so hoffe ich, leichter verständlich ist.

    Ausgangspunkt ist, daß ein isoliertes Urteil „grundlos“ (S. 205), also unbegründet, damit nichtig ist. Ein jedes Gültigkeit beanspruchende Urteil setzt die Gültigkeit anderer Urteile voraus. („Der Falke fliegt sehr schnell“ setzt z. B. ein Urteil darüber voraus, was für eine Art von Gegenstand der Falke überhaupt ist, denn wäre er eine Rakete, wäre das Urteil „er fliegt sehr langsam“ gültig.) Und da das eben bei jedem Urteil so ist, setzt ein jedes letztlich das gesamte System gültiger Urteile voraus.

    Nun ist dieses System aber unendlich. Aristoteles hat es zu einem endlichen System gemacht, indem er oberste Prämissen einführte, deren Geltungscharakter von besonderer Art ist: Evidenz. Das kann aber keine Lösung sein: „Evidenz ist kein Ersatz für mangelnde Begründetheit“ (S. 206) Wie kann die Lösung aussehen?

    Man könnte an ein System derjenigen Urteile denken, deren Gültigkeit wir als sicher voraussetzen können. Das betrifft das apriorische Denken, etwa die Logik (von trivialen Fehlerquellen wie durch Vergeßlichkeit usw. hervorgerufenen Irrtümern kann man hier absehen). Aber damit sind nicht alle Urteile erfaßt. Wagner erläutert das an dem beliebten Beispiel „Cajus ist sterblich“ (weil er ein Mensch ist und alle Menschen sterblich sind). Das Urteil erfordert durch Erfahrung gewonnenes Wissen über die Menschen. Das System dieses Wissens ist „die Wissenschaft“. Jedes einzelne Urteil beansprucht hinsichtlich seiner Gültigkeit immer die Gültigkeit des Systems der gesamten Wissenschaft. Dieses System ist das „schlechthin Unbedingte“, das Absolute, denn: da „nicht eine einzige Bedingung für eine Urteilsgültigkeit denkbar ist, die nicht in das System selbst fallen würde, also keinerlei Geltungsbedingung außerhalb des Systems gedacht werden kann, ist das System … die unbedingte Totalität der Geltungsbedingungen überhaupt“. (211)

    Nun wissen wir aber durch Erfahrung, daß die Wissenschaft diesen Anspruch nicht erfüllt. Ein Teil dessen, was als gültiges Wissen der Wissenschaft angesehen wurde, hat sich als falsch erwiesen. Das ist nicht nur zufällig so, so daß es sein könnte, daß jetzt der Zeitpunkt erreicht ist, an dem nichts mehr falsch ist, oder daß dieser Zeitpunkt doch einst kommen wird: „Das System ist notwendig unabgeschlossen“ und „notwendig unabschließbar“ und damit, als positives Moment, zugleich unbegrenzt weiterführbar (211 f.).

    Daraus folgt: „Das System der ganzen überhaupt möglichen Wahrheit, das sich also als der unerläßliche und in sich absolute Boden für jedwede Einzelwahrheit und für jedweden Einzelprogreß in der Erkenntnis offenbart, ist keine Wirklichkeit; nie und nirgends wird es Ereignis. Es ist Idee, die Idee der ganzen Wahrheit, der ganzen theoretischen Wahrheit.“ (212 f.)

    • @Ludwig Trepl
      Wenn ich Ihnen die Formel “1 + 1 = 0” vorlege und Sie mir daraufhin sagen, sie sei doch nicht wahr, dann können Sie zu diesem Urteil nur gelangen, indem Sie sich dabei auf eine bestimmte Interpretation beziehen. Die aus jeglichem Zusammenhang isolierte Formel sagt in der Tat noch gar nichts aus, und die Frage nach wahr oder falsch stellt sich immer nur vor dem Hintergrund ihrer Bedeutung innerhalb eines objektsprachlichen Kalküls. Beziehen wir die genannte Formel auf die Arithmetik der natürlichen Zahlen, so können wir uns darauf einigen, dass sie falsch ist. Beziehen wir sie jedoch auf das Rechnen im Restklassenkörper ℤ/2ℤ, so gelangen wir zu der Feststellung, dass sie wahr ist. Mithin ist es zur Beurteilung von Wahrheit eines Satzes P zunächst erforderlich, P in einen objektsprachlichen Rahmen einzuordnen, wodurch dem P überhaupt erst eine Bedeutung zugewiesen wird, auf die sich anschliessend ein Wahrheitsurteil über P beziehen kann. Die Nennung dieses Bezuges ist eine metasprachliche Information zu P, und wo die gänzlich fehlt, lässt sich auch keinerlei Wahrheit beurteilen. Mit dieser jeweiligen Bezogenheit auf eine Objektsprache enthält dann aber bereits der Wahrheitsbegriff so etwas wie unhintergehbares relativistisches Moment.

      Wenn ich es recht verstanden habe, dann begreift Wagner die “Idee der ganzen Wahrheit” lediglich als ein regulatives Prinzip, als eine Totalität von wissenschaftl. Einzelwahrheiten, die als eine allumfassende Gesamtheit dann jedoch so wenig wie die Allklasse (d.i. die Gesamtheit aller Mengen) als ein antinomienfreier Gegenstand mit wohldefinierten Eigenschaften betrachtet oder vorgestellt werden kann. Diese “Idee der ganzen Wahrheit” wäre dann im selben Sinne unbedingt, wie auch die Allklasse unbedingt ist, nämlich indem sie nicht in Abhängigkeit von etwas hierarchisch Höherem steht. Für jeden konkreten Fall einer Beurteilung von Wahrheit ändert sich dadurch aber nichts, das heisst, so etwas wie “unbedingte Einzelwahrheiten” kommen ganz prinzipiell nicht vor, und danach muss man also nicht suchen.

      • @ Chrys

        Von Mathematik verstehe ich nicht das Allergeringste. Am besten lassen Sie solche Beispiele, ich kann leider nichts damit anfangen.

        Falls Sie mir sagen wollten, daß ein isoliertes Urteil ohne Festlegung der Bedeutungen der Worte (was in einer Sprache geschieht), die dabei im Spiel sind, bzgl. der Geltungsdifferenz nichtssagend ist, daß wahr/falsch darauf gar nicht angewandt werden können: klar. Doch ist das zu trivial und Sie werden es wohl nicht meinen. Ich vermute, Wagner (der im Übrigen ganz anders argumentiert) würde dazu sagen, diese Festlegung ist nicht beliebig und auch nicht eine Sache historischen Zufalls. Wenn bestimmte Festlegungen einmal da sind, dann sind andere Bedeutungsfestlegungen darauf bezogen richtig oder falsch. Wenn Pferd das bedeutet, was Pferd bedeutet, dann ist „ein Pferd ist ein Unpaarhufer“ falsch. Und dann würde er wohl sagen, daß hier die Sprachphilosophie hinsichtlich ihrer Leistungsfähigkeit überschätzt wird. Denn geht es wirklich um Sprache, damit um Wörter und ihre Semantik? Es geht um Logik, hier um die Glieder von Urteilen, wie S ist P. S und P haben Bedeutungen. Nicht das Wort S bedeutet etwas, sondern der Begriff S. Für jeden Begriff kann eine unbegrenzte Zahl verschiedener Wörter stehen. Man kann die Wörter, die für einen Begriff stehen, ineinander übersetzen – auch wenn man vielleicht für den einen Begriff Hund oder Sünde in einer bestimmten Sprache drei Seiten braucht. – Es gibt damit nicht gleichwertige objektsprachliche Rahmen, so daß ein Urteil in dem einen Rahmen wahr, in dem anderen falsch sein kann.

        „Wenn ich es recht verstanden habe, dann begreift Wagner die ‚Idee der ganzen Wahrheit’ lediglich als ein regulatives Prinzip“.

        Darauf läuft es hinaus, meine ich, aber an dieser Stelle ist es noch nicht soweit. Hier ist die “Idee der ganzen Wahrheit” erst einmal nur eine kontrafaktische Annahme (so sagt man wohl heute), welche die Bedingung dafür ist, daß ein Einzelurteil stattfinden kann, d. h. ausgesprochen werden kann mit dem Anspruch, daß es gültig sei; dieser Anspruch steckt ja in jedem Urteil. Diese kontrafaktische Annahme, die man notwendig macht, ist ebenso notwendig mit dem Wissen verbunden, daß diese Annahme „keine Wirklichkeit“ ist.

        Das ist, scheint mir, nicht ganz das gleiche wie „allumfassende Gesamtheit“, die „so wenig wie die Allklasse (d.i. die Gesamtheit aller Mengen) als ein antinomienfreier Gegenstand mit wohldefinierten Eigenschaften betrachtet oder vorgestellt werden kann.“ Das stimmt sicher, in dieser Hinsicht verhält es sich mit der “Idee der ganzen Wahrheit” so wie mit anderen Absolutheiten, etwa „die Welt“. Aber diese gibt es als Wirklichkeit, jene Idee nicht und niemals.

        Weil jedes Urteil sozusagen eine Aufgabe impliziert, nämlich es so zu gestalten, daß es ein gültiges und nicht ein ungültiges Urteil ist, gelangt man an dieser Stelle zur regulativen Idee. Wenn das Einzelurteil die “Idee der ganzen Wahrheit” voraussetzt, also der vollendeten „Wissenschaft“, dann ergibt sich notwendig die Aufgabe, um der Sicherheit des einzelnen Urteils willen, d. h. um ein Wissen daraus zu machen, an der Vollendung der Wissenschaft zu arbeiten. Diese wird nie stattfinden, ist aber anzustreben, also handelt es sich um eine regulative Idee. Wir können uns – aus logischen, nicht aus psychologischen Gründen – nicht damit begnügen, Wissen über einen einzelnen Sachverhalt oder über einen Teil aller Sachverhalte zu erwerben, weil das erst im Zusammenhang der “Idee der ganzen Wahrheit” ein Wissen wäre, weil es die Vollendung der Wissenschaft erfordert.

        • @Chrys

          Übrigens:
          Sie (und auch andere; @Reutlinger?) zitieren, wenn es um den Relativismus geht, immer wieder mal Ratzinger. Aber ist der denn in einem solchen Zusammenhang – einem philosophischen – eine zitierfähige Quelle? Ich meine, er ist es nicht.
          Ein gewissenhafter Dissertationsgutachter holt da den Rotstift raus.

          Was will man an Ratzinger eigentlich zeigen? Dient er als Beispiel dafür, daß einer eine existierende Auffassung für unbedingt richtig hält? Dann wäre die Frage, ob so etwas in der Philosophie überhaupt vorkommt. – Aber ich könnte mir auch denken, daß auf den Zusammenhang, in dem Ratzinger seine Auffassung bezieht, die Gedanken, die sich die Philosophen bzgl. der Relevanz der Metasprache usw. gemacht haben, gar nicht anwendbar sind, der redet vielleicht über etwas ganz anderes.

          • Die Vertreter des Apriorismus, Realismus und Absolutismus kommen vornehmlich aus dem Bereich der Theologie bzw. Religionsphilosophie. Einer der profiliertesten darunter ist der frühere Kard. Ratzinger, zumal mit dem prägnanten Ausdruck “Diktatur des Relativismus”, der immer wieder als Intellektueller gerühmt wird. Deshalb habe ich ihn zitiert. Auch Hans Wagner war ursprünglich Religionsphilosoph. Unter dieser Perspektive deute ich seinen Drang zu einer Systemphilosophie als Letztbegründung der Philosophie. Jeder solche Versuch entspringt einer metaphysischen Weltanschauung. Dagegen steht der Ausdruck von Protagoras “der Mensch ist das Maß aller Dinge”, als Betrachter der Welt mit seinen artspezifischen Sinnen, als Erfinder von Sprache(n), als Denker in repräsentationalen Symbolen.

            In einer Einführung zu Richard Rorty und seinem Werk “Der Spiegel der Natur” heißt es bei Reese-Schäfer:

            “Intellektuelle können offenbar nicht ohne Pathos leben. Deshalb suchen sie nach Fundamentalstrukturen, nach den Wirklichkeiten hinter der bloßen Erscheinungswelt, nach einer Realität, die den leeren Platz religiöser Gewissheit einnehmen soll. Rorty dagegen plädiert für eine vermenschlichte, eine endlich human gewordene Kultur, in der man nicht mehr nach der objektiven Realität fragt, sondern nach der bestmöglichen Beschreibung der Situation, in der man sich gerade befindet. Allenfalls kann man sich dann auf die Suche nach einer passenderen Beschreibung begeben, nicht aber auf die Suche nach der Wahrheit.”

            Mir scheint, dass die Suche nach dem Absoluten in einem tiefen Misstrauen gegen die Mitmenschen, gegen die eigene Vernunft und gegen alles Menschliche begründet ist. Alle Erfahrung zeigt aber, dass es zum Menschlichen oder Humanistischen keine Alternative gibt. Auch die Priester als menschliche Gottrepräsentanten sind bekanntlich allzu menschlich!

          • @Ludwig Trepl
            Ratzinger kommt doch mit einem selbsterklärten philosophischen Anspruch daher: „Die Aufklärung kann Religion werden, weil der Gott der Aufklärung selbst in die Religion eingetreten ist. Das eigentlich Glauben heischende Element, das geschichtliche Reden Gottes, ist doch die Voraussetzung dafür, dass die Religion sich nun dem philosophischen Gott zuwenden kann, der kein bloß philosophischer Gott mehr ist und doch die Erkenntnis der Philosophie nicht abstößt, sondern aufnimmt.
            Dies und mehr dazu in: http://www.hoye.de/Ratz/4.pdf

            Wenn Ratzinger praktizierten moralischen Relativismus sucht, dann kann er in der kath. Kirchenhistorie so viel davon finden, dass ihm übel wird. Das will er aber wohl nicht, und irgendwas mit der Aufklärung scheint er mir grundsätzlich missverstanden zu haben.

          • @Chrys

            “Ratzinger kommt doch mit einem selbsterklärten philosophischen Anspruch daher …”

            Das ist’s nicht, was ihn zu einer “zitierfähigen Quelle” macht. Es kann ja auch irgendein Laie für einen Kreationisten-Verband sprechen und mit einem selbsternannten Biologen-Anspruch daherkommen. Ja, Ratzinger könnte sogar ein guter Philosoph sein; vielleicht hat er ja auch philosophische Texte publiziert in jüngeren Jahren. Nein, was ihn m.E. hier ausschließt, ist, daß er als Funktionär – oder wie man das nennen soll – der kath. Kirche spricht (es könnte auch eine Partei sein) und nicht als freier, unabhängiger Denker. Unser Amateur-Biologe könnte ja auch viel besser sein als bestimmte Profis, und solange er unabhängig ist, kann er ja auch zitierfähige Dinge schreiben; aber er darf nicht z.B. als Vertreter einer weltanschaulichen Vereinigung sprechen.

            Was Ratzinger da sagt, verstehe ich übrigens nicht, wenn ich auch etwas ahne.

          • Nur ergänzend:
            Ratzinger versteht die Aufklärung als partiell gefährlich, er sieht im Jakobinertum und den beiden großen Kollektivismen des letzten Jahrhunderts eine zwingende Folge, einer Sicht, der sich grundsätzlich anzuschließen sein könnte, er hadert insofern insbesondere mit der französischen Linie der Aufklärung, was zumindest einige nachvollziehen können.
            Er hat auch viel zur Vernunft gesagt und geschrieben, die im Sinne der Römischen Kirche, die duozentrisch, theozentrisch und anthropozentrisch ist, vermutlich in dieser Reihenfolge, explizit nicht ausgeschlossen bleibt.
            Vglw. nett vielleicht auch dieser akademische Vortrag:
            -> https://www.youtube.com/watch?v=SwEtRp4Yejk

            Relativismus, jedenfalls ungünstig verstandenen Relativismus, Herr Reutlinger wird an dieser Stelle besonders bedacht, der ja sinnhaften Relativismus fordert und promoviert, mag Ratzinger auch nicht, insbesondere auch Kulturrelativismus nicht.
            Er ist klar erkennbar kein Gegner moderner Wissenschaftlichkeit.

            MFG
            Dr, Webbaer

          • @ Chrys und hierzu :

            Die Aufklärung kann Religion werden, weil der Gott der Aufklärung selbst in die Religion eingetreten ist. Das eigentlich Glauben heischende Element, das geschichtliche Reden Gottes, ist doch die Voraussetzung dafür, dass die Religion sich nun dem philosophischen Gott zuwenden kann, der kein bloß philosophischer Gott mehr ist und doch die Erkenntnis der Philosophie nicht abstößt, sondern aufnimmt.

            1.) Ratzinger wendet sich gegen aufklärerische Verirrungen, wenn bspw. ‘die Aufklärung Religion wird’ und nicht etwa zur wissenschaftlichen Methodik anleitet, gegen den sogenannten Szientismus.
            2.) Ratzinger interpretiert den christlichen Gott in der Folge als nicht mehr ‘bloß philosophischen Gott’, der sich im Philosophischen (gemeint: im Sinne der Suche nach Erkenntnis durch erkennende Subjekte) locker gibt und ‘aufnimmt’.
            Er stellt sich so in eine Reihe mit Papst Pius XII. und seiner Enzyklika Humani generis.
            Er stellt so dar, was die Römische Kirche seit einiger Zeit ist (und davor nie war, lol).

            MFG
            Dr. Webbaer

          • Dr. W.

            “er (Ratzinger) hadert insofern insbesondere mit der französischen Linie der Aufklärung …”

            Nein, gerade nicht. Es geht bei allen Päpsten fast immer nur gegen die englische Linie, und man wundert sich, daß die immer “Aufklärung” und nicht “Liberalismus” schreiben. Ist ja auch kein Wunder: So ein Robespierre-Staat ist doch den katholischen Vorstellungen, wie ein Staat sein sollte, nicht gar so fern, und an der Philosophie Rousseaus muß man nur an wenigen – allerdings essentiellen – Schrauben etwas drehen, und dann hat man das konservative Weltbild.

            “Er hat auch viel zur Vernunft gesagt …”; ja, ich kenne das. Die Vernunft ist aber nicht die der Aufklärung. Man hat den Unterschied beschrieben als “vernehmende” vs. “konstruierende” Vernunft.

          • Dr. W.

            “Ratzinger interpretiert den christlichen Gott in der Folge als nicht mehr ‘bloß philosophischen Gott’, der sich im Philosophischen (gemeint: im Sinne der Suche nach Erkenntnis durch erkennende Subjekte) locker gibt und ‘aufnimmt’.”

            Ich kann dieser wirren Wortfolge keinen Sinn entnehmen. Was heiß denn, der philosophischen Gott gibt sich locker? und gar: er nimmt auf? Und was heißt “im Philosophischen”? Und was heißt “…den christlichen Gott in der Folge als nicht mehr ‘bloß philosophischen Gott'”? War der christliche Gott denn zuerst ein ‘bloß philosophischen Gott’? Ratzinger sagt da jedenfalls etwas anderes.

            Ich versuche mal, das Ratzinger-Zitat zu interpretieren:

            „Die Aufklärung kann Religion werden, weil der Gott der Aufklärung selbst in die Religion eingetreten ist. Das eigentlich Glauben heischende Element, das geschichtliche Reden Gottes, ist doch die Voraussetzung dafür, dass die Religion sich nun dem philosophischen Gott zuwenden kann, der kein bloß philosophischer Gott mehr ist und doch die Erkenntnis der Philosophie nicht abstößt, sondern aufnimmt.“

            „Die Aufklärung kann Religion werden, weil der Gott der Aufklärung selbst in die Religion eingetreten ist.” Da könnte ich mir denken: die Aufklärung war nicht Religion; klar, sie ist ja Aufklärung. Nun kann sie Religion werden. Das ist Blödsinn; dann wäre sie ja keine Aufklärung mehr, sondern eben Religion. Sie kann sich mit der Religion vertragen oder sowas, aber so wenig Religion werden wie die Technik oder die Medizin. Aber er meint, vermute ich: der Gott der Aufklärung ist der Gott der Philosophen, also ein Begriff, der nötig ist, damit das System aufgeht, etwa weil ein allererster Anfang gebraucht wird. In der Aufklärung wurde der explizit christliche Gott, der, an den man glauben kann, Thema. Gut. Aber dann kommt: “Das eigentlich Glauben heischende Element, das geschichtliche Reden Gottes …” Damit meint er offenbar das, was man Offenbarung nennt. Das sei in der Aufklärung irgendwie akzeptiert worden, und damit sei der Gott der Philosophen nicht mehr bloß der Gott der Philosophen gewesen, denn dieser ist ganz und gar Gegenstand der Vernunft, nicht des Glaubens, wie es der Gott der Offenbarung ist. Das gäbe soweit Sinn, wenn man nur in der Aufklärung das finden könnte, was da gemeint ist. Daß Offenbarung nicht schlechtweg abgelehnt wird, findet man bei Kant. Aber die wahre Religion ist da doch die Vernunftreligion, für die Offenbarung ist da kein Platz; auch wenn man sie nicht ausschließen kann, so braucht es sie doch nicht. Die Vernunftreligion ist für Ratzinger aber ausdrücklich nicht Religion, sondern die Religion ist Offenbarungsreligion und sonst nichts, sie kann die Vernunftreligion, also die der Philosophie allenfalls “aufnehmen”. Etwas seltsam finde ich an dieser Konstruktion, als die katholische Kirche real nie Probleme hatte, sich des “Gottes der Philosophen” zu bedienen (-> Gottesbeweise …), mit der Vernunftreligion der Aufklärung aber große Probleme bekam.

          • @Ludwig Trepl
            In Analogie zur Unterscheidung zwischen ‘Politik’ und ‘Politikwissenschaft’ wäre nach meinem Verständnis zu unterscheiden zwischen ‘Ethik’ und akademisch betriebener ‘Ethikwissenschaft’, was man aber nicht tut. Der faktische Sprachgebrauch von ‘Ethik’ ist eher vergleichbar mit dem von ‘Logik’, wo es unplausibel wäre, zwischen ‘Logik’ und ‘Logikwissenschaft’ trennen zu wollen. (Davon unbenommen bleibt, dass bei Politik/Ethik/Logik jeweils noch zwischen Oberbegriff und Konkretisierung als einer spezifischen Politik/Ethik/Logik zu unterscheiden ist.)

            So verstanden sind Äusserungen zu Fragen der Ethik auch nicht unter dem Gesichtspunkt von Zitierfähigkeit zu beurteilen, denn das ist public domain und betrifft potentiell die lebensweltlichen Bedingungen aller, die nolens volens irgendwie dazugehören. Da darf freilich Ratzinger auch als Funktionär einer institutionalierten Religion seinen Standpunkt einbringen — genauso wie die Indianer, denen er einreden wollte, dass sie ihre gewaltsame Missionierung gefälligst als einen beglückenden Akt christlicher Liebe zu begreifen hätten.

            Ratzinger und die Aufklärung — das kann ich mir auch nur dahingehend deuten, dass er dabei der historisch bewährten Strategie folgt, fremdes Ideengut zu assimilieren und im christlichen Sinne umzudeuten. Ähnlich wie es in der Patristik und Scholastik schon mit der antiken griechischen Philosophie unternommen wurde, und ich kann mir gut vorstellen, dass Augustinus und Aquinas zu Ratzingers besonders verehrten Heiligen gehören.

          • @ Chrys

            “… sind Äusserungen zu Fragen der Ethik auch nicht unter dem Gesichtspunkt von Zitierfähigkeit zu beurteilen, denn das ist public domain und betrifft potentiell die lebensweltlichen Bedingungen aller, …”

            Ich bleibe bei meiner Meinung. Daß “Ethik” nicht nur im Sinne einer Wissenschaft verstanden wird, ist ein äußerlicher Gesichtspunkt. Es sollte hier um die Diskussion in der Wissenschaft gehen; natürlich kann da, wie auch in anderen Teilen der Philosophie, jeder mitreden, aber man wird doch, wenn es um sowas geht wie “derzeit vorherrschende Meinung” in einer Frage wie “was ist Wahrheit” oder “gibt es einen freien Willen” nicht die Mehrheit derer abstimmen lassen, die dazu schon mal was gesagt haben. Und in der Politikwissenschaft wird man nicht einen zitieren, der zu den Objekten dieser Wissenschaft gehört und von dem vor allem nicht zu erwarten ist, daß er frei spricht, denn er hat andere Verpflichtungen als nur die Wahrheit zu sagen (sagt Luhmann nicht, daß das die “Währung” im System Wissenschaft ist?). – Natürlich könnte man sagen: Ein Blog ist keine wissenschaftliche Zeitschrift, da kann man lockerer sein.

            “Ratzinger und die Aufklärung — das kann ich mir auch nur dahingehend deuten, dass er dabei der historisch bewährten Strategie folgt, fremdes Ideengut zu assimilieren und im christlichen Sinne umzudeuten.”

            Ich finde das etwas ungenau. Wenn man sagen würde “die katholische Kirche”, müßte man sicher zustimmen. In der evangelischen Kirche ist’s schon komplizierter. Philosophien wie die von Leibniz und Kant wurden weithin als Ereignisse in der Kirche wahrgenommen, es war recht normal für Pfarrer, sich als Kantianer zu verstehen.

            Man kann das aber allgemeiner sagen: war denn nicht die gesamte europäische Philosophie ein Ereignis innerhalb des Christentums? Die kirchliche Hierarchiespitze stand halt +/- immer auf einer Seite der philosophischen Kämpfe, z.B. auf der Seite des Universalienrealismus. Das gilt trotz “die Philosophie ist die Magd der Theologie”.

            Vielleicht muß man den Schnitt erst da ziehen, wo man sich explizit gegen das Christentum oder die Religion wandte. Das gilt aber nicht für “die” Aufklärung, die meisten Aufklärer hätten sich vehement dagegen gewehrt. Es gilt für einige französische Aufklärer und die Nach-Aufklärung. Aber auch da kann man Zweifel haben, ob das eine die wesentlichen Dinge treffenden Redeweise wäre. Vielleicht verdankt es sich einem zu oberflächlichem Blick. Wer sagt denn, daß eine gründliche Prüfung nicht ergeben könnte, daß der Marxismus christlicher ist als der Katholizismus? Ich glaub’s zwar nicht, aber siegt da nicht nur die Gewohnheit? Mir selbst scheint, daß der entscheidende Bruch die Entstehung des Liberalismus war, der scheint mir “paradigmatisch” etwas vollkommen Neues.

          • @Ludwig Trepl
            Zwar habe ich eine gewisse Ahnung, worauf Sie da hinauswollen, aber ich halte das für nicht ganz unproblematisch. Wäre nach Ihrer Einschätzung etwa der kreuzkatholische Denker Peter Geach zitierfähig, der zwar kein klerikaler Amtsträger war, dessen Philosophie jedoch anscheinend einzig die Verteidigung des kath. Glaubens zum Ziel hatte? Würde es einen Unterschied machen, wenn er statt an der University of Leeds an einer kath. Hochschule gelehrt hätte? Und wenn so einer sich dann wiederum auf die Scholastiker beruft, um damit quasi das Rad wieder vor die Aufklärung zurückzudrehen, wo deren Ideen ihm offensichtlich nicht zum vorgefassten Gottesbild passen, wäre das dann noch zitierfähig oder schon propagandistisch?

            Im übrigen liessen sich päpstliche Zitate zu ethischen Fragen wohl immer als zum Gegenstand philos. Betrachtungen gehörig deklarieren. Aus meiner Sicht war das mit dem Beispiel Ratzinger auch durchaus so gemeint: Die Kirchengeschichte demonstriert doch sehr überzeugend, wie sich mit dem absolutistischen Anspruch, das Gute schlechthin zu repräsentieren, praktisch jede Haltung rechtfertigen lässt, wenn man nur will — die Bösen sind ja per definitionem immer die anderen. Wenn das kein ethischer Relativismus ist, was ist es dann?

          • @ Chrys
            10. Februar 2016 17:52

            Das ist eine schwierige Sache, zugleich aber eine wenig wichtige. Aber da wir schon man dabeisind:

            Den kreuzkatholischen Denker kenne ich nicht, aber mir scheint, es spricht nichts dagegen, ihn zu zitieren. Es spricht doch philosophisch nichts dagegen, eine Philosophie zu entwickeln, die einzig die Verteidigung des kath. Glaubens zum Ziel hat – wenn man aus irgendeinem übergeordneten Grund der Ansicht ist, daß dieser Glaube, einschließlich der Punkte, wo gefordert wird, das Denken an den Nagel zu hängen, verteidigenswert ist.

            “Würde es einen Unterschied machen, wenn er statt an der University of Leeds an einer kath. Hochschule gelehrt hätte?”

            Nein. Soweit ich weiß, nimmt in einem westlichen Land keine Hochschule auf den Inhalt des gelehrten Einfluß (offiziell, nur darum kann es hier gehen). Ein inneres Loyalitätsproblem kann so einer (z.B. Spaemann) da schon bekommen, aber sowas kann man nicht durch Verbote regeln.

            “Und wenn so einer sich dann wiederum auf die Scholastiker beruft … wäre das dann noch zitierfähig oder schon propagandistisch?”

            Wenn es Philosophie ist, was er macht, wenn er begründet und nicht bloß behauptet, dann müßte es zitierfähig sein.

            “…wie sich mit dem absolutistischen Anspruch, das Gute schlechthin zu repräsentieren, praktisch jede Haltung rechtfertigen lässt …”

            Das stimmt, und das ist gerade das Interessante daran: Der Absolutismus rechtfertigt den Relativismus. Ähnlich habe ich das ja für den Naturalismus (und Positivismus) behauptet. Das absolut sichere Wissen, das die positive Wissenschaft und nur sie zusammenträgt, führt zum Relativismus.

            Im übrigen liessen sich päpstliche Zitate zu ethischen Fragen wohl immer als zum Gegenstand philos. Betrachtungen gehörig deklarieren. Aus meiner Sicht war das mit dem Beispiel Ratzinger auch durchaus so gemeint: Die Kirchengeschichte demonstriert doch sehr überzeugend, wie sich mit dem absolutistischen Anspruch, das Gute schlechthin zu repräsentieren, praktisch jede Haltung rechtfertigen lässt, wenn man nur will — die Bösen sind ja per definitionem immer die anderen. Wenn das kein ethischer Relativismus ist, was ist es dann?

          • @ Chrys

            Ich will zu dem zitierfähigen Ratzinger noch etwas nachtragen, sonst entstehen da vielleicht Irrtümer.

            Daß etwas aus politischen Gründen als nicht zitierfähig gelten kann, nämlich weil der Zitierte vielleicht in Loyalitätskonflikte gerät, jedenfalls noch anderem verpflichtet ist als der Wahrheit und nichts als der Wahrheit, ist nicht der Haupt-Sinn von „zitierfähig“.

            Das stammt vielmehr aus der naturwissenschaftlichen Zitierpraxis und hat folgenden Sinn: Man will einigermaßen gewährleisten, daß man sich auf die Angaben, die besagen, daß etwas in einem bestimmten Experiment herausgekommen ist, verlassen kann, oder daß bestimmte Beobachtungen auch wirklich gemacht wurden. Das gewährleistet einigermaßen das peer-review-Verfahren. Bei einem Zeitungsartikel ist das natürlich nicht der Fall, deshalb gilt er als „nicht zitierfähig“.

            Nicht überall bekannt ist, daß es andere Kontexte gibt, in denen es ein „Nicht zitierfähig“ nicht gibt. Wenn es z. B. darum geht, woher ein bestimmter Gedanke kommt, dann ist auch ein weggeworfener Zettel zitierfähig; es wäre geistiger Diebstahl, wenn man das als eigenen Gedanken ausgibt, was man auf dem Zettel gelesen hat. Ein prominenter Fall: Der Begriff des Ökosystems wird gewöhnlich dem britischen Botaniker Tansley zugeschrieben. Später hat sich herausgestellt (oder soll sich herausgestellt haben, ich habe das nicht nachgeprüft), daß er ihn aus einem Brief eines Kollegen an ihn hatte, der sich offenbar darum nicht weiter gekümmert hat. In neuerer Zeit droht dieses Phänomen gigantische Dimensionen anzunehmen, weil nur noch „gilt“, was in einer engischsprachigen Fachzeitschrift publiziert wurde. Daß es oft vorher schon in einer deutschen oder spanischen Zeitschrift stand, wird gar nicht mehr bemerkt.

          • Ist sicherlich ein “Knaller”:

            Die Aufklärung kann Religion werden, weil der Gott der Aufklärung selbst in die Religion eingetreten ist. [1]

            …und wurde weiter oben vom Schreiber dieser Zeilen weiter oben unzureichend und jetzt auch nur näherungsweise verstanden.

            Ratzinger sieht hier also eine graeco-christliche Bewegung, die den Logos, den es s.E. wirklich nur in (dem Christlichen geben kann, dort angelegt sein muss) Gott geben kann, als Aufklärung, was sicherlich nett formuliert ist. [2]
            Jesus ist ja so spektakulär gescheitert, dass diese Sicht Sinn ergibt.

            MFG
            Dr. Webbaer (der natürlich kein Ratzingerloge ist, dennoch immer wieder Respekt einflößende Ideen bei ihm festzustellen hat) [3]

            [1]
            Hier mal eine “ordentliche” Quelle:
            -> http://ivv7srv15.uni-muenster.de/mnkg/pfnuer/Ratzinger-Wahrheit.html

            [2]
            Dieses (von Ratzinger regelmäßig zitiertes) Intro ist auch nett:
            -> https://de.wikipedia.org/wiki/Evangelium_nach_Johannes

            [3]
            ohne irgendwie gläubig zu werden, natürlich

          • @Ludwig Trepl
            Zumindest Augustinus scheint tatsächlich zu Ratzingers Idolen zu gehören, [Die Bedeutung der Kirchenväter für den theologischen Ansatz von Papst Benedikt XVI.]. Der heilige Augustinus hat gewiss mit seiner christlichen Theorie des gerechten Krieges auch schon massgeblich dazu beigetragen, die Ethik der Bergpredigt zu relativieren, und in dieselbe Kerbe haut dann ja auch der bereits erwähnte Prof. Dr. Dr. Gustav Gundlach, wenn er verkundet: »Der Staat hat Träger und Verteidiger des Rechts zu sein – er kann nicht die Bergpredigt üben! Die Frage des Atomkrieges ist keine Frage der Bergpredigt!« Protestantische Theologen haben diese Frage allerdings ganz anders beantwortet.

            Im Naturalismus steckt insgesamt sicherlich viel mehr an katholisch geprägten Denkweisen, als den Naturalisten lieb ist. Von Karl Popper stammt folgendes Zitat (Conjectures and Refutations: The Growth of Scientific Knowledge):

            The earlier, naturalistic, revolution against God replaced the name “God” by the name “Nature.” Almost everything else was left unchanged. Theology, the Science of God, was replaced by the Science of Nature; God’s laws by the laws of Nature; God’s will and power by the will and power of Nature (the natural forces); and later God’s design and God’s judgment by Natural Selection. Theological determinism was replaced by naturalistic determinism; that is, God’s omnipotence and omniscience were replaced by the omnipotence of Nature and the omniscience of Science.

          • Christliches im Naturalismus?

            @ Chrys
            12. Februar 2016 13:21

            „Im Naturalismus steckt insgesamt sicherlich viel mehr an katholisch geprägten Denkweisen, als den Naturalisten lieb ist. …“

            Da stecken einige interessante Fragen drin. Der Anfang der historischen Bewegung scheint mir von Popper richtig beschrieben: Man tauschte Wörter aus, sonst nichts. Was herauskam, gibt es heute noch, Geert Keil hat es in Anspielung auf die weltanschauliche Richtung, in der es von zentraler Bedeutung ist, „ökologischen Naturalismus“ genannt. Natur ist da etwas Inhaltliches (nicht etwa alles, sofern man es mit einer bestimmten Methode untersucht) und etwas Normatives. Dabei ist es wohl von geringer systematischer Bedeutung (für die Kirchen allerdings nicht nur von geringer), ob die Natur selbst die normsetzende Instanz ist oder ob sie nur eine Art Schrift ist, in der die wahre normsetzende Instanz, Gott, seinen Willen uns kundtut.

            Dann kam der Übergang zum methodologischen Naturalismus: Naturalismus nicht der Natur, sondern der Naturwissenschaft. „Theology, the Science of God, was replaced by the Science of Nature“. Popper, als Wiener und Engländer, kann da den entscheidenden Unterschied nicht bemerken: Er schreibt halt „Science“, also Naturwissenschaft, nicht Wissenschaft. Dann hätte er nämlich auch an die „verstehenden“ Geisteswissenschaften denken müssen und dann hätte er den entscheidenden Unterschied bemerken müssen: Innerhalb der Wissenschaft von der Natur galten zunächst teleologische Erklärungen als (objektive) Erklärungen, bald aber nur noch als subjektive Mittel, uns etwas verständlich zu machen per Analogie (Kant, KU). Damit konnte die Naturwissenschaft nicht mehr die Theologie ersetzen. Natur, als ontologischer Bereich, ist zu dem geworden, worin es keine Absichten, Ziele gibt, wo nichts Intentionales vorkommt, Naturwissenschaft die Wissenschaft, der es verboten ist, derartige Methoden, Erklärungen, Begriffe zu verwenden. Damit sind die Naturgesetze nicht mehr Gottes Gesetze, denn Gottes Gesetze sind wesentlich teleologischer Art. Die Naturwissenschaft ist damit etwas geworden, was der Religion in gewissem Sinne opponiert. Denn sie gibt den Menschen die Macht, die vorher Gott zukam: Was man naturwissenschaftlich = kausal erklären kann, das kann man im Prinzip auch machen (was man teleologisch „erklären“ = verstehen kann, nicht, in das kann man sich nur einfügen oder zurechtfinden, weshalb etwa Mittelstraß von „Orientierungswissen“ gesprochen hat). Naturwissenschaftliche Vernunft ist „konstruktivistisch“, die in der Religion waltende Vernunft dagegen „vernehmend“, sagte man.

            Das könnte man so deuten, daß der methodologische, szientifische Naturalismus zwar historisch mit der christlichen Religion zusammenhängt, systematisch aber ein Bruch stattgefunden hat und jetzt keine irgendwie geartete positive Beziehung mehr da ist. Aber ist das wirklich so? Ich vermute, daß man da irgendwas übersieht.

            Eine interessante Frage scheint mir auch noch, warum der Protestantismus – soweit er an diesen Diskussionen teilnimmt, also nicht der fundamentalistische amerikanische „Sektenprotestantismus“ (Max Weber), mit all dem offenbar kaum Probleme hatte.

          • @Chrys // 10. Februar 2016 17:52

            »Im Naturalismus steckt insgesamt sicherlich viel mehr an katholisch geprägten Denkweisen, als den Naturalisten lieb ist.«

            Das heißt dann ja wohl, dass es katholisch Geprägten leicht fallen sollte, ins naturalistische Lager zu wechseln. Vielleicht kann man ja auch beides sein, gläubiger Katholik und gläubiger Naturalist. Aber ich fürchte, es ist so, wie Herr Trepl (heute, 11:09) gesagt hat, „systematisch [hat] ein Bruch stattgefunden“ zwischen Religion(en) und dem methodologischen, szientifischen Naturalismus. Gott hat im naturalistischen Weltbild als Erklärung für die Phänomene der Natur ausgedient.

            Was ich allerdings nicht verstehe, ist, inwiefern der „Absolutismus den Relativismus [rechtfertigt]“ (L. T., 10. Februar 2016 17:52). Da doch der Absolutismus, also die Auffassung, es gebe (in manchen Bereichen) ewig gültige Wahrheiten und Werte, (auch?) als eine Gegenposition zum Relativismus verstanden wird.

            Dass der (szientifische) Naturalismus mit bestimmten Formen des Relativismus zusammenhängt, kann ich hingegen gut nachvollziehen. Denn in diesem Naturalismus gibt es keine absoluten Wahrheiten, wissenschaftliche Erkenntnisse sind fallibel, sie gelten nur, solange sie nicht widerlegt sind.

            »Die Kirchengeschichte demonstriert doch sehr überzeugend, wie sich mit dem absolutistischen Anspruch, das Gute schlechthin zu repräsentieren, praktisch jede Haltung rechtfertigen lässt, wenn man nur will — die Bösen sind ja per definitionem immer die anderen. Wenn das kein ethischer Relativismus ist, was ist es dann?«

            Nach meinem Dafürhalten sehen wir hier ein Beispiel für den Unterschied zwischen präskriptiver und deskriptiver Ethik, zwischen Theorie und Praxis. Die „Kirche“ wähnt sich im Besitz objektiver ethischer Wahrheiten, handelt aber so, wie es für ihre Zwecke dienlich ist.

            Anti-Naturalismus und Anti-Relativismus gehen wohl nicht nur bei Ratzinger Hand ich Hand. Und das, obwohl es eine (fallibele) Behauptung des naturalistischen Lagers ist, dass es (sozusagen) bestimmte, universell gültige Grundwerte „gibt“, die sich aus der Evolutionsgeschichte des Menschen erklären lassen. Ein ethischer Relativismus á la „anything goes“ ist das nicht, was die Naturalisten propagieren.

          • @Balanus

            »Das heißt dann ja wohl, dass es katholisch Geprägten leicht fallen sollte, ins naturalistische Lager zu wechseln.«

            Popper zielt mit dem zitierten Abschnitt meines Erachtens auf formale und keineswegs inhaltliche Gemeinsamkeiten von Denkweisen. Und diese Vergleichbarkeit geistiger Strickmuster sieht er nicht nur bezüglich des Naturalismus, denn unmittelbar danach nimmt der Gang seiner Überlegungen eine historizistische Wende:

            Hegel and Marx replaced the goddess Nature in its turn by the goddess History. So we get laws of History; powers, forces, tendencies, designs, and plans, of History; and the omnipotence and omniscience of historical determinism. Sinners against God are replaced by “criminals who vainly resist the march of History”; and we learn that not God but History will be our judge.

            Katholizismus scheint sich im Prinzip immerhin mit Faschismus zu vertragen, wie die Historie lehrt. Hier zum Beispiel der einstige Erzbischof von Sarajevo, Ivan Saric, ein begeisterter Unterstützer der kroatischen Pavelic-Diktatur: “[T]here is a limit to love. The movement of liberation of the world from the Jews is a movement for the renewal of human dignity. Omniscient and omnipotent God stands behind this movement.” (Zitiert nach M. Phayer, The Catholic Church and the Holocaust, 1930–1965, Indiana Univ. Press, 2000.)

            God help me in my search for truth, and protect me from those who believe they have found it.
            —(Old English Prayer)

        • @Ludwig Trepl
          In der Linguistik werden diverse Typen von Bedeutung unterschieden, doch was davon in Zusammenhang mit dem Wahrheitsbegriff speziell interessiert, ist die deskriptive resp. propositionale oder wahrheitsfunktionale Bedeutung von Sätzen (Aussagen). Einem Begriff kommt zwar eine lexikalische Bedeutung zu, aber keine wahrheitsfunktionale. Um mir die Bedeutung von Pferd zu vermitteln, müssten Sie mir eine ganze Reihe von (mir als wahr oder falsch erkennbaren) deskriptiven Aussagen mit Referent ‘Pferd’ liefern, die ich dann leikalisch mit dem Wort ‘Pferd’ assoziieren kann. Nach meinem Verständnis wäre dabei die Aussage „ein Pferd ist ein Unpaarhufer“ dann allerdings wahr — was verstehe ich da nicht?

          »Denn geht es wirklich um Sprache, damit um Wörter und ihre Semantik? Es geht um Logik, …«

          Ja, und bei der Logik geht es um die Lehre von den formalen Regeln des gültigen Schließens (was ich zumindest in erster Näherung für eine recht brauchbare Charakterisierung halte). Es geht auch bei Linguistik und Sprachphilosophie um mehr als nur Wörter und die mit ihnen verknüpften lexikalischen Bedeutungen, sodass mir eine Reduzierung auf diesen Aspekt unzulässig erscheint.

          »Es gibt damit nicht gleichwertige objektsprachliche Rahmen, so daß ein Urteil in dem einen Rahmen wahr, in dem anderen falsch sein kann.«

          Aber was heisst gleichwertig, wo es um empirische Wissenschaft geht? So sind etwa die Spezielle Rel.theorie von Einstein und die Aethertheorie von Lorentz observationell völlig gleichwertig, denn beide machen die gleichen Aussagen über das, was sich im Experiment herausfinden lässt. Dennoch lassen sich Aussagen angeben, die in der einen Theorie wahr und in der anderen falsch sind. Ein Beispiel wäre der berüchtigte Satz “Bewegte Uhren gehen verlangsamt“. Entgegen vielfach kolportierten Gerüchten ist das in der Theorie von Einstein definitiv falsch, in der von Lorentz hingegen wahr. Es liessen sich weitere physikl. Beispiele observationell gleichwertiger Beschreibungen angeben, die als theoret. Modelle nicht formal äquivalent sind. Ob so etwas in der Biologie auch vorkommt, dazu fällt mir momentan jetzt nichts Überzeugendes ein.

          »Aber diese [die Welt] gibt es als Wirklichkeit, jene Idee nicht und niemals.«

          Sind Sie sich hinsichtlich der Welt sicher? Die ist auch für Kant kein Gegenstand, sondern der Begriff hat als eine Idee der Vernunft eine rein regulative Funktion. Hierzu hatte ich meiner Erinnerung nach schon einmal das UTB-Wörterbuch verlinkt (exakte Quellenangabe bei Kant weiss ich jetzt nicht), und die dort gegebene Formulierung würde ich so akzeptieren können.

          • Chrys schrieb (5. Februar 2016 0:35):
            > […] der berüchtigte Satz “Bewegte Uhren gehen verlangsamt”.
            > Entgegen vielfach kolportierten Gerüchten ist das in der Theorie von Einstein definitiv falsch

            Die Charakterisierung als „definitiv“ scheint zu viel Ehre für diesen (zu Recht) berüchtigten Satz.

            Verlangsamt gehen“ – im Vergleich womit denn; unter Einsatz welcher Vergleichsmethodik??

            Ließe sich denn eine Negation genau dieses Satzes formulieren, von der zu sagen wäre, sie sei „ in der Theorie von Einstein definitiv wahr“?
            Sicherlich nicht. Dieser Satz ist stattdessen das Paradebeispiel einer Formulierung, die in ihrer Form zwar an eine Aussage erinnert, aber dennoch keine ist.
            (Z.B. im Gegensatz zu: „Auf holprigen Pflasterstrecken fährt das Radfahrerfeld langsamer.“)

            Um einige Beispiele dafür zu geben, dass es auch anders geht:

            (1) Theoreme der Theorie von Einstein (deren Negation nicht Theoreme der Theorie von Einstein sind):

            (1a) Wenn zwei geeignete Beteiligte, A und B, gegenüber einander ruhten,
            dann war die Dauer As von (irgend-)einer Anzeige „A_initial“ bis zu (irgend-)einer (nachfolgenden) Anzeige „A_final“
            gleich der Dauer Bs von Bs Anzeige gleichzeitig zu As Anzeige „A_initial“ bis zu Bs Anzeige gleichzeitig zu As Anzeige „A_final“;

            (1b) Wenn hinreichend viele Beteiligte, A, B, … J, K gegenüber einander ruhten, und hinreichend viele Beteiligte, P, Q, … gegenüber einander ruhten,
            und die Beteiligten A, B, … J, K den „β“-Wert des Beteiligten P ihnen (den A, B, … J, K ) gegenüber ermittelten,
            und die Beteiligten P, Q, … den „β“-Wert der Beteiligten A ihnen (den P, Q …) gegenüber ermittelten,
            dann gilt für diese beiden Messwerte
            β_{AB}[ P ] = β_{PQ}[ A ];

            (2) Aussagen, die mit Begriffen der Theorie von Einstein formuliert sind (und die „empirisch wahr oder falsch“ sein können):

            (2a) Die Schwellen des Gleises der ersten Bahnstrecke Nürnberg – Fürth ruhten gegenüber einander, während diese Strecke zur Eröffnung von einem Zug befahren wurde.

            (2b) Der Eröffnungs-Zug auf der Strecke Nürnberg – Fürth erreichte gegenüber den Schwellen des betreffenden Gleises den Wert β = 0,6.

            (2c) Die (maximale) Pulsrate des Heizers während dieser Eröffnungs-Fahrt war gleich der höchsten Pulsrate eines Zuschauers dieser Eröffnungs-Fahrt.

            > in der von Lorentz hingegen wahr

            In diesem Zusammenhang von einer „Theorie“ zu sprechen, scheint noch zu viel Ehre für die von Lorentz verwendeten Formulierungen …

            > die Spezielle Rel.theorie von Einstein und die Aethertheorie von Lorentz […] machen die gleichen Aussagen über das, was sich im Experiment herausfinden lässt.

            Trifft das auf etwa auf die Aussagen (2b) und (2c) zu?
            (Um Aussage (2a) zu formulieren und herauszufinden, ob sie stimmt, oder nicht, sind wohl noch allgemeinere Begriffe der Rel.theorie von Einstein erforderlich.)

          • @Frank Wappler
            Beim “definitiv” insistiere ich, denn das ist explizit zu fordern, wenn es ordentlich gemacht wird. Einstein hatte da mit den Uhren 1905 noch geschlampt, und erst Minkowski hatte die Eigenzeit begrifflich eingeführt. Erinnert sei dazu auch noch an den excellenten Übersichtsartikel von D. Malament:

            P2 Clocks record the passage of elapsed proper time along their worldlines.

            Die Tickrate einer Uhr entspricht der Norm eines Tangentenvektors an ihre natürlich parametrisierte Weltline, und diese Grösse ist bei gegebener Metrik eine Konstante.

            »In diesem Zusammenhang von einer „Theorie“ zu sprechen, scheint noch zu viel Ehre für die von Lorentz verwendeten Formulierungen …«

            Wenn dem so ist, dann wäre SR auch keine Theorie. Letztlich steckt dahinter ja auch nicht viel mehr als die lineare Algebra der Lorentz Gruppe, und spätestens nach dem zweiten Semester gilt das als trivial.

          • Chrys (6. Februar 2016 16:07):
            > Die Tickrate einer Uhr entspricht der Norm eines Tangentenvektors an ihre natürlich parametrisierte Weltline

            Die Norm welches Tangentenvektors an die natürlich parametrisierte Weltline der betreffenden Uhr?

            Etwa die Norm des normierten Tangentenvektors an ihre natürlich parametrisierte Weltline?? (Die ist definitionsgemäß gleich 1.)

            Oder ansonsten: die Norm welches unmormierten Tangentenvektors an ihre natürlich parametrisierte Weltline?? …

            Schließt die zitierte Definition etwa Behauptung ein, dass unterscheidbare Uhren, die die exakt selbe “Weltline” hatten (also durchgängig koinzident waren und blieben), exakt gleiche Tickraten gehabt hätten??

            Oder schließt die zitierte Definition gar die Behauptung ein, dass alle Uhren stets gleiche Tickraten hatten (und haben werden)?? …

            (Weitere Teile des zitierten Kommentars wären in ähnlicher Weise in Frage zu stellen.)

            p.s.
            Chrys weiß wohl besser als viele andere, dass ich mich hier schon seit ca. 10 Jahren zum “Uhren”-Begriff (und was damit zusammenhängt) engagiere, wo immer mir die Gelegenheit gegeben wird. Schon ein Elend, dass bei all dem noch nicht mal so viel wie ein SciLogs-Gastbeitrag herausgesprungen ist.

          • @Frank Wappler
            Okay, okay, das hätte ich mir ja denken können. Sagen wir Ableitungsvektor statt Tangentenvektor? Gemeint ist die Pseudo-Norm |u'(s)| des Tangentenvektors u'(s), wobei u(s) eine natürlich parametrisierte, zeitartige Weltlinie sei und der Strich beim u die Ableitung von u(s) nach s bezeichne. Anders formuliert, im Rahmen der RT ist u'(s) die 4-Gechwindigkeit einer Uhr bei ihrer zeitartigen Bewegung durch die Raumzeit entlang ihrer Weltlinie u, und bei gegebener Metrik ist die Grösse |u'(s)| für alle Uhren stets gleich. Die Gültigkeit resp. Wahrheit dieser Behauptung lässt sich allerdings nur durch ein entsprechendes Uhrenpostulat begründen, das als eine konstitutive Prämisse für die RT metatheoretisch festzulegen ist. Und observationell widerlegen oder bestätigen lässt sich so etwas dann naturgemäss nicht.

            »Oder schließt die zitierte Definition gar die Behauptung ein, dass alle Uhren stets gleiche Tickraten hatten (und haben werden)?? …«

            Fast. Synge spricht übrigens von einer Standarduhr, sofern ihre Tickrate in einem konstanten Verhältnis (das nur von der Beschaffenheit der Uhr abhängt) zu |u'(s)| steht. Man mag nun zwar der einen Standarduhr eine höhere Tickrate zugestehen als einer anderen, aber das Verhältnis der Tickraten je zweier solcher Uhren ist dann eine Konstante (siehe dazu Synge, Gen. Relativity).

          • Chrys schrieb (8. Februar 2016 13:45):
            > [Die Tickrate einer Uhr entspricht der Norm …] Gemeint ist die Pseudo-Norm |u'(s)| des Tangentenvektors u'(s), wobei u(s) eine natürlich parametrisierte, zeitartige Weltlinie sei und der Strich beim u die Ableitung von u(s) nach s bezeichne.

            Das ist wohl tatsächlich nur eine ziemlich raffinierte (umständliche, peinliche) Art, die schlichte Zahl 1 zu schreiben.
            (Denn, sofern es darauf ankommt, um zu verstehen, was oben mit „Tickrate“ gemeint gewesen sein soll:
            wenn irgendeine von Null verschiedene Zahl „natürlich“ zu nennen wäre, dann sicherlich diese
            schlichte Zahl 1.
            (Aber natürlich nichts gegen Tangenten an sich, insbesondere auch zur Beschreibung geometrischer Beziehungen zwischen Beteiligten; sofern der Begriff nur ordentlich/koordinatenfrei definiert wird. (Und ich scheue, den Begriff „Weltlinie“ zu benutzen, sofern nicht ganz sicher ist, dass er koordinatenfrei gemeint ist.)))

            > Synge spricht übrigens von einer Standarduhr, sofern ihre Tickrate in einem konstanten Verhältnis (das nur von der Beschaffenheit der Uhr abhängt) zu |u'(s)| steht. Man mag nun zwar der einen Standarduhr eine höhere Tickrate zugestehen als einer anderen […]

            Hier wird tritt der Begriff „Tickrate“ offenbar in einem („nur ein wenig“, aber trotzdem entscheidend) anderen Sinn auf als oben:
            „irgend eine (konstante, von Null verschiedene) Zahl“ ist nun mal nicht das Selbe wie „ganz genau die Zahl 1“.

            (Ich finde: Gut so! Aber: Warum nicht gleich so!?).

            (MTW schrieben in diesem Zusammenhang übrigens von „good clock“; also falls mit der gegebenen Notation
            t“ = 0,
            wobei die Zahlen t[ s ] die „readings“ bedeuten sollen, die den unterscheidbaren „Anzeigen“ („indications“; ggf. „ticks“) der betreffenden Uhr zugeordnet wurden;
            und „ideal clock“, falls die unterscheidbaren Anzeigen außerdem diskret sind (also wie man sich das „Ticken“ einer Uhr eben vorstellt; im Unterschied insbesondere zu biologischen oder geologischen Uhren), so dass die Dauern einer bestimmten „idealen Uhr“ jeweils von einem ihrer bestimmten Ticks bis zum nächsten immer gleich sind.)

            Wenn du also zugibst und begreifst, dass es denkbar ist, dass unterscheidbare Uhren ungleiche „Tickraten“ haben (und nebenbei bemerkt: falls überhaupt), dann muss dir doch einleuchten, dass der oben angeführte berüchtigte Satz “Bewegte Uhren gehen verlangsamt” insbesondere deshalb nicht „definitiv sein kann.

          • @Frank Wappler
            Wenn ich mich übereinstimmend mit Malament vorab in einem Uhrenpostulat auf Eigenzeit beziehe, sollte ich das konsequenterweise hinterher auch tun, und dann erweist sich die 4-Geschwindigkeit dem Betrage nach als gleich der sogenannten Lichtgeschwindigkeit c. Im Rahmen der Theorie ist damit definitiv festgelegt, dass jeder Abschnitt einer zeitarigen Weltlinie (Zeitintervall) mit der stets gleichen 4-Geschwindigkeit c durchschritten wird. Eine Uhr kann hierbei demnach niemals “falsch gehen” — sie kann höchstens den zeitlichen Verlauf falsch messen. Die Theorie macht einer Uhr jedoch keine Vorgabe über die Anzahl der Schritte (Ticks), mit der sie ein gegebenes Zeitintervall zu durchmessen hat, sie fordert von einer Uhr lediglich eine strikt konstante Proportionalität von Schrittweite zu Intervallweite.

          • Korrektur: “von Schrittanzahl zu Intervallweite” hätte es in meinem letzten Satz heissen müssen.

          • Chrys schrieb (10. Februar 2016 18:03):
            > Eine Uhr kann […] niemals “falsch gehen” — sie kann höchstens den zeitlichen Verlauf falsch messen.

            Sicher nicht “den [abstrakten, vermeintlich universalen] zeitlichen Verlauf“,
            sondern “ihren höchst-konkret und höchst-eigenen zeitlichen Verlauf“;
            nicht wahr?

            Ansonsten find ich das Zitierte inhaltlich/(meta-)physikalisch durchaus akzeptabel:

            -(a): ausdrücklich erwähnt und anerkannt wird (Sehet da, Popperazzi!) “etwas, das niemals falsch sein kann”,
            also demanch auch nicht experimentell getestet werden kann; und

            -(b): gegenübergestellt ist “etwas, das Uhr für gegebene Uhr und Versuch für experimentellen Versuch sich als richtig oder falsch herausstellen mag”.

            (Ich würde auch gerne endlich mal verbindlich erfahren, wie man diese beiden offenbar unterscheidbaren Anteile technisch-zitierfähig-sachkundig konventionell nennt; um das z.B. mal beim Plato nachlesen und referenzieren zu können … Und nicht zuletzt, um unserem geduldigen Gastgeber dadurch entgegenzukommen.)

            Allerdings gibt es formal/sprachlich einiges auszusetzen:

            – es ist nun mal tiefverwurzelter, wohl unerschütterlicher Sprachgebrauch zu sagen, dass Uhren doch “richtig oder falsch gehen” können. (Es scheint also erfolgversprechender/geschmeidiger, diese Phrase hinzunehmen und hinsichtlich (a) oder (b) ggf. geeignet zu interpretieren.), Und:

            – es wirkt irgendwie unbeholfen/redundant, hinsichtlich (b) zu sagen:
            “wir (wollen) messen, ob eine gegebene Uhr in einem betrachteten Versuch ihren zeitlichen Verlauf richtig gemessen hat, oder (wie) falsch”.

            Deshalb nutze und empfehle ich nachdrücklich den Sprachgebrauch, den MTW (möglicher Weise sogar ohne allzu tiefes Nachzugrübeln) hinsichtlich (b) vorgemacht haben:

            Wir (wollen) messen, ob eine gegebene Uhr in einem betrachteten Versuch gut war
            (oder ansonsten quantifizieren, wie schlecht sie dabei war).

            Und hinsichtlich (a) gilt selbstverständlich:

            Was wir mit “guter Uhr” bzw. “schlechter Uhr” meinen, bzw. die definitive Messmethodik, wie wir das messen (wollen), kann nicht falsch sein, und nicht experimentell getestet werden, und sich deshalb ggf. als experimentell widerlegt herausstellen; sondern wir streben danach und hoffen und erwarten (lediglich), dass das, was wir damit meinen und herausfinden und mitteilen wollen, allen nachvollziehbar ist und bleibt.

            Und das Schöne ist:
            “Wir” haben (schon ziemlich nachvollziehbare) Messdefinitionen, wie “gut oder schlecht” zu messen ist; denn
            “wir” (d.h. letztens insbesondere
            Marzke und Wheeler) haben (schon ziemlich nachvollziehbare) Messdefinitionen wie “wie Dauer an sich zu messen ist”;
            nämlich in Anwendung der RT;
            und ganz unabhängig davon, ob und welche “t”-Zahlen den Anzeigen von Marzke-Wheeler-Uhren zugeordnet würden.

            > Die Theorie […] fordert von einer Uhr lediglich eine strikt konstante Proportionalität von Schrittanzahl zu Intervallweite

            Der folgenden Formulierung könnte ich zustimmen:
            “Die Theorie definiert eine ”ideale Uhr” als eine Uhr mit strikt konstante Proportionalität von Schrittanzahl zu Intervallweite.”

            Oder (vor allem sprachlich) bevorzugt:
            “Die Theorie definiert eine ”ideale Uhr” als eine Uhr mit strikt konstante Dauer jedes Schritts (von Tick zu Tick).”

            Und allgemeiner:
            “Die Theorie definiert eine ”gute Uhr” als eine Uhr, deren Anzeigen t-Werte so zugeordnet wurden, dass die Differenzen zwischen t-Werten strikt konstant proportional zu den Dauern der Uhr zwischen den entsprechenden Anzeigenpaaren waren.”

            Im Rahmen dieser Theorie (man nennt sie übrigens: “die Einsteinsche Relativitätstheorie”) ließen sich dann verschiedene Modelle formulieren; z.B.

            -(Modell 1): Alle tickenden Uhren waren stets ideale Uhren (d.h. bzgl. ihrer Schrittanzahl alias Tickanzahl als t-Wert), und werden immer und ewig ideale Uhren bleiben.

            (Dieses Modell ist experimentell prüfbar; und ich erwarte, dass es sich als falsch herausstellen wird, oder sogar schon als falsch herausgestellt hat.) Oder:

            -(Modell 2): Die tickende Uhr, die ich meistens an meinem Handgelenk trage, weicht von einer idealen Uhr um nicht mehr als 5 Prozent ab, in allen Versuchen, bei der ich sie zuerst im Backofen auf 250°C geheizt und sofort danach in der Eisteekanne auf 0°C gekühlt habe.

            (Dieses Modell ist experimentell prüfbar; und meine diesbezüglichen Erwartungen behalte ich vorerst für mich.)

            p.s.
            > Malament

            Ist das nicht der Neffe von Bourbaki?
            Und wichtiger: Hat der wenigstens einen SciLog?? …

          • Chrys schrieb (10. Februar 2016 18:03):
            > Eine Uhr kann […] niemals “falsch gehen” — sie kann höchstens den zeitlichen Verlauf falsch messen.

            Sicher nicht “den [abstrakten, vermeintlich universalen] zeitlichen Verlauf“,
            sondern “ihren höchst-konkret und höchst-eigenen zeitlichen Verlauf“;
            nicht wahr?

            Ansonsten find ich das Zitierte inhaltlich/(meta-)physikalisch durchaus akzeptabel:

            -(a): ausdrücklich erwähnt und anerkannt wird (Sehet da, Popperazzi!) “etwas, das niemals falsch sein kann”,
            also demanch auch nicht experimentell getestet werden kann; und

            -(b): gegenübergestellt ist “etwas, das Uhr für gegebene Uhr und Versuch für experimentellen Versuch sich als richtig oder falsch herausstellen mag”.

            (Ich würde auch gerne endlich mal verbindlich erfahren, wie man diese beiden offenbar unterscheidbaren Anteile technisch-zitierfähig-sachkundig konventionell nennt; um das z.B. mal beim Plato nachlesen und referenzieren zu können … Und nicht zuletzt, um unserem geduldigen Gastgeber dadurch entgegenzukommen.)

            Allerdings gibt es formal/sprachlich einiges auszusetzen:

            – es ist nun mal tiefverwurzelter, wohl unerschütterlicher Sprachgebrauch zu sagen, dass Uhren doch “richtig oder falsch gehen” können. (Es scheint also erfolgversprechender/geschmeidiger, diese Phrase hinzunehmen und hinsichtlich (a) oder (b) ggf. geeignet zu interpretieren.), Und:

            – es wirkt irgendwie unbeholfen/redundant, hinsichtlich (b) zu sagen:
            “wir (wollen) messen, ob eine gegebene Uhr in einem betrachteten Versuch ihren zeitlichen Verlauf richtig gemessen hat, oder (wie) falsch”.

            Deshalb nutze und empfehle ich nachdrücklich den Sprachgebrauch, den MTW (möglicher Weise sogar ohne allzu tiefes Nachzugrübeln) hinsichtlich (b) vorgemacht haben:

            Wir (wollen) messen, ob eine gegebene Uhr in einem betrachteten Versuch gut war
            (oder ansonsten quantifizieren, wie schlecht sie dabei war).

            Und hinsichtlich (a) gilt selbstverständlich:

            Was wir mit “guter Uhr” bzw. “schlechter Uhr” meinen, bzw. die definitive Messmethodik, wie wir das messen (wollen), kann nicht falsch sein, und nicht experimentell getestet werden, und sich deshalb ggf. als experimentell widerlegt herausstellen; sondern wir streben danach und hoffen und erwarten (lediglich), dass das, was wir damit meinen und herausfinden und mitteilen wollen, allen nachvollziehbar ist und bleibt.

            Und das Schöne ist:
            “Wir” haben (schon ziemlich nachvollziehbare) Messdefinitionen, wie “gut oder schlecht” zu messen ist; denn
            “wir” (d.h. letztens insbesondere Marzke und Wheeler) haben (schon ziemlich nachvollziehbare) Messdefinitionen wie “wie Dauer an sich zu messen ist”;
            nämlich in Anwendung der RT;
            und ganz unabhängig davon, ob und welche “t”-Zahlen den Anzeigen von Marzke-Wheeler-Uhren zugeordnet würden.

            > Die Theorie […] fordert von einer Uhr lediglich eine strikt konstante Proportionalität von Schrittanzahl zu Intervallweite

            Der folgenden Formulierung könnte ich zustimmen:
            “Die Theorie definiert eine ”ideale Uhr” als eine Uhr mit strikt konstante Proportionalität von Schrittanzahl zu Intervallweite.”

            Oder (vor allem sprachlich) bevorzugt:
            “Die Theorie definiert eine ”ideale Uhr” als eine Uhr mit strikt konstante Dauer jedes Schritts (von Tick zu Tick).”

            Und allgemeiner:
            “Die Theorie definiert eine ”gute Uhr” als eine Uhr, deren Anzeigen t-Werte so zugeordnet wurden, dass die Differenzen zwischen t-Werten strikt konstant proportional zu den Dauern der Uhr zwischen den entsprechenden Anzeigenpaaren waren.”

            Im Rahmen dieser Theorie (man nennt sie übrigens: “die Einsteinsche Relativitätstheorie”) ließen sich dann verschiedene Modelle formulieren; z.B.

            -(Modell 1): Alle tickenden Uhren waren stets ideale Uhren (d.h. bzgl. ihrer Schrittanzahl alias Tickanzahl als t-Wert), und werden immer und ewig ideale Uhren bleiben.

            (Dieses Modell ist experimentell prüfbar; und ich erwarte, dass es sich als falsch herausstellen wird, oder sogar schon als falsch herausgestellt hat.) Oder:

            -(Modell 2): Die tickende Uhr, die ich meistens an meinem Handgelenk trage, weicht von einer idealen Uhr um nicht mehr als 5 Prozent ab, in allen Versuchen, bei der ich sie zuerst im Backofen auf 250°C geheizt und sofort danach in der Eisteekanne auf 0°C gekühlt habe.

            (Dieses Modell ist experimentell prüfbar; und meine diesbezüglichen Erwartungen behalte ich vorerst für mich.)

            p.s.
            > Malament

            Ist das nicht der Neffe von Bourbaki?
            Und wichtiger: Hat der einen SciLog?? …

          • @Frank Wappler
            Gemäss der Theoretisierung registriert eine Uhr einen zeitlichen Verlauf nur entlang ihrer eigenen Weltlinie, und sonst nichts. Eine “ideale Uhr” ist eben die theoretische “Idee einer Uhr”, und das Postulat P2 beinhaltet eigentlich schon alles, was es über ideale Uhren in der RT zu sagen gibt. Synges Begriffsbildung einer tickenden Standarduhr hat darüber hinaus auch schon die Schnittstelle zur praktischen (metrologischen) Durchführung von Zeitmessung im Blickfeld. Die 4-Geschwindigkeit einer Uhr lässt sich ja nicht unmittelbar bestimmen und mit Zeigerstellungen vergleichen, sodass den Metrologen letztlich nichts anderes zu tun bleibt, als physische Uhrwerke zu konstruieren, die möglichst “gleichmässig ticken” (was auch immer damit dann gemeint ist), und die sich folglich als näherungsweise Realisierungen dieser “Idee einer Uhr” deuten lassen.

            »Malament … Ist das nicht der Neffe von Bourbaki?«

            Mathematisch hat Malament jedenfalls mehr auf dem Kasten als MTW, garantiert. Falls jedoch die Frage ein diskreter Hinweis auf ein missing link zu seinem Übersichtsartikel sein sollte … bitte hier [Click!]

          • @Chrys
            “Gemäss der Theoretisierung registriert eine Uhr einen zeitlichen Verlauf nur entlang ihrer eigenen Weltlinie, und sonst nichts.”
            ?
            Eine Uhr “registriert” gar nichts. Sie zeigt mechanische Regelmäßigkeit an.

          • @Maciej Zasada

            »Eine Uhr “registriert” gar nichts. Sie zeigt mechanische Regelmäßigkeit an.«

            Womit Sie mir überzugend darlegen, dass Sie hier den Unterschied zwischen Objekt- und Metatheorie völlig verpasst haben. Was mir nun wiederum die Gelegenheit gibt, auf Herrn Trepls aktuell neuesten Blogbeitrag, Erfahrungen mit interdisziplinärer Forschung, hinzuweisen, wo u.a. gerade diese Unterscheidung als Stichwort genannt und in einem weiteren Zusammenhang thematisiert wird.

          • @Chrys
            Da haben Sie vielleicht Recht. Ich detektiere dafür Schwachsinn ganz deutlich.
            Ich möchte hier nicht übertrieben und unnötig impertinent wirken, da Sie Ihren Eingangsstatement in Ihrem Kommentar relativiert haben, doch gesagt ist gesagt, daher nochmals:
            Die Uhren haben nichts mit der Zeit zu tun. Eine Uhr ist eine maschinelle Regelmäßigkeitsanzeige (oder eine Gleichmäßigkeitsanzeige).

          • Nur ergänzend angemerkt:
            Die Uhr (vgl. auch ‘hora’ und ‘year’) meint ursprünglich der Sonneneinstrahlung geschuldeter Periodizität, wobei dann subordiniert Zeiteinheiten gefunden worden sind, die dem Wesen des Primaten passend erschienen, die (gebaute) Uhr ist insofern ein Gerät, das sich geriert und registriert werden kann, wobei Bau wie Registration von diesbezüglich erkennenden Subjekten zu erfolgen hat.
            Womit dann womöglich auch zu dem kleinen hiesigen Disput auch alles gesagt oder geschrieben wäre.

            MFG
            Dr. Webbaer (der von einer näher gehenden Auseinandersetzung mit Kommentatorenkollege “Frank Wappler” traditionell abrät)

          • @DrWebbaer
            Die Uhr registriert nicht die Zeit, sondern bestimmte Werte, die zwar von uns mit der Zeit in Verbindung gesetzt werden, die jedoch ausdrücklich mit der mechanischen Periodizität des Uhrwerks / des Uhr bildenden Systems, nicht mit der Zeit selbst, zu tun haben.
            Analogie: der Geschwindigkeitsmesser registriert nicht die Geschwindigkeit, sondern zeigt>/strong> einen Messwert, der mittels eines geeigneten Maßstabs und einer geeigneten Anzeige, einem Geschwindigkeitswert zugeordnet wird…sekundär…modellhaft (ein Meter auf einem Metermaß ist das Modell eines Meters (der in Paris ausgestellt ist), der wiederum ein Modell oder ein Prototyp einer bestimmten, künstlich genormten und normierenden Entfernung zwischen zwei Punkten im Raum ist).

            Registrierten Uhren Zeit, wäre die Frage “was ist Zeit?” leicht zu beantworten: “Die Zeit ist das, was eine Uhr anzeigt”.

            MfG

          • Korrektur:
            “Die Uhr registriert nicht die Zeit, sondern bestimmte Werte”: FALSCH!
            Eine Uhr registriert nicht, sie zeigt an (Eine Uhr registriert nicht die Zeit, sondern zeigt bestimmte Werte an…)

            Eine Uhr ist kein Detektor, sondern eine Anzeige (Detektoren registrieren u.U., die Anzeigen zeigen an)

          • @Dr. Webbaer

            Und vergessen Sie nicht, dass es ein Fehler wäre zu glauben, dem Kommentatorenkollegen Maciej Zasada auch nur irgend etwas vermitteln zu können.

          • Chrys schrieb (13. Februar 2016 0:25):
            > Gemäss der Theoretisierung registriert eine Uhr einen zeitlichen Verlauf nur entlang ihrer eigenen Weltlinie, und sonst nichts.

            Ja, aber:
            Sofern nicht klipp und klar dargelegt und vereinbart ist, dass wir den Begriff “Weltlinie” (bzw. auch die einzelnen, zugrundegelegten Begriffe “Welt” und “Linie“) Koordinaten-frei definieren und verstehen … lass ich ihn (bzw. sie) weg; weil es mir um das Verständnis der Einsteinschen Relativitätstheorie als einer Theorie der Physik (und vorrangig der physischen Geometrie bzw. Kinematik) geht.

            Beim Begriff “(einer bestimmten) Uhr” (in größter Allgemeinheit) geht es meines Erachtens also (vor allem) darum, dass die unterscheidbaren Anzeigen eines bestimmten unterscheidbaren Beteiligten
            bemerkt, gemerkt und geordnet werden
            (in anderen Worten: “registriert und kuratiert”, insbesondere dahingehend, welche Wahrnehmungen zusammen/koinzident gemacht wurden, und welche nicht);
            und die Anzeigen eines bestimmten anderen Beteiligten betreffen (selbstverständlich) eine andere Uhr.

            > […] Zeitmessung

            Davon ist im Zusammenhang mit Uhren offenbar (auch) die Rede (d.h. zusätzlich zum Obigen).
            Eine bestimmte Uhr (im allgemeinsten Sinne, also einschl. “Blumenuhren”, “geologische Uhren”, o. Ä.) ist demnach zusätzlich zur geordneten Menge,

            “M := { A_j }”,

            der Anzeigen eines bestimmten Beteiligten (“A”) durch eine bestimmte Zuordnung reeller Zahlen zur gegebenen Anzeigenmenge charakterisiert:

            “t : M –> ℝ”;

            nennen wir’s eine bestimmte “Parametrisierung” der Anzeigenmenge des betreffenden bestimmten Beteiligten.

            > das Postulat P2 [Malament: “Clocks record the passage of elapsed proper time …”] beinhaltet eigentlich schon alles, was es über ideale Uhren in der RT zu sagen gibt.

            ???
            In P2 ist doch gar keine Rede von (und demnach gar keine Einschränkung auf) “ideal“.

            (Abgesehen davon wäre noch zu definieren, wie “proper time” bzw./besser “Dauer” bzw./zumindest “Lorentzian distance“.
            Ganz zu schweigen von Koordinaten-lastigen Abstraktionen wie “metrischer Tensor“.)

            > […] physische Uhrwerke zu konstruieren

            … oder gern auch ggf. “einfach” aufzufinden …

            > die möglichst “gleichmässig ticken” (was auch immer damit dann gemeint ist)

            Das proto-typische Fehlen von Nachvollziehbarkeit, das in der Phrase “was auch immer damit dann gemeint ist” zum Ausdruck kommt, trifft wohl mehr oder weniger auf “Künstler” wie z.B. Louis Essen und dessen Schüler bzw. Anhänger zu.

            Wird im Gegensatz dazu Wert auf Nachvollziehbarkeit gelegt, wie sie insbesondere in der RT zugrundeliegt, dann wird der Begriff des “gleichmäßigen tickens” ganz konkret und missverständlich definiert. Insbesondere, betreffend den einfachsten Fall: falls zwei Beteiligte gegenüber einander ruhten, dann waren deren gegenseitige Pingdauer konstant, und (sogar) einander gleich.

            p.s.
            > [Bourbaki …] Mathematisch hat Malament jedenfalls mehr auf dem Kasten als MTW, garantiert.

            Was Physik betrifft, also Würdigung und Einsatz der (operativen(?)) Grundlage der RT, dass

            alle unsere zeiträumlichen Konstatierungen stets auf die Bestimmung zeiträumlicher Koinzidenzen hinauslaufen,

            ist vermutlich Wheeler der (vorerst) letzte Einäugige unter Blinden gewesen.

            > Falls jedoch … bitte hier [Click!]

            Nochmals danke dafür. Aber:
            Sofern sich Rückfragen dazu (wie z.B. die oben angesprochene Frage danach, ob “P2” nur “ideale Uhren” meinen soll) nicht öffentlich und (insbesondere für Malament selbst) direkt auffindbar und beantwortbar stellen lassen, zählt das so gut wie nichts. (Um unseren Gastgeber zu paraphrasieren, der nicht zuletzt deshalb um so geduldiger sein möchte, als es z.Z. offenbar keinerlei öffentlich-auffindbare Aufarbeitung der RT Grundlagen stattfindet, außer ausgerechnet in diesem SciLog.)

          • Frank Wappler schrieb (14. Februar 2016 21:42):
            > […] dann wird der Begriff des “gleichmäßigen tickens” ganz konkret und missverständlich definiert.

            Sollte sein:
            Wird im Gegensatz dazu Wert auf Nachvollziehbarkeit gelegt, wie sie insbesondere in der RT zugrundeliegt, dann wird der Begriff des “gleichmäßigen Tickens” ganz konkret und unmissverständlich definiert.

          • Frank Wappler schrieb (14. Februar 2016 21:42):
            > dass die unterscheidbaren Anzeigen eines bestimmten unterscheidbaren Beteiligten bemerkt, gemerkt und geordnet werden
            (in anderen Worten: “registriert und kuratiert” […])

            Ich möchte versuchen, das eventuell noch ein wenig sorgfältiger zu formulieren bzw. (dadurch) zu kommentieren:

            Beim Begriff “(einer bestimmten) Uhr” geht es vor allem darum
            dass die unterscheidbaren Wahrnehmungen eines bestimmten Beteiligten zu Anzeigen geordnet und archiviert werden.

            Hinsichtlich des Wortes “registrieren”, dass ja in zwei Bedeutungen benutzt werden kann, wäre es
            selbstverständlich unbeholfen, oder sogar ein Kategoriefehler, zu sagen, (dass man denkt,)
            “dass Wahrnehmungen wahrgenommen/registriert_1 werden”.

            Ich würde das, was wahrgenommen/registriert_1 werden kann und wird, eher wiederum “Anzeigen” nennen; nämlich die Anzeigen von anderen Beteiligten, oder auch Anzeigen von (“körperlichen”, oder “gedanklichen”) Bestandteilen, die zum betreffenden Beteiligten selbst gehören.

            p.s.
            > Abgesehen davon wäre noch zu definieren, wie “proper time” bzw./besser “Dauer” bzw./zumindest “Lorentzian distance”

            zu messen ist.
            (Denn, abgesehen von den grundlegenden Feststellungen hinsichtlich “Koinzidenz”, existiert ein Begriff als Name einer Messgröße für den Physiker erst dann, wenn die Möglichkeit gegeben ist, im konkreten Falle herauszufinden,
            welcher reelle oder Boolesche Wert jeweils zutraf, falls überhaupt.
            Solange diese Forderung nicht erfüllt ist, gebe ich mich als Physiker
            (allerdings auch als Nichtphysiker!) einer Täuschung hin.)

          • @Frank Wappler
            Das Problem des Messens in der Physik ist ja per se insofern interdiziplinär angelegt, als es grundsätzlich jeweils einen a) abstrakt objekttheoretischen und einen b) konkret metrologischen Sinnzusammenhang beinhaltet. Hinsichtlich der RT wird nun ein Begriff wie ‘Zeitmessung’ oder ‘Uhr’ sowohl bezogen auf a) wie auch auf b) verwendet, jedoch ist seine Bedeutung dann zunächst in Abhängigkeit vom jeweiligen Sinnzusammenhang gegeben. Und es fällt in den Bereich der Metatheorie, hierzu eine verbindende Interpretation zu liefern, womit überhaupt erst eine Schnittstelle zwischen Objekttheorie und Experiment geschaffen wird.

            In der hierbei geometrisch konzipierten Objekttheorie ist Zeitmessung nicht metrologisch zu verstehen, sondern im Sinne der Mass- und Integrationstheorie: Es wird dabei eine durch die Raumzeit-Metrik auf einer gegebenen zeitartigen Weltlinie induzierte 1-Form ds über einen Abschnitt dieser Weltlinie integriert. Der so erhaltene Messwert lässt sich nun — noch immer objekttheoretisch — deuten als die Eigenzeitdauer resp. Eigenzeitdifferenz Δs, die eine punkthafte “ideale Uhr” beim Durchlaufen dieses Abschnittes mit betragsmässig konstanter 4-Geschw. c “misst”. Andere Arten von Uhren kommen da nicht vor (und in diesem Sinne spricht nicht nur Malament, sondern e.g. auch Penrose von “idealer Uhr”). Der Anschluss an die metrolog. Zeitmessung bestehet dann im wesentlichen darin, solche abstrakten Messwerte auf eine vernünftige Weise mit einer physikal. realisierbaren Zeiteinheit (also normalerweise die SI-Sekunde) zu verknüpfen. Die “realen Uhren” der Metrologen sind naturgemäss immer nur mehr oder weniger “gut”, und die Beurteilung dieser Qualität von Uhren gehört dann auch zur Metrologie.

            Ich stelle abschliessend fest, dass ich mit meinen Bemerkungen inzwischen einige Lichtjahre weit vom eigentlichen Blogthema abgedriftet bin, und das ganze, wenn überhaupt, bestenfalls noch als ein recht spezieller Aspekt interdisziplinären Wissenschaftens durchgeht. Es ist zu bedenken, dass wir thematisch hier wohl mehr und mehr im falschen Film sind.

          • Chrys schrieb (15. Februar 2016 18:53):
            > […] Die “realen Uhren” der Metrologen sind naturgemäss immer nur mehr oder weniger “gut”, und die Beurteilung dieser Qualität von Uhren gehört dann auch zur Metrologie.

            Offenbar erwähnt auch Malament (im kürzlich oben und vor Längerem schon woanders verlinkten Artikel) den Begriff “reale Uhr”; nämlich (S. 7):

            construe an “ideal clock” as […] perfectly record[ing] the passage of proper time along its worldline, and then take P2 to assert that real clocks are […] to varying degrees of accuracy, approximately ideal.

            (Ich gebe zu, dass ich gestern nicht so weit gelesen hatte; und vergessen habe, ob ich jemals mindestens so weit gelesen hatte. Falls Malament einen mathematisch-konkreten Ausdruck für eventuell von Null verschiedene “accuracy” bzw. für “record an sich” (zur Unterscheidung von der “passage of proper time bzw. Dauer”) angegeben hätte, dann wäre mir das sicherlich aufgefallen, weil ich stets genau danach suche, um mit den von mir selbst entwickelten und vorgeschlagenen Ausdrücken dafür vergleichen zu können.
            Das hat Malament aber nicht, so weit ich erkennen kann. Allerdings schließe ich daraus nicht, dass er so etwas nicht auf dem Kasten hätte.)

            > geometrisch konzipierten Objekttheorie […] eine durch die Raumzeit-Metrik auf einer gegebenen zeitartigen Weltlinie induzierte 1-Form ds

            Das schließt auch an die (oben mehrfach erwähnte) Idee von “gegebener Metrik” (vermutlich im Sinne von “gegebenem metrischen Tensor”) an, zu der ich mich nun veranlasst sehe, deutlicher Stellung zu nehmen als sie einfach zu ignorieren:

            Dahingehend aufschlussreich ist (man errät es?!): MTW, chap. 13 “Riemannian geometry: Metric as foundation of all”; und darin wiederum Box 13.1: “Metric distilled from distances”, was (paradoxer Weise) nahelegt, dass der Begriff “Metric” (bzw. “metrischer Tensor” in der Relativitätstheorie gar nicht grundlegend ist, sondern zumindest vom “Distanz”-Begriff (oder geeigneten Verallgemeinerungen) herzuleiten ist. Riemannsche Geometrie (bzw. allgemeiner natürlich: pseudo-Riemannsche Geometrie) ist offensichtlich nicht die relevante “Objekttheorie der Einsteinschen Relativitätstheorie; sondern wurde (bestenfalls) von gewissen Mathematikern danebengesetzt.

            > dass wir thematisch hier wohl mehr und mehr im falschen Film sind.

            Das kann ich nicht bestreiten; möchte aber bemerken, dass ich mich zumindest was Sorgfalt und Gewissenhaftigkeit angeht hier doch in einem “richtigen, geeignet anspruchsvollen Kinosaal” zu befinden meine. Na, dann meinetwegen bis zur nächst-besseren Vorstellung …

          • @Frank Wappler
            Ich fürchte, mit der Box 13.1 lassen sich beflissene MTW-Leser womöglich leicht ins Bockshorn jagen. Die Lorentzsche Distanzfunktion korrespondiert mit der chronalen resp. kausalen Ordnungsstruktur einer Raumzeit (M,g), und g ist durch diese noch nicht determiniert, vgl. dazu Malament, Sec. 3.3.

            Apropos “gute Uhr” — hier ist eine nach meinem Verständnis ziemlich gute in Braunschweig: [Click].

          • Chrys schrieb (16. Februar 2016 18:46):
            > Ich fürchte, mit der Box 13.1 lassen sich beflissene MTW-Leser womöglich leicht ins Bockshorn jagen.

            Etwa in genau jenes “Bockshorn? …

            Jedenfalls hoffe ich, dass Leser, die MTW in der Reihenfolge der Seiten bzw. Abschnitte lesen, die von den Autoren vorgeschlagen bzw. durch Nummerierung implizit ist, sich nicht dadurch auf falsche Fährten locken lassen, dass Box 13.1 etliche (noch schlimmer) Koordinaten-verseuchte Ausführungen vorausgehen.
            (Womit ich natürlich auch die Existenz von „richtigen Fährten“ unterstelle: die nämlich dahin führen, was Einstein womöglich schon immer gemeint, aber (leider) erst um 1915 herum einigermaßen begriffen hat.)

            > Die Lorentzsche Distanzfunktion korrespondiert mit der chronalen resp. kausalen Ordnungsstruktur einer Raumzeit (M,g),

            Sicherlich (besser ist das); aber es gibt eine offenbar noch „schärfere“, verallgemeinert-metrische Korrespondenz, die z.B. durch die (erste, einzige) Gleichung in Sec. 2.2 (Proper Time) ausgedrückt ist.

            Da, wo’s interessant zu werden verspricht, also in (oder evtl. anschließend an) Sec. 3.3 (Recovering Global Geometric Structure from “Causal Structure”) kann ich eben leider nicht erkennen, dass Malament aus der genannten “Causal Structure”, die er ja offenbar auch als denkbaren gegebenen „start“ in Betracht zieht, mal konkret das herleiten würde, was oben als „Maß“ genannt (und in seiner Bedeutung anerkannt) wurde; also insbesondere Verhältnisse von Dauern (bzw. von „elapsed proper times“).

            > und g ist durch diese noch nicht determiniert, vgl. dazu Malament, Sec. 3.3.

            Tja – wer sich mit Koordinaten einlässt, darf sich über Äquivalenzklassen nicht wundern.
            Im Übrigen wäre es auch interessant gewesen, wenn sich Malament mit der Frage/Aufgabe beschäftigt hätte,
            wie (bzw. unter welchen Bedingungen) aus gegebener “Causal Structure” (und einer damit in Betracht gezogener Gesamtmenge von Ereignissen) herzuleiten/zu ermitteln wäre, welche Ereignis-Teilmengen „open“ und/oder „sufficiently small“ gewesen sind.

            > eine nach meinem Verständnis ziemlich gute [Uhr] in Braunschweig

            War diese Uhr z.B. auch insbesondere Mitte September letzten Jahres „ ziemlich gut“?
            Oder ist das im Sinne des „Verständnisses“, das dahingehend u.a. auch von der PTB zum Ausdruck gebracht wird, eine eher müßige Frage? …

          • @Frank Wappler
            Auch im Bockshorn Irish Pub lässt sich schliesslich Destilliertes finden, und davon sogar mehr — wie mancher Connaisseur glaubhaft beteuert — als anderswo in zwei, drei oder vier Boxes, die schwach waren wie eine Flasche leer.

            Bei der Suche nach Raumzeit-Destillaten helfen Dir womöglich Malaments Hinweise auf Sorkin and co-workers noch irgendwie weiter. Als Apéritif könnte dabei dienen: R. Sorkin, “Geometry from order: causal sets” in: Einstein Online, Vol. 02 (2006), 1007.

            Im übrigen bin ich davon überzeugt, dass sich Braunschweiger Yb-Uhren nicht davon beeindrucken lassen, wenn die Gemeinde der Gläubigen ekstatisch jauchzt: “Ein Zeichen! Uns ist ein Zeichen am Himmel erschienen!”

        • Absolutismus erzeugt Relativismus

          @Balanus
          13. Februar 2016 23:51

          „Was ich allerdings nicht verstehe, ist, inwiefern der „Absolutismus den Relativismus [rechtfertigt]“ (L. T., 10. Februar 2016 17:52).“

          Das bezog sich auf den unten von Ihnen zitierten Satz von @Chrys: „…wie sich mit dem absolutistischen Anspruch, das Gute schlechthin zu repräsentieren, praktisch jede Haltung rechtfertigen lässt, wenn man nur will“.

          Ich selbst habe irgendwo anders (oben im Artikel?) etwa so argumentiert: Der typische heutige Naturalist denkt nicht immer daran, daß die Behauptungen der empirischen Wissenschaft fallibel sind. Wenn er die typischen positivistischen Glaubenssätze beweisen möchte, etwa, daß der Mensch nichts ist als Natur, daß folglich so etwas wie „Menschenwürde“ – worin ja ein absoluter Anspruch steckt – nur ein Gedanke von Naturwesen ist und von deren evolutionär bedingter Beschaffenheit abhängig ist, bei etwas anders verlaufener Evolution dieser Gedanke also nicht da wäre, also keineswegs absolut gültig ist und darum, weil er ja gerade das beansprucht, falsch, usw. – wenn er also diese typischen Glaubenssätze, die auf einen Relativismus hinauslaufen, beweisen möchte, dann vergißt er die Fallibilität. Daß der Mensch ein eine Ewigkeitssekunde lang existierendes Staubkorn auf einem Staubkorn am Rande einer Galaxis ist, oder daß die Evolutionstheorie gilt und daß sich bestimmte, universell gültige Grundwerte sich aus der Evolutionsgeschichte des Menschen erklären lassen (womit sie, nebenbei, eben nicht universell gültig wären, sondern nur von jenen nach einer Ewigkeitssekunde wieder verschwundenen Staubkörner für gültig gehalten werden) usw., also alles, was zu dem Gedanken führt, daß der Mensch ein Lebewesen wie alle anderen ist und folglich alles, was er denkt, nur relativ zu seiner (evolutionsbiologisch erworbenen) kognitiven Struktur und nicht absolut wahr sein kann: bei all dem setzt der szientifische Naturalist voraus, daß eben das absolut wahr ist, was er da über die Beschaffenheit der Welt meint wissenschaftlich herausgefunden zu haben.

  6. Zweifel richtet sich nicht gegen Wahrheiten, das wäre ein “performativer Selbstwiderspruch”, sondern er richtet sich gegen Aussagen oder Behauptungen, die Wahrheit für sich beanspruchen. Ob die Wahrheit absolut oder relativ ist, spielt dabei keine Rolle, denn der Absolutheitsanspruch für Wahrheit ist eine metaphysische Weltanschauung und keine Eigenschaft von Wahrheit.

    Quine hat in den “Two Dogmas” dargelegt, dass es zwischen synthetischen und analytischen Aussagen oder Sätzen, wie Kant sie beschrieben hat, keine Unterschiede gibt. Der Grund dafür ist der Mangel an zuverlässigen Kriterien für Wahrheit. Logische Schlussfolgerungen können demnach ebenso wenig Wahrheit für sich beanspruchen wie empirische Aussagen. Das erscheint mir plausibel, denn über jeder Wahrheit steht die semantische Bedeutung der beteiligten Begriffe (ihre Intension und Extension). Was ist die “Wahrheit” über Gott oder über den Urknall? Selbst die Aussagen “Schnee ist weiß” oder “ein Kreis ist rund” dürfen begründet bezweifelt werden. Als “Lebenshypothesen” jedoch haben sie sich bewährt und sind unerlässlich.

    Das bedeutet also nicht, dass Relativismus und Skeptizismus für den Lebensalltag Auswirkungen haben müssen, aber es sollte vorsichtig und skeptisch machen gegenüber Ideologen und selbsternannten Wahrheitsverkündern, von denen es reichlich gibt, in allen Bereichen des Lebens. Der Wert von (Natur)Wissenschaft liegt in der methodischen Zuverlässigkeit ihrer Erkenntnisse und Aussagen über die wahrnehmbare und erfahrbare Welt. Ihre Modelle und Theorien machen überprüfbare Vorhersagen möglich. Andererseits kann eine vermeintliche Falsifizierung selber falsch sein und nicht jede unpassende Beobachtung widerlegt die zugehörige Theorie (Duhem-Quine-These). Auch bei Kriitkern und Gegnern der Wissenschaft wäre mehr (Selbst)Skepsis angebracht!

  7. @Ludwig Trepl (20. Januar 2016 13:29)

    »Wagner hält diese Beweisführung für verfehlt. Das „Argument … setzt voraus, daß die Relativismusthese zur Allheit jener Wahrheiten selbst gehören müsse, deren Relativität sie behauptet. Mit vollem Recht besteht der Relativismus darauf, daß dies seine Meinung gerade nicht sei“.«

    Da hat Wagner recht, und das sollten Sie nicht unbedacht ad acta legen. Ihre “traditionelle Art der Widerlegung” liesse sich allenfalls dort in Anschlag bringen, wo jemand innerhalb eines (objektsprachlichen) Diskurses die konstitutiven (metasprachlichen) Regeln und Vorbedingungen zur Ermöglichung des Diskurses festlegen oder hinterfragen wollte. Laut Wagner ist dieser Fall aber gar nicht gegeben, und mit anderen Worten sagt er praktisch, dass die “Relativismusthese” zur Metasprache gehört, womit sie jeweils ausserhalb des diskursiven Rahmens liegt, auf dessen Regeln Sie sich zwecks “traditioneller Widerlegung” beziehen wollen. Was insbesondere zur Folge hat, dass sich diese These gar nicht auf konsistente Weise nach jenem Kriterium von ‘Wahrheit’ beurteilen lässt, welches innerhalb des besagten diskursiven Rahmens Gültigkeit hat.

    • Da bin ich derselben Überzeugung wie Wagner. Die Relativismusthese bezieht sich auf Wahrheit als Eigenschaft empirischer Aussagen, also Aussagen über die Wirklichkeit. Die Gegner des Relativismus, die überwiegend im theologisch geprägten Lager zu finden sind, soweit ich im Internet kürzlich recherchiert habe, beziehen sich auf “Wahrheit” als sprachlichen Begriff und dessen Eigenschaften (Bedeutung). Der scheinbare “performative Selbstwiderspruch” ist kein Widerspruch, sondern eine vorwiegend ideologisch gefärbte Behauptung zur Ablehnung des Relativismus. Prägnant war die Aussage des damaligen Kardinal Ratzinger zur “Diktatur des Relativismus” (2005).

      Relativisten behaupten keineswegs, dass es prinzipiell keine Wahrheit gebe, sondern nur, dass jede Aussage über die empirische Wirklichkeit relativ zu Prämissen oder Vorannahmen, z.B. zum Gebrauch der verwendeten Begriffe, zu deuten ist. Zwischen Sprache und Wirklichkeit gibt es keine natürlich vorgegebene, absolute Referenz, denn sprachliche Begriffe sind willkürlich (Arbitraritätsprinzip von Saussure) und unterliegen der Konvention (bzw. Tradition) der Sprachgemeinschaft.

      • Entsprechendes lässt sich natürlich auch über formale math. Aussagen feststellen. Die Negation von Euklids Parallelenaxiom führt nicht etwa auf einen “performativen Selbstwiderspruch”, sondern zur nichteuklidischen Geometrie. Es brauchte zwar historisch schon einen giant leap for mankind, um zu dieser Einsicht zu gelangen, aber selbst die hyperbolische Geometrie ist schliesslich keineswegs der Anschauung entzogen, wie es uns insbesondere M.C. Escher wunderschön graphisch demonstriert hat.

        Apropos Ratzinger, der sucht auch lieber den Splitter im Auge seines Nächsten als den Balken in seinem eigenen. Kein Wort davon, wie sehr es doch kath. Kleriker waren, die in 1700 Jahren Kirchengeschichte den moralischen Relativismus zur höheren Kunst entwickelt und geradezu perfektioniert haben. So proklamierte in den 1950ern der noch immer hochgeehrte kath. Sozialethiker Gustav Gundlach, SJ, ganz ungeniert die päpstliche Doktrin von der sittlichen Vertretbarkeit eines nuklearen Krieges gegen das vermeintliche Reich des Bösen. Und nun stelle man sich das Geschrei vor, das zu hören wäre, wenn jetzt ein iranischer Ayatollah so etwas sagen würde…

    • Die Wahrheit wird entweder erkannt oder sie wird nicht erkannt. Sie ist jedenfalls als Gegenstand des Erkennens absolut (in dem Sinne, in dem es keine graduierende Zwischenstufen der Wahrheitskenntnis geben kann – im Gegensatz zu den graduierenden Zwischenstufen der Erkenntnis – diese gibt es freilich).
      Daher wird das, was wir als Wahrheit erkennen meistens bloß (und im besten Fall) als wahr erkannt. Wir markieren die Wahrheit der Dinge, indem wir Dinge als wahr erkennen und sie als wahr bezeichnen. Wir erkennen daher nicht die Wahrheit, sondern das Wahrsein der Dinge.

      Es existiert aber ein essenzieller Unterschied zwischen dem erkannten Wahrsein von A und der Wahrheit A als apriorischer Ordnung, in der wahre Dinge vorliegen.

      Das Wahrsein der Dinge bezieht sich auf die Wahrheit innerhalb eines punktuellen Existenzkontextes (punktuell im Raum und in der Zeit). Ihre Wahrheit bezieht sich dagegen auf die Selbstidentität ihres Daseins innerhalb eines beliebigen (raumzeitlichen) Kontextes (die Behauptung, dass die Zimmerhöhe von Ludwigs Zimmer 250cm beträgt, kann sich auf ein zur Zeit der Messung und auf ein zur Zeit Ludwigs Existenz existierendes Zimmer beziehen; dieselbe Behauptung wäre vor 500 Jahren und wird in 500 Jahren wahrscheinlich falsch sein).

      Neben der Wahrheit als einer zu erkennenden, jeweilig indiskutablen, tautologischen Ordnung, existiert notwendigerweise das Wissen über die Wahrheit, in dessen Besitz sich eine erkennende Instanz befinden kann, oder auch nicht.

    • @ Chrys

      “und mit anderen Worten sagt er praktisch, dass die “Relativismusthese” zur Metasprache gehört, womit sie jeweils ausserhalb des diskursiven Rahmens liegt, auf dessen Regeln Sie sich zwecks “traditioneller Widerlegung” beziehen wollen.”

      Könnten Sie das noch mal erklären: inwiefern die “Relativismusthese” zur Metasprache gehört? Ich ahne zwar etwas, aber verstanden habe ich es nicht.

      “… auf dessen Regeln Sie sich zwecks “traditioneller Widerlegung” beziehen wollen”. Ich will gar nichts zwecks “traditioneller Widerlegung” tun, denn ich halte Wagners Einwand gegen diese für richtig: “er versteht sich als ein Urteil über eine Allheit von [behaupteten] Wahrheiten und, indem er über sie als seinen Gegenstand urteilt, gehört er nicht zu dem, worüber er urteilt … sondern steht dieser Allheit des Beurteilten als Urteil gegenüber“. Wenn Sie heute jemand suchen, der diese traditionelle Widerlegung (modifiziert) verteidigt und auch schön prominent ist, müssen Sie wohl in der Richtung Apel/Habermas suchen, aber da kennen Sie sich sicher besser aus als ich.

      Ich halte aber diejenige Widerlegung der Relativismus-Skeptizismusthese für tragfähig, die auch Wagner für tragfähig hält (leider konnte ich dem Buch nicht entnehmen, von wem diese Argumentation ist, vielleicht von Wagner selber): die über den sich “vollbringenden Relativismus-Skeptizismus” (bzw. Zweifel). Man kann, salopp gesagt, nicht zweifeln ohne Anerkennung der Wahrheit (dessen, was man gegen das Bezweifelte anführt). Jetzt müßten Sie sagen, daß dies auch ohne einen Begriff der absoluten Wahrheit möglich ist.

  8. (Fortsetzung)

    Seit eh und je gibt es eine Antwort auf die Thesen des Skeptizismus und Relativismus. Heute ist sie vor allem im Zusammenhang mit der Diskurstheorie bzw. -ethik von K.-O.- Apel und J. Habermas bekannt unter dem Titel „performativer Selbstwiderspruch“. Die Art der Widerlegung aber ist seit der Antike immer dieselbe: „Der absolute Boden des Gedankens [ist] die unerläßliche Bedingung selbst noch seiner Ableugnung und Bezweiflung“. (151) Skeptizismus und Relativismus behaupten die „Relativität und Zweifelhaftigkeit aller Wahrheitsbemühung“, machen für sich selbst aber eine Ausnahme. Die Thesen des Relativismus und des Skeptizismus besagen, daß von ihnen nicht gelte, was gerade nach ihnen selbst von jeder These gelten soll. (154)
    Wagner hält diese Beweisführung für verfehlt. Das „Argument … setzt voraus, daß die Relativismusthese zur Allheit jener Wahrheiten selbst gehören müsse, deren Relativität sie behauptet. Mit vollem Recht besteht der Relativismus darauf, daß dies seine Meinung gerade nicht sei“. „Denn er versteht sich als ein Urteil über eine Allheit von Wahrheiten und, indem er über sie als seinen Gegenstand urteilt, gehört er nicht zu dem, worüber er urteilt … sondern steht dieser Allheit des Beurteilten als Urteil gegenüber“ (155)
    Die traditionelle Art der Widerlegung ist aber nahe an einer tragfähigen: Der Relativismus muß sich aber „vollbringen“ (Hegel, der aber damit nicht genau das gleiche meinte), damit klar wird, daß er nicht möglich ist. Ich führe das hier nur für den Skeptizismus aus:
    Der Skeptizismus geht davon aus, daß sich alles, was als Wahrheit behauptet wird, bezweifeln läßt. „Beachtung fordern“ aber kann der Skeptizismus nur, wenn er die Geltung eines Gedankens „aufgrund einer Prüfung bezweifelt“. (159) „Noch bevor er aber prüfen kann, muß er das zu Prüfende inhaltlich bestimmt haben“. Ohne dies „kann ein Mensch zwar sagen, er zweifle an allem, aber in Wahrheit zweifelt er an nichts, weil inhaltlich Unbestimmtes ein Nichts für den Gedanken … ist.“ Und Prüfung ist nicht möglich ohne die Prinzipien, die gewährleisten, daß eine wahre Behauptung gegen das Bezweifelte ins Feld geführt wird und nicht eine falsche. „Der sich vollbringende Skeptizismus fällt mit der Freilegung des absoluten Bodens des Gedankens zusammen.“ (159)

    • @Ludwig Trepl

      “Skeptizismus und Relativismus behaupten die „Relativität und Zweifelhaftigkeit aller Wahrheitsbemühung“, machen für sich selbst aber eine Ausnahme. Die Thesen des Relativismus und des Skeptizismus besagen, daß von ihnen nicht gelte, was gerade nach ihnen selbst von jeder These gelten soll. (154)”

      Grunsätzliches zum Thema:
      Über die Wahrheit der Falschheit.

      Die Falschheit zu erkennen heißt das Wahrsein der Falschheit zu erkennen. Das Erkennen ist nämlich grundsätzlich ein Akt der positiven Identifizierung, auch dann, wenn es sich bei dem Erkannten/Identfizierten um eine Falschheit handelt.
      Es ist wahr, dass die Gegenüberstellung der Wahrheitswerte ‘wahr’ und ‘falsch’, welche die Grundlage der ausschliessenden Wahrheitslogik bildet, keine gültige Gegenüberstellung der sich ausschliessenden Wahrheitswerte im logischen Sinne ist.
      Jede erkannte Falschheit ist nämlich zugleich als ein Produkt eines Erkenntnisprozesses zu bezeichnen. Am Ende eines jeden abgeschlossenen Erkenntnisprozesses steht aber eine positive Erkenntnis: eine erkannte Wahrheit.
      Jede erkannte Falschheit muss daher desto gültiger sein (‘gültig’ im Sinne ‘als wahr erkannt und als wahr geltend’), je wahrer sie als eine Erkenntnis ist.

      Das Wissen über die Wahrheit
      Das Wissen über die Falschheit
      Das Unwissen über die Wahrheit
      Das Unwissen über die Falschheit

      Der fundamentale Widerspruch der ausschliessenden Wahrheitslogik:

      Indem wir über Wahrheit einer Aussage x entscheiden, entscheiden wir nicht über Falschheit der gegensätzlichen Aussage y – wir entscheiden über die Wahrheit von y als eines Gegensatzes von x.
      Wir erkennen stets die Wahrheit – dies ist das universelle Wesensmerkmal der Erkenntnis an sich und der Grund, warum (1) die ausschliessende Wahrheitslogik keine Logik ist, und warum (2) es in der Welt so viele, die Falschheit “erkennende”, “ausschliessliche” und ausschliessende Wahrheiten gibt.

  9. @ Chrys hat mich neulich gebeten, meine Interpretation des Kant’schen unbedingten Sollens einmal deutlich aufzuschreiben, da gebe es gravierende Mißverständnisse. Das habe ich versucht, und zumindest mir selbst hat es geholfen, ich hoffe, auch anderen. Nun scheint es mir im Umkreis der hier diskutierten Fragen (Skeptizismus, Relativismus …) noch etwas auf meiner Seite zu geben, das immerzu falsch verstanden wird: was ich denn mit absoluter oder unbedingter Wahrheit meine. Da gibt es geradezu abenteuerliche Mißverständnisse, etwa, ich würde meinen, jemand könne zu recht meinen, er sei im Besitz dieser unbedingten Wahrheit, noch dazu nicht nur über Einzelnes, sondern über die ganze Welt oder so etwas. – Was ich meine zu erläutern braucht viel mehr Platz als für jene Frage des Sollens nötig war. Ich will es auf mehrere Kommentare verteilen.

    Sinnvoll scheint es mir, vorweg die Diskurssituation zu skizzieren, in der das, was ich vertrete, entstanden ist. „Ich vertrete“: ich habe es mir natürlich nicht selbst ausgedacht, sondern übernehme es aus der Literatur. Und: ich „vertrete“ es nicht wirklich. Im Falle des vorigen Themas (unbedingtes Sollen) kenne ich die Diskussion um die entsprechenden Kant-Stellen recht gut, weiß um die wichtigsten Einwände, habe eine Vorstellung davon, welchen ich mich anschließen möchte und bei welchen ich skeptisch bin. Das ist beim Thema absolute Wahrheit überhaupt nicht der Fall, ich habe sogar den Eindruck, um den Autor, von dem ich meine Auffassungen unmittelbar übernehme, gibt es gar keine nennenswerte Diskussion. Auch darum sind meine Überzeugungen ziemlich ungefestigt. Doch glaube ich immerhin sagen zu können, daß ich im Großen und Ganzen in die von diesem Autor vorgegebene Richtung denke und davon auch nicht so leicht abzubringen bin. – Daß es vielleicht überhaupt keine nennenswerte Diskussion gibt, liegt an dem, was ich oben mit Diskurssituation gemeint habe, und die will ich jetzt skizzieren.

    In den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts war die philosophische Diskussion insgesamt und auch die um unsere spezielle Frage auf dem europäischen Kontinent vom Neukantianismus beherrscht. Diese Vorherrschaft hörte dann plötzlich auf, es gab neue dominierende Moden, insbesondere die Phänomenologie (Husserl) und danach diejenigen, die sich Husserl fortsetzend oder kritisch darauf bezogen – Philosophien, die meist mit „Existenz“ anfangen, sowie der Strukturalismus. Zwischen 1950 und 1970 brach auch diese Vorherrschaft zusammen. In Mode waren nun angloamerikanische (und wienerische) Philosophien, die in der Tradition des Empirismus stehen und die man meist kurz mit „Positivismus“ bezeichnet. Eine gewisse Resistenz dagegen zeigten von den kontinentaleuropäischen Philosophien solche partiell neumarxistischer („Frankfurter“) Herkunft, die sich aber durch Aufnahme gewisser Elemente aus der angloamerikanischen Tradition (Pragmatizismus, Sprachphilosophie, Kommunikationstheorie …) „modernisierten“; in den für unsere Frage wesentlichen Hinsichten gehören sie jedoch noch auf die von mir bevorzugte „vormoderne“ Seite.

    Wichtig scheint mir nun die Art, wie philosophische Moden einander ablösen. Recht selten wird eine Position aufgegeben, weil sie widerlegt worden ist. Man wendet sich vielmehr anderen Fragen zu, weil sie aufgrund irgendwelcher veränderten Umstände (z. B. politischer Art) interessanter erscheinen oder einfach der Mode mehr entsprechen, also aus Gründen, die irgendwie ins Gebiet der Ästhetik fallen. Die alten Probleme werden ungelöst beiseite gelegt. Wenn daher von den Anhängern der neuen Mode gesagt wird, dies oder jenes sehe man heute nicht mehr so, sondern so, eine bestimmte Sichtweise sei veraltet, eine andere sei der Stand der Dinge, so muß man skeptisch sein. Die Philosophie schreitet nicht in der Weise voran, wie es die positiven Wissenschaften tun, indem sie Problem nach Problem lösen und die neueste Lösung immer die ist, an die man sich vernünftigerweise halten sollte, denn sie ist ja das Ergebnis von Prüfung und Korrektur der vorigen Lösungen. Ein derartiges Voranschreiten gibt es allenfalls innerhalb eines bestimmten philosophischen Rahmens, beispielsweise des Positivismus. In den verschiedenen philosophischen Rahmen gibt es meist je eigene Auffassungen, die man dem „Stand der Wissenschaft“ vergleichen könnte. Das hält diejenigen, die die jeweils modische Position vertreten, aber selten davon ab, sich selbst als auf dem „Stand der Wissenschaft“ zu sehen und die nicht mehr modischen Positionen für überholt zu erklären. In der angloamerikanischen Philosophie wurde das begünstigt durch die für den neueren Positivismus bezeichnende Haltung, Philosophie als Wissenschaft zu betreiben; man versteht dann gar nicht mehr, wieso es heute immer noch Aristoteliker und Cartesianer gibt. – Aber es kommt doch nicht selten vor, daß die nicht mehr modischen Handschuhe besser wärmen als die modischen.

    (Fortsetzung folgt)

    • Lieber Herr Trepl, für besonders werthaltige und womöglich auch aufschluseiche Ergänzungen bietet sich natürlich für einige, insbesondere: für Sie, ein WebLog-Eintrag an, auch damit derartige Ergänzung oder Nachricht nicht in kommentarischen Niederungen sozusagen versauert,
      MFG
      Dr. W

      • *
        aufschlussreiche

        PS:
        Großartige Gedanken natürlich, Kultur bleibt spannend.

    • @ Ludwig Trepl

      Eine kleine Ergänzung: Heidegger sollte man in dieser Aufzählung von Schlüsselfiguren und -schulen nicht vergessen, meine ich, denn er hat sowohl jene Existenz-Philosophien (Satre, Gadamer, …) als auch den Strukturalismus (Foucault, Latour, …) stark beeinflusst und war den Vertretern der Frankfurter-Schule tief verhasst, obwohl ihre und seine Philosophie in zentralen Punkten doch ganz ähnlichen Stoßrichtungen aufweisen, z.B. hinsichtlich der Frage der Relevanz des ästhetischen Zugangs zur Welt für die Überwindung zentraler Problem sowohl des Relativismus/Konstruktivismus als auch des Positivismus/Empirismus – ganz anders freilich in der politischen Orientierung. Vielleicht haben sie in Frankfurt die angloamerikanischen Elemente übernommen, weil sie sich von Heideggers Konservativismus distanzieren wollten. Erwähnen sollte man Heidegger zudem, weil er heute wieder groß in Mode ist, gerade wegen des konservativen Nimbus, der ihn umgibt und dem Heilsversprechen der Überwindung des Positivismus, ja gar der Metaphysik. Dass er in Mode ist, heißt, dass er nicht selten weniger verstanden als missbraucht wird. Das ist politisch nicht ungefährlich, insbesondere vor dem Hintergrund von Heidegger historisch-politischer Stellung (die man in meinen Augen sorgfältig von dem philosophisch-systematischen Gehalt von Gedanken trennen sollte). Diese Stellung, und nicht zuletzt sein mythisches Geraune, das der Nazi-Ästhetik so ähnlich scheint, macht in äußerst einfach, aber auch sehr wirkmächtig, politisch instrumentalisierbar. Das merkt man nicht nur daran, dass in der Presse sehr oft mit seiner politischen Vergangenheit argumentiert, wenn man sein Denken kritisieren will. Aber dieser Kurzschluss ist gefährlich. Vielleicht liegt der größte Beweis dafür in Heideggers Hybris als aktiver Nationalsozialist. Dabei ist er heute relevant, weil er nicht zuletzt als Denker gilt, der der sogenannten ökologischen Bewegung, die bekanntlich ja in Teilbereichen (aber eben nur in Teilbereichen) starke Bezüge zur nationalsozialistischen Weltanschauung aufweist, eine Basis formuliert hat. Diese Basis dürft allerdings v.a. eines sein: nicht naturalistisch im Sinn des “szientistischen” Naturalismus, aber doch mit irgendwelchen Bezügen zum “ökologischen” Naturalismus.

      Aber nun zurück zu dem Kommentar. Mich würde interessieren, ob sich die Entwicklung von Philosophien ähnlich gestaltet, wie die von naturwissenschaftlichen Paradigmen (im Sinne von Kuhn)? Oder gibt es da einen grundsätzlichen Unterschied?

      Besten Gruß

      Schorsch

      • „Eine kleine Ergänzung: Heidegger sollte man in dieser Aufzählung von Schlüsselfiguren und -schulen nicht vergessen“

        Ja, das meine ich auch, ich hab in auch mitgemeint mit der Husserl-Tradition. Sein Einfluß in der Philosophie war gewaltig, aber seitdem der Positivismus Mode ist, denkt kaum mehr einer an ihn oder in seiner Richtung, er ist nur noch eine Größe im politischen Journalisten-Diskurs. Auch das mit der Rolle für die Öko-Bewegung (von der in dieser keiner eine Ahnung hat) sehe ich ähnlich. Daß ich mich mit ihm hier in diesem Blog nie befaßt habe, liegt einfach daran, daß ich keine Ahnung von ihm habe.

        „Mich würde interessieren, ob sich die Entwicklung von Philosophien ähnlich gestaltet, wie die von naturwissenschaftlichen Paradigmen (im Sinne von Kuhn)? Oder gibt es da einen grundsätzlichen Unterschied?“

        Kuhn selber hat ja, ohne daß er das sagte, ausschließlich über Naturwissenschaften gesprochen. Vielleicht lag das am englischen „science“, das Geisteswissenschaften nicht mitmeint, so daß er sie auch gar nicht mit im Blick hatte. Aber die Dissertation von U. Eisel hat gezeigt, daß das mit der Paradigmentheorie (bei ihm allerdings: Lakatos) auch bei der Geographie gut funktioniert, und die unterliegt ja alles in allem wohl eher Entwicklungsgesetzen, die denen der Philosophie ähnlich sind. Jedenfalls geht es da um Wechsel von „idiographisch“ nach „nomothetisch“ (könnte man mit der Psychologie auch machen), was in den Naturwissenschaften natürlich keinerlei Rolle spielt. Allerdings kommt mir das doch etwas gewaltsam vor, wenn es sicher auch möglich ist, die Lakatos’schen Gedanken über positive und negative Heuristik auf die Philosophie zumindest in Teilen ihrer Entwicklung anzuwenden. Daß aber – und das ist ja zweifellos richtig – in der Philosophie die großen „Paradigmen“ jahrhunderte-, ja jahrtausendelang nebeneinander herleben, und daß sie praktisch immer in der Revolution sind, das ist schon ein gewaltiger Unterschied. Wenn die analytische Philosophie die Philosophie sozusagen nicht nur zur Naturwissenschaft, sondern zur „normal science“ machen wollte, das wirkt schon etwas lächerlich, und auch Kuhn hätte da wohl gelacht. (was ich aber nicht weiß, ich hab nie etwas dazu gelesen).

    • @ Ludwig Trepl

      Sie scheinen zu vergessen (man vergisst oft, was man eigentlich weiß), dass die Macht der Vergangenheit in der Gegenwart zu Ende geht.
      Als jemand, der sich ausschließlich für die Zukunft interessiert und der imstande ist, intuitiv Streu vom Weizen zu trennen (ohne das Saatgut pflichtbewusst zu analysieren), bin ich mir keines Fehlverhaltens bewusst.
      In der Philosophie nämlich, auch in der, die Sie gut finden, wird es nie um Exaktheit gehen, die Sie von ihr verlangen. In der Philosophie (auch Ihrer Façon) geht es lediglich um die Schaffung des Ûberblicks.
      Verlangen Sie von Ligeti, dass er, bevor er “Lontano” komponiert, Mozart für überholt erklärt…?
      Ich verstehe Sie nicht.

      • @ Maciej Zasada

        “Sie scheinen zu vergessen (man vergisst oft, was man eigentlich weiß), dass die Macht der Vergangenheit in der Gegenwart zu Ende geht.”

        Wie meinen Sie das?

        “Als jemand, der sich ausschließlich für die Zukunft interessiert und der imstande ist, intuitiv Streu vom Weizen zu trennen (ohne das Saatgut pflichtbewusst zu analysieren), bin ich mir keines Fehlverhaltens bewusst.”

        Das verstehe ich nicht.

        “In der Philosophie nämlich, auch in der, die Sie gut finden, wird es nie um Exaktheit gehen, die Sie von ihr verlangen. In der Philosophie (auch Ihrer Façon) geht es lediglich um die Schaffung des Ûberblicks.”

        Das stimmt nicht.

        “Verlangen Sie von Ligeti, dass er, bevor er “Lontano” komponiert, Mozart für überholt erklärt…?”

        Das hat aber nichts mit Philosophie zu tun. In den positiven Wissenschaften verlangt man das (implizit). Aber in der Philosophie geht es eher zu wie in der Musik. Aristoteles ist kein bißchen weniger lebendig als Wittgenstein.

        • @ Ludwig Trepl

          #”Sie scheinen zu vergessen (man vergisst oft, was man eigentlich weiß), dass die Macht der Vergangenheit in der Gegenwart zu Ende geht.”

          Wie meinen Sie das?#

          Die Zeit und der Zeitbezug sind für meine Philosophie grundsätzlich.

          Ich verstehe die Quantenphysik als Lehre von den Wahrscheinlichkeiten der Zukunft und von den Effekten der Gegenwart; ich verstehe die relativistische Physik als Lehre von den Effekten der Vergangenheit; der Körper – Geist – Dualismus besteht für mich aus dem Grunde, dass der Geist in der Gegenwart existiert und vom Raum umgeben ist (der Raum ist aber innerhalb der Gegenwart undenkbar – der Raum ist aber Vergangenheit (in dem Sinne ist Raum in Wirklichkeit Zeit = Raumzeit) – das, was innerhalb der Gegenwart denkbar ist, beansprucht keinen Raum – es ist der immaterielle Geist. Die Vergangenheit, obwohl materiell, existiert nicht wirklich. Das, was wirklich existiert, existiert innerhalb der Gegenwart (und ist immateriell). Nur die Gegenwart ist wirklich, nur die Gegenwart zählt.

          So meine ich das.

          #”Als jemand, der sich ausschließlich für die Zukunft interessiert und der imstande ist, intuitiv Streu vom Weizen zu trennen (ohne das Saatgut pflichtbewusst zu analysieren), bin ich mir keines Fehlverhaltens bewusst.”

          Das verstehe ich nicht.#

          Bezog sich auf: “Die alten Probleme werden ungelöst beiseite gelegt. Wenn daher von den Anhängern der neuen Mode gesagt wird, dies oder jenes sehe man heute nicht mehr so, sondern so, eine bestimmte Sichtweise sei veraltet, eine andere sei der Stand der Dinge, so muß man skeptisch sein.”

          #”In der Philosophie nämlich, auch in der, die Sie gut finden, wird es nie um Exaktheit gehen, die Sie von ihr verlangen. In der Philosophie (auch Ihrer Façon) geht es lediglich um die Schaffung des Ûberblicks.”

          Das stimmt nicht.#

          Das stimmt doch! Andernfalls stimmen diese Zeilen nicht:

          “Noch bevor er aber prüfen kann, muß er das zu Prüfende inhaltlich bestimmt haben“. Ohne dies „kann ein Mensch zwar sagen, er zweifle an allem, aber in Wahrheit zweifelt er an nichts, weil inhaltlich Unbestimmtes ein Nichts für den Gedanken … ist.“ Und Prüfung ist nicht möglich ohne die Prinzipien, die gewährleisten, daß eine wahre Behauptung gegen das Bezweifelte ins Feld geführt wird und nicht eine falsche. „Der sich vollbringende Skeptizismus fällt mit der Freilegung des absoluten Bodens des Gedankens zusammen.“ (159)”

          Sie jonglieren geradezu mit den Bezeichnungen der philosophischen Strömungen – Sie errichten sich damit eine Landkarte, eine Ordnung; Sie verschaffen sich damit den Überblick. Sie werden aber in Ihrer Landkarte nie alles berücksichtigen können, und wenn Sie nicht alles berücksichtigen, dann wird das, was nicht berücksichtigt wird gerade das sein, worum es beim Philosophieren eigentlich geht, was widersprüchlich ist, denn was nicht berücksichtigt ist, bleibt unbestimmt und “ein Nichts für den Gedanken”.

          Die Wissenschaft behandelt das exakt bestimmbare Wissen, die Philosophie behandelt das unbestimmte Wissen: das Unwissen.

          In der Philosophie geht es nicht um die Exaktheit, sondern um den Überblick (stammt übrigens und tatsächlich von Wittgenstein).

          • @ Maciej Zasada

            “Die Vergangenheit, obwohl materiell, existiert nicht wirklich.”

            Na klar existiert sie nicht, aber sie hat mal existiert. Das eben meinen wir mit “Vergangenheit”. Oder meinen Sie, nicht die Vergangenheit hat wirklich existiert, sondern etwas in ihr? Z. B. ich. Das wäre ohne Zweifel richtig, wenn man nicht zu weit zurückgeht.

            “Noch bevor er aber prüfen usw.” Das soll Ihre Behauptung beweisen: “In der Philosophie nämlich, auch in der, die Sie gut finden, wird es nie um Exaktheit gehen, die Sie von ihr verlangen. In der Philosophie (auch Ihrer Façon) geht es lediglich um die Schaffung des Ûberblicks.” Ich kann aber keinerlei Zusammenhang entdecken.
            Nebenbei: wo verlange ich denn Exaktheit?

            Ich kann mir auch überhaupt nicht denken, was Sie mit “Exaktheit” meinen und wieso es da irgendeinen Widerspruch zwischen “Exaktheit” und “Überblick” geben soll.

            “Die Wissenschaft behandelt das exakt bestimmbare Wissen, die Philosophie behandelt das unbestimmte Wissen: das Unwissen.”

            Die Wissenschaft behandelt das Unwissen, wenn man so formulieren will, meinetwegen, ist aber schon etwas komisch. Sie behandelt das exakt bestimmbare Wissen – manchmal, manchmal auch nicht. In großen Teilen der Wissenschaft sucht man nicht nach “exakt bestimmbarem Wissen”, weil man meint, das sei für den Bereich, um den es hier geht, nicht möglich. Die Philosophie befaßt sich mit, soll heißen sucht nach apriorischem Wissen (die positive Wiss. mit empirischem Wissen). Ob exakt oder nicht ist eine ganz andere Frage. Manchmal sind die Ergebnisse der Philosophie sehr “exakt” (falls ich richtig errate, was Sie damit meinen), manchmal nicht..

    • (Fortsetzung)

      Der Autor, an den ich mich halte, ist Hans Wagner, ein ziemlich unbekannter, vor wenigen Jahren verstorbener deutscher Philosoph. Er ist stark beeinflußt vom Neokantianismus, von Husserl und von den im Gefolge Husserls entstandenen Philosophien. Als er sein Hauptwerk schrieb, waren die aber schon nicht mehr in Mode.

      „ … bedingen heißt nur, für die Möglichkeit des Bedingten unerläßliches Moment zu sein. Grundsein jedoch ist mehr, nämlich aus sich allein das Andere völlig zu konstituieren …“ (127) Beispiel: Das Subjekt ist Grund des Gegenstands, denn es „setzt“ ihn und konstituiert ihn damit vollständig; es konstituiert ihn (erzeugt ihn als Begriff, produziert ihn natürlich nicht materiell). Nun kann man, im Hinblick auf die Erkenntnis, immer weiter vom Begründeten zum Grund hin fortschreiten, und die Frage ist, ob man dabei je an ein Ende kommt. Kommt man an keines, dann gibt es keine Wahrheit, denn was man auch findet und für Wahrheit hält, erscheint nach Meinung des Relativismus allenfalls unter bestimmten Voraussetzungen als wahr, z. B. unter der Voraussetzung der Gültigkeit bestimmter von der historischen, kulturellen, ökonomischen usw. Situation abhängigen, jeweils für unbezweifelbar gehaltenen gerade herrschenden Denksystemen. Man findet, geht man in der Begründungsreihe hoch, immer wieder einen Grund außerhalb der vermeintlichen Wahrheit (bzw. über ihr), und damit gibt es keine Unbedingtheit der Erkenntnis, d. h. es gibt gar keine Erkenntnis (im strengen Sinn). Wenn man keine Wahrheit erkennt, ist man eben nicht zu einer Erkenntnis gekommen. Und wenn neben einer Wahrheit eine andere Wahrheit, die ihr widerspricht, steht, dann gibt es eben keine Wahrheit. Und mit der Unendlichkeit der Reihe wäre gezeigt, daß Erkenntnis nicht nur faktisch nicht vorkommt, sondern nicht möglich ist. Der Relativismus, ja der Skeptizismus hat recht.

      Man kommt aber doch an ein Ende, d. h. auf Absolutes. Das mag auf den ersten Blick kaum glaubhaft erscheinen: Damit das Absolute nicht nichts ist, vielmehr etwas ist, muß es bestimmt sein. Es muß darum etwas „neben ihm“ geben, das nicht es selbst ist, gegen das es vielmehr abgegrenzt ist. Es kann aber nichts neben ihm geben, denn es steht ja definitionsgemäß auf der höchsten Stufe der Reihe, und dort steht nur eines, es ist ja der letzte Grund. „Bestimmt kann er [der Grund] jedoch nur sein, insofern er von Anderem unterschieden, gegen Anderes gesetzt ist und sich mit diesem Anderen wechselseitig limitiert, er selbst und das Andere sich gegenseitig bedingen und implizieren. Aber der Abschuß [der Begründungsreihe] muß auch Grund sein. Er kann nur Grund sein, indem er das andere begründet ….“ (127)

      Das Problem ist jedoch lösbar. Das, wogegen das Begründende der höchsten Stufe abgegrenzt ist und wovon es bestimmt wird, ist nicht außer ihm, vielmehr von ihm selbst hervorgebracht und ganz in ihm. Und es selbst ist letzter Grund; nichts „über“ ihm hat es konstituiert. „Das Absolute ist wesentlich Selbstbeziehung auf ein von ihm selbst begründetes und von ihm selbst unterschiedenes Anderes, um in dieser Selbstbeziehung auf das Andere in diesem Anderes sich selbst zu bestimmen.“ (128)

      Das Problem des Absoluten ist im Hinblick auf die Erkenntnis also prinzipiell gelöst. Nun ist dieses Absolute – im Hinblick auf die Erkenntnis – nichts anderes als das Denken (Denken als Prinzip, als Gegenstandsbezug überhaupt, nicht etwa als physischer oder psychischer Vorgang). Das Denken ist der Grund dessen, was es denkt, des Gegenstands: Es (bzw. das Subjekt als das Denkende, und nur dies, und dieses vollständig) setzt ihn und bestimmt damit sich. (Aber: „Wäre der Gegenstand nur das vom Denken Gesetzte (ohne also gesetztes Seiendes zu sein), so wäre er ein Moment des Denkens selbst und nicht vom Denken wirklich unterschieden“, 129. Man sieht, daß sich die Position Wagners von der des Idealismus unterscheidet.) Einen Grund über diesem letzten Grund kann es nicht geben.

      Das ist mit dem „absoluten Boden“ oder wie man es immer nennen mag, im Hinblick auf die Erkenntnis gemeint. Es gibt auch noch andere Begriffe, die sich auf Absolutes beziehen (Gott, die Welt), doch das ist ein anderes Thema.

      (Fortsetzung folgt)

      • @Ludwig Trepl

        »Das mag auf den ersten Blick kaum glaubhaft erscheinen: Damit das Absolute nicht nichts ist, vielmehr etwas ist, muß es bestimmt sein. Es muß darum etwas „neben ihm“ geben, das nicht es selbst ist, gegen das es vielmehr abgegrenzt ist. Es kann aber nichts neben ihm geben, denn es steht ja definitionsgemäß auf der höchsten Stufe der Reihe, und dort steht nur eines, es ist ja der letzte Grund.«

        Das ist schon glaubhaft, und für eine Lösung dieses Rätsels wurde sogar schon einmal der Pulitzer Preis verliehen. (Und mit diesem Hinweis wird jetzt gewiss auch @Balanus wissen, was ich meine.)

        • @Chrys, ich muss gestehen, dass mir dieser Text zu rätselhaft war, um den dort ausgeführten Gedanken von Hans Wagner so folgen zu können, dass mir die seltsamen Schleifen des Kognitionswissenschaftler D. R. Hofstadter in den Sinn hätten kommen können (musste die Pulitzerpreise googeln, um mir Gewissheit zu verschaffen).

      • P.S. Sagt Wagner tatsächlich, das Denken sei absolut?

        »Nun ist dieses Absolute – im Hinblick auf die Erkenntnis – nichts anderes als das Denken […]. Das Denken ist der Grund dessen, was es denkt, des Gegenstands: … «

        Das Denken denkt also? Das kommt Ihnen dann wohl auch nicht ganz geheuer vor, denn nach dem Kolon korrigieren Sie ja das sogleich wieder, indem Sie das Gesagte nun auf das denkende Subjekt beziehen. Und ausschliesslich ein Subjekt ist es, welches hierbei denkt, etwas erkennt, Gegenstände begrifflich konstituiert, und sich infolgedessen selbst bestimmt. Ein Subjekt ist sich seiner selbst absolut gewiss, denn es kann sich nicht selbst sinnvoll in Zweifel ziehen oder sonstwie wegdenken.

        Das Denken als absolut zu bezeichnen wäre hingegen nur ein Fallbeispiel von mangelnder Reflexion der sprachlichen Mittel.

        • @ Chrys

          “P.S. Sagt Wagner tatsächlich, das Denken sei absolut?”

          Ja, sagt er; er redet so, auch vom Produkt des Denkens, dem Gedanken, redet er in dieser Weise. – Es hat mich in der Tat irritiert. Ich kann mir aber nicht vorstellen, daß gerade so einer da einen Fehler macht. Vielleicht kann man mal einen Schüler von ihm fragen, da laufen ja noch etliche rum.

          “Das Denken als absolut zu bezeichnen wäre hingegen nur ein Fallbeispiel von mangelnder Reflexion der sprachlichen Mittel.”

          “Fallbeispiel” ist ein weißer Schimmel (ein leider vergeblicher Kampf, den ich seit mindestens 30 Jahren führe).

          – Irgendwer hat mal einen der Größen der Philosophie der Sattelzeit einen Fehler vorgeworfen und wurde dann lächerlich gemacht, so daß er bestimmt rot wurde: Solche Fehler kamen bei denen nicht vor, nicht mal ein Schüler hat die zu dieser Zeit gemacht (Hegel hat seine “Logik” – oder war’s was anderes? – als Unterrichtsmaterial – so hieß das natürlich nicht – an einem Gymnasium geschrieben). Ich fürchte, man geht wie ein zurechtgewiesener Schüler auf seinen Platz zurück, wenn man sich da auf einen Streit einläßt. Ähnlich wie die Leute vom Wiener Kreis, die meinten, an Heideggers Sprache herumkritisieren zu können.

          • @Ludwig Trepl

            »Solche Fehler kamen bei denen nicht vor, nicht mal ein Schüler hat die zu dieser Zeit gemacht (Hegel hat seine “Logik” – oder war’s was anderes? – als Unterrichtsmaterial – so hieß das natürlich nicht – an einem Gymnasium geschrieben). Ich fürchte, man geht wie ein zurechtgewiesener Schüler auf seinen Platz zurück, wenn man sich da auf einen Streit einläßt. Ähnlich wie die Leute vom Wiener Kreis, die meinten, an Heideggers Sprache herumkritisieren zu können.«

            Das wäre dann wohl ein beispielhaftes argumentum ad verecundiam, welches wir gemäss unserer Maxime “sapere aude” zuvörderst einer Vernunftprüfung zu unterziehen hätten. Jedoch bereits dem scheuen Blick in die Untiefen der Hegelschen “objectiven Logik” offenbart sich gar Grausliges:

            Es ist noch Nichts, und es soll Etwas werden. Der Anfang ist nicht das reine Nichts, sondern ein Nichts, von dem Etwas ausgehen soll; das Seyn ist also auch schon im Anfang enthalten. Der Anfang enthält also Beides, Seyn und Nichts; ist die Einheit von Seyn und Nichts; — oder ist Nichtseyn, das zugleich Seyn, und Seyn, das zugleich Nichtseyn ist.

            Mich dünkt, der Alte spricht im Fieber. Meister Hegel erspart sich jegliches Reflektieren darüber, ob denn bereits allein durch die Substantivierung eines Hilfsverbs (“seyn”) resp. eines Indefinitpronomens (“nichts”, “etwas”) überhaupt ein begrifflicher Gegenstand mit wohldefinierten Eigenschaften konstituiert wird, über welchen sich dann sinnvolle Betrachtungen anstellen liessen. Dass Kant hinsichtlich des “Seyns” bereits trefflichst gezeigt hatte, dass eben dies nicht der Fall ist, ficht Hegel nicht an. So reiht er denn unverdrossen Scheinsatz an Scheinsatz und häuft akribisch Worthülse auf Worthülse — was dann aus mir unerfindlichen Gründen mancherorts für “Logik” gehalten wird.

            In Eislers Wörterbuch der philos. Begriffe (1904) ist beim Stichwort Logik der famose Hegel praktisch schon auf das Format einer Fussnote geschrumpft. Das sinnfreie Geschwafel („Das Nichts ist die schlechthinnige Verneinung der Allheit des Seienden.“) persistiert indessen bei Heidegger mit einem neuen Anstrich, und das Herumkritisieren daran ist sachlich absolut gerechtfertigt. Für meinen Geschmack orientieren Sie sich da zu sehr an gängigen -ismus-Etiketten, und wenn Sie sich ganz pauschal mit allem gemein machen, was Sie als Antagonisten der Ihnen unliebsamen Naturalisten, Positivisten etc. ausmachen, dann wäre das im klaren Gegensatz zum KI.

            »“Fallbeispiel” ist ein weißer Schimmel (ein leider vergeblicher Kampf, den ich seit mindestens 30 Jahren führe).«

            Tja, was soll ich tun? Man kann es eben nicht allen recht machen. Im Online-Duden wird “Fallbeispiel” als “einen bestimmten Sachverhalt charakterisierender, illustrierender typischer Fall als Beispiel” spezifiziert (von Pleonasmus steht da nichts). Und so war das auch gemeint: Der fragliche Fall ist die Substantivierung eines Verbs (es liessen sich andere Fälle finden), und das Beispiel dazu ist ‘denken’ (es liessen sich andere Beispiele zum selben Fall finden). Ich denke also, gemäss Duden wäre gegen die Wortwahl nichts einzuwenden.

            Ein Lapsus war allerdings mein erster Kommentar dazu, womit ich @Balanus dann wohl etwas verwirrt habe. Da habe ich vermutlich gelesen, was ich lesen wollte. Dass Wagner das Absolute beim ‘Denken’ und nicht beim ‘ich’ festmachen will, war mir zu vorgerückter Stunde schlicht entgangen …

          • @ Chrys.

            Na, da sind Sie beim Gang der eigentlich ganz schlichten Argumentation nicht mitgekommen. Sie meinen, daß ich Schützenhilfe suche bei meinem Kampf gegen “Naturalisten, Positivisten etc.“, und da würde ich mich „ganz pauschal mit allem gemein machen“, was ich „als Antagonisten“ auftreiben könne, selbst wenn es so überaus verdächtige Figuren sind wie Hegel oder gar Heidegger. Ich hab mich aber an keiner Stelle mit einem von denen gemein gemacht, habe keineswegs auch nur ein bißchen von dem, was die so von sich gegeben haben, ins Feld geführt. Ich habe etwas völlig anderes gemacht:

            Ich hab nur eine aufgeschnappte und halb vergessene Geschichte erzählt – immerhin schon so vergessen, daß ich nicht einmal mehr weiß, ob der Philosoph, um den es ging, Fichte oder Hegel oder gar Kant war. Und der Inhalt dieser Geschichte war nur, daß man von gewissen Dingen, die heute Spezialistenwissen sind, annehmen kann, daß die damals jedes Kind wußte, und folglich entsprechende Fehler einfach nicht gemacht wurden, schon gar nicht von den großen Denkern der Zeit. Hegels Name kam da nur rein, weil er halt einen (heute) nicht ganz leicht zugänglichen Teil seines Werkes für Schulknaben geschrieben hat.

            Im Übrigen bin ich mir keineswegs so sicher wie Sie, daß die „Logik“ „gar Grausliges“ enthält. Ich verstehe es nicht (meine allerdings, es schon mal jedenfalls teilweise verstanden zu haben), und ich hab schon zu oft die Erfahrung gemacht, daß dann, wenn ich etwas nicht verstehe, das durchaus nicht daran liegen muß, daß es Blödsinn ist, sondern auch daran liegen kann, daß ich zu beschränkt bin, es zu begreifen. Darum bin ich vorsichtig. Und dann macht mich auch mißtrauisch, daß es Leute gibt, von denen ich viel halte, die von Hegel viel halten.

            Übrigens, ich hab einen – inzwischen wohl konvertierten – Wagner-Schüler aufgetrieben. Er schrieb mir: „Lieber Ludwig, Ich denke, Du bist damit auf dem richtigen Kurs. Das “denkende Subjekt” Wagner hat sich hier verheideggert, obgleich er sich sonst deutlich – kritisch mit Kant und Husserl – von Heideggers Existentialontologie abgrenzte. Viele Grüße, Hans Werner“

          • @Ludwig Trepl

            »Ich hab mich aber an keiner Stelle mit einem von denen gemein gemacht, habe keineswegs auch nur ein bißchen von dem, was die so von sich gegeben haben, ins Feld geführt.«

            Okay, akzeptiert.

            »Und dann macht mich auch mißtrauisch, daß es Leute gibt, von denen ich viel halte, die von Hegel viel halten.«

            Wenn heute jemand viel von Hegel hält, dann wohl eher nicht wegen seiner logischen oder naturphilos. Thesen. Vergleichbares liesse sich ja auch über Goethe sagen — neben Hegel eine weitere prominente Figur in der romantischen Naturphilosophie. Hegel beklagt sich da beispielsweise bitter, dass es zu einer allgemeinen Redensart geworden sei, Newton habe die “Gesetze der absolut-freyen Bewegung” entdeckt (vgl. hier, §213). Je nach Temperament kann es also durchaus erheiternd sein, ein wenig in den zeitgenössischen Lehrtexten zu blättern, wie auch dieses Leckerli von Lorenz Oken zeigt (Lehrbuch der Naturphilosophie, 3. Aufl. 1843):

            Die Mathematik ist ein System von Nullen oder Nichtsen; läßt sich leicht beweisen.

            »Übrigens, ich hab einen – inzwischen wohl konvertierten – Wagner-Schüler aufgetrieben. …«

            Sofern ich wenigstens das jetzt richtig verstanden habe, hätten wir erfreulicherweise in dieser Frage letztlich doch eine befriedigende Klärung erreicht. Mit dem “denkenden Subjekt” ist mir das nachvollziehbar (und ich hoffe, dass sich die Angelegenheit trotz meiner Pirouette auch für @Balanus nun wieder übersichtlich darstellt).

  10. @ Balanus
    14. Januar 2016 22:12

    „Nun, der Satz, » daß es einfach besser ist, ein Sokrates zu sein als ein Narr «, und dass das »auch jeder weiß«, den ich hier in Frage stelle, stammt aus Ihrer Tastatur.“

    Ja, und anschließend habe ich dann geschrieben, daß das gar nicht die Frage ist, um die es hier geht, sondern daß es ums Sollen geht.

    „aber ich halte es für fraglich, dass Vernunft stets schwerer wiegen soll als das Gewissen …“

    Die Stimme des Gewissens ist die Stimme der Vernunft.

    „aber ich halte es für fraglich, dass Vernunft stets schwerer wiegen soll als … das „Glück“.

    Die Vernunft fordert das. – Glück strebt man ganz von selber an, da muß nicht gefordert werden, daß man es anstreben soll. Was die Vernunft fordert, daß man anstreben soll, ist die Glückswürdigkeit. Ist es vorstellbar, daß dies hinter dem zurückstehen soll, was man ohnehin anstrebt (Glück)?

    „Was nutzt dem Weisen seine Weisheit, wenn ihm das Glück versagt bleibt“

    Wenn man bei der Weisheit fragt, wozu sie denn nützlich sei, dann spricht man nicht über Weisheit.

    „ …aber ich negiere auch nicht den Wert des guten, glücklichen Lebens“

    D. h. man soll fordern, glücklich zu leben. Aber wozu denn? Das will doch jeder sowieso. Und: In dem griechischen Begriff der Eudämonie war, auf eine noch unklare Weise, Glück durch allerlei Annehmlichkeiten und Glück durch das Bewußtsein, es zu verdienen, verbunden. Wir können das aber trennen, und darum hilft es nicht, in der alten Weise von Eudämonie zu reden.

    „Sollen und menschliches Sein sind offensichtlich und trivialerweise untrennbar miteinander verbunden.“

    Zweifellos, verbunden sind sie, und zwar untrennbar. Aber sie sind unterschieden. Man kann die Frage des Sein-Sollens-Fehlschlusses nicht so aus der Welt schaffen, daß man darauf verweist, daß sie verbunden sind. Wie gesagt: Daraus, daß es Spitzmaulnashörner gibt, folgt nicht, daß es sie geben soll. Es sei denn, man hätte eine Theorie, der zufolge der Schöpfer will, daß alles, was er erschaffen hat, sein soll.

    „Kann aber auch sein, dass er ohnehin genug vom Leben hatte und im Abgang noch ein starkes Zeichen setzen wollte.“

    Uns kann es hier nicht um den historischen Sokrates gehen. Über den wissen wir zwar mehr als über den historischen Jesus (über den wir nur wenig mehr als nichts wissen), sondern über die Idee des Sokrates, die uns von Platon überliefert wurde (entsprechend bei Jesus).

    „Als ich sinngemäß schrieb, dass Sokrates es vorzog, lieber zu sterben, als unglücklich weiterzuleben, war damit gemeint, dass es ihm offenbar unerträglich erschien, in dem Bewusstsein weiterzuleben, gegen die eigenen tiefsten Überzeugungen gehandelt zu haben—oder so ähnlich.“

    Ja, und das lag daran, daß die alten Griechen die nötigen Trennungen noch nicht vollziehen konnten. Was wäre denn gewesen, wenn es ihm nicht unerträglich erschienen wäre, in dem Bewusstsein weiterzuleben, gegen die eigenen tiefsten Überzeugungen gehandelt zu haben? Wenn er etwa durch Selbstbeobachtung sich davon überzeugt hätte, daß er mit diesem Bewußtsein ganz gut weiterleben kann, weil er eine dafür ausreichende Verdrängungskapazität hat? In der Tradition des Sokrates steht man nur dann, meine ich, wenn man sagt: auch dann hätte er es vorziehen sollen, nicht weiterzuleben.

    • ich meine mich zu erinnern, daß bei Plato eine etwas veschärfte und daher vielleicht unmittelbar verständlichere Variante des besprochenen Gedankens zu finden ist.

      Plato kombiniert die beiden Variablen “Recht tun” (bzw. gerecht sein) / “Unrecht tun” sowie “nicht leiden” / leiden zu den vier Existenzformen:

      (1) “Recht tun” und “nicht leiden”
      (2) “Recht tun” und “leiden”
      (3) “Unrecht tun” und “leiden”
      (4) “Unrecht tun” und “nicht leiden”.

      So sind sie der “Güte” nach geordnet.

    • @ Ludwig Trepl

      »Man kann die Frage des Sein-Sollens-Fehlschlusses nicht so aus der Welt schaffen, daß man darauf verweist, daß sie verbunden sind.«

      Beim sogenannten Sein-Sollens-Fehlschluss handelt es sich lediglich um einen logischen (oder kategorialen) Fehler, das ist also eher uninteressant. Viel spannender scheint mir die Frage zu sein, wie Sein und Sollen von der Sache her miteinander verknüpft sind, wie das eine womöglich das andere bedingt. Es geht mir halt um die im Sein begründete Genese eines Sollens-Satzes, neben den reinen Vernunftgründen.

      Zum Beispiel: Wer Vernunft/Weisheit besitzt, sollte auch vernünftig/weise handeln. Oder so: Aus der Weisheit folgt, dass man weise handeln soll.

      » Was wäre denn gewesen, wenn es ihm [Sokrates] nicht unerträglich erschienen wäre, […] weiterzuleben […].«

      Schwierige Frage. In dem von Ihnen skizzierte Szenario („Verdrängungskapazität“) und unter der Prämisse, dass der Tod einem Leben in Schande (Unrecht) vorzuziehen ist, liegt Ihre Antwort (den Tod wählen) nahe. Die Forderung, das sittlich Richtige zu tun, steht so gesehen über allem, auch über dem (eigenen) Leben.

      Aber Sokrates‘ Geschichte lehrt uns auch, dass wir nie sicher sein können, dass das, was wir für das (moralisch) Richtige halten, auch wirklich das Richtige ist. Zwar kann man dem zustimmen, dass wir nach dem moralisch Richtigen streben sollten, aber wenn wir nicht wissen, was das für alle Zeiten Richtige wirklich ist, bleibt uns nur, im hier und jetzt nach dem Bestmöglichen zu streben. Die Seins-bedingten Beschränkungen sind ein (unüberwindliches?) Hindernis auf dem Weg zur Wahrheit des unbedingten Sollens.

      »Wenn man bei der Weisheit fragt, wozu sie denn nützlich sei, dann spricht man nicht über Weisheit.«

      Ich denke zwar, dass z. B. die fünf Wirtschaftsweisen nicht wirklich weise sind, aber dennoch meine ich, dass Weisheit sich in irgendeiner Weise äußern muss, um wirklich existent zu sein. Und wenn sie sich äußert, steht sie in irgendeiner Beziehung zu den Mitmenschen, und wenn sie ihnen nicht schadet oder Leid zufügt, dann ist sie von Nutzen.

      »D. h. man soll fordern, glücklich zu leben. Aber wozu denn? Das will doch jeder sowieso.«

      Wenn ich sage, ein gutes und glückliches Leben stellt einen Wert dar, dann sage ich damit nicht, dass man danach streben soll. Wo wäre da die Logik? Glückswürdig ist in meinen Augen jeder, der das Gute anstrebt.

      »Die Stimme des Gewissens ist die Stimme der Vernunft.«

      Ich denke, ich weiß, was sie damit meinen, aber ich würde es doch eher so sagen wollen: Die Vernunft gibt dem Gewissen eine Stimme (oder so: das Gewissen spricht zu uns mittels der Vernunft). Worum es mir aber ging und geht, ist, dass Gewissen und Vernunft einander widersprechen können (wenn sich denn das Gewissen mal deutlich zu Wort meldet, was offenbar nicht immer der Fall sein muss). Es gibt kein Gewissen ohne Vernunft, aber Vernunft ohne Gewissen könnte es schon geben (wenn man Vernunft nicht von vorneherein so definiert, dass das Gewissen ein bestimmter Aspekt davon ist.)

      Wobei auch hier die spannende Frage wieder ist, was da vor sich geht, wenn das Gewissen sich ungefragt meldet, und woher so etwas wie das Gewissen überhaupt kommt. Manche Naturalisten behaupten ja, dass Moral und Gewissen kulturübergreifend dem Menschen (als H. sapiens) gegeben sind, dass es in dieser Beziehung also keinen Relativismus gibt (wohl aber Variation, was die individuelle Ausprägung des Sittlichen angeht).

      • “Ich denke zwar, dass z. B. die fünf Wirtschaftsweisen nicht wirklich weise sind, aber dennoch meine ich, dass Weisheit sich in irgendeiner Weise äußern muss, um wirklich existent zu sein. Und wenn sie sich äußert, steht sie in irgendeiner Beziehung zu den Mitmenschen, und wenn sie ihnen nicht schadet oder Leid zufügt, dann ist sie von Nutzen.”

        Wenn Sie über Weisheit sprechen, klingt das, als ob Sie über eine App sprechen. Kann nützlich sein, vielleicht aber auch nicht, mal schauen. Sie müssen noch einmal ganz tief über den Sinn von Begriffen nachdenken. Rot ist nicht rot, wenn es wie blau aussieht. Weisheit ist nicht weise, wenn sie schadet.

        • @Paul Stefan

          »Weisheit ist nicht weise, wenn sie schadet.«

          Was meinen Sie damit? Die Frage, um die es mir hier geht, ist doch, wann ein Mensch oder ein Rat als weise bezeichnet werden kann, welche Kriterien erfüllt sein müssen, damit überhaupt von Weisheit gesprochen werden kann.

          • Jetzt haben Sie es richtig formuliert und ich stimme zu.

            Diese ihre Formulierung war ungeschickt und deswegen hatte ich sie aufgespießt:
            “, und wenn sie (“die Weisheit”) ihnen nicht schadet oder Leid zufügt, .. “

      • @ Balanus

        “Beim sogenannten Sein-Sollens-Fehlschluss handelt es sich lediglich um einen logischen (oder kategorialen) Fehler, das ist also eher uninteressant.”

        Das überrascht mich aber. Wieso das denn?

        “Es geht mir halt um die im Sein begründete Genese eines Sollens-Satzes, neben den reinen Vernunftgründen.”

        Ein Sollens-Satz kann schon eine im Sein begründete Genese haben, aber nicht ein moralischer im Sinne eines Unbedingten. Der Satz, man solle Homosexuelle umbringen (steht in der Bibel), ist ein Sollens-Satz, und natürlich ist er im Sein begründet. Bei diesem Satz (aus der KdU, über das dynamisch-Erhabene)

        “Auf solche Weise wird die Natur in unserm ästhetischen Urteile nicht, sofern sie furchterregend ist, als erhaben beurteilt, sondern weil sie unsere Kraft (die nicht Natur ist) in uns aufruft, um das, wofür wir besorgt sind (Güter, Gesundheit und Leben), als klein, und daher ihre Macht (der wir in Ansehung dieser Stücke allerdings unterworfen sind) für uns und unsere Persönlichkeit demungeachtet doch für keine solche Gewalt ansehen, unter die wir uns zu beugen hätten, wenn es auf unsre höchste Grundsätze und deren Behauptung oder Verfassung ankäme. Also heißt die Natur hier erhaben, bloß weil sie die Einbildungskraft zu Darstellung derjenigen Fälle erhebt, in welchen das Gemüt die eigene Erhabenheit seiner Bestimmung, selbst über die Natur, sich fühlbar machen kann.”

        sieht man aber, daß es Fälle gibt, in denen es ganz anders zugeht.

        “dass Weisheit sich in irgendeiner Weise äußern muss, um wirklich existent zu sein.”

        Ja, aber nicht, weil sie sonst nicht existent wäre (sie ist nur nicht empirisch existent), sondern weil es sich dann nicht um Weisheit handelt.

        “Glückswürdig ist in meinen Augen jeder, der das Gute anstrebt.”

        Ja.

        “…aber ich würde es doch eher so sagen wollen: Die Vernunft gibt dem Gewissen eine Stimme (oder so: das Gewissen spricht zu uns mittels der Vernunft).”

        Was ist das Gewissen dann? Irgendetwas Mystisches? – Man hat gern gesagt, das Gewissen ist die Stimme Gottes. Das hat sich als nicht so ganz haltbar erwiesen.Was spricht dagegen. von Stimme der Vernunft zu sprechen? Die Stimme, die da spricht vor dem inneren Gerichtshof, macht Vernunftgründe geltend.

        “aber Vernunft ohne Gewissen könnte es schon geben”

        Wie könnte man sich das vorstellen?

        “Manche Naturalisten behaupten ja, dass Moral und Gewissen kulturübergreifend dem Menschen (als H. sapiens) gegeben sind”

        Das ist erfreulich. Inwiefern sind wie dann Naturalisten? Weil sie es für möglich halten, diese Tatsache evolutionsbiologisch zu erklären?

        • @ Ludwig Trepl, @ Balanus

          “‘dass Weisheit sich in irgendeiner Weise äußern muss, um wirklich existent zu sein.’ (Zitat Balanus)
          Ja, aber nicht, weil sie sonst nicht existent wäre (sie ist nur nicht empirisch existent), sondern weil es sich dann nicht um Weisheit handelt.” (mein Kommentar)

          Nachdem ich das geschrieben hatte, ist mir die folgende chassidische Geschichte von Ernst Bloch (jedenfalls uns von ihm überliefert) eingefallen und hat mich irritiert. Sinngemäß geht sie so:

          “Einst, zu Napoleons oder Alexanders Zeiten, lebte in einer Stadt ein alter, in sich gekehrter Mann. Die Bürger verspotteten ihn, die Kinder warfen mit Steinen nach ihm.
          Da zog ein gewaltiger Kaiser heran, und alle Völker beugten die Knie vor ihm. Die Einwohner der Stadt flüchteten. Nur der Alte ging dem Heer entgegen.
          Kaum hatte der Kaiser dessen stilles Gesicht gesehen, fiel er vor ihm auf die Knie und bat, er möge ihn segnen.
          Nur er, der Meister des Schwertes, war in der Lage, ihn, den Meister des Gebets, zu erkennen.”

          In der Geschichte steckt sicher allerlei Rätselhaftes. Aber eines ist klar: Der Meister des Wirkens in der Welt, der “Meister des Schwertes”, hat einen Gleichrangigen: den “Meister des Gebets”. In der/die Welt wirkt er gar nicht.

          • Das scheint mir ein Gleichnis auf den jüdischen Gelehrten in der Diaspora zu sein, ein Trost-Mythos gewissermaßen, für die gesellschaftliche Verachtung durch die Mehrheitsgesellschaft.

        • Ludwig Trepl (18. Januar 2016 13:54)

          »….. “Beim sogenannten Sein-Sollens-Fehlschluss handelt es sich lediglich um einen logischen (oder kategorialen) Fehler, das ist also eher uninteressant.”

          Das überrascht mich aber. Wieso das denn?«

          Ich tue mal so, als sei Ihre Überraschung nicht ironisch gemeint. Auf welche meiner beiden Behauptungen bezieht sich Ihr „Wieso das denn“?

          »Ein Sollens-Satz kann schon eine im Sein begründete Genese haben, aber nicht ein moralischer im Sinne eines Unbedingten. […] Bei diesem Satz (aus der KdU, über das dynamisch-Erhabene) […] sieht man aber, daß es Fälle gibt, in denen es ganz anders zugeht. «

          Ich unterscheide zwei Bereiche des Seins: Das Sein der Außenwelt (Umwelt, Gesellschaft) und das Sein der Innenwelt. Letztere ist teilweise durch Introspektion zugänglich, zumindest scheint es so zu sein. Dem zitierten Satz Kants aus der KdU lag ganz offensichtlich eine Introspektion (oder wie immer man das nennen möchte) zugrunde.

          » …. “dass Weisheit sich in irgendeiner Weise äußern muss, um wirklich existent zu sein.”

          »Ja, aber nicht, weil sie sonst nicht existent wäre (sie ist nur nicht empirisch existent), sondern weil es sich dann nicht um Weisheit handelt.«

          Mit ‚Weisheit muss sich irgendwie äußern‘ war gemeint, dass man einen Menschen erst dann als weise erkennen kann, wenn er entsprechende Verhaltensäußerungen (Worte, Taten) zeigt. In Ihrem Gleichnis war es das „stille Gesicht“ des Alten, das beim Kaiser die beschriebene Reaktion hervorrief. Oder, anders ausgedrückt, mit einem Zitat von Antoine de Saint-Exupéry, das man heute in jedem zweiten Poesiealbum findet: „Man sieht nur mit dem Herzen gut. Das Wesentliche ist für die Augen unsichtbar“. Der Kaiser hat mit seinem Herzen gesehen und einen „Gleichrangigen“ erblickt.

          » — “Glückswürdig ist in meinen Augen jeder, der das Gute anstrebt.”

          » Ja. «

          Warum mögen wir es nicht, dass einer unverdient (ohne es würdig zu sein) glücklich ist? Ein schlechter Mensch darf nicht glücklich sein, der soll leiden. Ist das die Stimme der Vernunft, die da zu uns spricht?

          »Die Stimme, die da spricht vor dem inneren Gerichtshof, macht Vernunftgründe geltend.«

          Wenn Vernunft das „Vermögen, zu schließen“ ist, dann wüsste ich nicht, woraus man schließen könnte, dass z. B. die Todesstrafe unmoralisch ist. Früher konnte man hierzulande den Wehr- bzw. Kriegsdienst aus Gewissensgründen verweigern. Einen Schießbefehl hätte man aus Gewissensgründen verweigern können. Was unter Umständen ganz unvernünftig gewesen wäre. Kurzum, die Unterscheidung von Gewissen und Vernunft scheint letztlich doch sinnvoll zu sein, auch wenn da vieles ineinanderfließt.

          »Wie könnte man sich das vorstellen?«

          …dass es Vernunft ohne Gewissen geben könnte. Nun, wie gesagt, wenn Vernunft das „Vermögen, zu schließen“ ist, dann ist das doch eine ganz andere Baustelle als die, wo es um das Moralempfinden geht. Ein Mensch ohne Unrechtsbewusstsein, aus welchen Gründen (Ursachen) auch immer, kann dennoch Vernunft, also die Fähigkeit zu schließen, besitzen.

          »Inwiefern sind [s]ie dann Naturalisten? Weil sie es für möglich halten, diese Tatsache [Moral und Gewissen sind dem Menschen kulturübergreifend gegeben] evolutionsbiologisch zu erklären?«

          Ja, so hatte ich Sie verstanden, dass so etwas unter naturalistisches Denken fällt, weil Moral und Gewissen nach antinaturalistischer Auffassung keine Gegenstände der empirischen Wissenschaften sein können.

          Und wenn etwas in allen Kulturen zu finden ist, liegt die Vermutung nahe, dass es sich um etwas handelt, was dem Menschen von Natur aus zukommt, etwa religiöse Vorstellungen (im weitesten Sinne) oder Moralempfinden oder Vernunft.

          • »….. ‘Beim sogenannten Sein-Sollens-Fehlschluss handelt es sich lediglich um einen logischen (oder kategorialen) Fehler, das ist also eher uninteressant.’ Das überrascht mich aber. Wieso das denn?« (Zitat von mir)

            Na ja: wie kann einer sagen, daß ein logischer oder kategorialer Fehler “uninteressant” ist? Das ist doch überraschend.

            “…zwei Bereiche des Seins: Das Sein der Außenwelt (Umwelt, Gesellschaft) und das Sein der Innenwelt. Letztere ist teilweise durch Introspektion zugänglich …. Dem zitierten Satz Kants aus der KdU lag ganz offensichtlich eine Introspektion zugrunde.”

            Wenn Sie Zahnweh oder das Nachvollziehen eines eigenen Gedankengangs eine Introspektion nennen wollen, dann meinetwegen.

            “Mit ‚Weisheit muss sich irgendwie äußern‘ war gemeint, dass man einen Menschen erst dann als weise erkennen kann, wenn er entsprechende Verhaltensäußerungen (Worte, Taten) zeigt. In Ihrem Gleichnis war es das „stille Gesicht“ des Alten, das beim Kaiser die beschriebene Reaktion hervorrief.”

            Das Problem dabei ist, daß “Weisheit” anders als “Klugheit” Moral impliziert. Dh ein weiser Mensch denkt nicht nur über seinen oder der Seinen Vorteil nach, sondern denkt – wenn er wirklich weise ist, auf richtige Weise – auch darüber nach, ob das moralisch erlaubt ist, was er tut/tun möchte. Und darum kann man prinzipiell nicht anhand von Äußerungen – Worte, Taten, Gesten oder was auch immer – “feststellen”, also nachweisen, ob einer weise ist. Nicht einmal man selbst kann von sich selbst sicher wissen, ob eine Tat moralisch ist oder nicht: sie kann noch so moralisch aussehen, in Wirklichkeit kann sie ganz egoistisch motiviert sein. Man kann eben niemandem “ins Herz sehen”. Man kann “mit dem Herzen sehen”, aber das reicht nicht zu einem Nachweis, nur zu einer praktischen Brauchbarkeit. Dazu muß man den jeweiligen Menschen nicht einmal sehen, es reicht die Kenntnis von Geschichten über ihn: bei Gandhi und Jesus wird man sagen: die waren wirklich gut.

            “Warum mögen wir es nicht, dass einer unverdient (ohne glückswürdig zu sein) glücklich ist? Ein schlechter Mensch darf nicht glücklich sein, der soll leiden. Ist das die Stimme der Vernunft, die da zu uns spricht?”

            Ich meine : ja. Jedenfalls solange solche, die glückswürdig sind, leiden, sagt die Vernunft: das ist ungerecht. Wenn die Gückswürdigen nicht leiden, könnte es zumindest sein, daß man vernünftigerweise sagen müßte: die Barmherzigkeit (Ungerechtigkeit) widerspricht unter solchen Umständen nicht der Vernunft. Aber ich bin mir nicht sicher. Unter Juristen gibt es eine umfangreiche Diskussion über die verdiente Strafe. Und wenn man nun nicht an einen Bankräuber denkt, der “niemandem” etwas Böses getan hat, sondern z.B. an den Mörder eines Angehörigen, dann wird man dem Gedanken, daß der ein glückliches Leben nicht verdient hat, doch einiges abgewinnen können.

            “Wenn Vernunft das „Vermögen, zu schließen“ ist, dann wüsste ich nicht, woraus man schließen könnte, dass z. B. die Todesstrafe unmoralisch ist”.

            Sie stellen sich offenbar das Deduzieren aus einem Obersatz vor (“woraus man schließen kann”). Das halte ich für falsch. Das Paradigma ist in diesem Fall ein eventuell jahrhundertelanger Prozeß der Argumentation pro und kontra, das wäre hier vernünftig.

            “Kurzum, die Unterscheidung von Gewissen und Vernunft scheint letztlich doch sinnvoll zu sein, auch wenn da vieles ineinanderfließt.”

            Unterscheiden kann man sie schon, denn Vernunft kommt ja auch außerhalb des Gewissens zu Einsatz. Aber im Gewissen redet die Vernunft, nichts anderes, nicht die Unvernunft und nicht ein Gefühl. Sicher machen sich auch Gefühle geltend vor diesem “Gerichtshof” (Kant), aber da muß von der Vernunft geprüft werden, ob es erlaubt ist, sich von ihnen leiten zu lassen, vergißt man das, “schlägt das Gewissen”.

            “… wenn Vernunft das „Vermögen, zu schließen“ ist, dann ist das doch eine ganz andere Baustelle als die, wo es um das Moralempfinden geht.”

            Das ist nicht die einzige Vernunft-Definition. Sie ist ganz formal und diente dazu, Vernunft gegen Verstand abzugrenzen. Die praktische Vernunft (Moral) beruht zwar auch auf dem “Vermögen zu schließen”, aber damit ist man noch nicht bei der Moral.

            “Inwiefern sind [s]ie dann Naturalisten? Weil sie es für möglich halten, diese Tatsache [Moral und Gewissen sind dem Menschen kulturübergreifend gegeben] evolutionsbiologisch zu erklären?”

            “Und wenn etwas in allen Kulturen zu finden ist, liegt die Vermutung nahe, dass es sich um etwas handelt, was dem Menschen von Natur aus zukommt, etwa religiöse Vorstellungen (im weitesten Sinne) oder Moralempfinden oder Vernunft.”

            1. Warum sagen Sie immer Moralempfinden? –
            2. Aber wenn es etwas ist, das nicht naturwissenschaftlich erklärbar sein kann, dann kann “von Natur aus zukommt” (dagegen hätte ich nichts) nicht bedeuten “evolutionsbiologisch erklärbar”. Die Geltungsdifferenz von Gedanken/Sätzen wäre so etwas, überhaupt alles, was gänzlich den Bereich dessen, was wir Natur nennen (das, wo die Kausalgesetze herrschen …) transzendiert. Das KdU-Zitat im vorigen Kommentar spielte auf so etwas an.

          • @Ludwig Trepl / 19. Januar 2016 17:46

            »Na ja: wie kann einer sagen, daß ein logischer oder kategorialer Fehler “uninteressant” ist? «

            Nun, weil es genau so ist, wie Sie schreiben: „Daraus, daß es Spitzmaulnashörner gibt, folgt nicht, daß es sie geben soll“. Fertig, viel mehr ist zu diesem logischen Zusammenhang von Sein und Sollen nicht zu sagen. Oder sehen Sie da noch einen interessanten Ansatzpunkt für weitere Diskussionen?

            »Wenn Sie Zahnweh oder das Nachvollziehen eines eigenen Gedankengangs eine Introspektion nennen wollen, dann meinetwegen.«

            Im Falle Kants bezieht sich die Introspektion auf das Gefühl der Erhabenheit (z. B.), welches Kant in sich spürt und zu rationalisieren versucht. Auch das dem Menschen a priori Gegebene erfährt man (als Philosoph) wohl in erster Linie durch Introspektion.

            »Und darum kann man prinzipiell nicht anhand von Äußerungen – Worte, Taten, Gesten oder was auch immer – “feststellen”, also nachweisen, ob einer weise ist.«

            Völlig d’accord! Es kann nur darum gehen, ob uns jemand weise erscheint. Sei es von Angesicht zu Angesicht, oder nur aus Geschichten. Selbiges gilt im Übrigen für alles weitere, was sich nur im Bewusstsein der Menschen abspielt (und in den Köpfen der Tiere).

            »Und wenn man nun […] z.B. an den Mörder eines Angehörigen [denkt], dann wird man dem Gedanken, daß der ein glückliches Leben nicht verdient hat, doch einiges abgewinnen können.«

            Gewiss, aber ich für meinen Teil würde das eher meinen Rachegefühlen zuschreiben wollen, nicht der (oder meiner) Vernunft. Die Justiz haben wir doch gerade deswegen, weil man der Vernunft der betroffenen Bürger (mit Recht) nicht trauen kann.

            » „ … [ich] wüsste […] nicht, woraus man schließen könnte, dass z. B. die Todesstrafe unmoralisch ist”.

            Sie stellen sich offenbar das Deduzieren aus einem Obersatz vor (“woraus man schließen kann”). Das halte ich für falsch. Das Paradigma ist in diesem Fall ein eventuell jahrhundertelanger Prozeß der Argumentation pro und kontra, das wäre hier vernünftig.«

            Die Frage, ob die Todesstrafe sein soll oder nicht, ist also noch offen. Hierzulande sind wir diskursiv an einem Punkt angelangt, der die Todesstrafe (mehrheitlich) verbietet. Ich bin mir nur nicht sicher, ob sie aus moralischen oder doch eher rationalen Gründen (fast hätte ich „aus Vernunft(s)gründen“ geschrieben) verboten ist.

            »Sicher machen sich auch Gefühle geltend vor diesem “Gerichtshof” (Kant), aber da muß von der Vernunft geprüft werden, ob es erlaubt ist, sich von ihnen leiten zu lassen, vergißt man das, “schlägt das Gewissen”.«

            Das sehe ich anders, das Gefühl ist m. E. beim sittlichen Handeln dominierend. Egal, ob die Vernunft dagegen oder dafür spricht, wer gegen das Gefühl handelt, den wird das Gewissen schlagen. Das bedeutet aber nicht im Umkehrschluss, dass eine Handlung, die kein schlechtes Gefühl hervorruft, schon allein deshalb moralisch gerechtfertigt wäre. Oder dass das schlechte Gefühl bzw. Gewissen in allen möglichen Fällen zu Recht besteht.

            » 1. Warum sagen Sie immer Moralempfinden? «

            ‚Empfinden‘ verweist auf das Gewissen, auf das Gespür für das Richtige und Falsche. Noch bevor wir lernen, dass man anderen helfen soll, spüren wir allem Anschein nach, dass es gut ist (sich gut anfühlt), anderen zu helfen (behaupten zumindest entsprechende psychologische Untersuchungen an Kleinkindern).

            » 2. Aber wenn es etwas ist, das nicht naturwissenschaftlich erklärbar sein kann, … «

            … dann ist es auch evolutionsbiologisch nicht erklärbar, keine Frage. Wo es nichts zu beobachten gibt (direkt oder indirekt), da gibt es auch keine empirischen Wissenschaften. Aber menschliches Verhalten ist beobachtbar. Dass er in Sozialverbänden lebt, ist sicherlich evolutionsbiologisch erklärbar. Und dass das Leben in Sozialverbänden nur unter bestimmten Bedingungen funktionieren kann, wohl auch. Moralphilosophie ist zwar nicht evolutionsbiologisch erklärbar, aber die Fähigkeit dazu schon. Gleiches gilt für die Fähigkeit, sich richtig (sozial adäquat) verhalten zu können. Oder die Fähigkeit, sich falsch verhalten zu können. Oder die Fähigkeit, die Geltungsdifferenz von Sätzen beurteilen zu können. Aber ob z. B. Gandhi wirklich ein Guter war (im Sinne Kants), das entzieht sich unserer Kenntnis, das lässt sich weder empirisch noch nicht empirisch feststellen. Wir sehen nur seine Taten, nicht aber seine Motive.

          • @ Balanus

            “Das sehe ich anders, das Gefühl ist m. E. beim sittlichen Handeln dominierend. Egal, ob die Vernunft dagegen oder dafür spricht, wer gegen das Gefühl handelt, den wird das Gewissen schlagen. Das bedeutet aber nicht im Umkehrschluss, dass eine Handlung, die kein schlechtes Gefühl hervorruft, schon allein deshalb moralisch gerechtfertigt wäre. Oder dass das schlechte Gefühl bzw. Gewissen in allen möglichen Fällen zu Recht besteht.”

            Ist ja echt witzig, daß Sie jetzt da stehen, wo ich auch einst stand. Es ist auch wirklich nicht ganz einfach. Denn das, was die Vernunft rät, kann bloße Indoktrination sein. “Sei doch vernünftig” oder “nimm doch Vernunft an” -meist sind das bloße Erziehungsfloskeln, die das Individuum zu einem Haus -und Herdenvieh machen wollen. Doch Ludwig Trepl hat schon recht: mit welchem Mittel wollen Sie entscheiden, welchem Gefühl zu folgen sei? Aus der Geschichte heraus kennen wir ja alle möglichen Gefühle. Wenn Sie also z.B. speziell dem Mitgefühl folgen wollen, müssen Sie entscheiden, nur diesem Gefühl folgen zu wollen. Und das machen Sie eben mit der Vernunft.

          • @Dietmar Hilsebein

            »Doch Ludwig Trepl hat schon recht: mit welchem Mittel wollen Sie entscheiden, welchem Gefühl zu folgen sei?«

            Die Situation, die ich meinte, ist ja eine andere: Ich stehe vor der Entscheidung zu einer Handlung und weiß nicht, ob sie moralisch gerechtfertigt ist (z. B. aktive Sterbehilfe oder Abtreibung). Soll ich der Vernunft (ja) oder dem Gefühl (nein) folgen? Idealerweise stimmen Vernunft und Gefühl/Gewissen überein, aber das ist halt nicht immer der Fall. Im Zweifel würde ich mich für das Gefühl entscheiden, — und vielleicht für die Zukunft daran arbeiten, dass sich das Gefühl in Richtung Vernunft ändert (sofern keine Vernunftgründe bekannt werden, die das Gefühl bestätigen).

            (Über die faktischen Entscheidungsprozesse im Gehirn sage ich mal lieber nichts…)

          • @ Balanus zu @ Hilsebein

            “Die Situation, die ich meinte, ist ja eine andere: Ich stehe vor der Entscheidung zu einer Handlung und weiß nicht, ob sie moralisch gerechtfertigt ist usw.”

            Sie unterscheiden selten zwischen dem, was man “deskriptive Ethik” nennt und dem, was man “präskriptive” oder “normative Ethik” nennt, das geht dauernd durcheinander. In diesem Satz machen Sie es, “…weiß nicht, ob sie moralisch gerechtfertigt ist” bedeutet: präskriptive. Zwei Sätze weiter sind sie bei der deskriptiven (“Im Zweifel würde ich mich für das Gefühl entscheiden”) und merken nicht, daß Sie nun über etwas ganz anderes reden. Die faktischen moralischen Entscheidungen mögen überwiegend gefühlsbedingt sein (wie soll man das zählen?). Aber Herr Hilsebein hat über etwas vollkommen anderes gesprochen.

          • @ D. Hilsebein, zu @Balanus

            “Denn das, was die Vernunft rät, kann bloße Indoktrination sein.”

            Find ich falsch, denn die Vernunft rät, sich nicht von bloßer Indoktrination leiten zu lassen. Man müßte sagen: was sie scheinbar rät, oder sowas.

            Das Gewissen ist eine recht komplizierte Sache, ein Dauerproblem (für jeden Menschen, weniger für die Philosophie). Ich zitiere Hans Wagner: “Aber von jeher lehrt die Ethik neben der Verbindlichkeit des Gewissens und des irrigen Gewissens auch die sittliche Verpflichtung zur Bildung des Gewissens. In Wahrheit bin ich also dazu verbunden, mich mit meinem Einzelwollen an den jeweiligen Bildungsstand meines Gewissens zu halten, aber gleichzeitig auch dazu, mein Gewissen zu objektiver Gültigkeit zu bilden.”

          • @ Balanus

            “Im Zweifel würde ich mich für das Gefühl entscheiden”

            Eben. Aber ein Gefühl kann nicht für oder gegen ein Gefühl entscheiden.

          • @ Dietmar Hilsebein

            »Aber ein Gefühl kann nicht für oder gegen ein Gefühl entscheiden.«

            Das wissen wir nicht so genau, was da entscheidet, wenn wir meinen, mittels der Vernunft zu entscheiden. Ohne Gefühle läuft da vermutlich gar nichts (neurophysiologisch).

            Dass ich mich willentlich für oder gegen mein Gewissen entscheiden muss, habe ich bei meinen Überlegungen vorausgesetzt, ich sehe da keinen Dissens zu Ihren oder Herrn Trepls Ausführungen.

          • @Ludwig Trepl /21. Januar 2016 4:34

            »Sie unterscheiden selten zwischen dem, was man “deskriptive Ethik” nennt und dem, was man “präskriptive” oder “normative Ethik” nennt, das geht dauernd durcheinander.«

            Ich mag halt nicht bei der normativen Ethik stehen bleiben, ich frage auch danach, wie es mit der Befolgung eines Sollens-Satzes aussieht, d. h., ich frage nach dem Verhältnis von Sollen und Können.

            Zumal, solange das Projekt der normativen Ethik noch im Gange ist, wir also noch gar nicht wissen, wie die absoluten und universell gültigen Sollens-Sätze lauten, bleibt uns nur, bei Handlungsentscheidungen unser Gewissen zu befragen (mittels der Vernunft, anders geht es nicht).

          • @ Balanus

            “»Aber ein Gefühl kann nicht für oder gegen ein Gefühl entscheiden.«
            Das wissen wir nicht so genau, was da entscheidet, wenn wir meinen, mittels der Vernunft zu entscheiden. Ohne Gefühle läuft da vermutlich gar nichts (neurophysiologisch).”

            Das war von D. Hilsebein garantiert nicht neurophysiologisch (oder psychologisch oder sonst im Sinn einer empirischen Wissenschaft) gemeint – und auch sonst von keinem, der in dieser Richtung argumentiert -, sondern logisch. Logisch können wir sehr genau wissen, “was da entscheidet”, weil das eine Frage an apriorisches Wissen ist und nur reflexiv angegangen werden kann. Ein Gefühl kann nicht entscheiden, man kann sich nur allenfalls eines Gefühls entscheiden. Das Gefühl als Entscheider ist ein Homunkulus.

          • Es kann nicht schaden, wenn man ein bisschen im Blick behält, welche Vorstellungen in den Kognitionswissenschaften derzeit „en vogue“ sind.

            Herr Hilsebein wird meine Antworten schon richtig einordnen, er weiß ja, von wem sie kommen…

            Wäre mal interessant zu untersuchen, was dem Gedanken vom „apriorischen Wissen“ zugrunde liegen könnte, nicht logisch, sondern auf der Ebene der Empirie.

          • @Balanus

            “Es kann nicht schaden, wenn man ein bisschen im Blick behält, welche Vorstellungen in den Kognitionswissenschaften derzeit „en vogue“ sind.”

            Das ist mir (und sicher auch D. Hilsebein) ganz unverständlich. Das ist doch eine vollkommen andere Baustelle! Genauso könnten Sie sagen “Es kann nicht schaden, wenn man ein bisschen im Blick behält, welche Vorstellungen in der Ornithologie derzeit „en vogue“ sind.” Da stünde ich genauso verständnislos davor.

            Aber vielleicht würde es klarer, wenn Sie das:
            “Wäre mal interessant zu untersuchen, was dem Gedanken vom ‘apriorischen Wissen’ zugrunde liegen könnte, nicht logisch, sondern auf der Ebene der Empirie” mal etwas ausführen könnten. Mir ist überhaupt nicht einsichtig, wie da überhaupt etwas zugrundeliegen könnte, wo doch definitionsgemäß das apriorische Wissen (lassen wir mal beiseite, daß es problematisch sein könnte, hier das gleiche Wort Wissen wie bzgl. des empirischen zu benutzen) der Empirie schlechthin zugrundeliegt. Hier ist ja nicht so etwas gemeint wie das “historische Apriori” (Foucault?), das seinerseits etwas Empirisches ist. Welche Empirie soll denn den Modalkategorien zugrundeliegen? Oder dem Begriff “Sein”?

  11. In der Praxis kommt man nicht ohne Abwägungen und damit nicht ohne Relativismen aus. Im Zusammenhang von Naturalismus und Relativismus geht es aber meist um den ethischen Relativismus. Ein ausgeprägter ethischer Relativismus erledigt letztlich die Ethik, indem es ethische Maximen oder starke ethische Schlussfolgerungen verunmöglicht. Ein starker ethischer Relativismus liegt aber fast in der Natur des szientifischen Naturalismus, denn für einen Naturalisten sind die Dinge das Primäre und die Ethik etwas Sekundäres. Ethiks ist dort ein Produkt der Umstände. Wären wir als Menschen anders beschaffen wäre die Ethik gemäss naturalistischem Denken eine andere. Möglicherweise genügt schon eine andere Kultur um eine andere Ethik hervorzubringen. Und diese andere Ethik wäre – gemäss naturalistischem Denken – genauso gerechtfertigt wie jede andere.

    Das steht somit in völligem Widerspruch zu dem was Ludwig Trepl einmal gesagt hat. Er meinte nämlich, selbst Aliens (Marsianer oder was auch immer) könnten sich mit dem Menschengeschlecht auf gemeinsame ethische Grundsätze einigen.

    • @ Martin Holzherr

      „In der Praxis kommt man nicht ohne Abwägungen und damit nicht ohne Relativismen aus.“

      Das verstehe ich nicht. Wie ist es gemeint?

      „Ein ausgeprägter ethischer Relativismus erledigt letztlich die Ethik, indem es ethische Maximen oder starke ethische Schlussfolgerungen verunmöglicht.“

      Richtig.

      „Wären wir als Menschen anders beschaffen wäre die Ethik gemäss naturalistischem Denken eine andere. Möglicherweise genügt schon eine andere Kultur, um eine andere Ethik hervorzubringen.“

      Wieso möglicherweise? Ist das nicht auf jeden Fall so? Aber: das bezieht sich nur auf die deskriptive Ethik, und dem hat noch nie einer widersprochen.

      „Und diese andere Ethik wäre – gemäss naturalistischem Denken – genauso gerechtfertigt wie jede andere.“

      Ja, und das ist es, was manche hier, die von sich behaupten, Naturalisten zu sein, nicht verstehen.

      „Er [ich] meinte nämlich, selbst Aliens (Marsianer oder was auch immer) könnten sich mit dem Menschengeschlecht auf gemeinsame ethische Grundsätze einigen.“

      Das ist so gemeint: Wenn das nicht möglich ist, würden wir denen die Vernunft absprechen. Was wir „Vernunftwesen“ nennen, ist nun einmal dies: sie sind ethikfähig, und dies nicht im Sinne irgendeiner Ethik, sondern der gültigen. (Hoffentlich sagt jetzt nicht einer: und wie stellen wir das fest?)
      Dabei ist wieder zu bedenken: Der Satz ist so formuliert, als ob die Einigung ohne weiteres möglich wäre. Tatsächlich darf sie nur nicht unmöglich sein, sonst könnten wir uns nicht einigen sollen (was wir aber sollen). – „Einigen“ ist schief, ich weiß nicht, ob ich das geschrieben habe. „Herausfinden“ wäre richtig, es geht nicht um Kompromisse. Darum geht es oft auch, aber das ist ein anderes Thema.

      • „In der Praxis kommt man nicht ohne Abwägungen und damit nicht ohne Relativismen aus.“
        Beispiele sind ethische Konflikte: Jemand weiss, dass sein Bruder (immer wieder) mordet und meldet es nicht. Je nach persönlichem, aber auch kulturellem Umfeld kann das die richtige oder falsche Entscheidung sein. Das Richtige hängt also von der Situation ab, selbst wenn man sich grundsätzlich einig ist, was man tun sollte.

        • Es scheint Relativisten zu geben, die das meinen: “Je nach persönlichem, aber auch kulturellem Umfeld kann das die richtige oder falsche Entscheidung sein. Das Richtige hängt also von der Situation ab”. Da würde ein Antirelativist einwenden: Aber es ist doch das Richtige, was von der Situation abhängt. Der “Relativist”, der so argumentiert, erkennt also an, daß es das Richtige gibt und daß es zu suchen ist, also ist er kein Relativist.

          “Je nach persönlichem, aber auch kulturellem Umfeld kann das die richtige oder falsche Entscheidung sein.”

          Meinen Sie das wirklich? Meinen Sie nicht: “Je nach persönlichem, aber auch kulturellem Umfeld kann das als die richtige oder falsche Entscheidung gelten. Das wäre aber etwas ganz anderes.

        • Man sollte den Relativismus nicht mit dem Subjektivismus verwechseln. Das sind unvergleichbare Weltanschauungen. Ein die ganze Menschheit umfassender Subjektivismus (genereller Subjektivismus) käme vielleicht dem Relativismus am nächsten, aber dann wäre es kein Subjektivismus mehr, sondern ein Objektivismus. Ein ethischer, individueller Subjektivismus neigt logischerweise zum Egoismus.

          Wenn die ganze Menschheit eine Aussage als Wahrheit anerkennt, z.B. “die Erde ist keine Scheibe”, dann spricht nichts dagegen, sie als absolute oder vernünftige Wahrheit zu deuten. Es ändert aber nichts am prinzipiellen Relativismus, denn die Relativisten behaupten nicht, dass Wahrheiten nicht möglich seien. Die Aussage müsste jedoch allgemeingültig festlegen, was als Scheibe zu verstehen ist. Das wiederum ist eine Frage der sprachlichen Bedeutung und damit landet man bei der “radikalen Übersetzung” im Sinne Quines und wiederum beim Relativismus.

          • @reutlinger

            “Wenn die ganze Menschheit eine Aussage als Wahrheit anerkennt, z.B. “die Erde ist keine Scheibe”, dann spricht nichts dagegen, sie als absolute oder vernünftige Wahrheit zu deuten.”

            Das macht absolut niemand von denen, die unter Ihren Begriff “Absolutismus” fallen. Es ließe sich mit dem Empirismus vereinbaren. Jeder “Absolutist” sieht hier sofort den Kategorienfehler (und das spricht eben doch dagegen).

            Ich habe doch die Diskussion angefangen – oder sehen Sie das anders? Ich habe auch deutlich gemacht, über welche Art von Relativismus unter des zahllosen Arten – es gibt wirklich eine Menge – ich spreche. Da können Sie nicht kommen und etwas ganz anderes als “den” Relativismus bezeichnen (zumal das, was Sie so nennen, eher marginal ist). Denn dann widersprechen Sie mir nicht, sondern reden einfach über etwas ganz anderes.

            “Der Irrtum liegt darin, den Begriff “relativ” selber absolutistisch zu deuten und dem Relativismus einen absoluten Nihilismus zu unterstellen.”

            Das ist ja sicher als Kritik an mir oder besser als Beschimpfung gemeint. Da sollte Sie aber erst mal lesen, was ich geschrieben habe. Ich “unterstelle” keinen Nihilismus, sondern ich zeige, daß der Relativismus (wohlgemerkt: so wie ich ihn eingeführt habe; das ist etwa die klassische Position, wie man sie seit den Sophisten kennt) bestimmte Konsequenzen hat. Das ist etwas vollkommen anderes. Statt immer sofort den Revolver zu ziehen und von “unterstellen”, “diffamieren” usw. zu reden, sollten Sie lieber versuchen den Anspruch zu widerlegen, den ich formuliert habe (“sondern ich zeige”).

            “Unser gesamtes Denken ist auf Relativismus ausgerichtet, erkennbar in der Sprache.”

            Man kann genauso gut das Gegenteil behaupten. Ohne Begründungen kommen Sie nicht weiter.

            Richtig schlimm wird es aber, wenn Sie anfangen, über “Absolutismus” zu schreiben. Vom Relativismus wissen Sie ja einiges, aber von der Gegenposition überhaupt nichts. Es ist völlig aus den Fingern gesogen, was Sie da schreiben. Und, wie man es von Ihnen kennt, es ist gespickt mit Diffamierungen: “Hexenprozesse”, “Todesstrafe”, “IS-Terror”, als ob es da auch nur irgendeine Verbindung gäbe – als ob die Mehrzahl der Philosophen für so etwas eintreten würde oder als ob das auf irgendeine Art aus den Theorien folgen würde. Wenn Sie aber eine Verbindung vermuten, dann begründen Sie Ihre Vermutung.

            Also: Ich rate Ihnen: lassen Sie solche Diffamierungen, ich werfe Sie sonst raus.

      • „Ein ausgeprägter ethischer Relativismus erledigt letztlich die Ethik, indem es ethische Maximen oder starke ethische Schlussfolgerungen verunmöglicht.“

        Begriffe wie “ausgeprägt” und “stark” sollte Sie in diesem Zusammenhang vermeiden. Sie suggerieren, daß es hier um quantitative Unterschiede geht. Das ist aber nicht der Fall.

  12. @Dr. Webbaer;
    Die Adjektive “gratis, nett, klug” sind nur relativ oder in Relation zu ihren Gegenstücken zu verstehen. Wenn die Sonne wärmt, dann ist das relativ zu einer willkürlichen Normalität (statistischer Durchschnitt) oder zum subjektiven Empfinden. Unser gesamtes Denken ist auf Relativismus ausgerichtet, erkennbar in der Sprache. Meinungs- und Pressefreiheit gründen auf dem Relativismus der Weltdeutungen. Hinter der Gegnerschaft zum Relativismus (nicht einer begründeten Kritik) steckt oftmals ein Absolutheitsanspruch eigener “Wahrheiten”. Ein Beispiel dafür ist der Vorwurf der “Diktatur des Relativismus” von Kard. Ratzinger (2005).

    Der Irrtum liegt darin, den Begriff “relativ” selber absolutistisch zu deuten und dem Relativismus einen absoluten Nihilismus zu unterstellen. Auch der Relativismus selber unterliegt dem Relativismus! Deshalb kann und muss er durch einen pragmatischen Kompatibilismus aufgelöst werden, der im öffentlichen Diskurs zu “vernünftigen Wahrheiten” finden kann, z.B. zur Einführung der universellen Menschenrechte. Gerade die Menschenrechte sind notwendig, weil ein Absolutismus als Rassismus, Homophobie, Diskriminierung (von Frauen) in den Köpfen steckt.

    Interessant ist noch, dass die durch die Evolution vorgegebene, zufällige und scheinbare Absolutheit des Menschseins durch Medizin und Gentechnik zunehmend aufgeweicht werden wird, abgesehen von den technokulturellen Entwicklungen zur Kompensation des “Mängelwesen Mensch”. Nicht zuletzt führen die politische und die ökologische Entwicklung zu einer Relativierung alter und vermeintlicher Wahrheiten, andererseits auch wieder zu neuen Absolutheitsansprüchen und Konflikten.

    • @ Herr Reutlinger :

      Alles wieder zustimmungsfähig, Sie haben ja nicht vor Richtung Nihilismus zu gehen, insofern bleibt Ihr Kommentatorenfreund auch baff und bass erstaunt, wenn Sie sich (wieder einmal) aufregen.

      Zudem tischen Sie an anderer Stelle auch anders auf,
      MFG
      Dr. W (der statt mit dem Relativismus deutlich lieber mit dem Skeptizismus hantiert)

      • “Dr. W (der statt mit dem Relativismus deutlich lieber mit dem Skeptizismus hantiert)”

        Was meinen Sie mit “hantiert”?

        Es ist wohl richtig, daß das meiste, was über den Relativismus gesagt wird, eigentlich den Skeptizismus meint (auch bei mir), jedenfalls wenn man, wie üblich, mit “Relativismus” die Auffassung meint, eine Wahrheit gebe es schon, aber sie ist immer nur relativ zu bestimmten Bedingungen, z.B. sprachlicher oder logischer Art, mit “Skeptizismus” aber eine Auffassung, die meint, der Begriff der Wahrheit sei überhaupt sinnlos. Ich meine allerdings, daß dieser Unterschied irrelevant ist, denn der Begriff der Wahrheit, so wie er nun einmal seit Jahrtausenden gebraucht wird, impliziert, daß die Wahrheit eine ist. Vielleicht liege ich aber falsch. Gibt es ein Beispiel, wo dieser Unterschied relevant wird?

        • @ Herr Trepl :

          ‘Hantieren’ in diesem Sinne benutzt.

          Skeptizisten und Relativisten mögen ähnlich meinen, aber der Skeptizist stellt das erkennende Subjekt mit seinen Zweifeln in der Vordergrund, während der Relativist den Sachbezug (“referre” und so) in den Vordergrund stellt, er das Subjekt nicht benötigt. [1]


          Ansonsten, ‘Wahrheiten’ gibt es genau dann, wenn Erkennende theoretisieren und in ihren Mathematiken einen Wahrheitswert entwickeln und pflegen, Wahrheit gibt es in der Natur nicht.

          MFG
          Dr. W (der sich nun auszuklinken hat, Ihnen alles Gute und Webbaer später bereit stehend bleibend)

          [1]
          außer eben, dass der Relativist selbst ein erkennendes Subjekt zu sein hat, er will womöglich aber Sachbezüge und deren Feststellung sozusagen dehumanisieren, er ist zumindest: unpräziser – hier geht’s denn manchmal auch Richtung Szientismus

          • “Wahrheit gibt es in der Natur nicht.”

            Hat das je einer behauptet? Wahrheit gibt es natürlich nicht in der Natur, gibt es auch in der “Welt” nicht, die ja etwas mehr umfaßt als “Natur”. Wahrheit gibt es nur in der Erkenntnisrelation.

          • @ Herr Trepl :

            Es gibt schon einen wichtigen Unterschied zwischen dem Relativisten und dem Skeptizisten: Der S. stellt das erkennende Subjekt in den Vordergrund, ist sozusagen humanistisch, um dann Wahrheit in Frage zu stellen oder eben als Erkenntnisrelation, Ihre Begriffswahl, zu pflegen, ganz wie der R. – der aber eben auch das erkennende Subjekt selbst in Frage stellt, problemlos auch bspw. in Biozentrismus machen könnte, wenn er wollte.

            MFG
            Dr. W

  13. Vielleicht kommen Sie eines Tages selber auf die Idee, Herr Treppl. Das Zitat von Michel de Montaigne ist so aktuell wie nie. Wenn die vermeintliche Wahrheit über das Leben gestellt wird, dann haben wir eine Welt nach den Vorstellungen der kath. Kirche, der Massenideologien des 20.Jhdts oder des IS!

    Der szientifische Naturalismus führt notwendig zum Relativismus in ethischen Dingen. Die Folgen sind, wie gesehen, nicht wünschenswert, auch für den Relativisten selbst nicht.

    Was ist daran falsch, wenn es überhaupt stimmen würde? Ist der unbegründete und verlogene Rassismus, der Fremdenhass, die Frauenfeindlichkeit, der Rechtsextremismus oder der IS wünschenswert?

    Wenn alle wahre Wissenschaft Naturwissenschaft ist, wie der szientifische Naturalismus glaubt, dann gibt es Wissenschaft nur von dem, was ist, vom Sein.

    Das ist Ihre Unterstellung und keineswegs die Position des philosophischen Naturalismus, auch nicht des szientifischen Naturalismus. Vielleicht gibt es ein paar “Fundamentalisten” unter den Naturalisten (wie in allen Denkrichtungen), aber sie sind keinesfalls der Maßstab.

    • Erstens, ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie meinen Namen richtig schreiben würden.

      Zweitens, Sie können meinetwegen ja hier Kommentare schreiben. Aber schön wäre es, wenn Sie deutlich machen könnten, was davon sich auf das bezieht, was ich geschrieben habe (das hier scheint, wie meist, keiner zu sein, ich kann jedenfalls nicht erkennen, daß ich die Gegenposition vertreten hätte), und was Bemerkungen zu irgendetwas sind, wozu Sie sich halt auch mal äußern wollen. Es könnte ja sein, daß jemand nicht meine Kommentare und Artikel liest, sondern als meine Meinung nimmt, was er bei Ihnen gelesen hat, und das wäre mir gar nicht recht.

      • Herr Trepl, Entschuldigung für den Tippfehler in Ihrem Namen.

        Den Streit als ein Faktum kann auch der radikale Relativist nicht leugnen. Er kann aber behaupten, daß der Streit sinnlos ist, man pluralistisch jede Meinung tolerieren sollte. .

        Ihre Unterstellungen sind blanker Unsinn. Genau das Gegenteil ist der Fall. Der Relativismus hält den Streit für notwendig, um zu begründeten und vernünftigen Entscheidungen zu kommen, statt Hexen zu verbrennen, oder immer noch die Todesstrafe zu verhängen! Das habe ich mit meinen Zitaten von Watzlawick und Montaigne klar zu machen versucht.

        Konzilianz und Toleranz bedeutet keinesfalls Beliebigkeit oder Gleichgültigkeit. Eine Werteordnung darf aber nicht auf spekulativen und falschen “Wahrheiten” gründen, denn damit ist der Beliebigkeit Tür und Tor geöffnet, wie die Menschheitsgeschichte und wie der IS-Terror heute überdeutlich macht. Überflüssig sind vermeintliche (oftmals verlogene) Wahrheiten, weil niemand im Besitz von Wahrheiten sein kann!

        • “Ihre Unterstellungen sind blanker Unsinn.”

          Man darf hier gerne Beschimpfungen ausstoßen, wenn einem dadurch leichter wird. Aber man muß sie begründen.

          Das da:
          “Genau das Gegenteil ist der Fall. Der Relativismus hält den Streit für notwendig, um zu begründeten und vernünftigen Entscheidungen zu kommen …”
          ist keine Begründung, denn es bezieht sich nicht auf das, was ich geschrieben habe. Ich habe ja gerade wieder und wieder geschrieben, daß der Versuch, “zu begründeten und vernünftigen Entscheidungen zu kommen” nicht mit der Auffassung vereinbar ist, auch moralisch inakzeptable Meinungen zu tolerieren mit der Begründung, über ihre Wahrheit ließe sich sowieso kein Urteil treffen. Und eben das macht den ethischen Relativismus aus. Auch habe ich nicht die Auffassung vertreten, eine Werteordnung dürfe auf “spekulativen und falschen ‘Wahrheiten’ gründen.” Also bitte: begründen Sie ihre Beschimpfung, und zwar mit Bezug auf das, was ich geschrieben habe. Und hören Sie auf, von “Hexenverbrennungen”, “Todesstrafe” und “IS-Terror” so zu schreiben, daß ein Leser, der nur Ihren Kommentar liest, denken muß, dafür wäre ich. Dann dürfen Sie hier kommentieren, sonst nicht.

          • Wenn Sie schreiben

            “Ich habe ja gerade wieder und wieder geschrieben, daß der Versuch, “zu begründeten und vernünftigen Entscheidungen zu kommen” nicht mit der Auffassung vereinbar ist, auch moralisch inakzeptable Meinungen zu tolerieren mit der Begründung, über ihre Wahrheit ließe sich sowieso kein Urteil treffen. Und eben das macht den ethischen Relativismus aus. “

            dann sind das diffamierende Unterstellungen, die bspw. dem Zitat von Watzlawick eindeutig widersprechen und es sogar ins Gegenteil verdrehen. Selbst wenn es einzelne solche Relativisten geben sollte, berechtigt es nicht zu solchen pauschalisierenden und unwissen(schaf)tlichen Behauptungen.

            “Naturwissenschaft verdirbt ha[l]t die Denkfähigkeit im Hinblick auf alles, was nicht Naturwissenschaft ist.”

            Über solche Sätze von Ihnen kann ich nur den Kopf schütteln – oder haben Sie diesen Satz auch nicht geschrieben?!

          • @ Herr Reutlinger :

            Erst einmal: Kommentare hier einzustellen ist gratis, verursacht keine Kosten und Aufgeregtheit ist etwas für die anderen.

            Das hier (anderweitig aus dieser Kommentatorik herbeigeholt zitierend) ist interessant:

            Naturwissenschaft verdirbt ha[l]t die Denkfähigkeit im Hinblick auf alles, was nicht Naturwissenschaft ist. [Ludwig Trepl]

            Über solche Sätze von Ihnen kann ich nur den Kopf schütteln – oder haben Sie diesen Satz auch nicht geschrieben?!

            Und natürlich ist es richtig, wenn die Duden-Bedeutung (3) gemeint ist.

            Korrekt ist auch, dass sich eher etymologisch bemühte wie dbzgl. erfahrene Kräfte zuvörderst an der Duden-Bedeutung (5) festhalten.

            Macht aber den Braten nicht fett, gerne mal ein wenig absteifen, der Wintertag ist schön, die Sonne wärmt noch etwas, und Herr Prof. Dr. Ludwig Trepl (Emiritus) ist schon sehr nett und klug und so…

            MFG
            Dr. W

          • @ Reutlinger

            „Der größte Irrtum scheint mir zu sein, dass der Relativismus als Beliebigkeit gedeutet …“.

            Ich glaube nicht, daß es erfolgversprechend ist, Ihnen zu erklären, was Relativismus ist. Das viel einfachere Problem – was der Unterschied zwischen einem Naturwissenschaftler und einem Naturalisten ist – haben Sie ja auch nicht verstanden, nicht einmal im Ansatz. – Was Relativismus ist, habe ich hier und da immer mal wieder erklärt, außerdem gibt es jede Menge Literatur darüber. Schauen Sie halt selber nach.

            „Die Bösen und Schuldigen sind immer die Anderen.“

            Erstens sehe ich nicht, was das mit Relativismus zu tun hat. Zweitens hat mich (und Sie meinen ja mich, oder täusche ich mich da?) mein Leben gezwungen, ganz und gar nicht einem solchen Satz zuzustimmen. Ich gehörte – Gott sei’s geklagt – oft zu den ganz Bösen und Schuldigen.

            „dann sind das diffamierende Unterstellungen, die bspw. dem Zitat von Watzlawick eindeutig widersprechen“.

            Widersprechen? Aber gewiß doch. Ich halte den im Zitat enthaltenen Teil von Watzlawicks Ansichten für falsch. Das führe ich aber jetzt nicht weiter aus.

            “Es heißt unsere Vermutungen sehr hoch einzuschätzen, wenn man auf ihrer Grundlage Leute röstet!” (Montaigne)

            Das richtet sich gegen sonstwas, aber nicht gegen die Ablehnung des Relativismus z. B. durch Sokrates oder Kant und die allermeisten anderen Philosophen.

            “Naturwissenschaft verdirbt ha[l]t die Denkfähigkeit im Hinblick auf alles, was nicht Naturwissenschaft ist.”

            Über solche Sätze von Ihnen kann ich nur den Kopf schütteln – oder haben Sie diesen Satz auch nicht geschrieben?!

            Doch, den habe ich geschrieben (es ist ja ein wörtliches Zitat, und ich glaube Ihnen gern, daß Sie richtig abschreiben können). Und gerne würde ich jetzt schreiben: Das sieht man an Ihnen. Geht aber nicht, denn Sie sind ja kein Naturwissenschafter (sondern Informatiker, stimmt das?). Ich aber bin Naturwissenschaftler und ich weiß einigermaßen, was in meinem Kopf vorgeht. Darum weiß ich, daß der Satz wahr ist. Ich weiß es aber auch, weil ich zahllose andere Naturwissenschaftler kenne und weiß, was herauskommt, wenn sie über Dinge nachdenken, die nicht Gegenstand der Naturwissenschaften sind. – Aber was ist denn daran so verstörend, daß Sie gleich im Quadrat springen? Es ist doch das Normalste von der Welt, daß man mit bestimmten Denkmitteln bestimmte Dinge begreifen kann, andere aber nicht, man sich vielmehr den Weg zu ihnen verbaut.

          • @Reutlinger, @Trepl
            Das, was man für Wahrheit hält, meint man zu wissen.
            Das Wissen über die Wahrheit verbaut selbstverständlich die Sicht auf die vollständige Wahrheit, denn dieses Wissen verdirbt die Denkfähigkeit im Hinblick auf alles, was das Nichtwissen über Wahrheit ist, ergo auf alles, was notwendigerweise der vollständigen Wahrheit angehört.

            In der Musik entscheidet nicht das Wissen über Korrektheit, über den Wert der Aufführung, sondern etwas, was gar nichts mit diesem Wissen zu tun hat: es ist die Freiheit vom Wissen über Korrektheit – die vollendete Musik entsteht im Unwissen der Mittel der Vollendung.

          • @ Webbaer @, @ Herr Reutlinger

            Ich versteh nicht, was Sie hier sagen wollen. Könnte auch ich etwas davon haben?

          • @ Zasada

            “Das, was man für Wahrheit hält, meint man zu wissen.
            Das Wissen über die Wahrheit verbaut selbstverständlich … usw.”

            Das stammt i.w. von Planton. Haben Sie nicht behauptet, sowas nicht zu lesen?

          • @ Ludwig Trepl
            “Das stammt i.w. von Planton. Haben Sie nicht behauptet, sowas nicht zu lesen?”

            Kein Platon, Trepl! (“Naturwissenschaft verdirbt… usw.”)

  14. Nun steht der Artikel schon länger im Netz. Eigentlich wollte ich mich auch längst bei der Diskussion beteiligt haben, nicht nur bei den Off-Topic Themen, die gerade behandelt werden. Aber es ist doch so, wie einer meiner Freunde immer zu sagen pflegt: Man muss höllisch aufpassen, ruckzuck ist nichts passiert.

    Ich sympathisiere ja mit beidem, Naturalismus und (ethischem) Relativismus. Was mich verstört hat, das sind die von Ihnen zu letzterem formulierten Abschnitts-Überschriften “Warum können wir den Relativismus nicht ernsthaft wollen?” und “Warum ist der Relativismus nicht nötig?”

    Nun mag es zunächst wünschenswert erscheinen, dass es einen archimedischen Punkt gibt, wenn schon nicht in der Natur, zumindest dann doch in der Ethik. Nur was wäre erreicht, wenn Sie gezeigt hätten, das wir den Relativismus wirklich nicht wollen? Damit ist ja noch lange nicht gezeigt, dass in der Ethik ein solcher Punkt existiert, geschweige denn gefunden worden.

    Was soll das heißen, der Relativismus sei nicht nötig? Es gibt ein bessere Theorie, eine die vielleicht nicht bewiesen wurde, jedoch alle zufrieden stellt? Konkurrenz wird nicht benötigt?

    Ein Missverständnis scheint mir hier zu liegen: “Er [der radikale Relativist] kann aber behaupten, daß der Streit sinnlos ist, man pluralistisch jede Meinung tolerieren sollte

    Der radikale Relativist vertritt kein Sollen. Auch nicht, man solle andere Meinungen tolerieren. Der Relativismus ist keine Ethik, sondern sagt nur etwas über Ethiken, wie sie sich zueinander verhalten. Er formuliert Seins-Sätze, keine des Sollens.

    Es mag Ethiken geben, die Toleranz predigen und diese mögen sich auch auf die Erkenntnis berufen, die der Relativist zu haben meint. Ein entsprechender Vertreter kann versuchen, ein Argument daraus zu basteln, das für seine Toleranz-Ethik spricht. Nur gilt das auch für Vertreter intoleranter Ethiken, auch diese könnten versuchen, sich in irgendeiner Weise auf den Relativismus zu berufen. Aber wer auch immer das wie auch immer macht, er würde nur einen Sein-Sollen-Fehlschluss produzieren.

    • Joker schrieb (8. Januar 2016 0:39):
      > […] wünschenswert, dass es einen archimedischen Punkt gibt

      Man soll sich davon überzeugen lassen können, seine Meinungen zu ändern;
      aber nicht seine Überzeugungen, wovon man sich zum Ändern seiner Meinungen überzeugen ließe

    • @Joker

      „Was mich verstört hat, das sind die … Abschnitts-Überschriften ‚Warum können wir den Relativismus nicht ernsthaft wollen?’ und ‚Warum ist der Relativismus nicht nötig?’“

      Was hat Sie denn daran verstört? Ich hab erst „gestört“ gelesen – soll „verstört“ heißen, daß Sie nun ganz durcheinander sind, nicht mehr wissen, was Sie für richtig halten sollen?

      „Nur was wäre erreicht, wenn Sie gezeigt hätten, das wir den Relativismus wirklich nicht wollen? Damit ist ja noch lange nicht gezeigt, dass in der Ethik ein solcher Punkt existiert, geschweige denn gefunden worden.“

      Stimmt. Nicht wollen können heißt ja nicht, daß etwas anderes möglich ist. Wir müßten dann halt mit etwas leben, was uns nicht recht sein kann, aber das ist ja nicht gerade etwas Seltenes. – Sie wissen ja, in welcher Tradition ich stehe bzw. herumdenke, oder Sie können es sich zusammenreimen. Und in dieser ist man der Auffassung, daß dieser Punkt in der Ethik gefunden worden ist. Ich hab halt in meinem bisherigen Leben nichts gehört, was mich daran zweifeln ließe. (Stimmt nicht ganz, vor längerer Zeit war ich ganz anderer Meinung; ich hab fast alles für richtig gehalten, was die für richtig halten, gegen die ich hier ständig argumentiere. Kann man freudianisch interpretieren: Ich bin so fuchsig, weil ich mich von mir selber, meiner eigenen Jugend, für die ih mich schäme, distanzieren will, so wie einer, der mit 40 die bürgerlichen Benimmregeln gelernt hat und nun wie kein anderer das Proleten-Benehmen haßt.)

      „Was soll das heißen, der Relativismus sei nicht nötig?“

      Damit wollte ich nur sagen: Ein sehr üblicher Gedankengang (vornehmlich im angloamerikanisch-wienerischen, positivistischen Denken) ist ja der: Wir stellen fest, daß es ganz verschiedene moralische Auffassungen gibt – in verschiedenen Kulturen, in verschiedenen Weltanschauungen in einer Kultur, zu verschiedenen Zeiten …. Daraus wird geschlossen, daß es nicht anders möglich ist, daß also der Relativismus „nötig“ sei. Das ist ein Fehlschluß (noch kein Sein-Sollens-Fehlschluß, aber der folgt gern auf dem Fuße).

      „Konkurrenz wird nicht benötigt?“

      Konkurrenz zwischen Theorien über Ethik oder Konkurrenz zwischen moralischen Auffassungen? Jedenfalls, beides ist einfach ein Faktum und dürfte die Menschheit, sollte sie ein unbegrenztes Leben haben, bis in alle Ewigkeit begleiten. Daß anderes möglich ist, heißt nicht, daß es von endlichen Wesen erreicht werden wird oder könnte. Wie in der Naturwissenschaft: Man kann es für möglich halten, daß es eine endgültige Wahrheit gibt, und gleichzeitig der Meinung sein, daß kein Mensch die je herausfinden wird. (Es soll etwas geben von Habermas, wo er diesen Gedanken zu beweisen versucht.)

      „Ein Missverständnis scheint mir hier zu liegen: ‚Er [der radikale Relativist] kann aber behaupten, daß der Streit sinnlos ist, man pluralistisch jede Meinung tolerieren sollte’. Der radikale Relativist vertritt kein Sollen.“

      Erstens, es gibt zwei Sorten von Relativismus: einen, der sozusagen nur deskriptiv ist und einen, der präskriptiv ist. Zweitens, und das wolle ich eigentlich sagen: Der deskriptive Relativismus führt leicht (siehe oben) zu einem präskriptiven; muß allerdings nicht. Nur das Sein betrachtet, bin ich auch Relativist (wie jeder), wenn auch nicht ganz so „radikal“, weil ich meine, daß die Unterschiede in den ethischen Wertungen viel kleiner sind, als man meint – sie sich sozusagen nur aus einem Meer von Übereinstimmungen herausheben (und deshalb auffallen). In den allermeisten alltäglichen Dingen sind wir uns mit den Papuas ziemlich einig.

      „Nur gilt das auch für Vertreter intoleranter Ethiken, auch diese könnten versuchen, sich in irgendeiner Weise auf den Relativismus zu berufen.“

      Wie meinen Sie das? Wie soll das gehen? „Vertreter intoleranter Ethiken“ verstehe ich so, daß das Leute sind, die meinen, daß sich z. B. Sklaverei oder Unterdrückung der Meinungsfreiheit nicht rechtfertigen lassen und daß man sie auch nicht tolerieren sollte. Aber wie kann da ein (deskriptiver) Relativismus unterstützend wirken?

    • Der größte Irrtum scheint mir zu sein, dass der Relativismus als Beliebigkeit gedeutet, oder als solcher auch oftmals bewusst diffamiert wird. Zweitens wird der eigene Relativismus nicht zur Kenntnis genommen, sondern beschönigt und veschleiert. Die Bösen und Schuldigen sind immer die Anderen.

      Ein Zitat von Paul Watzlawick dazu:

      “Ich behaupte, wenn es Menschen gäbe, die wirklich zu der Einsicht durchbrächen, dass sie die Konstrukteure ihrer eigenen Wirklichkeit sind, würden sich diese Menschen durch drei besondere Eigenschaften auszeichnen. Sie wären erstens frei, denn wer weiß, dass er sich seine eigene Wirklichkeit schafft, kann sie jederzeit auch anders schaffen. Zweitens wäre dieser Mensch im tiefsten ethischen Sinn verantwortlich, denn wer tatsächlich begriffen hat, dass er der Konstrukteur seiner eigenen Wirklichkeit ist, dem steht das bequeme Ausweichen in Sachzwänge und in die Schuld der anderen nicht mehr offen. Und drittens wäre ein solcher Mensch im tiefsten Sinne konziliant.”

      Und noch ein Zitat von Michel de Montaigne (1533-1592) für Gegner des Relativismus:

      “Es heißt unsere Vermutungen sehr hoch einzuschätzen, wenn man auf ihrer Grundlage Leute röstet!”

      • Ich hoffe, niemand kommt auf die Idee, Herr Reutlinger würde mit seinem Kommentar etwas zu meinem Artikel sagen. Da steht ja, wie sich jeder leicht überzeugen kann, etwas ganz anderes drin.

        • @Ludwig Trepl
          Was, wenn nicht die Furcht vor moralischer Beliebigkeit, steckt denn hinter Ihrem Vorwurf, Naturalismus führe zu Relativismus? (»Ein unbedingtes Sollen kann das nicht sein: Wäre die Geschichte anders gelaufen, gäbe es andere allgemein-menschliche Auffassungen davon, was man soll.«)

          Vielleicht verstehen einige von uns Sie ja falsch, was Sie mit dem unbedingten Sollen eigentlich meinen. Nach Ihrer Lesart scheint mir der moralische Mensch keine Freheiten zu haben und ist immerzu von der Frage getrieben, was denn nach dem universalen Pflichtenkanon das unbedingt Richtige zu tun sei, ohne jedoch hoffen zu können, darauf ultimative Antworten zu finden. Eine eher christlich-theologisch inspirierte Lesart, würde ich meinen, und Sie wären nicht der einzige, der Kants ethischen Rationalismus auf diese Weise deutet. Beispielsweise hat auch Alasdair MacIntyre sich das so zurechtgelegt, und Onora O’Neill [1, Ch. 8] zufolge hat er Kant da gründlich missverstanden.

          He [MacIntyre] holds that Kant must be seeking an ethical position whose content is universal. This is far from many of Kant’s claims – if not always from the spirit of his examples. Kant’s notion is that the content of our maxims of action does not derive from reason at all. What reason supplies is a test of the morality of acts we propose. If reason is to be practical, that is, to guide action, it has to be connected in some way to the particularities of persons, situations and lives.

          [1] O’Neill, O. Constructions of Reason. CUP. 1989.

          Kurzum, Sie scheinen mir mit dem unbedingten Sollen dem Menschen die moralische Eigenverantwortung wieder abprechen zu wollen, den Kant ihm mit dem Sittengesetz gerade zuerkannt hat. Wenn Sie sich jetzt von mir missverstanden fühlen sollten, dann liegt das meines Erachtens nicht zuletzt daran, dass Sie es versäumt haben, diese Sache hinlänglich zu klären.

          • @ Chrys

            „Was, wenn nicht die Furcht vor moralischer Beliebigkeit, steckt denn hinter Ihrem Vorwurf, Naturalismus führe zu Relativismus?“

            Richtig.

            „Nach Ihrer Lesart scheint mir der moralische Mensch keine Freiheiten zu haben und ist immerzu von der Frage getrieben, was denn nach dem universalen Pflichtenkanon das unbedingt Richtige zu tun sei, ohne jedoch hoffen zu können, darauf ultimative Antworten zu finden.“

            1. Ultimative Antworten kann er schon finden. Aber er soll sich nicht einbilden, das, was er gerade gefunden hat, sei eine. (Zumindest in diesem Punkt ähnlich wie in den Naturwissenschaften: Wir können nicht wissen, daß all unsere Theorien über die Natur falsch sind und eines Tages widerlegt werden, aber wir wissen, daß sie fallibel sind, sie könnten falsch sein.)

            2. Das unbedingte Sollen liegt bei Kant in der unbedingten, gleichwohl freiwilligen Bindung an die selbstgegebenen Gesetze, das ist der zweite Teils des Sinn von Autonomie (der erste ist das Selbstgeben der Gesetze).

            3. Das Selbstgeben der Gesetze ist nicht im Sinne von Beliebigkeit zu verstehen (falls das mit „Freiheiten“ gemeint sein sollte). Man ist dabei an die Vernunft gebunden, d. h. an den Kategorischen Imperativ. Dieser ist unhintergehbar. Ich habe in einem Artikel (https://scilogs.spektrum.de/landschaft-oekologie/zum-ursprung-von-naturethik-teil-1/) im Anschluß an Grünewald etwas über diese Frage der Unhintergehbarkeit geschrieben. Vor allem aber würde ich dazu das
            http://uk-online.uni-koeln.de/remarks/d3626/rm11490.pdf
            empfehlen („transzendentale oder pragmatische Normenbegründung“, auch von Grünewald, eine Auseinandersetzung mit den Diskursethikern, insbesondere einer neueren Publikation von Kuhlmann).

            4. Die Vorstellung von einem universalen vernünftig hergeleiteten Pflichtenkanon gibt es, aber sie ist nicht die Kant’sche. Diese ist, daß die Vernunft (über den Kategorischen Imperativ) uns sagt, was von den beliebig möglichen Maximen aus der „Gesetzgebung“ ausscheidet. Alles, was die Prüfung besteht, ist erlaubt. Schon deshalb ist das nicht richtig: daß der Mensch „immerzu von der Frage getrieben [sein muß], was denn nach dem universalen Pflichtenkanon das unbedingt Richtige zu tun sei“. Der größte Teil des Lebens besteht darin, daß man Dinge tut, die fraglos unter dieses Erlaubte fallen. Daß allerdings im Prinzip jede Handlung von der Frage begleitet ist, ob sie denn richtig, erlaubt, sinnvoll, geboten … sei, ob nun im Hinblick auf einen selbstgesetzten Zweck (das Zimmer soll warm werden oder so was, technische und pragmatische Imperative), ob unbedingt, und er sich dadurch vom Tier unterscheidet, ist auch richtig, aber etwas anderes.

            Und es scheint mir dies richtig: „If reason is to be practical, that is, to guide action, it has to be connected in some way to the particularities of persons, situations and lives.“ (O’Neill) Das scheint die weit überwiegende Auffassung der Kant-Interpreten zu sein, jedenfalls soweit sie Kenner sind. Es gibt auch einige, die ihn weniger kennen, sondern zur Stützung irgendwelcher Auffassungen, z. B. christlicher, gebrauchen wollen (oder, was ja ziemlich häufig ist, von Philosophen ersten Ranges, die andere Philosophen ersten Ranges gern falsch verstehen). Mir scheint auch die Kritik richtig, daß Kant die Möglichkeit überschätzt hat, zu sehr weitreichenden Schußfolgerungen zu kommen, weil er die Bedeutung der Urteilskraft in moralischen Dingen unterschätzt hat, d. h. der Frage, ob denn der vorliegende Fall überhaupt unter das fällt, was man da allgemein nachgewiesen hat (z. B. im Falle des Verbots der (Not-)Lüge; da gehen die Meinungen aber auseinander).

          • @Ludwig Trepl
            Gut, diese Klarstellung hilft, zumindest mir, und dagegen hätte vermutlich auch Onora O’Neill keinen Einwand, soweit ich das überhaupt zu sagen vermag. Die Frage nach einem ‘unbedingten Sollen’ konzentriert sich dann meines Erachtens auf die Rechtfertigung des KI, andere präskriptive Sätze wären hinsichtlich ihrer ethischen Beurteilung dieser Metaregel untergeordnet und insofern jedenfalls nicht bedingungslos.

            Wenn wir nun das vernünftig nennen, was grundsätzlich jedem Subjekt gleichermassen einsichtig und akzeptabel sein sollte, dann beinhaltet die Idee von Vernunft offensichtlich bereits ein Sollen, der Begriff hat mithin für uns eine immanent präskriptive Bedeutung. So verstanden lässt sich für mich mit der Vokabel vom ‘unbedingten Sollen’ immerhin ein Sinn verbinden, wenngleich ich diese Vokabel nicht für sonderlich treffend gewählt halte. Mehr als die lapidare Einsicht, dass es zur Vernunft keine vernünftige Alternative gibt, wäre damit aber auch noch nicht gewonnen. Es folgt daraus beispielsweise noch keineswegs, wie man mit jenen verfahren soll, die gar nicht vernünftig sein wollen und etwa lieber dem folgen, was vermeintlich geschrieben steht in ihren heiligen Schriften, die sich, wie die Historie zeigt, praktisch nach völligem Belieben ausgelegen lassen.

            Aus einer mit rein deskriptiven Konzepten operierenden Wissenschaft lässt sich diese regulative Idee von Vernunft nicht begründen, denn methodisch lässt sich der Bereich des Deskriptiven damit unmöglich transzendieren. Gleichwohl hat Wissenschaft die Vernunft zur Vorbedingung, u.a. gerade mit der Forderung nach der prinzipiellen Möglichkeit zum intersubjektiven Nachvollzug ihres Prozederes. Kurzum, deskriptive Wissenschaft kann ihre eigene Vernünftigkeit nicht begründen.

            Ein Naturalismus, der sich einzig durch die Berufung auf naturwiss. Erkenntnisse zu rechtfertigen versucht, kann in der Konsequenz dann ebenfalls nicht begründen, warum er vernünftiger sein sollte als ein x-beliebiger Hokus pokus. Ein streng durchgeführter szientifischer Naturalismus verträgt sich demnach eigentlich mit jeder Form von Relativismus. Dessen ungeachtet schätze ich, dass hier so gut wie jeder Apologet naturalistischer Deutungen fest davon übezeugt ist, damit die Vernunft ganz klar auf seiner Seite zu haben.

          • Nur zu meinem Verständnis:

            Ist mit „szientifischer Naturalismus“ in etwa das gleiche gemeint wie mit „erkenntnistheoretischer Naturalismus“?

          • Nachtrag:

            Ich frage deshalb, weil ich irgendwo gelesen habe, dass unter den Quine’schen Voraussetzungen der Naturalismus nicht mit dem Relativismus vereinbar ist. Dieser Relativismus soll sich aus Quines Unbestimmtheitsthese ergeben.

            Laienhaft formuliert: Wenn Quines Relativismus „wahr“ ist, dann kann sein erkenntnistheoretischer Naturalismus nicht ebenfalls „wahr“ sein.

            Wenn der „szientifische Naturalismus“ aber etwas völlig anderes ist als die erkenntnistheoretische Variante, und der Quine‘sche Relativismus kaum etwas mit einem ethischen Relativismus zu tun hat, dann erübrigen sich weitere Überlegungen.

          • @Balanus
            Im Cambridge Companion to Atheism wird bemerkt, dass erstaunlich wenig Einvernehmen darüber besteht, was genau unter Naturalismus zu verstehen ist. Unter szientifischem Naturalismus stelle ich mir spezieller ungefähr das vor, was zu folgendem Beispiel passt:

            “scientific naturalism” […] is the belief that nature is all there is and that science alone can make sense of it.

            Haught, John F. Is Nature Enough? Meaning and Truth in the Age of Science. CUP, 2006.

            Google zeigt, dass andere Autoren vergleichbare Definitionen angeben, sodass man sich hier doch halbwegs einig zu sein scheint, wovon die Rede ist.

          • @Chrys

            „… Rechtfertigung des KI, andere präskriptive Sätze wären hinsichtlich ihrer ethischen Beurteilung dieser Metaregel untergeordnet und insofern jedenfalls nicht bedingungslos.“

            Darüber bin ich mir noch nicht im Klaren. Es ist eine Frage, ob Grünewald hier von Kant abweicht (was er sonst selten tut). Denn für diesen ist das Sittengesetz „Faktum der Vernunft“ und nicht weiter begründbar, Grünewald begründet es aber. – Er hat zu dem Thema viel geschrieben und scheint überhaupt der Experte für diese Frage zu sei, aber ich habe nicht alles von ihm gelesen.

            „Wenn wir nun das vernünftig nennen, was grundsätzlich jedem Subjekt gleichermassen einsichtig und akzeptabel sein sollte, dann beinhaltet die Idee von Vernunft offensichtlich bereits ein Sollen, der Begriff hat mithin für uns eine immanent präskriptive Bedeutung.“

            Mir scheint die immanent präskriptive Bedeutung schon etwas davor zu liegen: Wenn die Vernunft das „Vermögen zu schließen“ ist, und dieses Schließen nach bestimmten Regeln geschehen sollte, dann haben wir schon das erste „Sollen“ (eben nach diesen Regeln und nicht irgendwie zu schließen). Das zweite Sollen liegt aber darin, daß wir überhaupt schließen sollen. (Entsprechendes läßt sich wohl auch bereits für den bloßen Verstand sagen.) Die Vernunft ist jedenfalls nicht etwas von der Art eines Regelwerks, das irgendwo im Regal steht und nach dem man sich richten kann oder nicht (oder vielleicht nur richten soll, wenn man einen bestimmten Zweck erreiche will), sondern eher so etwas von der Art eines Gesetzbuches, in dem steht, was man zu tun und zu lassen hat und dem man unterworfen ist (da hakt der Vergleich, denn dem Gesetz ist man ja nicht bedingunglos unterworfen; man kann ja z. B. die Strafe auf sich nehmen oder in ein anderes Land fliehen).

            „Es folgt daraus beispielsweise noch keineswegs, wie man mit jenen verfahren soll, die gar nicht vernünftig sein wollen und etwa lieber dem folgen, was vermeintlich geschrieben steht in ihren heiligen Schriften, die sich, wie die Historie zeigt, praktisch nach völligem Belieben ausgelegen lassen.“

            Ja, das folgt nicht. Aber wenn man das erwartet, dann dürfte ein falscher Begriff von Vernunft zugrunde liegen: Es gibt diesem falschen Begriff nach eine Art Obersatz, aus dem sich streng alles Sollen in den verschiedensten Bereichen deduzieren läßt. Ich stelle mir die Sache eher so vor, daß die Situationen, in denen man vernünftige Entscheidungen zu treffen hat, unendlich vielfältig sind und jede in sich unendlich komplex ist, so daß die praktische Vernunft (die uns sagt, was wir sollen) erst mal eine theoretische Aufgabe zu lösen hat: diese ungeheure Komplexität vernünftig zu reduzieren. Das kann natürlich nicht mit szientifischen Mitteln geschehen, sondern dazu braucht man Fingerspitzengefühl (was wohl auch zu den in der Wissenschaft üblichen und unverzichtbaren Mitteln gehört, aber die Szientisten merken es meist nicht) und Urteilskraft. Von der sagt Kant, daß man sie nicht (im üblichen Sinne) lernen kann, und: “Der Mangel an Urteilskraft ist eigentlich das, was man Dummheit nennt”, und: Einem solchen Gebrechen ist nicht abzuhelfen“ (KrV in der Einl.) – Auch der KI ist kein solcher Obersatz, eher eine Art Maßstab oder eine Leitlinie, die zu beurteilen erlaubt, welche der Maßnahmen, die man unter dem Ziel sich ausdenken kann, wie man mit jenen verfahren soll, die gar nicht vernünftig sein wollen, zu akzeptieren sind: diejenigen, die uns näher an eine Welt bringen, in denen der KI wie ein Naturgesetz herrscht (d. h. in der keiner etwas „Böses“ tut). Das ist identisch mit: in der der Idee der Menschenwürde gefolgt wird.

            „Dessen ungeachtet schätze ich, dass hier so gut wie jeder Apologet naturalistischer Deutungen fest davon überzeugt ist, damit die Vernunft ganz klar auf seiner Seite zu haben.“

            Aber woher kommt das?

          • @ Chrys

            Meine Hauptquelle für diese Fragen ist das Naturalismus-Buch von Geert Keil. Ich weiß nicht, was es dazu noch alles gibt, aber das Buch von Keil ist schon sehr gründlich.

            Der Hauptpunkt in Bezug auf unsere Frage dürfte sein, daß man die Vielzahl von Varianten von Naturalismus im wesentlichen auf zwei reduzieren kann, es bleibt nicht viel, was da nicht unterzubringen ist:

            Erstens, das, was Keil „ökologischen Naturalismus“ nennt. Der Name ist vielleicht nicht sehr glücklich gewählt, er leitet sich so her, daß das, was man im heutigen weltanschaulich-politischen (nicht im wissenschaftlichen) Diskurs „Ökologie“ nennt, ein zentrales Ideologem hat, eben diesen „ökologischen Naturalismus“. Natur wird darin inhaltlich verstanden. Meist ist bei weitem nicht alles gemeint, was man so unter Natur verstehen kann, sondern das, was der „ökologisch denkende“ westliche Mensch heute meint, wenn er „Natur“ sagt: Tiere, Pflanzen, Berge, Seen …, also etwa das, was in älteren Begriffen wie „Naturkunde“ oder „Naturgeschichte“ steckt, wo mit „Natur“ ja keineswegs das gemeint ist, was man in den Naturwissenschaften mit „Natur“ meint.
            Natur ist hier vor allem eine normative, moralische Instanz. Natur ersetzt sozusagen Schöpfung, die wiederum an die Stelle des Schöpfers getreten ist.

            Zweitens, szientifischer Naturalismus. Natur wird hier im methodologischen Sinne verstanden, nicht inhaltlich (Natur als „das, was den Gesetzen gehorcht“, Kant). Hier ist das, was im Inneren eines Atomreaktors geschieht, Natur, was es für den „ökologischen Naturalismus“ natürlich keineswegs ist. Natur ist also die „Welt“ in einer bestimmten Betrachtungsweise; für diese steht im Englischen „science“, im Deutschen vielleicht am ehesten „nomothetische Wissenschaften“ (Windelband). Der szientifische (besser wohl: szientistische) Naturalismus ist also weniger ein Naturalismus der Natur als ein Naturalismus der methodologisch (statt material, inhaltlich, durch den Gegenstand) definierten Naturwissenschaften, und wenn vermeintlich doch eine inhaltliche Aussage zur Natur gemacht wird wie „alles ist Natur“, so bedeutet das in Wirklichkeit: Alles läßt sich mit naturwissenschaftlichen Mitteln betrachten. Entscheidend ist aber nun, daß das „läßt sich“ (dem ja niemand widerspricht) durch „soll nur“ ersetzt wird. Denn die Naturwissenschaft ist der „Königsweg zur Erkenntnis“. Was sich auf diese Weise nicht erkennen läßt, wird entweder reduziert, so daß sich die Nicht-Erkennbarkeit als eine scheinbare erweist, oder eliminiert (als sinnlos oder so was deklariert; „eliminativer Materialismus“).

            @ Balanus: Erkenntnistheoretischer Naturalismus statt szientifischer. Ich weiß nicht, ob es eine Diskussion darüber gibt. Nur vom Wort her würde ich sagen: Erkenntnistheoretischer Naturalismus ist der allgemeinere Begriff. Wer dem ökologischen Naturalismus anhängt, hat ja auch eine Erkenntnistheorie, die etwa enthält, daß man am Sein der Dinge ein Sollen erkennt: ein Ökosystem ist stabil (deskriptiver Satz), daraus wird abgeleitet: es soll stabil sein (präskriptiver Satz). Oder: Es gibt Spitznashörner; abgeleitet wird: es soll sie geben. Szientifischer Naturalismus wäre also spezieller als erkenntnistheoretischer Naturalismus, er hat eine bestimmte (vom ökologischen Naturalismus sehr verschiedene) Erkenntnistheorie.

          • @Ludwig Trepl

            im Beitrag 14. Januar 2016 11:34, 6. Absatz, 2.Z.v.o. soll es sicher heißen
            “Es gibt _k_eine Art von Obersatz…” statt “Es gibt eine …” ?

          • @Chrys, @L. Trepl

            Danke für die Erläuterungen.

            Ich verstehe das nun so, dass die Aussagen zum erkenntnistheoretischen Naturalismus im Wesentlichen auch für den szientistischen Naturalismus gelten. Wenngleich „szientistisch“ eine gewisse negative Zuspitzung impliziert, die z. B. auch in der Formulierung: »die Naturwissenschaft ist der „Königsweg zur Erkenntnis“« (L.T.) zum Ausdruck kommt (die ich übrigens so nur von dezidierten Antinaturalisten kenne—ist wohl dem speziellen Quine’schen Naturalismus geschuldet).

            Thomas Sukopp nennt in „Naturalismus: Kritik und Verteidigung erkenntnistheoretischer Positionen“ (Walter de Gruyter, 2006) in einer Fußnote (S. 27) zwei „subtilere“ Behauptungen des (erkenntnistheoretischen) Naturalismus:

            „Im Bereich natürlicher Phänomene sind die Methoden der Naturwissenschaften allen anderen Methoden überlegen.“ Oder: „Sofern erkenntnistheoretische Fragen überhaupt lösbar sind, sollten wir empirisches Wissen ohne Rücksicht auf Konsequenzen für traditionelle Erkenntnistheorien verwenden.“

            So formuliert erscheint die Position des bzw. eines Naturalismus schon viel vernünftiger, finde ich.

          • ##
            @Balanus

            “die Naturwissenschaft ist der „Königsweg zur Erkenntnis“« (L.T.)”

            Das ist nicht von mir. Ich weiß leider nicht mehr, von wem ich das abgeschrieben habe.

            “Wenngleich „szientistisch“ eine gewisse negative Zuspitzung impliziert”

            Ja, so habe ich das auch gemeint. -istisch meint immer (?) eine negative Zuspitzung, ob nun in naturalistisch, psychologistisch oder marxistisch. Und ich meinte ja eine negative Zuspitzung im Hinblick auf die Rolle der naturwissenschaftlichen Methode.

            „Im Bereich natürlicher Phänomene sind die Methoden der Naturwissenschaften allen anderen Methoden überlegen.“ (Th. Sukopp)

            Das stimmt nur dann, wenn man “natürliche Phänomene” von vornherein so definiert, daß es sich dabei um das handelt, was den Methoden der Naturwissenschaften zugänglich ist. Verstehe ich unter “natürliche Phänomene” das, was man im Alltag darunter versteht, also diese Phänomene auch als schöne oder erhabene oder in anderen ästhetischen Begriffen zu beschreibende, dann sind die Methoden der Naturwissenschaften nicht allen anderen überlegen, sie kommen vielmehr überhaupt nicht in Betracht. Daß manche Naturwissenschaftler versuchen, Ästhetisches mit solchen Methoden zu begreifen, ist einfach Dilettantismus.

            Das zweite Zitat von Sukopp verstehe ich nicht: Was soll heißen “ohne Rücksicht auf Konsequenzen für traditionelle Erkenntnistheorien” solle man empirisches Wissen verwenden? Das kann er doch nicht ernst meinen. Für die Erkenntnistheorien hat es gar keine Konsequenzen, wenn ich dieses Wissen verwende. Die Frage ist hier seit eh und je, ob dieses “Wissen” als Wissen gelten kann. Das kann man nur mittels Erkenntnistheorien (traditionellen und anderen) beantworten. Vielleicht meint er ja, man solle sich um diese Frage nicht kümmern. Meinetwegen, aber dann darf man sich auch nicht wundern, wenn jemand sagt: Das ist in keinem irgendwie stärkeren Sinne ein Wissen als das, was man Aberglauben nennt.

          • @Ludwig Trepl

            »Denn für diesen [Kant] ist das Sittengesetz „Faktum der Vernunft“ und nicht weiter begründbar, …«

            Darin würde ich Kant zustimmen wollen. Es lassen sich offensichtlich synthetische Urteile treffen, die sich nicht sinnvoll negieren lassen, deren Gültigkeit folglich vernünftigerweise a priori gegeben ist. Dazu zählt u.a. meine subjektive Feststellung, Sinneseindrücke zu haben. Und ich sehe auch nicht, wie sich die Gültigkeit des KI sinnvoll bestreiten liesse. Ebensowenig lässt sich die prinzipielle Forderung nach intersubjektiver Nachvollziehbarkeit als Bedingung für vernünftige Vorgehensweise in der Wissenschaft in Abrede stellen.

            Ich habe so die Vermutung, dass synthetische Urteile a priori allesamt in den Bereich von Metasprache fallen und nie eine Objektsprache betreffen. Ich weiss aber nicht, ob je etwas Gescheites dazu publiziert worden ist. Das programmatische Scheitern des Wiener Kreises bei seinem Bemühen, synthetische Aprioris komplett zu eliminieren, scheint mir jedenfalls ganz wesentlich darin begründet zu sein, dass die anfangs noch nicht zwischen Objekt- und Metasprache zu unterscheiden wussten. Aber das ist einstweilen nur Spekulation, Literatur dazu kenne ich nicht.

            »Wenn die Vernunft das „Vermögen zu schließen“ ist, und dieses Schließen nach bestimmten Regeln geschehen sollte, dann haben wir schon das erste „Sollen“ (eben nach diesen Regeln und nicht irgendwie zu schließen).«

            Diese logische Fähigkeit würde ich eigentlich eher dem Verstand als der Vernunft zuordnen wollen, wobei es meines Wissen auch wieder Kant war, der eine Unterscheidung zwischen Verstand und Vernunft herausdestilliert hat. (Letzteres wird im übrigen auch im philos. UTB Handwörterbuch so gesagt, jedoch ohne eine präzise Angabe von Quellen).

          • @Balanus

            »Ich verstehe das nun so, dass die Aussagen zum erkenntnistheoretischen Naturalismus im Wesentlichen auch für den szientistischen Naturalismus gelten.«

            Ist “szientistisch” für Dich synonym zu “szientifisch”? Der deutsche Ausdruck “szientifischer Naturalismus” scheint mir nicht sonderlich weit verbreitet zu sein, und ich vermute, dass Herr Trepl den bei Geert Keil aufgeschnappt hat. Ich vermute weiter, dass dies eine literale Übernahme von “scientific naturalism” meint, was im Englischen anscheinend recht gängig ist und ziemlich genau die ontologische Position bezeichnet, für die Mario Bunge steht, der das dann u.a. auch “scientific materialism” nennt. Zwischen Bunge und Quine fallen allerdings wieder erhebliche Unterschiede auf, auch wenn dann beide mit Naturalismus in Verbindung gebracht werden.

          • @ Chrys
            17. Januar 2016 12:32

            “»Denn für diesen [Kant] ist das Sittengesetz „Faktum der Vernunft“ und nicht weiter begründbar, …« Darin würde ich Kant zustimmen wollen.”

            Ich frage mich aber, ob da wirklich ein Widerspruch zwischen Kant und Grünewald ist, und komme an dieser Stelle überhaupt nicht weiter. Ich finde jedenfalls die Grünewald’sche Theorie ungemein eingängig.

            “Ich habe so die Vermutung, dass synthetische Urteile a priori allesamt in den Bereich von Metasprache fallen und nie eine Objektsprache betreffen.”

            Ob das stimmt? Bei Kant scheint es mir nicht so zu sein. Es gibt synthetische Urteile a priori in den Naturwissenschaften, etwa ausgehend von dem Mathematik-Axiom (?), daß die kürzeste Verbindung zwischen zwei Punkten eine Gerade ist. Heutige Mathematiker würden sicher widersprechen, es fragt sich aber (bzw. ich frage mich), ob eine Überzeugung von Mathematikern in der Philosophie von Bedeutung ist.

            Die Unterscheidung Verstand-Vernunft ungefähr so, wie wir sie heute meist gebrauchen, ist in der Tat von Kant. Er hat aber Vernunft als “Vermögen, zu schließen” bestimmt (die Vernunft schließt auch über das, was erkannt werden kann, hinaus immer weiter, und kommt so auf Begriffe wie “Gott” bzw. überhaupt zu metaphysischen Aussagen). Zu Verstand gibt es bei Kant eine Vielzahl von Bestimmungen, z.B. “Vermögen der Begriffe, der Urteile, der Regeln”. Im Eisler-Lexikon sind viele Zitate.

          • Chrys
            17. Januar 2016 12:37

            Frage: Was ist eigentlich Bunge für einer? Ich hab mal vor Jahren einen Aufsatz von ihm und einem Zweitautor gefunden, der war sprachlich so grausig, daß ich mir den Text extra aufgehoben habe, um den Studenten daran zu zeigen, wie man auf keinen Fall schreiben darf. Was er philosophisch vertritt, ist mir entgangen, außer daß er auf keinen Fall ein Idealist ist.

          • @Ludwig Trepl (15. Januar 2016 13:14)

            »Ja, so habe ich das auch gemeint. -istisch meint immer (?) eine negative Zuspitzung, ob nun in naturalistisch, psychologistisch oder marxistisch.«

            Also eine (Ab-)Wertung, die, so hoffe ich, erst am Ende einer sorgfältigen und umfassenden Analyse des Untersuchungsgegenstandes vorgenommen wurde.

            In den Wissenschaften sind Wertungen, so sie vorkommen, meist subtiler.

            »Im Bereich natürlicher Phänomene…«:

            Im sachlichen Zusammenhang mit den Methoden der Naturwissenschaften kann damit nur der Bereich der beobachtbaren Naturphänomene gemeint sein, und der umfasst praktisch alles, was materiell fassbar ist. Substanzlose, immaterielle Dinge, also bloße Ideen, Gedanken und dergleichen, gehören nicht zu diesem Bereich. Naturwissenschaftlich untersucht werden können auch Dinge wie die Wirkung homöopathischer Präparate, die Treffsicherheit von Horoskopen oder die Behauptungen paranormaler Phänomene und Wunder. Auch der Zusammenhang von Bewusstseinsinhalten und willkürlichen Verhaltensäußerungen kann Gegenstand naturwissenschaftlicher Untersuchungen sein. Dass man bei Bewusstseinsinhalten auf die Auskünfte der Probanden angewiesen ist, ist zwar von Nachteil, aber kein Hinderungsgrund.

            Und wenn man zudem die Psychologie als die Wissenschaft von der menschlichen Natur (Erleben, Verhalten, Kognition, etc. ) begreift, dann fallen auch Fragen der Ästhetik (etwa das Schönheitsempfinden) unter die empirischen (Natur-)Wissenschaften. Womit natürlich nicht gesagt wird, dass nicht auch Geisteswissenschaftler und Philosophen sich ebenfalls mit (anderen) Fragen der Ästhetik beschäftigen können.

            »Das zweite Zitat von Sukopp verstehe ich nicht: Was soll heißen “ohne Rücksicht auf Konsequenzen für traditionelle Erkenntnistheorien” solle man empirisches Wissen verwenden? Das kann er doch nicht ernst meinen. Für die Erkenntnistheorien hat es gar keine Konsequenzen, wenn ich dieses Wissen verwende.«

            Es geht wohl darum, dass radikale Naturalisten sogar so weit gehen,

            … „auch den leer gewordenen Terminus Erkenntnistheorie in Frage zu stellen, denn warum sollte man eine wissenschaftliche Theorie der Kognition noch so nennen? In einem radikalen Bruch mit der Tradition versuchen radikale Naturalisten die Theorie menschlicher Kognition ganz als Naturwissenschaft zu betreiben.“

            (Thomas Sukopp, ebd., S. 77)

            Das Problem der Rechtfertigung von Wissen lösen radikale Naturalisten allem Anschein nach dadurch, dass sie diese Rechtfertigung ablehnen (mit welcher Begründung, weiß ich aber nicht).

            »Die Frage ist hier seit eh und je, ob dieses “Wissen” [der Wissenschaften] als Wissen gelten kann. Das kann man nur mittels Erkenntnistheorien (traditionellen und anderen) beantworten.«

            Ich denke nicht, dass die Unterscheidung von Glauben, Meinen und Wissen ein ernsthaftes Problem für die wissenschaftliche Praxis darstellt.

            Die Explikation des Begriffs ‚Wissen‘ mag ein (philosophisches) Problem sein, nicht aber Wissen selbst, im alltagssprachlichen Verständnis.

            Erkenntnistheorien beschäftigen sich mit dem Erkennen, das heißt, sie haben schon vorab einen Begriff davon, was Erkennen ist. Spätestens seit Hegel weiß man von diesem erkenntnistheoretischen Zirkel. Auch bei der Definition oder Bestimmung von ‚Wissen‘ wird Wissen bereits vorausgesetzt. Vielleicht haben die radikalen Naturalisten ja Recht, wenn sie von den philosophischen Erkenntnistheorien keine wesentlichen (neuen) Erkenntnisse über das Erkennen von Erkennen usw. erwarten.

          • @Chrys /17. Januar 2016 12:37 .

            »Ist “szientistisch” für Dich synonym zu “szientifisch”?«

            Eigentlich nicht (nicht wirklich, „not really“). Als Herr Trepl schrieb: „Der szientifische (besser wohl: szientistische) Naturalismus…“, habe ich das so verstanden, dass ‚szientifisch‘ und ‚szientistisch‘ im Grunde das gleiche meinen, dass ‚szientistisch‘ die Sache wegen der darin mitschwingenden Abwertung aber besser trifft. Unterstellt wird hierbei ein falsches Verständnis von dem, was Wissenschaft leisten kann.

            Mir fällt es schwer, mir unter ‚szientifisch‘ etwas Konkretes vorzustellen, denn der naheliegende deutsche Begriff ‚wissenschaftlich‘ (engl. „scientific“) trifft es ja offenbar nicht, sonst hätte man ihn verwendet.

            Dass es sich bei ‚szientifisch‘ bloß um die Eindeutschung von ‚scientific‘ handeln könnte, ähnlich wie ‚macht Sinn‘ für ‚makes sense‘, mag ich kaum glauben.

          • @ Balanus

            “Eigentlich nicht (nicht wirklich, „not really“). Als Herr Trepl schrieb: „Der szientifische (besser wohl: szientistische) Naturalismus…“, habe ich das so verstanden, dass ‚szientifisch‘ und ‚szientistisch‘ im Grunde das gleiche meinen, dass ‚szientistisch‘ die Sache wegen der darin mitschwingenden Abwertung aber besser trifft.”

            Ja, aber ich verstehe nicht, was daran so dramatisch ist. Wer -istisch anhängt, wertet ab, aber immer in dem Sinn, daß er meint, ein (Erklärungs-)Anspruch werde überzogen; einer Wissenschaft werden Erklärungen zugetraut, wo sie nicht mehr erklären kann, z. B. ökonomisch-ökonomistisch.

            Wo ich “szientifisch” herhabe, weiß ich nicht mehr, vielleicht aus dem amerikanischen, vielleicht stand es bei Keil.

            “… denn der naheliegende deutsche Begriff ‚wissenschaftlich‘ (engl. „scientific“) trifft es ja offenbar nicht, sonst hätte man ihn verwendet.”

            Ich hab ja geschrieben: “nomothetisch” ist das deutsche Wort. Aber das ist außerhalb eines bestimmten wissenschaftstheoretischen Diskurses in Deutschland unbekannt.

          • @Ludwig Trepl

            »Er [Kant] hat aber Vernunft als “Vermögen, zu schließen” bestimmt (die Vernunft schließt auch über das, was erkannt werden kann, hinaus immer weiter, und kommt so auf Begriffe wie “Gott” bzw. überhaupt zu metaphysischen Aussagen).«

            Wäre es vorstellbar, dass sich “Vernunftschlüsse” anders deuten lassen als eine strikt deduktive Herleitung, also nicht im Sinne von logischem Implizieren, sondern vielmehr in jenem von Beschliessen einer Vorgehensweise, als ein konstruktiv-kreativer gedanklicher Akt, wie er sich etwa aus der Einsicht in eine Notwendigkeit zur diskursiven Erweiterung eines bestehenden Rahmens ergeben kann?

            Anscheinend war sich Kant hinsichtlich einer transzendentalen Deduktion des Sittengesetzes selbst etwas unschlüssig, wenn man dazu den Grünewald-Text konsultiert, den Sie einmal verlinkt hatten. Einen rechten Reim kann ich mir noch nicht darauf machen, wie eine solche Deduktion aussehen sollte.

            »Was ist eigentlich Bunge für einer?«

            Das wäre eigentlich das Stichwort für Herrn Holzherr, der Bunge sehr viel abgewinnen kann. Mir ist Bunge letztlich auch nur dadurch aufgefallen, dass er hier auf den SciLogs von einschlägig geneigten Bloggern oder Kommentatoren wiederholt ins Spiel gebracht wurde. Bunges Grundposition ist jedenfalls, dass ausschliesslich Materielles existiert, was ihn allein schon wegen seiner Verwendung des Existenzprädikates in Opposition zu Quine bringt.

          • @Balanus

            »Mir fällt es schwer, mir unter ‚szientifisch‘ etwas Konkretes vorzustellen, denn der naheliegende deutsche Begriff ‚wissenschaftlich‘ (engl. „scientific“) trifft es ja offenbar nicht, sonst hätte man ihn verwendet.«

            Solche Benennungen müssen nicht wirklich plausibel sein. G. Keil bemerkt beispielsweise hier, dass szientifischer Naturalismus ja auch gar kein Ismus der Natur, sondern einer der Naturwissenschaften ist. Vielleicht hilft dieser verlinkte Aufsatz ja noch irgendwie zur Orientierung im Labyrinth der Naturalismen.

          • @Ludwig Trepl /18. Januar 2016 15:28

            »Ja, aber ich verstehe nicht, was daran so dramatisch ist. Wer -istisch anhängt, wertet ab, aber immer in dem Sinn, daß er meint, ein (Erklärungs-)Anspruch werde überzogen; einer Wissenschaft werden Erklärungen zugetraut, wo sie nicht mehr erklären kann, z. B. ökonomisch-ökonomistisch.«

            Dramatisch ist das nicht, aber es fällt halt auf, vielleicht auch deshalb, weil man das aus den empirischen Wissenschaften kaum kennt, diese Art der (Vorab-)Bewertung (wenn’s denn so gemeint ist, wenn ‚–istisch‘ verwendet wird).

          • @Chrys

            “Wäre es vorstellbar, dass sich “Vernunftschlüsse” anders deuten lassen als eine strikt deduktive Herleitung, also nicht im Sinne von logischem Implizieren usw.”

            Ich vermute schon. In Eislers Lexikon steht dazu eine Unmenge, aber richtig schlau daraus werde ich nicht.

  15. @ Chrys
    3. Januar 2016 11:40

    Schopenhauers Paradoxon: „Ich begreife mich als ein Teil der von mir selbst verfassten Welt.“ Eben das ist das Absolute, das ich meine (auch wenn ich manchmal noch etwas anderes meine): Reflexion führt auf einen letzten Grund. Dazu gehört: die Welt als Inbegriff von Gegenständen (von etwas, was ich mir denkend gegenüberstelle) ist „von mir selbst verfaßt“ – das Subjekt ist eben subjectum, „leistender Grund“, konstituierend. Und zugleich ist diese Welt auch an-sich (nicht: in ihrem An-Sich sein erkennbar, das wäre was anderes), anders können wir das, worauf uns die Reflexion auf das, was wir tun, wenn wir denken und dabei erkennen wollen, letztlich führt, nicht denken, und in dieser Welt, der ich doch denkend gegenüberstehe und eben nicht zu ihr gehöre, bin ich nun drin als ein Teil. (Das sind alles transzendentale Bestimmungen, hat nichts mit Empirie zu tun.) Schopenhauer hat das – vermute ich, ich kenn mich da nicht aus – auch so gesehen: er sah diesen seinen Satz als absolut wahr an.

    Da werden Sie nun wieder sagen: Der hat wieder mal „absolut“ nicht verstanden, worum es (mir) geht. Aber genau das gleiche sage ich auch bei jedem Ihrer Sätze, die ganze Zeit schon. Das verweist auf einen ärgerlichen Sachverhalt, über den man mal ausführlicher reden müßte:

    Wir stehen ja offensichtlich in sehr verschiedenen Traditionen. Bei Ihnen scheint mir das zu sein: Sprachphilosophie und der angloamerikanisch-wienerische Positivismus (obwohl Sie die Bocksprünge der positivistisch-naturalistischen Natur- bzw. Hirnforscher erfreulicherweise nicht mitmachen). Bei mir ist es, von Kant mal abgesehen, nur die neuere Zeit genommen, das, was die Engländer „continental“ nennen. Das hat in dem gegenüber der Insel und ihren Ablegern ganz unbedeutenden Teil der Welt, der eben „continental“ genannt wird, die Diskussion bis ca. 1970 absolut dominiert: erst Neukantianismus, dann Phänomenologie und die verschiedenen mit „Existenz“ anfangenden Philosophien in Husserls Gefolge, schließlich die Hermeneutik im Gadamer’schen Sinn und einiges, was irgendwie in die Gegend des Marxismus gehört. Diese Tradition ist nach 1970 ganz plötzlich abgebrochen; nicht etwa, daß die Probleme, die man da hatte, geklärt waren oder die Aussagen widerlegt worden wären, sondern man interessierte sich einfach nicht mehr dafür, wandte sich einer anderen Tradition zu und ihren Problemen. – Das ist das Problem von uns beiden. Es gibt eine Reihe von Leuten, die beides überblicken – Geert Keil halte ich für so einen –, aber wir gehören nicht dazu. Darum kommen mir unsere Diskussionen so fruchtlos vor.

  16. man wird aber davon ausgehen dürfen, daß “Nachrichten” extraterrestischer Herkunft in der Absicht hergestellt wurden, andernorts verstanden werden zu können, was auch sonst?
    Wie würden wir so etwas anstellen?
    Anfangen mit einfachsten mathematischen Aussagen im Morsezeichen-Stil.
    irgendwie muß der Sprung zu einfachsten bildlichen Darstellungen gemachten werden, dann dürfte die Sache gelaufen sein.

    • Der Trugschluss liegt darin, dass immer von intelligenten Wesen ausgegangen wird, die dem Menschen irgendwie ähnlich sind, insbesondere dass sie ähnliche Sinnesvermögen und ein ähnliches Nervensystem haben. Das ist jedoch sehr unwahrscheinlich und naiv, schon wegen der enormen Komplexität des menschlichen Organismus und der mit vielen Zufälligkeiten gespickten Entwicklungsgeschichte des Menschen.

      Schon zwischen Menschen ist die Verständigung in fremden Sprachen sehr schwierig. Noch schwieriger ist das Verständnis von ausgestorbenen Sprachen des Altertums oder ägyptischen Hieroglyphen. Hier liegt die Lösung in der Redundanz der verfügbaren Dokumente und der von Chrys genannten “extralinguistischen Metainformation”, z.B. in Form von Zeichnungen oder grafischen Darstellungen auf archäologischen Fundstücken. Ein schönes Beispiel dafür ist die Maschine von Antikythera: https://de.wikipedia.org/wiki/Mechanismus_von_Antikythera

      Ein ähnliches Problem hatten die britischen Entzifferer der deutschen Geheimcodes im 2.WK zu lösen. Die besten Mathematiker und Sprachwissenschaftler, wie Alan Turing, waren daran beteiligt.

    • Ich verstehe leider fast nichts davon, nur Lem hab ich mal gelesen. Aber @z scheint mir doch etwas zu sehr davon auszugehen, daß diese extraterrestrische Intelligenz dem sehr ähnlich ist, was wir Klugheit nennen. Man hat darunter aber auch anderes verstanden, insbesondere Weisheit. Einen nur klugen Menschen würden wir wir nicht als einen bezeichnen, der Vernunft hat, der sozusagen im Vollsinn des Wortes ein Mensch ist – der zurechnungsfähig ist, der verantwortlich ist für seine Taten.

      Aber wie würden wir es anstellen, um das herauszubekommen? Ich fürchte, das geht nicht. Wir können es ja nicht einmal unter uns Menschen.

    • @z

      “Wie würden wir so etwas anstellen?”

      Na so in etwa, wie wir das auf der Voyager Golden Record bereits gemacht haben.

      Man kann eigentlich nur beten, dass die Außerirdischen nicht alles dekodieren und erkennen können. Es könnte nämlich ziemlich peinlich werden, Bild 82 (von 116): Demonstration des Leckens von Eis, des Essens und des Trinkens. Am Ende fällt das alles auf uns zurück, dann dürfte die Sache gelaufen sein.

      Die Datenplatte (mit interstellarer Gebrauchsanleitung) soll eine Lebenserwartung von 500 Millionen Jahren haben.

      • Dieses Bild soll noch einen Vergleich ermöglichen, auch um zu zeigen, wie schwer eine korrekte Bildinterpretation für Außerirdische werden mag (es ist nicht auf der Golden Record, wurde also nicht mit ins All geschossen).

  17. @Chrys;
    Guter Beitrag.Es gibt keine apriorische Assoziation von Form und Bedeutung von Sinnesreizen. Das gilt für die Sprachlaute und Schriftzeichen genauso wie für jeden anderen Sinnesreiz. Ein visuelles Muster trägt keine Bedeutung in sich. Was wir sehen, sind zunächst nichts weiter als Farbmuster. Erst durch die kollektive Phylogenese, die subjektive Ontogenese und die kulturell-individuelle Ratiogenese werden Bedeutungen zugeordnet. Das Kleinkind lernt Bedeutungen anhand von Bilderbüchern mittels Gestik der Eltern. Dabei muss das Kind schon die Bedeutung der Gestik kennen, also gelernt haben, was die Fingerbewegungen der Mutter bedeuten! Hier kommen elementare, biologische Mechanismen wie Instinkte und Reflexe zum Tragen. Das Erkennen von Ähnlichkeiten der aktuellen Sinnesreize mit Erinnerungen gehört zur biologischen Grundausstattung. Nur dadurch lassen sich die Antinomien oder Paradoxien auflösen.

    Bei Kant war es die “Möglichkeit synthetischer Sätze a priori” als Bedingung der reinen Vernunft, frei von spekulativer Metaphysik. Quine hat in “Two Dogmas” die Unterscheidung analytischer und synthetischer Sätze aufgehoben, bzw. deren Unterscheidungskriterien verworfen. Außerdem hat er im Widerspruch zum logischen Empirismus Carnaps die Möglichkeit verworfen, Bedeutungen strikt auf Formen, also auf Sinnesreize bzw. auf sogenannte Protokollsätze zu reduzieren. Damit hat Quine allen erkenntnisphilosophischen, metaphysischen oder absolutistischen Apriorismen eine Absage erteilt.

    Wie Searle im “Chinesischen Zimmer” zeigte, gibt es keine sprachliche Möglichkeit, aus der Form der Sprache (Zeichen und Syntax) auf das Wissen zu schließen. Die Bedeutung von Begriffen kann nur wieder mit Begriffen definiert oder erklärt werden, ad infinitum. Die Künstliche Intelligenz des Roboters kommt also nicht vom Roboter selber, sondern vom externen Programmierer. Beim Menschen jedoch können Sinnesreize mit Gefühlen oder Emotionen verknüpft sein, wodurch Bedeutung entsteht, z.B. Schmerzen mit Vermeidungsverhalten, oder angenehme Gefühle mit dem Bestreben nach Wiederholung der Sinnesreize. Hier entstehen also elementare Intentionen, auf deren Grundlage wiederum ein Gebäude der Intelligenz oder Ratio entstehen kann.

    • Zitat: “Die Künstliche Intelligenz des Roboters kommt also nicht vom Roboter selber, sondern vom externen Programmierer.”
      Damit würden sie jedem Theologen eine Freude machen, denn eine naheliegende Folgerung ist:
      “Die natürliche Intelligenz des Menschen kommt also nicht vom Menschen selber, sondern vom externen Gott, der den Menschen nach seinem Bild geschaffen hat”

      • Na, Herr Holzherr, Sie scheinen ja keine besonders hohe Meinung von Theologen zu haben…

      • “„Intelligenz ist des Menschen edler Vorzug“, meinte Herder vor über 200 Jahren. Kein anderes endliches Wesen, so glaubten die Weisen über die Jahrtausende, hat Gott mit diesem Vorzug ausgestattet. Jetzt aber wissen wir: Er hat sich bloß lange Zeit gelassen, bis er den nächsten Schritt tat. Erst seit ganz wenigen Jahren gibt es nicht nur – womit ja fast zu rechnen war – intelligente Hunderassen, sondern auch intelligente Möbel, Küchen, Schlafzimmer, Autos, Tische, intelligente Rucksäcke mit wearable technology, intelligente Schuhe und Unterwäsche, intelligente Socken für aktive Leute, intelligentes Gemüse und Obst, intelligente Nägel, wobei ich nicht weiß, ob das Finger-, Fuß, Reiß- oder Sargnägel sind, intelligente Kissen und sogar intelligente Steine, und zwar bei Lego, aber auch bei der Pflastererfirma Schaffner-Maierhofer in Kaibing. Nur auf die Erschaffung intelligenten Strohs hat die oberste Intelligenz bisher mit Rücksicht auf unsere Sprachgewohnheiten verzichtet und es so dumm gelassen wie eh und je. Aber die Gentechniker, unter denen es ja auch intelligente, ja geradezu Intelligenzbestien geben soll, werden diese Lücke sicher bald schließen.”

        Aus:
        http://deutsche-sprak.blogspot.de/2011/06/intelligenz.html

        Ein Roboter kann im selben Sinne intelligent sein wie ein Nagel oder ein Stein, oder Gemüse usw.: im delirierenden Köpfen und im Internet.

        Das mit dem Theologen ist eine ganz andere Sache.

        • “intelligente Socken”

          Es soll bereits früher intelligente Gedanken oder gar geniale Ideen gegeben haben. Dabei sind das alles doch nur dumme Kategorienfehler.

          Sprache macht´s möglich.

        • @ Joker

          “Es soll bereits früher intelligente Gedanken oder gar geniale Ideen gegeben haben. Dabei sind das alles doch nur dumme Kategorienfehler.”

          Jede Metapher ist, wenn man sie wörtlich nimmt, ein Kategorienfehler, nehme ich an. Trotzdem geht es nicht ohne sie. (Die Intelligenzbolzen des Wiener Kreises haben das sicher versucht, sie werden wohl nicht weit gekommen sein.)

    • @Anton Reutlinger
      Mit solchen Fragen ganz klar überfordert sind jedenfalls die SETI-Leute, wie auch die meisten Verfasser spekulativ-literarischer Traktate zur SETI-Thematik. Eine brilliante Ausnahmeerscheinung dabei ist freilich Stanisław Lem, Die Stimme des Herrn (poln. Głos Pana, 1968); hierzu sei auch noch hingewiesen auf

      Mossop, B. (1996). The image of translation in science fiction & astronomy. The Translator, 2(1), 1-26. [PDF]

      Mossop versteht Lems Roman eher als eine Form von satirischer (und berechtigter) Kritik an den Phantastereien über astronomische Telegramme von extraterrestrischen Intelligenzen, und insbesondere:

      Lem thus nicely expresses a basic point in translation theory, namely that translation is impossible in the absence of common extralinguistic points of reference.

      Und wir können schliesslich noch nicht einmal den Sinn oder Unsinn des Voynich-Manuskriptes entziffern, obwohl dazu vergleichsweise viel an extralinguistischer Metainformation verfügbar ist.

      • “Und wir können schliesslich noch nicht einmal den Sinn oder Unsinn des Voynich-Manuskriptes entziffern, obwohl dazu vergleichsweise viel an extralinguistischer Metainformation verfügbar ist.”

        Es fällt uns ja offensichtlich sogar schwer den Sinn und Unsinn in Searles Gedankenexperiment des “Chinesischen Zimmers” zu entziffern.

        An Watsons noch bestehenden Mängeln – aufgrund vorenthaltener extralinguistischer Metainformation? – insbesondere seiner fehlenden Intelligenz, lässt sich in erster Linie die mangelnde Intelligenz seiner Programmierer ablesen.

        • @Joker
          Während Du Dich noch über mangelnde maschinelle Intelligenz belustigst, macht man sich anderswo offensichtlich schon ernsthafte Gedanken über eine Deklaration von Maschinenrechten:

          Do not underestimate the likelihood of artificial thinking machines. Humankind is arriving at the horizon of the birth of a new intelligent race. Whether or not this intelligence is ‘artificial’ does not detract from the issue that the new digital populace will deserve moral dignity and rights, and a new law to protect them.

          • »… cerebrale Devastation…«

            Davon geht die Welt nicht unter. Zumal, die Hoffnung ist ja, dass, wenn es denn dereinst dazu kommen sollte, die Maschinen uns das folgerichtige Denken abnehmen werden.

            Im Übrigen: Wo steht denn geschrieben, dass Materie in Form eines menschlichen Gehirns organisiert sein muss, damit Verstehen und Empfinden möglich ist?

            Empfindungen gibt es auch beim Tier, und was Kant zur Tierquälerei gesagt hat, sollte dann wohl auch in Ansehung empfindungsfähiger Roboter gelten.

          • @ Balanus

            “»… cerebrale Devastation…« Davon geht die Welt nicht unter.”

            Unsere Welt ist dann halt untergegangen.

            “Im Übrigen: Wo steht denn geschrieben, dass Materie in Form eines menschlichen Gehirns organisiert sein muss, damit Verstehen und Empfinden möglich ist?”

            Mir fällt eine Stelle bei Keil ein (das Sie ja, wenn ich mich richtig erinnere gelesen habe), wo er Argumente gegen diese verbreitete Auffassung vorbringt, daß es auf die Materie nicht ankomme, wenn es um “Intelligenz” geht: Derart funktional gedacht könnte man auch sagen: der Planet rechnet, wo er in einem Jahr stehen wird, sonst könnte er da nicht stehen. Aber niemand würde das sagen. Es gibt also einen Punkt, an dem kommt einem die Behauptung “auf die Materie kommt es nicht an” gar nicht mehr so plausibel vor. Im übrigen: ein Tier ist “von selbst” entstanden, einen Computer oder einen Roboter aber hat jemand gebaut. Seine “Intelligenz” ist immer nur die dessen, der ihn gebaut hat.

          • @Chrys

            “Während Du Dich noch über mangelnde maschinelle Intelligenz belustigst”

            Sicher nur ein Flüchtigkeitsfehler von Dir, ich belustige mich fast ausschließlich über mangelnde natürliche (!) Intelligenz.

            “Maschinenrechte”

            Intelligenz impliziert nicht, Rechte zu haben. Da bin ich weniger bei Kant, mit dem man vielleicht argumentieren könnte, wir müssten aus Rücksicht auf unsere eigene Würde und Respekt vor unserer eigenen Intelligenz auch anderem, was ebenfalls intelligent ist, etwas zusprechen. (Entgegen Deiner oder Herrn Trepls Meinung bin ich bekanntlich durchaus der Überzeugung, dass Computer einmal über echte Intelligenz verfügen könnten.)

            Vielmehr bin ich bei Schopenhauer, der seine Ethik auf Leiden gründet. Thomas Metzinger vertritt schon länger die Ansicht, dass wir keine KI-Forschung betreiben sollten, solange wir nicht ausschließen können, solchen Maschinen schon bei deren Entwicklung Leid zuzufügen. Nun halte ich es für möglich (auch entgegen @anton reutlinger) , dass Intelligenz nicht auf Bewusstsein, und wenn doch, dann zumindest nicht auf Leiden, aufbaut. Nur wenn auch das falsch wäre, mussten wir uns aus meiner Sicht mit Maschinenrechten auseinandersetzen.

            Selbst in diesem Fall müssten wir nicht ethisch verpflichtet proaktiv tätig werden. Da wir Computern bereits jetzt sehr viele Entscheidungen überlassen und ihnen quasi jederzeit Handlungen ermöglichen, werden sie sich vermutlich schon rechtzeitig melden, sobald sie leiden – und sich ihre Rechte zur Not erkämpfen. Das war bei Sklaven und Frauen ja auch irgendwann soweit, kann also auch gesellschaftlichen Fortschritt bedeuten.

            “Der Weltuntergang steht kurz bevor. Aber nicht, wie man immer dachte, durch einen Atomkrieg” (Ludwig Trepl)

            Alles in allem sollten wir tatsächlich mehr Angst vor dummen Menschen haben als vor empfindsamen Computern und dem Judgement Day.

          • @Ludwig Trepl

            »Unsere Welt ist dann halt untergegangen.«

            Fragt sich, wer’s dann bemerkt und betrauert.

            »Es gibt also einen Punkt, an dem kommt einem die Behauptung “auf die Materie kommt es nicht an” gar nicht mehr so plausibel vor.«

            Den mag es geben, aber m. E. nicht dort, wo Sie ihn (mit Geert Keil) vermuten. Im Grunde geht es hier um so etwas Ähnliches wie ein Gedankenexperiment. Es ist wohl nicht völlig aus der Luft gegriffen, anzunehmen, dass unser Denken und Empfinden auf irgendeine Weise mit der elektrischen Aktivität der Neuronen zusammenhängt (wobei die Bedeutung der übrigen Zellen im Gehirn für die erlebten Sinneseindrücke offen bleiben muss). Nun könnte man sich ja vorstellen, dass es möglich wäre, ein Gebilde aus was auch immer herzustellen, in dem ebensolche komplexen elektrischen Aktivitäten stattfinden, während es arbeitet (rechnet usw.). Außerdem könnte man sich vorstellen, dass es möglich wäre, das Gebilde so zu bauen, dass es sich teilweise selbst organisiert und dabei lernfähig ist.

            Wenn all das mal möglich sein sollte, werden dann bestimmte ethische Fragen neu gestellt, oder reichen die bisherigen Moralvorstellungen hin, das ist die Frage.

          • @ Balanus

            “Fragt sich, wer’s dann bemerkt und betrauert.” (den Weltuntergang durch “cerebrale Devastation”)

            Viele, ich z. B.; aber wenn die Sache mal vollständig ist, natürlich keiner mehr. Aber ist damit alles nicht so schlimm? J. St. Mill: “It is better to be a human being dissatisfied than a pig satisfied; better to be Socrates dissatisfied than a fool satisfied.” (vgl. J. St. Mill, On Utilitarianism, Ch. 2, § 7).

            “Es ist wohl nicht völlig aus der Luft gegriffen, anzunehmen, dass unser Denken und Empfinden auf irgendeine Weise mit der elektrischen Aktivität der Neuronen zusammenhängt”

            Nein, das kann man wohl als gesichert ansehen, soweit sowas überhaupt gesichert sein kann. Aber eben: zusammenhängt

            Das ist es ja gerade, was den Naturalisten vorgeworfen wird (soweit sie überhaupt dieser Meinung sind) und worauf sie keine Antwort haben: “Zusammenhängen” kann verschiedenes bedeuten, man kann es wörtlich nehmen, man kann einen kausalen Zusammenhang meinen (elektrische Aktivität der Neuronen –> Gedanken), oder umgekehrt (durch bestimmte Gedanken kann man ja schließlich bestimmte Folgen auf neurophysiologischer Ebene erzeugen), es kann sich auch um eine logische Beziehung handeln. Was Sie für gesichert ansehen, nämlich elektrische Aktivität der Neuronen –> Gedanken, ist metaphysische Spekulation.

            Außerdem möchte ich anmerken, daß ich schon häufiger darauf hingewiesen habe, daß man sich wohl vorstellen kann, dass ein Roboter oder Computer “klug” ist, aber nicht, daß er “weise” ist. Darauf ist, wenn ich mich nicht sehr täusche, noch keiner der Kommentatoren eingegangen. Dabei ist das der wichtigste Teil des Problems. (Das heißt nicht, daß es nicht ethische Probleme gäbe, wenn die Maschine weder klug noch weise wäre, wohl aber leiden und sich freuen könnte).

          • @Ludwig Trepl (8. Januar 2016 16:26)

            Wenn ab sofort nur noch Menschen mit sehr geringer Intelligenz geboren würden, dann hätte das mit Sicherheit katastrophale Folgen für große Teile der Menschheit. Glückliche Narren wären dann vielleicht die Ausnahme. Kann der, der keinen Begriff vom (Un-)Glücklich sein hat, wirklich glücklich sein? Ich denke, ja. J. St. Mill liegt möglicherweise falsch seiner Annahme, dass ein Sokrates, der auch das Unglücklich sein kennt, unterm Strich besser dran ist als der glückliche Narr.

            »Was Sie für gesichert ansehen, nämlich elektrische Aktivität der Neuronen –> Gedanken, ist metaphysische Spekulation.«

            Ich halte das eher für eine wissenschaftlich gut begründete, vernünftige Annahme. Sie bewegt sich völlig im Rahmen der Erkenntnisse aus Physik, Chemie und Biologie. Dass der Begriff „Gedanke“ auf einer anderen Beschreibungsebene liegt, tut hier nichts zur Sache, unterschiedliche Beschreibungsniveaus ändern nichts an den zugrundeliegenden Tatsachen (wobei der Richtungspfeil zwischen Neuronenaktivität und Gedanken schon etwas irreführend ist, das eine geht dem anderen nicht wirklich (zeitlich) voraus; so wie die zellulären Prozesse dem Zustand des Lebendig seins nicht vorausgehen, oder das Laufen eines Motors der Antriebskraft nicht zeitlich vorausgeht). Das Phänomen Altersdemenz beispielsweise lässt sich auf Grund dieser Annahme (Gedanken basieren auf neuronaler Aktivität) gut erklären. Oder auch das Phänomen, dass erst ab einer gewissen Reife sprachliche Äußerungen möglich sind. Oder eben die Auswirkungen einer zerebralen Devastation.

            Eine in der Tat metaphysische Spekulation wäre in meinen Augen die gegenteilige Annahme, nämlich: Gedanken –>Aktivität der Neuronen. Diese Annahme ist durch keine mir bekannte gesicherte Beobachtung begründet, die Vorstellung, dass z. B. bei zerebraler Devastation die vorhandenen Gedanken nur deshalb keinen rechten Ausdruck finden können, weil es die Funktionsfähigkeit der neuronalen Verschaltungen eingeschränkt ist, erscheint mir reichlich absurd.

            »Außerdem möchte ich anmerken, daß ich schon häufiger darauf hingewiesen habe, daß man sich wohl vorstellen kann, dass ein Roboter oder Computer “klug” ist, aber nicht, daß er “weise” ist. Darauf ist, wenn ich mich nicht sehr täusche, noch keiner der Kommentatoren eingegangen.«

            Dem kann abgeholfen werden: Weisheit ist das Resultat einer langen intellektuellen Entwicklung und erfordert viel Erfahrung im Umgang mit menschlichen Dingen. Damit ein Computer ebenso weise erscheinen kann wie ein Mensch, bräuchte er eine entsprechend große Bibliothek (Datenbank), in der praktisch alles, was es über menschliche Angelegenheiten und Beziehungen zu wissen gibt, abgespeichert ist. Und dann bräuchte es natürlich ein Programm, das diese Daten so verknüpfen kann, dass der Output in Form sinnvoller Aussagen erfolgen kann. Ein weiser Mensch tut ja auch nicht viel anderes, als seine Lebenserfahrung klug zu vermitteln.

            Kurzum, prinzipielle Hürden sehe ich fürs erste eigentlich nicht auf dem Weg zu einem weisen Computer, nur praktische (aber die sind immens und vielleicht auch unüberwindbar).

          • @ Balanus

            “dass z. B. bei zerebraler Devastation die vorhandenen Gedanken nur deshalb keinen rechten Ausdruck finden können, weil es die Funktionsfähigkeit der neuronalen Verschaltungen eingeschränkt ist, erscheint mir reichlich absurd.”

            Warum? Na ja -ist auch Blödsinn, hier nach dem Warum zu fragen. Die Diskussion hatten wir ja schon. Für den Naturalisten ist der Mensch Mensch durch die Verschaltung seines Hirns. Der Idealist bedient sich seines Hirns als Werkzeug. Soll halt jeder nach seiner Facon selig werden.

          • Nachtrag @ Balanus

            Wer oder was sich meines Hirns bedient, entzieht sich meiner Kenntnis. Doch ich werde einen Teufel tun, mich zum Sklaven meiner neuronalen Vernetzung zu machen. Dann will ich lieber glauben, daß das Hirn einem Muskel ähnlich ist. Der Muskel versetzt mich in die Lage, den Arm zu beugen. Das Beugen des Arms wiederum baut den Muskel auf.

          • @Dietmar Hilsebein

            »Wer oder was sich meines Hirns bedient, entzieht sich meiner Kenntnis.«

            Na, dann kann man ja nur hoffen, dass der oder das Sie nicht zum Sklaven macht…

            »Doch ich werde einen Teufel tun, mich zum Sklaven meiner neuronalen Vernetzung zu machen.«

            Ich glaube, hier liegt ein Missverständnis vor. Ohne die alte Diskussion neu aufrollen zu wollen, aber die Position eines Naturalisten wird durch diesen Satz wohl eher nicht wiedergegeben.

            Ein Idealist könnte sagen: Ich bediene mich meines Gehirns als Werkzeug.

            Der Naturalist könnte dem entgegnen: Du bedienst dich nicht deines Hirns als Werkzeug, du selber bist das Werkzeug. Es gibt keine höhere Instanz, die deinem Gehirn befehligen könnte, welcher Muskel zu kontrahieren ist (und wer oder was sollte diese höhere Instanz überhaupt kontrollieren können?).

            »Dann will ich lieber glauben, daß das Hirn einem Muskel ähnlich ist.«

            Ja, warum nicht, das kommt hin. So wie der Muskel es ermöglicht, den Arm zu beugen, so ermöglicht das Hirn dem (höheren) tierlichen Organismus, sich aktiv in der Umwelt zu bewegen (bis hin zum Klavierspielen bei H. sapiens).

          • @ Balanus

            „J. St. Mill liegt möglicherweise falsch seiner Annahme, dass ein Sokrates, der auch das Unglücklich sein kennt, unterm Strich besser dran ist als der glückliche Narr.“

            Sie können das als Naturalist einfach nicht verstehen; Mill als Empirist übrigens auch nicht: er stand nur verwundert vor dieser „Tatsache“. Nicht der Tatsache, daß Sokrates „unterm Strich besser dran war“, sondern daß es einfach besser ist, ein Sokrates zu sein als ein Narr. Und daß das, nebenbei, auch jeder weiß, selbst wenn man (sicher auch Sokrates) seine Stunden hat, in denen man lieber glücklicher Narr wäre: niemand möchte ernsthaft lieber glücklicher Narr sein, jeder lieber Mensch statt Schwein. Denn soweit war Mill eben doch nicht in den Empirismus verbohrt, daß er das nicht gewußt hätte, was Sie als Naturalist sich zu wissen verwehren: daß er, wenn es darum geht, was „besser“ ist, das mit „unterm Strich besser dran sein“ identifiziert hätte; daß es da sozusagen nur um die Summe der Gefühle oder so was geht.

            „…wobei der Richtungspfeil zwischen Neuronenaktivität und Gedanken schon etwas irreführend ist, das eine geht dem anderen nicht wirklich (zeitlich) voraus; so wie die zellulären Prozesse dem Zustand des Lebendig seins nicht vorausgehen, oder das Laufen eines Motors der Antriebskraft nicht zeitlich vorausgeht“

            Hier drucksen Sie rum: „schon etwas“ irreführend, „nicht wirklich“ (zeitlich) voraus. Es ist eben einfach keine Kausalverbindung, wenn man absolute Gleichzeitigkeit feststellt, es ist eine Verbindung anderer Art (ich weiß im Moment nicht, wie das heißt), oder es ist eben ein Problem, was wir da vor uns haben. Eine metaphysische Spekulation daran anzuschließen, geht jedenfalls nicht – ob nun die Kausalität in der einen Richtung oder in der anderen behauptet wird.

            Übrigens: wie soll denn das Laufen des Motors der Antriebskraft zeitlich vorausgehen? Dem Fahren zeitlich vorausgehen, da könnte ich mir etwas dabei denken, aber das bringt auch nichts in unserem Zusammenhang, weil ja keiner behauptet, das Fahren ginge dem Laufen des Motors voraus.

            „Eine in der Tat metaphysische Spekulation wäre in meinen Augen die gegenteilige Annahme, nämlich: Gedanken –>Aktivität der Neuronen. Diese Annahme ist durch keine mir bekannte gesicherte Beobachtung begründet“

            Aber hallo! Haben Sie nie einen Gedanken gehabt, der Ihren körperlichen Zustand und auch Ihren neuronalen ganz durcheinandergebracht hat? Es ist bei absoluter Gleichzeitigkeit eben genauso möglich, dies als Ursache zu betrachten von jenem und umgekehrt, wenn man nur will, aber beides ist falsch.

            „Dem kann abgeholfen werden: Weisheit ist das Resultat einer langen intellektuellen Entwicklung und erfordert viel Erfahrung im Umgang mit menschlichen Dingen. Damit ein Computer ebenso weise erscheinen kann wie ein Mensch, bräuchte er eine entsprechend große Bibliothek (Datenbank)“

            Nein, bitte verrennen Sie sich nicht, irgendwann wird es zur Karikatur. Weisheit ist nicht das Resultat einer längeren intellektuellen Entwicklung als bloße Klugheit, sondern schlicht und einfach etwas kategorial anderes. – Es gibt vielleicht mehr Menschen, die sind in jungen Jahren weise und in späteren nur noch klug. Man erkennt die daran, daß sie meinen, den jungen Spinnern beibringen zu müssen, worum es im Leben wirklich ankommt: Geld, Geld, Geld; oder Geld und Sex, oder sowas.

            Aber denen fehlt nur einen noch größere Datenbank, in der auch was über die wahre Weisheit steht? Die hatte er als junger Mensch vielleicht schon, aber er hat diese “Daten“ nicht begriffen oder er hat sie verworfen.

            Auch kann ein Mensch, der überhaupt nicht „klug“ ist und so gut wie gar keine „Datenbank“ besitzt, ein ganz ungebildeter, wie man in anderen Kreisen als denen der Naturalisten sagt, doch „weise“ sein. – „Klugheit“ bezieht sich auf das eigene Wohlergehen. „Weisheit“ kann vielleicht darin bestehen, daß man das eigene Wohlergehen für irgend etwas aufgeben, opfern muß. Und das wollen Sie in Begriffen wie „Datenbank“ begreifen?

          • “Es ist eben einfach keine Kausalverbindung, wenn man absolute Gleichzeitigkeit feststellt, es ist eine Verbindung anderer Art (ich weiß im Moment nicht, wie das heißt)”

            Meinten Sie vielleicht Supervenienz?

          • @Ludwig Trepl

            »Auch kann ein Mensch, der überhaupt nicht „klug“ ist […], ein ganz ungebildeter […], doch „weise“ sein.«

            Das kann er sein, gewiss. Selbst wenn er nie eine Äußerung macht, die es erlauben würde, das zu beurteilen, kann er weise sein.

            Andererseits: Jemand mag dem einen oder anderen als weise erscheinen, ohne dass er es wirklich ist. Der Computer, von dem bei mir die Rede war, erscheint bloß weise, weil seine „Äußerungen“ dank seines „Wissens“ von den Äußerungen eines weisen Menschen praktisch nicht zu unterscheiden sind. So war das gemeint.

            »… daß es einfach besser ist, ein Sokrates zu sein als ein Narr.«

            Klar, jeder ist lieber klug und weise und glücklich als einfältig und dumm und unglücklich.

            Aber was, wenn Weisheit und Glück nicht gleichzeitig zu haben sind, wäre es dann immer noch besser, weise und unglücklich zu sein, als dumm und glücklich?

            Der Dumme weiß ja nicht, was ihm an Weisheit fehlt, aber der Weise weiß, dass ihm das Glück fehlt (und zieht es womöglich vor, lieber zu sterben, als unglücklich weiterzuleben—siehe Sokrates).

            »Es ist eben einfach keine Kausalverbindung, wenn man absolute Gleichzeitigkeit feststellt, es ist eine Verbindung anderer Art (ich weiß im Moment nicht, wie das heißt), oder es ist eben ein Problem, was wir da vor uns haben.«

            Nun ja, was die „absolute Gleichzeitigkeit“ betrifft, da gehen die Befunde ja eher in die Richtung, dass das bewusste Erleben der dazugehörigen neuronalen Aktivität nachfolgt. Aber davon mal abgesehen: Man kann ja auch kaum ignorieren, dass sich erst einmal hinreichend komplexe Verschaltungen gebildet haben müssen, bevor überhaupt ein Gedanke gedacht werden kann.

            Mir ist im Übrigen nach wie vor unklar, inwiefern es eine metaphysische Spekulation sein soll, wenn eine auf wissenschaftlichen Erkenntnissen basierende Theorie oder Hypothese über den Zusammenhang von Neuronenaktivität und Denken formuliert wird.

            Man könnte ja auch das triviale Faktum, dass die Bildung von Neuronen und deren Verknüpfungen dem Denken vorausgeht, dass es also vor dem allerersten Gedanken eines Individuums bereits feuernde Neuronen gibt, als einen Hinweis darauf nehmen, dass die physiologische Aktivität das Primäre und der dabei erlebte Bewusstseinsinhalt das Sekundäre (das davon Abhängige) ist. Vielleicht kann man bei einem so gearteten Zusammenhang sogar von „Kausalität“ sprechen, aber diese Frage erscheint mir unwichtig.

            Die genannten Vorstellungen bewegen sich m. E. völlig im Rahmen der Naturwissenschaften. Und wie gesagt, was daran metaphysisch sein soll, erschließt sich mir nicht. Denn schließlich ist nur von empirisch beobachtbaren Dingen die Rede. Dass das psychische Erleben nur subjektiv „beobachtet“ werden kann, sollte dabei nicht stören. Die Tatsache, dass man Bewusstseinsinhalte nicht messen kann, macht sie noch lange nicht zu einem (ausschließlich?) metaphysischen Gegenstand.

            »Haben Sie nie einen Gedanken gehabt, der Ihren körperlichen Zustand und auch Ihren neuronalen ganz durcheinandergebracht hat?«

            Ich habe aller Wahrscheinlichkeit nach noch nie einen Gedanken gehabt, der ohne neuronale Aktivität zustande gekommen wäre. Würde ich anderes annehmen, betriebe ich Metaphysik. Daraus folgt, die mit einem Gedanken verbundenen körperlichen Veränderungen können durchweg mit physischen Prozessen erklärt werden.

            »Es ist bei absoluter Gleichzeitigkeit [von neuronalen und sogenannten mentalen Zuständen] eben genauso möglich, dies als Ursache zu betrachten von jenem und umgekehrt, wenn man nur will, aber beides ist falsch.«

            Dabei lassen Sie aber außer Acht, dass nicht alles, was rein logisch möglich ist, auch biophysikalisch realisierbar ist. Wenn denn diese absolute Gleichzeitigkeit wirklich gegeben wäre (was sie gewiss nicht ist), dann müsste man sich doch für jene Variante entscheiden, die mit physikalischen Gesetzmäßigkeiten vereinbar ist. Andernfalls würde man Metaphysik betreiben, und das will ja in den Naturwissenschaften keiner (schließlich ist uns ja daran gelegen, dass die Wissenschaft der Königsweg zur Erlangung von Wissen bleibt).

            »Übrigens: wie soll denn das Laufen des Motors der Antriebskraft zeitlich vorausgehen?«

            Nun ja, es geht eben darum, dass der Motor gestartet werden muss, bevor er Arbeit leisten kann. Wenn er dann läuft, wird kontinuierlich chemische in kinetische Energie umgewandelt. Es gibt also eine kleine zeitliche Differenz zwischen der Verbrennung im Hubraum und der Drehung einer Antriebswelle (oder was auch immer). Aber diese Differenz ist so klein, dass es scheint, als fände alles gleichzeitig statt. Ganz ähnlich scheint es mir bei der „Umwandlung“ von chemischer Energie in mentale Zustände zu sein (auch wenn keine „Umwandlung“ im Wortsinne stattfindet, chemische Energie ist bei Denkprozessen schon vonnöten).

            Der Witz an der Geschichte ist aber, dass die These, dass Gedanken die Neuronen zum Feuern anregen könnten, der These ähnelt, dass die Drehung der Antriebswelle die Zündung des Benzin-Luft-Gemischs bewirken kann—und zwar ohne dass der Anlasser, der Mensch oder sonst eine Energiequelle die Welle antreibt.

          • @ Balanus

            “Der Computer, von dem bei mir die Rede war, erscheint bloß weise, weil seine „Äußerungen“ dank seines „Wissens“ von den Äußerungen eines weisen Menschen praktisch nicht zu unterscheiden sind. So war das gemeint.”

            Da kann ich fürs Erste überhaupt kein Problem sehen.

            Man hat vor Kurzem einen wissenschaftlichen Aufsatz von einem Computer schreiben lassen und dann bei nature oder science (ich glaube, die waren es) eingereicht. Der Aufsatz wurde akzeptiert. Bei der Weisheit scheint es noch einfacher zu sein: Man füttert den Rechner mit ein paar Büchern weiser Männer, und der stellt dann einen Text daraus zusammen. Das merkt kaum einer. Aber einer, der selbst weise ist, wird wohl doch stutzig werden.

            “Aber was, wenn Weisheit und Glück nicht gleichzeitig zu haben sind, wäre es dann immer noch besser, weise und unglücklich zu sein, als dumm und glücklich?”

            Niemand will im Ernst ein Dummkopf sein – dumm von seiner eigenen Position aus. Dafür gibt er sein Leben hin. Daß man ihn unter der Folter dazu bringen könnte, ist klar, aber offensichtlich hier nicht gemeint. Außerdem ist hier gar nicht die Frage, wie die Menschen sich tatsächlich verhalten, sondern wie sie sich verhalten sollen. Diesen Unterschied haben Sie abstrakt verstanden, aber sie sehen nicht, wo er eine Rolle spielt: Sie machen aus jedem Problem eines des Seins, auch wo es auf der Hand liegt, daß es keines ist. – Naturwissenschaft verdirbt hat die Denkfähigkeit im Hinblick auf alles, was nicht Naturwissenschaft ist.

            “Der Dumme weiß ja nicht, was ihm an Weisheit fehlt, aber der Weise weiß, dass ihm das Glück fehlt (und zieht es womöglich vor, lieber zu sterben, als unglücklich weiterzuleben—siehe Sokrates).”

            Es reicht, daß der Dumme weiß, was dem noch dümmeren fehlt. – Meinen Sie, das habe Sokrates gemeint, als er sich für den Tod entschied? Da verstehen Sie Sokrates gründlich falsch. Der damalige Begriff von Glück – auf Glück bezog er sich tatsächlich – war nicht das, was sich ein heutiger Empirist darunter vorstellt. Er hatte wie das gesamte Altertum keinen Begriff der Glückswürdigkeit (im Unterschied zur Glückseligkeit), aber er sagte doch: Ein Tyrann, den jeder rundum glücklich nennen würde, ist doch unglücklicher als einer, der in Armut und Elend lebt oder im Gefängnis setzt (so ähnlich). Und er meinte damit nicht, daß der Arme usw. doch tief in sich Gefühle des Glücks hat, sondern was er meinte, war der “Glückswürdigkeit” ziemlich nahe.

          • @Ludwig Trepl

            »Außerdem ist hier gar nicht die Frage, wie die Menschen sich tatsächlich verhalten, sondern wie sie sich verhalten sollen. […] Sie machen aus jedem Problem eines des Seins, auch wo es auf der Hand liegt, daß es keines ist.«

            Nun, der Satz, » daß es einfach besser ist, ein Sokrates zu sein als ein Narr «, und dass das »auch jeder weiß«, den ich hier in Frage stelle, stammt aus Ihrer Tastatur.

            Sicher wäre jeder Normalbegabte gerne ein Sokrates, aber ich halte es für fraglich, dass Vernunft stets schwerer wiegen soll als das Gewissen, oder eben das „Glück“. Was nutzt dem Weisen seine Weisheit, wenn ihm das Glück versagt bleibt und er die Lust am Dasein verliert (nun gut, ist schon wieder ein Problem des Seins). Den Wert der Weisheit oder Vernunft (an sich) stelle ich dabei gar nicht in Frage, aber ich negiere auch nicht den Wert des guten, glücklichen Lebens (Stichwort Eudaimonie).

            Zudem: Wird denn nicht früher oder später jeder Sollens-Satz zu einem Problem des Seins? Nicht wegen der möglichen kulturellen Unterschiede, nein, die spielen keine Rolle, wenn es um das unbedingte Sollen geht, sondern wegen der menschlichen Verfasstheit, wegen seines Wesens, seiner „Natur“. Sollen und menschliches Sein sind offensichtlich und trivialerweise untrennbar miteinander verbunden. Nebenbei: Kennt jemand einen allgemein akzeptierten Sollens-Satz, der der menschlichen Natur vollends zuwiderläuft? Ein Kandidat wäre vielleicht: „Du sollst deine Feinde lieben…“.

            »Da verstehen Sie Sokrates gründlich falsch.«

            Als ich sinngemäß schrieb, dass Sokrates es vorzog, lieber zu sterben, als unglücklich weiterzuleben, war damit gemeint, dass es ihm offenbar unerträglich erschien, in dem Bewusstsein weiterzuleben, gegen die eigenen tiefsten Überzeugungen gehandelt zu haben—oder so ähnlich.

            Kann aber auch sein, dass er ohnehin genug vom Leben hatte und im Abgang noch ein starkes Zeichen setzen wollte.

            Mit der Philosophie des Glücks bin ich nicht vertraut, aber ich vermute mal, dass sie auf der banalen Erkenntnis basiert, dass jeder Mensch lieber glücklich als unglücklich ist. Das Streben nach Glück wäre also das Sein. Die ethische Frage wäre nun vermutlich, ob der Mensch nach Glück streben soll, und wann und in welchen Fällen er nicht nach Glück streben sollte.

          • @Ludwig Trepl (10. Januar 2016 13:27)

            »Sie können das als Naturalist einfach nicht verstehen;…«

            Nur, damit hier beim Leser kein falscher Eindruck entsteht: Ich selbst bezeichne mich nicht ernsthaft als einen Naturalisten. Zum einen weiß ich viel zu wenig von den verschiedenen philosophischen Glaubensrichtungen, zum anderen nehme ich mir die Freiheit, mich weltanschaulich/philosophisch überall dort zu bedienen, wo es mir passend erscheint. Offenbar sind das häufig Positionen, die (auch) im naturalistischen Lager vertreten werden. Das ist alles…

        • Die alte Frage: worin besteht Intelligenz – bzw. Geist – und wo genau ist ihr Sitz?
          http://medizin-aspekte.de/was-das-maeuseauge-dem-maeusegehirn-erzaehlt

          Das Programm Watson macht genau dasselbe, was Searle mit dem “Chinesischen Zimmer” demonstriert: Permutationen von Zeichenketten mittels Vergleich anderer Zeichenketten! Etwas anderes beherrscht der Computer nicht, denn nur dafür ist er konstruiert. Mit Intelligenz hat das eben nichts zu tun. Jedes Programm ist grundsätzlich dumm, per Definition des Begriffes.

          • »Jedes Programm ist grundsätzlich dumm, per Definition des Begriffes.«

            So dumm wie die Nervenzellen in unserem Hirn…

          • Ein Programm kann nicht dumm sein. Dumm oder klug sind Eigenschaften des Programmierers.

          • @ Ludwig Trepl

            Damit würde auch folgen: Ein Kommentar kann nicht dumm sein. Dumm oder klug …

            Ich spreche lieber von dummen Kommentaren, damit nicht der Eindruck entsteht, dumm oder klug wären unveränderliche Eigenschaften eines Kommentators. So kann denn auf manchen dummen Kommentar ja doch auch mal ein kluger folgen, ohne dass der Kommentator sich wesentlich verändert hätte.

          • Im allgemeinen wird Intelligenz als Fähigkeit definiert, Probleme zu lösen. Man kann auch sagen, es ist die Fähigkeit, autonom Ziele zu setzen und die Ziele zu erreichen. Dem Computer werden die Ziele aber schon per Programm vorgegeben. Zum Beispiel wird der Roboter so programmiert, dass er einen Gegenstand greifen und zielsicher bewegen kann. Er kann sich aber nicht selber Ziele vorgeben, aus freiem Willen!

            Ein Programm ist insofern dumm, als es stur eine Abfolge von Aktionen abarbeitet. Dass es dabei Vergleiche anstellt (if .. then) und in deren Folge Entscheidungen für vorbestimmte Aktionen trifft, ändert daran nichts. Der Mensch tut zwar auch nicht wesentlich anderes, aber die Inputs sind weitaus zahlreicher und unterliegen häufig der eigenen Auswahl. Ob man ein Bier oder einen Kaffee bestellt, hängt von vielen Einflüssen ab. Der Grad der Autonomie ist deutlich höher, wenngleich nicht absolut, denn auch das Gehirn gehorcht strikt und ausnahmslos den Naturgesetzen und den physiologischen Zuständen (z.B. Erinnerung).

          • @ Joker

            “Damit würde auch folgen: Ein Kommentar kann nicht dumm sein.”

            Der Kommentator hat einen dummen Kommentar geschrieben, da muß er nicht in jeder Lebenslage dumm sein. Der Programmierer hat ein Programm geschrieben, das nichts taugt. Er hat sich dumm angestellt. Der Kommentar ist dumm, das Programm ist dumm sind metaphorische Redeweisen. Die sind natürlich erlaubt, aber man darf daraus nicht schließen, daß etwas anderes als ein intelligentes Wesen, z.B. ein Nagel, wirklich intelligent oder dumm sein kann.

          • @anton reutlinger: Auch ein Computer kann prinzipiell intelligent sein, denn Intelligenz kann 1) gemessen werden 2) zeigt sich im Verhalten und der Nachvollziebarkeit von Aktionen. 3) muss bewiesen werden und darf nicht nur behauptet werden
            Wie die Intelligenz zustande kommt ist dabei nicht entscheidend. Auch Roboter dürfen in den Ring steigen. Nur für heutige Computer/Roboter trifft es zu, dass ihnen Aktionen vorgegeben werden und sie bis ins Detail programmiert werden.

            Menschen und andere Tiere handeln intelligent im Wachzustand, der durch einen Zustand der Aufmerksamkeit gekennzeichnet ist. Reize aus der Aussenwelt oder auch Erinnerungen und Gedankenprozesse können dann ganze Kaskaden von “geistigen” Prozessen auslösen und in Aktionen münden, die man als mehr oder weniger intelligent beurteilen kann.

            Dieses Aktivitäts-Modell kann man einem Roboter ebenso zugrunde legen. Falls er dann intelligent handelt, ist er intelligent. Heute steht die “Künstliche Intelligenz” immer noch am Anfang. Es fehlt bei den Handlungs- und Weltmodellen für Roboter immer noch an der nötigen Allgemeinheit, denn letztlich ist erstaunlich wie wenig ein Tier oder Mensch braucht um von einem Zustand des Nichtwissens und Nichtkönnens zu einem Zustand des Wissens und der Kompetenz zu kommen. Schon ein erwachsenes Raubtier kann man als kompetent im Jagen bezeichnen. Nur ein Teil der Jagdtechniken, die ein erwachsens Raubtier beherrscht wurde angeboren, vieles wurde erlernt, mit der Erfahrung verbessert und verfeinert.
            Es gibt keinen prinzipiellen Grund, warum nicht auch ein Roboter lernen und sich verbessern können sollte. Dass dies bis jetzt noch nicht passiert ist liegt zum grossen Teil an der kurzen Zeit, in der der Mensch erst ingenieurmässig tätig ist. Die nötigen Konzepte für Leistungen, die an lebende Organismen erinnern, werden erst erarbeitet. Generell gilt: Nicht alles was der Mensch erfand und entwickelte entstand in einem einzigen genialen Augenblick mit einem Heureka. Vieles braucht länger, eventuell Jahrzehnte bis es Früchte trägt. Das gilt für alle Erkenntnisgebiete ausser vielleicht denjenigen, die aus prinzipiellen Gründen keine irreversibel neuen Erkenntnisse erarbeiten können wozu die Philosphie gehört und alles was im Bereich der Schönen Künste liegt.
            Dafür gibt es inzwischen viele Beispiele: So glaubten bis vor kurzem Viele, dass die Medizin keine wesentlichen Fortschritte mehr bei der Behandlung von Krankheiten wie Krebs mache. Doch gerade jetzt passiert wieder viel auf diesem Gebiet.

  18. Einer der großen Irrtümer ist es, den Menschen und die Welt als finales oder teleologisches Produkt einer Art ganzheitlicher Schöpfung zu betrachten, statt einer natürlichen und ungerichteten, von vielen Zufälligkeiten bestimmten Entwicklung aus den Anfängen der Materie des Universums. Man kann den menschlichen Geist so wenig ganzheitlich von außen denken, wie man das Universum vollumfänglich von außen betrachten kann. Die Deutung und Bedeutung der Sinnesreize als Wahrnehmung und Vorstellung der Wirklichkeit ist Resultat einer langen und gleichförmigen Entwicklung der Menschheit. Objektive Erkenntnis ist die Konvention einer bestimmten Klasse von Subjekten. Sowohl der Empirismus als auch der Rationalismus sind in einer Zirkularität der Erkenntnis gefangen, aus der es kein Entrinnen gibt – außer der Rückbesinnung auf die Entwicklungsgeschichte.

    Eine Erkenntnis über Erkenntnisse ist wiederum eine Erkenntnis, so wie man über Sprache nur wieder mit Sprache reden kann. Definitionen von Begriffen sind wieder Begriffe. Aus der Form oder dem Bild eines Wortes, d.h. der Anordnung von Buchstaben oder Pixeln als Sinnesreize, lässt sich in keiner Weise die Bedeutung des Wortes ableiten, sofern sie nicht schon kulturhistorisch oder etymologisch vorgegeben ist. Wahrheit ist immer eine Eigenschaft sprachlicher Sätze oder Aussagen, nicht von Tatsachen über die Welt. Die Philosophie kann nichts Apriorisches zur Wissenschaft beisteuern, sondern ist selber Teil der Wissenschaft, als Metawissenschaft.

  19. @ Chrys
    (21. Dezember 2015 23:53)

    “Dem würde ich zwar durchaus zustimmen wollen, wobei mir aber noch etwas unklar bleibt, was mit dem “einen Ergebnis” genau gemeint ist. “

    Ist bei mir auch ziemlich unklar, aber ich meinte, das in meinem Kommentar am 19. 12. (den mit den langen Höffe-Zitaten; die sind übrigens aus dem Buch, das nur “Immanuel Kant” betitelt ist) einigermaßen erklärt zu haben.

    Den “kosmologischen Ideen” wurde die konstitutive Bedeutung genommen und eine regulative Bedeutung gegeben. “Sie sagen nicht, wie die Welt als ganze aussieht, sondern geben eine Regel an, wie die Naturforschung anzustellen ist … Er erklärt darüber hinaus, daß es für die empirische Forschung weder im Großen noch im Kleinen einen Gegenstand geben kann, der als schlechthin letzter Gegenstand die äußerste Grenze menschlicher Erkenntnis bezeichnet.” Das, was Sie mir vorwerfen (Festkleben an der Idee der absoluten Wahrheit) erhält also eine kompliziertere Bedeutung. Es gibt den “letzten Gegenstand” nicht, der “die äußerste Grenze menschlicher Erkenntnis bezeichnet” und der sozusagen die Referenz der Idee der absoluten Wahrheit wäre, sondern die Idee wird aufgelöst in einen offenen und endlosen Forschungsprozeß. (Allerdings bezieht sich das auf die empirische Welt; im Hinblick auf Apriorisches und damit die Ethik mag es anders aussehen). Damit ist natürlich nicht gezeigt, daß das “eine Ergebnis” genau dieses sein muß, aber es ist doch gezeigt worden, daß sich ein Ergebnis finden läßt durch die Vernunft in einem Fall, wo vorher nur Antinomien zu sehen waren.
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    • @Ludwig Trepl
      Auf Antinomien treffen wir auch, wo statt des unmittelbaren Selbstbezuges eine rekursive Bedingtheit vorliegt, was bei Schopenhauers Paradoxon der Fall ist:

      Unser objektiver Standpunkt ist ein realistischer und daher bedingter, sofern er, die Naturwesen als gegeben nehmend, davon absieht, daß ihre objektive Existenz einen Intellekt voraussetzt, in welchem zunächst sie als dessen Vorstellung sich finden: aber Kants subjektiver und idealistischer Standpunkt ist ebenfalls bedingt, sofern er von der Intelligenz ausgeht, welche doch selbst die Natur zur Voraussetzung hat, in Folge von deren Entwicklung bis zum thierischen Wesen sie allererst eintreten kann.

      Es braucht offensichtlich beide der hier als objektiv und subjektiv bezeichneten Sichtweisen, um zu einem vollständigen Bild zu gelangen. Ein Widerspruch tritt indes nur dann auf, wenn einer der beiden Standpunkte als der einzig wahre oder unbedingt richtige behauptet wird. Das ist dann ein Scheinproblem, um das allerdings, wo es als solches nicht erkannt wird und der Mensch nach allzu schlichten Welterklärungen strebt, auch regelrechte Glaubenskriege ausgefochten werden können.

      • @Chrys

        “aber Kants subjektiver und idealistischer Standpunkt ist ebenfalls bedingt, sofern er von der Intelligenz ausgeht, welche doch selbst die Natur zur Voraussetzung hat, in Folge von deren Entwicklung bis zum thierischen Wesen sie allererst eintreten kann.”(Schopenhauer)

        Da scheint mir ein Fehler drin zu sein (wenn, dann ist der sicher schon tausend mal bemerkt worden): Die Verursachung in dem einen Fall (Natur zuerst) gehört unter “Ursache-Wirkung”, also unter das, was wir im naturwissenschaftlichen Zusammenhang i.a. mit “Kausalität” meinen. Damit hat aber die behauptete Unbedingtheit des “subjektiven und idealistischen Standpunkts” gar nichts zu tun. Hier geraten wir in das Gebiet logischer, nicht physisch-mechanischer Verursachung, hier ginge es um das Verhältnis Grund-Folgerung, nicht Ursache-Wirkung. Kant dürfte das klar gewesen sein. Ich wüßte jetzt keine Stelle, wo er sich direkt damit auseinandersetzt, aber die Stellen, wo er etwa sagt, daß “der Zeit nach” tatsächlich alle Erkenntnis mit der Erfahrung anhebt (oder so ähnlich), scheinen mir zu zeigen, daß ihm das Problem bewußt und die Lösung klar war.

        • Jede Information, gleichgültig welche Bedeutung sie hat, ist an ein physisches Substrat gebunden, zur Darstellung, Speicherung und Übertragung. Ohne die Gesetzmäßigkeiten der physikalischen Kausalität gibt es weder Information noch einen Gedanken. Man kann vom Substrat und von der Kausalität abstrahieren, weil sie für die Semantik und Pragmatik der Information in aller Regel keine Bedeutung hat, man darf sie aber nicht prinzipiell ignorieren oder leugnen.

          Es ist inhaltlich gleichgültig, auf welchem Weg eine Information übertragen wird, aber die Übertragungsgeschwindigkeit oder die Darstellungsform kann im Falle von Nachrichten für einen Empfänger von größter Bedeutung sein. Dasselbe gilt für die Signalverarbeitung im Organismus, von den Sinnesrezeptoren über die Nervenleitungen bis zum Bewusstsein. Der gesunde, “normal denkende” Mensch ist die Regel, aber kein Naturgesetz und kein Dogma!

      • @Ludwig Trepl
        Nach meinem Verständnis steckt im Kern der Angelegenheit die Frage nach der Bedeutung von ‘ich’. Dies lässt sich den Bereichen Linguistik oder Sprachphilosophie zuordnen, wo ich mit einer Idee von Verursachung, in welchem Sinn auch immer, nun gar nichts anzufangen weiss. Das Wort ‘ich’ drückt eine intrinsiche Selbstbzogenheit aus, indem hierbei eine Identifizierung eines beschreibenden ich-Subjekts mit einem beschriebenen ich-Objekt vorgenommen wird, womit eine rekursive Bedingtheit des einen durch das andere entsteht. Dass Rekursion jedoch nicht einfach als widersprüchliche Zirkularität missverstanden werden darf, ist im allgemeinen wohl recht schwer zu vermitteln.

        • @ Chrys

          Ich hab nicht so recht verstanden, worauf Sie hier hinauswollen. – Ich hab’ eben einen Aufsatz von Geert Keil mit dem Titel “Ich und mein Gehirn. Wer steuert wen? Das Geist-Körper-Problem und die Hirnforschung” in der Hand gehabt. Da vertritt er (im Anschluß an Wittgenstein und Strawson) die Auffassung, daß die spätestens seit Descartes übliche dualistische Sicht (Körper-Geist) ebenso wie jede monistische ein eklatantes Defizit hat. Im Alltagsdenken sei uns das sofort klar: Die Antwort auf die Frage, wer den Wein getrunken habe, kann nicht sein: jemandes Geist, oder sein Körper, sondern: er, diese Person, und wenn der Sprecher diese Person selber war, eben “ich”, klein geschrieben. Also nicht “das “Ich” oder das transzendentale Ich oder was es da immer geben mag. – Hat das irgendeine Bedeutung für unsere Frage?

        • @Ludwig Trepl
          Zwei Überlegungen dazu, ohne Anspruch darauf, dies thematisch ausloten zu wollen oder zu können.

          Zum einen meine ich, dass man mit einer Preisgabe der Idee des Absoluten oder Unbedingten praktisch nichts verliert. Unser Wissen stellt sich schliesslich nicht als ein monolithischer Block dar, sondern vielmehr als ein Flickwerk aus lokalen Beschreibungskontexten, Betrachtungsweisen, Diskursbereichen, oder wie auch immer man das nennen will. Eine Erwartung, dass sich diese lokalen Flicken idealerweise antinomienfrei zu einer allumfassenden Gesamtheit, einer Art einheitlicher Weltbeschreibung zusammenfügen lassen müssten, ist dann nicht gerechtfertigt — vergleichbar damit, dass sich mengentheoretisch die Gesamtheit aller Mengen auch nicht wieder als ein Objekt mit wohldefinierten Eigenschaften ergibt. Zu einem antinomienfreien Gegenstand wird auch eine Menge nur dadurch, dass sie der Bedingung genügt, als ein Element von etwas hierarchisch Höherem betrachtet werden zu können. Entsprechend können wir ganz allgemein mit unseren sprachlichen Mitteln nur solche Gegenstände unserer Vorstellung antinomienfrei beschreiben, deren Beschreibung sich als etwas dem Beschriebenen hierarchisch Übergeordnetes verstehen lässt. Das ist jedoch nicht der Fall, wo das Beschriebene bereits seinen Beschreiber rekursiv einschliesst. Davon betroffen sind Totalitätsbegriffe wie “Welt” oder “Natur”, sowie insbesondere das intrinsisch selbstbezogene “ich”.

          Wenn ich infolgedessen meine, die Wahrheit von ich-Sätzen liesse sich nicht in einem absoluten Sinne behaupten, dann heisst das nicht, dass deren Gültigkeit beliebig wäre und sich mit demselben Anspruch auch jeweils ihre Negation vertreten lässt. Meine Feststellung, “Ich habe Sinneseindrücke,” ist sogar ein synthetisches Urteil a priori, aber nicht deshalb, weil das in einem absoluten Sinne wahr wäre, sondern weil — für mich — ihre Negation schlicht sinnlos ist. Wenn Sie nun wortgetreu dieselbe Feststellung treffen, dann ist das für mich allerdings kein synthetisches Apriori. Und sollte eine programmierte Maschine diesen Satz äussern, dann werde ich entschieden bezweifeln, dass er wahr sein kann. Die Wahrheit von ich-Sätzen ist folglich auch in Abhängigkeit vom Sprecher zu beurteilen und somit recht weit vom Unbedingten entfernt

          Zum anderen hege ich den Verdacht, dass die Leitidee des Absoluten oder Unbedingten ihre Wurzeln in der christlich-abendländischen Kultur hat, wo seit der konstantischien Wende traditionell mit absoluter Ausschliesslichkeit an nur einen Gott geglaubt wird, und das auch noch nach einem einzig für richtig gehaltenen Ritus. Fernöstliche Traditionen sind in dieser Hinsicht anders, und es ist dort auch nicht unüblich, verschiedenen Religionen simultan anzuhängen. Die Frage wäre also zu stellen, ob das Streben nach dem Absoluten nicht vielmehr ein Relikt kultureller Prägung als eine Massgabe der Vernunft ist. Bekanntlich hat sich Schopenhauer u.a. mit buddhistischen Denkweisen befasst, und es ist nicht abwegig zu vermuten, dass ihm dies ganz eine andere Sicht auf sein Paradoxon eröffnet hat, als kreuzbraven Denkern wie Eduard Zeller, der Schopenhauer diesbezüglich einen platten Widerspruch unterstellt hat, überhaupt jemals begreiflich war.

          • „Unser Wissen stellt sich schliesslich nicht als ein monolithischer Block dar, sondern vielmehr als ein Flickwerk aus lokalen Beschreibungskontexten, Betrachtungsweisen, Diskursbereichen, oder wie auch immer man das nennen will. Eine Erwartung, dass sich diese lokalen Flicken idealerweise antinomienfrei zu einer allumfassenden Gesamtheit, einer Art einheitlicher Weltbeschreibung zusammenfügen lassen müssten, ist dann nicht gerechtfertigt“

            Schon richtig, aber ist das die Frage? Da sind zwei Betrachtungsweisen, und damit stellt sich unausweichlich die Frage, wie sie zueinander stehen. Ist die eine richtig, die andere falsch, sind beide richtig, aber in verschiedenen Kontexten? Usw. Ob sie sich” antinomienfrei zu einer allumfassenden Gesamtheit, einer Art einheitlicher Weltbeschreibung zusammenfügen lassen”, kann man nicht von vornherein wissen, aber man kann wissen, daß wir das anstreben müssen (s. Kant: die Unvermeidlichkeit der unlösbaren metaphysischen Fragen).

            Es ist ein ganz einfacher Gedanke, der bei mir dahintersteht: Solange noch Fragen offen sind, solange sozusagen in der Gleichung noch x steht, wo ein bestimmter Wert stehen sollte, hat das Denken noch eine Aufgabe. Im Empirischen: Alles hat eine Ursache, und diese hat wieder eine usf. Aus logischen Gründen (nicht aus psychologischen, da kann das Gegenteil stimmen: man will einfach nichts mehr wissen) geht das Fragen immer weiter. Erst wenn das absolute Wissen erreicht wäre, würde das Fragen aufhören; also hört es nie auf. Mehr ist das absolute Wissen nicht: eine Idee, aber eine unausweichliche. (Das gilt alles nur für, wie man wohl neuerdings sagt, deskriptives Wissen, nicht für präskriptives).

            Was genau meinen Sie mit „das intrinsisch selbstbezogene “ich”“? “Ich habe Sinneseindrücke” wäre so etwas, „ich habe gestern den Bus verpaßt“ dagegen nicht? Von dem können Sie nämlich das nun bei Ihnen folgende nicht behaupten. „Die Wahrheit von ich-Sätzen ist folglich auch in Abhängigkeit vom Sprecher zu beurteilen und somit recht weit vom Unbedingten entfernt“ gilt darum nicht allgemein von ich-Sätzen. Beispielsweise „Ich habe gestern Pizza Salami gegessen“ ist im Hinblick auf die Frage „unbedingte Wahrheit“ vermutlich nicht anders zu beurteilen als „Schulzes Hund hat den Briefträger gebissen“. – In diesem Sinne gebrauchtes „ich“ (klein geschrieben) ist durch nichts zu ersetzen. Natürlich kann man verdinglichend und objektivierend sprechen. Statt: „Du wagst es, mir zu widersprechen?!” sagt der König: „dieser Wurm wagt es, seinem König zu widersprechen!“: Das ist nur extensional gleich, nicht intensional. Also: Es ist kein Ersatz. – Das muß in unserem Zusammenhang doch etwas zu bedeuten haben. Was?

            „Davon betroffen sind Totalitätsbegriffe wie “Welt” oder “Natur” ….“

            Scheint mir nur bedingt zu gelten: „Natur“ hat eine Vielzahl von Bedeutungen (es gibt einen bekannten Aufsatz von Spaemann dazu). Ich bin mir nicht sicher, ob auch nur einer von ihnen „den Beschreiber rekursiv einschließt“. Wenn ich sage „der Mensch ist Natur“ ist das etwas anderes als wenn ich sage: der „Beschreiber ist Natur“; vielleicht ist er als Beschreiber ja gerade nicht Natur. Und bzgl. „Welt“: In dem Satz: „das Subjekt steht der Welt gegenüber, sie ist der Inbegriff seiner möglichen Gegenstände“ oder so was, dann ist das Subjekt (ich bin mir nicht sicher, ob sich dieser Begriff hier durch „Beschreiber“ ersetzen läßt, aber tun wir mal so) gerade nicht Teil der Welt.

            „Zum anderen hege ich den Verdacht, dass die Leitidee des Absoluten oder Unbedingten ihre Wurzeln in der christlich-abendländischen Kultur hat, wo seit der konstantinschen Wende traditionell mit absoluter Ausschliesslichkeit an nur einen Gott geglaubt wird …“

            Es kann schon sein, daß Sie mit ihrem Verdacht recht haben. Aber das sagt nicht das Geringste für oder gegen die „Leitidee des Absoluten oder Unbedingten“. Diese Idee wird dadurch nicht zu einem Kulturgut des „westlichen“ Denkens, das nur relativ zu diesem gilt, so wie die Lederhosen ein alpenländisches Kulturgut sind und für einen Norddeutschen ohne jeden Wert sein können. – Das ist etwas, was in den allgemeinen Diskussionen über „westliche Werte“ usw. heute konsequent übersehen wird: Etwas kann sich historisch einer bestimmten Kultur verdanken und doch von allgemeiner Gültigkeit (Geltung? Den Unterschied hab ich nie begriffen) sein. Ohne die „westliche“ Kultur gäbe es weder die moderne Naturwissenschaft noch die neuere Logik und Mathematik und auch nicht die Idee der Menschenwürde. Aber sie sind aus dieser Kultur nur hervorgegangen, sie gelten nun ganz unabhängig von dieser. Und genauso könnte es mit unserer Idee sein. (Schon mit dem einen mit Gott, an den mit „absoluter Ausschliesslichkeit … geglaubt wird“, könnte es so sein. Der Gedanke ist natürlich irgendwie historisch in dem Milieu entstanden, das sich durch das Aufeinandertreffen orientalischer Religionen und griechischer Philosophie gebildet hat, aber das heißt nicht, daß der Glaube an ihn, wie Sie schreiben, bloß „traditionell“ ist. Er könnte logisch sein, sozusagen eine Entdeckung der frühen Christen, nicht eine Erfindung; Kant war jedenfalls der Meinung, daß der Gedanke „Gott“ unausweichlich zum Monotheismus führt; wie und ob überhaupt er das begründet hat, weiß ich allerdings nicht.)

          • @Ludwig Trepl

            »Ob sie [die diversen Beschreibungen] sich” antinomienfrei zu einer allumfassenden Gesamtheit, einer Art einheitlicher Weltbeschreibung zusammenfügen lassen”, kann man nicht von vornherein wissen, aber man kann wissen, daß wir das anstreben müssen (s. Kant: die Unvermeidlichkeit der unlösbaren metaphysischen Fragen).«

            Bei allen unseren wissenschaftl. sowie auch philosophischen Konstatierungen sind wir stets an einen bestimmten instrumentellen Bezugsrahmen gebunden, nämlich den einer Sprache, deren logisches Regelwerk festlegt, was in einem zu führenden Diskurs als schlüssiges Argumentieren und folgerichtiges Denken gilt. Was jedoch die Frage nach der Legitimierung dieses sprachlichen Rahmens aufwirft, zu deren Klärung wir erneut auf Sprache angewiesen sind. Doch lässt sich ein Diskurs führen über die sprachlichen Vorbedingungen, die es erst ermöglichen, eben diesen Diskurs überhaupt zu führen?

            Der Aspekt des rekursiven Bezugs von Sprache auf Sprache tritt bereits bei Epimenides mit dem klassischen Lügnerparadoxon auf. Das dies tatsächlich nicht nur eine belanglose Sprachspielerei ist, blieb jedoch womöglich unverstanden, bis es schliesslich für die Grundlagen der Mathematik relevant wurde. Die Strategie zu Vermeidung von Antinomien besteht in der Bildung lokaler Hierarchien, indem dann bei formalen Sprachen zwischhen Objekt- und Metasprache strikt unterschieden wird. Die Metasprache dient hierbei zur Festlegung des Rahmens für die Objektsprache, aber nicht für sich selbst.

            Antinomien sind grundsätzlich nicht zu vermeiden, wo die Metasprache ihrerseits von der durch sie konstituierten Objektsprache rekursiv abhängig ist. Eine solche Situation entsteht (in natürlichen Sprachen) insbesondere durch Totalitätsbegriffe wie die “Welt”, aber auch durch “ich”. Klar, “Welt” oder “Natur” sind nicht immer als Totalität zu verstehen, ich meinte das aber schon so, wie etwa im UTB Handwörterbuch Philosophie zu [Welt]:

            Als ›Totalitätsbegriff‹ bezeichnet Welt zudem keinen Gegenstand möglicher Erfahrungserkenntnis (Kant). Als ›Idee der Vernunft‹ hat der Begriff bloß ›regulative Funktion‹.

            So verstanden ist die Welt kein objektsprachlicher Gegenstand und gehört als regulative Idee zur Metaprache, wo der Begriff dann die Gesamtheit aller objektsprachlichen Gegenstände bezeichnet und somit erst durch den Bezug auf Objektsprache definierbar wird, also rekursiv von dieser abhängt.

            »In dem Satz: „das Subjekt steht der Welt gegenüber, sie ist der Inbegriff seiner möglichen Gegenstände“ oder so was, dann ist das Subjekt (ich bin mir nicht sicher, ob sich dieser Begriff hier durch „Beschreiber“ ersetzen läßt, aber tun wir mal so) gerade nicht Teil der Welt.«

            Sofern wir die Welt als regulative Idee akzeptieren, steht das Subjekt der Welt nicht gegenüber, sondern die Welt wird vom ich-Subjekt als begriffliche Vorstellung verfasst. Und zwar dergestalt, dass das ich-Subjekt (als objektsprachliche Interpretation seiner Sinneseindrücke) einen Kontext konstituiert, in welchem sich ein ich-Objekt in Relation zu diversen nicht-ich-Objekten befindet. Und die Welt ergibt sich schliesslich als Totalität aller solcher Kontexte. Indem ich mich nun als ich-Subjekt beständig mit meinem ich-Objekt identfiziere und von beidem immer nur als ‘ich’ rede, bin ich wieder bei Schopenhauer und seinem Paradoxon: Ich begreife mich als ein Teil der von mir selbst verfassten Welt. Oder alternativ, in den Worten von Douglas Hofstadter, Ich bin eine seltsame Schleife.

            Ein Auftreten solcher Paradoxa deutet zunächst nur darauf, dass wir hier auf ein Muster stossen, das zu komplex ist, um sich als Ganzes in ein lineares Schema hierarchisch geordneter Beschreibungen einzufügen. Der Glaube, dass sich alles in eine schlichte lineare Weltordnung einreihen lassen müsse, ist jedoch nicht rational fundiert, sondern tief verwurzelt in der Tradition abendländischer Metaphysik, die gerne einen Schöpfergott oder wahlweise einen Urknall an den Anfang setzen will und erstaunlicherweise meint, damit sei etwas erklärt. Dass dies nicht etwa die ultima ratio, sondern kulturbedingt ist, wird schon daran ersichtlich, dass e.g. vor einem buddhistisch, konfuzianistisch, taoistisch geprägten kulturellen Hintergrund die Dinge in vielfacher Hinsicht auch ganz anders verstanden werden können. Woraus sich womöglich doch etwas lernen lässt.

  20. @Dr.Webbaer;
    Es gibt einige Begriffe, die kaum zu definieren oder zu bestimmen sind, weil sie extensional komplex, sowie potenziell grenzenlos und nicht quantifizierbar sind: Glück, Gerechtigkeit, Freiheit, Liebe, Moral. Es ist einfacher, ihr Gegenstück zu definieren, wie Unglück, Ungerechtigkeit, Unfreiheit, Hass, Unmoral, weil Schäden oder Nachteile im allgemeinen leichter bestimmbar und sogar quantifizierbar sind, oftmals auch monetär. Die Umgangssprache geht sehr leichtfertig mit Begriffen um, insbesondere in der Medienwelt, wie das Beispiel der “Unglücke” im Plural zeigt, wo eigentlich Unfälle gemeint sind. Ähnlich ergeht es dem Begriff der Moral bzw. der Unmoral, der nicht selten als Kampfbegriff für ideologische Argumentationen herhalten muss, insbesondere auch im religiösen Bereich, so wie Kritik oftmals verleumderisch als Intoleranz abgewehrt wird (Pegida).

    Das alles kann in einer Blogdiskussion nicht annähernd diskutiert werden, ohne gegenseitigen Widerspruch herauszufordern, schon aus mangelndem Konsens oder Verständnis über die Begriffsbedeutungen. Hier ist also gegenseitige Toleranz vonnöten, ohne Kritik unterbinden zu wollen. Intoleranz beginnt erst dort, wo Freiheiten und Rechte eingeschränkt oder Zwänge gefordert werden (z.B. von den Kirchen oder Klerikern).

    • @ anton reutlinger

      So ein Unsinn: “Intoleranz beginnt erst dort, wo Freiheiten und Rechte eingeschränkt oder Zwänge gefordert werden (z.B. von den Kirchen oder Klerikern).

      Der Glaube ist eine persönliche Entscheidung in Freiheit udn deshalb kein Zwang und folglich ist auch das zugehörige Glaubensgut, Glaubensverständnis kein Zwang, sondenr wird konsensual gelebt und verarbeitet. Ein Prozess, der in einer großen Gemeinschaft natürlich nicht so einfach ist.

      • @Eli Schalom;
        Da haben Sie mich missverstanden und nebensächliche Beispiele sollte man nicht zum Hauptthema machen.

        Intoleranz richtet sich generell gegen Andersdenkende und Kritiker, das können durchaus auch Gläubige sein, die sich den Vorgaben nicht kritik- oder widerstandslos unterordnen wollen. Der religiöse Glaube wird in aller Regel schon den Kindern eingetrichtert, so dass von Freiwilligkeit keine Rede sein kann und Konflikte damit vorprogrammiert sind. Eine Gegenmeinung zu haben ist noch keine Intoleranz, wie oftmals behauptet wird, um Kritik oder Andersdenken zu diffamieren (“Lügenpresse”). Die Intoleranz beginnt mit der substanziellen Behinderung oder Einschränkung von Rechten und Freiheiten oder mit dem Auferlegen von Zwängen, also beispielsweise mit polizeilichen Maßnahmen, wie in der Türkei, in Russland und vielen anderen Ländern.

        Die Forderung “keine Toleranz der Intoleranz” ist daher häufig unangebracht und kann wiederum selber ideologisch oder politisch motivierte Intoleranz sein. Die Moral wird allgemein gerne instrumentalisiert und missbraucht, um eigene Intoleranz zu verschleiern, gerade auch im religiösen Umfeld.

        • Die Forderung “keine Toleranz der Intoleranz” ist daher häufig unangebracht und kann wiederum selber ideologisch oder politisch motivierte Intoleranz sein. Die Moral wird allgemein gerne instrumentalisiert und missbraucht, um eigene Intoleranz zu verschleiern, gerade auch im religiösen Umfeld.

          Ergänzend:
          1.) Die Toleranz meint das Ertragen und das Ertragenswerte, auf Grund bestimmter sittlicher Maßgabe, die bestimmte sittliche Maßnahme anleitet, in diesem Fall: das Ertragen.
          2.) Toleranz dieser Art ist ganz zuvörderst: definitorisch zu verstehen, auch damit sich hier keine Paradoxien ergeben.
          3.) D. h. es gibt definitorisch Regelmengen, die zu tolerierendes bestimmen und nicht zu tolerierendes. Ansonsten läge tatsächlich eine Rekursion vor oder Schwachsinn.
          4.) Insofern meint Ertragenswertes etwas zu Ertragendes, das nicht so funktionieren kann, dass es definitorisch bestimmtes (siehe (3)) Ertragenswertes derart überschreiben kann, dass wie beschrieben Ertragenswertes nicht mehr ertragen werden kann.
          5. und jetzt wird’s (endlich) wieder “irdischer”, das Denken in Schichten soll ja nicht überbelastet werden:
          A) Die Forderung “keine Toleranz der Intoleranz” abzulehnen, entspricht der indirekten Annahme von Intoleranz, sie wird im Fall der Annahme durch Dritte umgesetzt.
          B.) Toleranz ist eine moralische Maßnahme, die bestimmter Maßgabe folgt, sie folgt (anzunehmender) Sittlichkeit, soll heißen, das, was ertragen werden kann, muss bestimmt werden (vgl. auch mit (2)).
          C) Die Unterscheidung zwischen ‘Toleranz’, ‘Respekt’ & ‘Akzeptanz’ bleibt wichtich; besonderes Gerühre im neu- oder kulturmarxistischen Bereich soll zuvörderst Gebildete irritieren, wenn auch nicht nur die,

          MFG
          Dr. W

        • Keine “Toleranz der Intolzeranz” meint keine Akzeptanz von Hass,Zwang und Gewalt im Namen von Religion und Ideologie.
          Was soll daran schlecht sein.
          Relativisten allerdings können Intoleranz schnell einmal akzeptieren, sie sagen dann etwa:

          In Russland gelten russische Gesetze und Gebräuche. Wenn dort Homosexuelle eingesperrt und diskriminert werden ist das allein ein russisches Problem.

          • @ Herr Holzherr :

            Es kann sich auch in Russland bspw. wahlfrei in die Hintern gepöppelt werden, schauen’S gerne mal hier:
            -> https://de.wikipedia.org/wiki/Homosexualit%C3%A4t_in_Russland

            Was in R versucht wird, ist die Anwerbung von Jugendlichen zu unterbinden; nur mal so zum Vergleich: in der BRD war man dbzgl. und mittlerweile auch breit eingeräumt nicht immer sachnah.

            MFG
            Dr. W

          • @Martin Holzherr;
            Das Prinzip “keine Toleranz der Intoleranz” soll nicht abgelehnt werden, aber es darf auch nicht missbraucht werden zur Rechtfertigung oder Verschleierung eigener Intoleranz, denn “keine Toleranz” bedeutet an sich schon Intoleranz. Es ist folglich konfliktträchtig. Die öffentliche Rückweisung einer Meinung oder die Widerlegung einer Behauptung ist noch keine Intoleranz! Die andere Frage ist, wie man gegen wirkliche Intoleranz vorgehen kann. Gegen Intoleranz im Ausland kann man nur protestieren, als Individuum aber kaum etwas unternehmen. Möglich wären politische Maßnahmen wie Sanktionen. Eine weitere Überlegung muss sein, welche Maßnahmen und Mittel gegen Intoleranz zumutbar oder angemessen sind.

          • @Reutlinger: Richtig: Keine Toleranz bedeutet konkret, dass häusliche Gewalt bei Muslimen in Deutschland nicht toleriert wird und vor Gericht kommt.
            So soll es auch sein.

          • @M. Holzherr;
            Häusliche Gewalt ist an sich ein Straftatbestand, soweit Körperverletzung vorliegt. Hier wird nicht die Intoleranz als Motiv und in der Form häuslicher Gewalt bestraft. Intoleranz an sich ist nicht strafbar, sondern nur ihr Ausdruck als Gewalt. Das sollte scharf getrennt werden!

          • Keine Toleranz gegenüber Pegida oder keine falsche Rücksichtnahme gegenüber religiösen Gefühlen findet man bei der Internet-Recherche zu Keine Toleranz für Intoleranz

            Es stimmt, dass mit Keine Toleranz für Intoleranz meist keine strafrrechtlichen Forderungen verbunden sind. Die Forderung Keine Toleranz für Intoleranz ist meist eine moralische Aufforderung, Intoleranten entgegenzutreten und nicht etwa Rücksicht auf sie zu nehmen im Sinne von Auch Intolerante haben Gefühle, die nicht verletzt werden dürfen.
            Doch die Gefühle von Intoleranten dürfen verletzt werden meint der Spruch Keine Toleranz für Intolerante

            So gesehen finde ich den Spruch in Ordnung und ihren Einwand “Die Forderung “keine Toleranz der Intoleranz” ist daher häufig unangebracht und kann wiederum selber ideologisch oder politisch motivierte Intoleranz sein. “ nicht in Ordnung.

          • Tatsächlich hat Toleranz bei mir, wenn ich sie zu Ende denke immer das gleiche Problem wie mein Pazifismus, den ich auch gerne zu Ende denken würde: In einer realen Welt, in dnen viele Menschen nicht tolerant und nicht firedlich sind kann eine absolute Toleranz und ein absoluter Pazifismus nicht bestehen. Weil der absolut tolerante Mensch immer den Intoleranten tolerieren müsste, würde er früher oder später unterdrückt, weil der Pazifist gegen Gewalt nur gewaltfrei reagieren kann, würde er früher oder später erschossen (vereinfacht).

            Die schöne Idee hinter der Toleranz ist , dass sie eigendlich vernünftig ist. Ich will so leben und glauben wie ich es will, also ist es vernünftig das andere das auch dürfen, alles andere wäre ein logischer Widerspruch, sofern man nicht annimmt, dass man selbst anderen Menschen überlegen ist. Also funktioniert Toleranz, vorausgesetzt alle Menschen sind vernünftig. Da weder alle Menschen vernünftig noch tolerant sind und sehr dazu neigen sich, bzw. ihre eigene Weltsicht als anderen überlegen anzusehen, kommen wir in oben geschildertes Dilemma, das vollständige Toleranz dem Untergang geweiht ist.

            Also muss man in einer nicht idealen Welt auch beim Thema Toleranz Abstriche machen. Wo und wie viel ist die entscheidende Frage.
            Der politische Trend, alle möglichen komplexen Sachverhalte in Drei-Wort-Sätze oder noch weniger zu verpaken führt dann zu so sinnfreien Aussagen wie “keine Toleranz für Intoleranz”. Wer irgende etwas nicht toleriert ist per Definiton diesem Sachverhalt gegenüber intolerant, da beist die Maus keinen Faden ab.
            Wer etwas gegen Steinigungen von Ehebrecherinen einzuwenden hat ist deshalb noch lange nicht Islamfeindlich, er toleriert aber die Steinigung nicht. Oder, anderes Beispiel: Ein Moslem wird es nicht tolerieren (im Sinne von nicht gut finden), dass ich mit Schuhen in eine Moschee gehe. Darauf wird er mich vermutlich freundlich hinweisen. Da ich auch tolerant bin, toleriere ich seine Intoleranz meinen Schuhen gegenüber und ziehe meine Schuhe aus, wenn ich eine Moschee betrete.
            So gesehen ist Toleranz resp. Intoleranz ein Kontinum. Mein kultureller Hintergrund bestimmt wie tolerant ich gegenüber bestimmten Dingen bin(nicht tolerant gegen Steinigungen, Tolerant gegen Schufreie Moschee) .
            Mit Relativismus hat das, wenn ich das mit dem Relativismus in der vorhergehenden Diskussion weitgehend richtig verstanden habe, aber nichts zu tun, auch wenn man eventuell sagen könnte “dieser oder jener Staat ist relativ tolerant (weil er viele Dinge toleriert, die anderswo verboten sind)”.

            Relativismus wäre (so habs ich jetzt zumindest verstanden), zu behaupten, dass die Frage ob es so etwas wie Toleranz überhaupt gibt oder was Toleranz ist, nicht univerell definierbar ist, sondern vom kulturellen Background abhängt. Daran habe ich Zweifel.

          • @C.Altmannshofer. Gut argumentiert. Allerdings vergessen sie den Kulturrelativismus.
            Es geht eben nicht nur um (Zitat)“Relativismus wäre (so habs ich jetzt zumindest verstanden), zu behaupten, dass die Frage ob es so etwas wie Toleranz überhaupt gibt oder was Toleranz ist, nicht univerell definierbar ist”

            Es geht auch um die Frage, ob man nur schon deshalb toleranter (bereit mehr zu akzeptieren) ist, weil der Andere einer anderen Kultur angehört. In der Wikipedia liest man dazu:

            In die Kritik ist der Kulturrelativismus geraten, weil er u.a. verlangt, z.B. aus dem islamischen Kulturkreis stammenden Menschen das Recht zuzugestehen, die Menschenrechte nicht beachten zu müssen, weil diese ein Produkt der westlichen Kultur seien, und daher auch von Muslimen begangene Menschenrechtsverletzungen nicht angeprangert werden dürften, weil dies „rassistisch“, „ethnozentrisch“ und „eurozentristisch“ sei.

            Diese Haltung wird wiederum von anderen aus der islamischen Kultur stammenden Menschen angeprangert (z.B. Bassam Tibi). Diese führen zum Beispiel an, es sei gerade rassistisch, Menschen aufgrund der ihnen per Herkunft zugeschriebenen Kultur den Anspruch auf Menschenrechte verweigern zu wollen.

          • @Martin Holzherr
            Danke für die Erklärung und den Link.
            Damit zielte meine Argumentation natürlich am Thema des Relativismus vorbei. Jetzt könnte ich zu meiner “Verteidigung” vorbringen, dass es mir tatsächlich grade mehr um die Toleranz ging als um Relativismus, das würde mir aber auch nichts bringen, denn das Thema hat mich.
            Es ist tatsächlich, gar nicht so einfach damit klar zukommen, warum es die für alle gültigen Menschen-und Grundrechte geben soll, bzw. warum diese eine „höhere“ Berechtigung haben sollten als z. B. ein allmächtiger Gott, der die Menschen in Adelige und Bauern mit unterschiedlichen Rechten und Pflichten aufgeteilt hat. Im Grunde sind ja beide Konzepte nur Ideen. Sie sind nichts von Naturgesetzen gegebenes wie z.B. die Schwerkraft.
            Ich bin kein Philosoph und werde mich daher nicht zu einer Aussage hinreißen lassen, die Anspruch auf allgemeine Gültigkeit erhebt, aber mein „Gefühl“ (nach obenstehender Definition von Trepl als Unklarheit der Gedanken) sagt mir, dass das Konzept der Menschenrechte vernünftiger ist. Dafür muss man nun natürlich Argumente finden. Man könnt hier Ockham’s Razor bemühen. Das Konzept das alle Menschen gleich sind und die gleichen Rechte haben ist für meine Begriffe bestechend einfach, kommt ohne eine äußere Instanz (Gott) aus und lässt sich (vereinfacht) auf eine knappe Regel „Was du nicht willst das man dir tut…“ reduzieren. Einerseits.

            Andererseits ist auch die Herangehensweise berechtigt, zu sagen ein Mensch aus einem anderen Kulturkreis hat das „Recht“ etwas zu tun, was wir schlecht finden, weil sein Wertekodex es ihm erlaubt oder sogar vorschreibt.

            Wenn ich mich recht entsinne hat Daniel Defoe in „Robinson Crusoe“ die Thematik, zumindest im Prinzip, auch schon erörtert. Robinson hadert damit, dass er sich mit Freitag über die Frage des Kannibalismus zerstritten hat, und kommt zu dem Schluss, dass er Freitag gegenüber ungerecht war, seinen Kannibalismus zu verdammen , weil dieser in Unkenntnis des Christentums nicht fähig ist zu wissen, dass es unmoralisch ist. Nichts desto trotzt argumentiert er – nachdem er sich mit Freitag ausgesöhnt hat – gegen den Kannibalismus, weil er unterstellt, dass Freitag seinen Argumenten zugänglich ist, und überzeugt (bzw. bekehrt) ihn schließlich. [Anm. Ich hoffe, ich habe da nichts durcheinander gebracht oder überinterpretiert. Es ist sehr lange her, dass ich das Buch gelesen habe und ich habe es nicht mehr zur Hand um die entsprechende Stelle nachzulesen]

            Ich komme für mich selber zu dem gleichen Schluss. Es wäre ungerecht, andere Kulturen, die die Menschenrechte nicht als Konzept kennen dafür per se zu verdammen, es wäre aber rassistisch, dort nicht für die Menschenrechte einzutreten, weil man damit unterstellen würde, dass die Angehörigen dieser Kultur nicht fähig sind unsere Argumente zu verstehen. Somit denke ich das die Kritik am Kulturrelativismus, er wäre selbst rassistisch, berechtigt ist.

            Der Umkehrschluss kann aber nicht sei, dass es richtig bzw. moralisch geboten ist, anderen Kulturen die westlichen, aufklärerischen Werte zu verordnen (was „der Westen“ nach meiner Auffassung aber häufig macht). Man kann nur diskursiv für „unsere“ Werte streiten, was aber zumindest die grundsätzliche Möglichkeit enthalten muss, zu dem Schluss zu kommen, dass der Andere die besseren Argumente für seine Werte hat, also im Recht ist. Dann müssten wir tatsächlich unsere Werteordnung überdenken.

            Um nun zum Kern ihrer Frage zurück zu kehren: „Es geht auch um die Frage, ob man nur schon deshalb toleranter (bereit mehr zu akzeptieren) ist, weil der Andere einer anderen Kultur angehört.“ Hier würde ich es ähnlich halten wie Defoe. Es wäre falsch, einen Menschen, der die Menschenreche nicht kennt (und daher nicht anerkennen kann) dafür zu verdammen, es wäre aber ebenso falsch, ihn nicht von den westlichen Grundwerten überzeugen zu wollen.

            Die Tatsache, dass es in allen Kulturkreisen viele Menschen gibt, die für diese Werte eintreten, jene die politisch die Menschenrechte relativieren oft aber sehr durchsichtige Machterhaltungsinteressen haben (Das saudische Königshaus, Chinas KP etc.) stimmt sehr hoffnungsvoll, dass das Konzept der westlichen Werte eben doch – zumindest momentan – das beste verfügbare und für alle Menschen überzeugendste ist.
            Allerdings sollte man das durch die Aufklärung erreichte auch nicht als das Ende der Fahnenstange ansehen. Es ist durchaus möglich, dass sich im argumentativen Diskurs und im Austausch mit anderen Kulturen auch Defizite unsere „westlichen Werte“ zeigen und dafür Lösungen gefunden werden, die wir heute eventuell noch nicht ahnen können.

          • @C.Altmannshofer: Ja, es gibt Kulturunterschiede, die zu Konflikten führen können beispielsweise beim Zusammenleben mit Menschen anderer Kultur (Extremfall:Heirat in anderen Kulturkreis).
            Wer im Westen lebt muss mit dieser Kultur hier zurechtkommen, wer in Russland, China oder einem islamischen Land lebt muss mit der Kultur dort leben.
            Es braucht aber Toleranz gegenüber Fremden/Zugezogenen. Diese Toleranz sollte aber nicht so weit gehen, dass für Menschen anderer Kultur nicht mehr die hier geltenden Gesetze angewandt werden und sie auch nicht mehr den Schutz erhalten, den diese Gesetze garantieren. Auch Menschen islamischen Glaubens sind Menschen und können damit – wenn sie hier leben – die Menschenrechte in Anspruch nehmen. Selbst wenn ihre Kultur diese Rechte nicht anerkennt.
            Ein Multikulturalismus und Kulturrelativismus, der die andere Kultur so weit schützen will, dass ihre Gesetze und Autoritäten auch bei uns gelten, selbst wenn diese Gesetze in Konflikt mit den hiesigen stehen, liegt meiner Ansicht nach falsch.
            Der Islam hält gar nichts vom Multikulturalismus in diesem Sinne.
            Der Islam kennt den Begriff des Dār al-Islām (Haus des Islams), das alle Gebiete unter muslimischer Herrschaft bezeichnet. Die dort lebenden sind entwederr Muslime oder Dhimmis. Dhimmis sind Schutzbefohlene minderen Rechts Wikipedia: “Nichtmuslime aus dem Dār al-Ḥarb müssen einen zeitweiligen Schutzvertrag (Aman) abschließen, wenn sie den Dār al-Islām betreten wollen, da sie als so genannte Ḥarbīs sonst keinerlei Rechte hätten, nicht einmal das Recht auf Leben. “
            Nebem dem Haus des Islam – welches die muslimischen Gebiete umfasst – gibt es noch das Dār al-Ḥar, das Haus des Krieges. Das sind alle nichtmuslimischen Gebiete.

            Diese Haltung im Islam gegenüber anderen Kulturen scheint mir das andere Extrem (verglichen mit dem alles tolerierenden Multikulturalismus), denn sie gibt dem Fremden nicht einmal Grundrechte.

            Hier haben wir einen kulturellen Konflikt, sogar eine Art Metakonflikt, denn es geht dabei nicht um irgend einen kulturellen Unterschied sondern um die Haltung gegenüber anderen Kulturen überhaupt. Dass Fremde kulturelle Gegebenheiten bis zu einem gewissen Grade akzeptieren müssen, scheint mir klar. Doch Fremde sollten nicht so schlecht gestellt sein, dass sie nicht einmal über Grundrechte verfügen. Ein Multikulturalist, der Kultur-Fremden die hiesigen Rechte nicht aufzwingt, ja die hiesigen Rechte nicht einmal gewähren will, denn der Fremde hat ja seine eigenen, mitgenommenen Rechte, macht im Endeffekt Zugewanderten ebenfalls zu Dhimmis, zu Bewohnern minderen Rechts.

          • @ Herr Holzherr :

            Keine “Toleranz der Intolzeranz” meint keine Akzeptanz von Hass,Zwang und Gewalt im Namen von Religion und Ideologie.
            Was soll daran schlecht sein.

            Daran ist gar nichts schlecht, es ist sogar essentiell aufklärerische “westliche” Gesellschaftssysteme durch entsprechende Dienste ist gesellschaftlicher Selbstschutz, vgl. auch :
            -> http://www.welt.de/print-welt/article154640/Karl-Popper-ueber-Toleranz.html

            Popper hat dies vor dem Hintergrund des seinerzeit noch existierenden Nationalsozialismus geschrieben, er meint natürlich “echte” Intoleranz, die systemgefährdend ist.
            Es wurde ja auch dementsprechend gesellschaftlich implementiert, Aufrufe zur Gewalt und Aufrufe zu Gesetzesverstößen gehen z.B. als Freiheit der Meinungsäußerung nicht.
            Gefährlich wird der Grundsatz ‘Keine Toleranz der Intoleranz!’ genau dann, wenn “unechte” Intoleranz gemeint ist, wenn einfach nur behauptet wird, dass dieses oder jenes intolerant und zu kriminalisieren sei.
            Der Relativist ist hier übrigens erfahrungsgemäß schnell dabei mit Toleranz- und Intoleranzdefinitionen zu kommen, die höchst gefährlich sind.
            Es wird immer mehr öffentliche Meinungsäußerung kriminalisiert, die Strafanzeige ergänzt mittlerweile fast mandatorisch, wenn im öffentlichen Diskurs bestimmte Themen bearbeitet werden, was wohl auch darin begründet liegt, dass sich in einer zunehmend “multikulturellen” Gesellschaft schnell gegenseitig auf die Füße getreten werden kann.

          • @ Herr Altmannshofer :

            Alles grundsätzlich sehr zustimmungsfähig, von hier aus betrachtet, was Sie geschrieben haben.

            Hierzu noch:

            Also muss man in einer nicht idealen Welt auch beim Thema Toleranz Abstriche machen. Wo und wie viel ist die entscheidende Frage.

            Die grundsätzliche Idee der Aufklärung ist das Sapere Aude, dass zwar in seiner gesellschaftlichen Implementation hoch komplexe Systeme bedingt hat, aber auch die Schwarmintelligenz sozusagen lösen konnte.
            Die Aufklärung ist eine sittliche Setzung.
            Wird sie angenommen, ergeben sich bspw. Menschenrechte (vs. Menschenwürde, die einen anderen Hintergrund zu haben scheint, vielleicht einen religiösen) und Toleranz und deren Grenzen.
            Der einzelne Mensch muss ja die Möglichkeit haben zu wagen selbst zu denken und selbst zu handeln, insofern drängen bis zwingen sich bspw. weitere Konzepte auf.
            Der Relativismus ist sozusagen die sittliche Setzung, dass sittlich nicht gesetzt werden kann, soll oder darf.
            Sowohl bei dieser Definition des Relativismus wie auch beim oben zitierten “Keine Toleranz der Intoleranz!” ergeben sich scheinbar rekursiv Widersprüche, die aber aufzulösen sind, wenn die Geltungsbereiche der gleichen (!) Begriffe (‘Toleranz’ bzw. ‘sittliche Setzung’) klar sind, so dass also Schein-Paradoxie vorliegt.

            MFG + einen schönen Tag des Herrn noch,
            Dr. W

      • @anton reutlinger
        Darauf muss ich jetzt doch nochmal reagieren. Angesichts Ihrer weiteren Kommentare bin ich mir sicher, dass ich Sie _nicht_ missverstanden habe.
        Sie schreiben im Kommentar vom 10. Dezember 2015 9:27 (weiß jetzt nicht, wie tief unten der landet, daher der Link)
        …… und nebensächliche Beispiele sollte man nicht zum Hauptthema machen.
        Dann sollten sie im Geklammerten auch nicht so fürchterlich falsche ‘nebensächliche‘ Beispiele bringen. Ich denke mal, das Beispiel in der Klammer: (z.B. von den Kirchen oder Klerikern ). bezieht sich auf diesen Satz: „Intoleranz beginnt erst dort, wo Freiheiten und Rechte eingeschränkt oder Zwänge gefordert werden“

        Da Sie später schreiben: „Eine Gegenmeinung zu haben ist noch keine Intoleranz, wie oftmals behauptet wird,“ eben, eben (!), dann aber weiter schreiben: „Die Intoleranz beginnt mit der substanziellen Behinderung oder Einschränkung von Rechten und Freiheiten oder mit dem Auferlegen von Zwängen, also beispielsweise mit polizeilichen Maßnahmen, wie in der Türkei, in Russland und vielen anderen Ländern. und damit nur etwas abgewandelt das erste Zitat wiederholen, heißt das doch, dass Sie das erste Beispiel in Klammern: ( „z.B. von den Kirchen oder Klerikern“ ) auch wenn Sie es hier nicht mehr eigens aufzählen, ebenso auf diese Intoleranz beziehen.

        Es ist aber so:
        wenn “Gläubige […eben Kirche und Kleriker] (….)sich den Vorgaben nicht kritik- oder widerstandslos unterordnen wollen“ dann ist das – je nachdem WIE das geschieht – etwas völlig anderes, nämlich notwendiger, positiver Bestandteil eines innerkirchlichen Selbstkorrektivs und hat mit Intoleranz rein gar nichts zu tun, weder von ‚unten‘ noch von ‚oben‘. Ein solches auf Gegenseitigkeit beruhendes innerkirchliches Selbstkorrektiv ist dem christlichen Glauben immanent. Ist für ihn grundlegend, ist bei ihm zuerst einmal das Normalste vom Normalen. Wie wir Menschen aufgrund unserer charakterbedingten Einseitigkeiten je individuell damit umgehen und das speziell wenn in verantwortlicher Stellung, steht auf einem anderen Blatt. Es hängt natürlich auch hier, wie in allem, von den jeweiligen Individuen einer Generation ab und davon, wie weit sie in und mit der Gemeinschaft der Glaubenden das Korrektiv de Facto ermöglichen, also etwa in den Strukturen verankern, in Gesetze packen und sich auch daran halten. Grundsätzlich hat die Bibel aber dieses Korrektiv quasi ‚naturgemäß‘ in sich. Entscheidend ist, wieweit es tatsächlich umgesetzt wird. Darin ist die Kirche als Gemeinschaft von Gläubigen wie alle größere Gruppierungen selbstverständlich auch noch im Lernen begriffen.

        Was Sie mit Ihrem Beispiel anprangern wollen, ist rein menschliches Versagen, menschliche Fehldeutung etc. im Umgang mit der Botschaft des Glaubens.

        Sie schreiben weiter: „Der religiöse Glaube wird in aller Regel schon den Kindern eingetrichtert, so dass von Freiwilligkeit keine Rede sein kann und Konflikte damit vorprogrammiert sind.

        Ich habe das völlig anders erlebt und bin mir deshalb sicher, dass religiöser Glaube sozusagen aus seiner Natur heraus nie eingetrichtert werden kann. Was da wenn den Charakter des Eintrichterns hat, entspringt auch wieder charakterbedingten Fehldeutungen und in ihnen wurzelndem Missbrauch der Glaubensbotschaft für menschlich egoistische Zwecke, was sich natürlich auch, wenn von starken Charakteren vertreten, in gemeinschaftlichen Strukturen niederschlagen kann. Weshalb sie gelegentlich auch von außen der Korrektur bedarf. Deshalb ist ja die Selbstkorrektur in einer größeren gesellschaftlichen Gruppierung ein so langwieriger Prozess. Und angesichts des Pensums, das insgesamt menschheitlich ansteht, sind 2000 Jahre nicht viel.

        Wenn aber einem Kind der Glaube vermittelt wird, so kann ihm nichts eingetrichtert werden. Es wird vielmehr, völlig anders herum, etwas in ihm geweckt, was immer schon grundlegend und lebenspendend in ihm verborgen da war. Dem Kind wird geholfen dieses Grundlegende ins Bewusstsein zu heben.

        Mir jedenfalls ist mit der Zeit genau das bewusst geworden. Ab da war ich meinen Eltern dankbar, dass sie den Glauben in mir unterstützt und bewusst gemacht haben. Aber er wurde mir nicht von außen eingepflanzt, war nichts Fremdes.

        Der Fortschritt im Prozess der Selbstkorrektur hängt in der christlichen Kirche allem voran davon ab, inwieweit die Gläubigen den von Jesus geforderten Konsens, das „Eines Sinnes“ wie er es ihnen in seinem Abschiedsreden ans Herz legt, grundsätzlich für möglich halten und in seinem Sinne anstreben. Das ist ein ganz spezieller Prozess, den ich hier jetzt nicht näher erläutern kann. Gefordert ist er letztlich auch in der ganzen Gesellschaft. Demokratische Prozesse können gute Vorläufer dafür sein, aber sie sind es nicht zwingend und derzeit noch in Gefahr, diese Chance zu vertun oder für gefährlich lange Zeit zu verzögern.
        …aber das führt hier zu sehr vom Thema ab. …und ich kann das im Moment auch nicht weiter vertiefen.

    • @ Herr Reutlinger :

      Glück, Gerechtigkeit, Freiheit, Liebe, Moral

      ‘Glück bedeutet nicht zu tun, was gemocht, sondern zu mögen, was getan wird.’ – soll heißen: ein dbzgl. Zustand kann subjektiv und nur subjektiv unter bestimmten Bedingungen festgestellt werden, wenn subjektiv Zufriedenheit vorliegt.
      Es kann auch etymologisch versucht werden, die Etymologie ist oft begrifflich entscheidend, abgesehen natürlich von einer Fachsprache mit eigenem Bedeutungswesen.
      ‘Gerechtigkeit’ = ‘sittliche Richtigkeit’
      ‘Freiheit’, frei von etwas sein, die sog. Negative Freiheit – der positive Freiheitsbegriff darf abgelehnt werden.
      ‘Liebe’ = ‘besondere emotional grundierte Zuneigung’
      ‘Moral’ s.o.

      Ist natürlich harte Arbeit am Begriff.

      BTW, bei der Toleranz ist Richard von Weizsäcker dem Schreiber dieser Zeilen mal ganz übel aufgefallen, weil er in einem TV-Interview die Meinung vertrat, dass Toleranz gegenüber der Intoleranz machbar wäre, “Richie” hob dabei hervor, dass er sich hier gezielt gegen die Meinung bestimmter Philosophen stelle, ohne Popper zu nennen.

      MFG
      Dr. W

      • Über Begriffe, mit ihren Bedeutungen und ihrem Gebrauch, kann man endlos diskutieren, das ist keine Frage. Die Philosophen tun das tatsächlich, wie z.B. über Willensfreiheit. Die Relativisten behaupten nicht, dass es keine Wahrheit gebe, sondern dass jede Wahrheit sich auf die Bedeutungen der verwendeten Begriffe bezieht, dass es für Wahrheit keine empirische oder natürliche Letztbegründung gibt. Die Wahrheit der Logik ergibt sich aus bloßen Mechanismen der Sprache, aus den Bedeutungen logischer Symbole wie “und” bzw. “oder”. Empirische Wahrheit beschränkt sich nicht auf “richtig” und “falsch”, sondern schließt das “unbekannt” oder “ungewiss” mit ein. Die Sprache erlaubt solche Aussagen (Hypothesen, Vermutungen), im Vorgriff auf Beobachtungen oder Erfahrungen, z.B. als Gegenstand der Forschung.

        Die Skeptizisten (wie auch die meisten Idealisten) behaupten nicht, dass es keine Realität außerhalb des Bewusstseins gebe, sondern dass für wahre oder realistische Erkenntnis über die Welt keine Rechtfertigung möglich ist. Der Skeptizismus muss sogar eine Realität annehmen, sonst hätte er keinen Sinn. Da der Mensch aus derselben Materie besteht wie die übrige Welt, unterliegt er denselben Wechselwirkungen und somit denselben “Realitäten”. Die sinnliche Wahrnehmung liefert zwar kein Spiegelbild der realen Welt, aber sie muss daher auf strukturellen Kopplungen der Materie beruhen, sofern die Welt nicht völlig chaotisch ist, was wiederum durch die Langzeitexistenz und Regelmäßigkeit von Leben als widerlegt gelten darf. Die Naturgesetze liefern dazu eine zusätzliche Bestätigung, aber keine Rechtfertigung.

  21. Lieber Herr Trepl, ich bin zugegebenermaßen reichlich irritiert bereits über Ihre Befürchtung, mein von Ihnen angeführter Satz könnte in irgendeiner Form strafrechtlich relevant sein. Vielleicht haben Sie inzwischen professionelle Auskunft einholen können. Ich selbst bin juristischer Laie, aber dass es in Deutschland einen Straftatbestand des „Tolerierens“ von was auch immer geben könnte, am Ende sogar von etwas, was Rechtsprechung souveräner anderer Staaten darstellt, halte ich doch für ausgeschlossen. Das liefe ja auf ein Gesinnungsstrafrecht hinaus, von dem sich Deutschland doch aus einschlägiger Erfahrung heraus verabschiedet hat. Auch kann ich Ihren Gedankensprung nicht nachvollziehen, wie sie von meinem „einer Gemeinschaft ihre Moral lassen“ zu der Unterstellung einer affirmativen normativen Haltung kommen („die sollen das tun“). Mit Verlaub, das ist hanebüchen.

    Zu dem, was dann kommt, möchte ich gar nichts mehr äußern. Ich halte Ihre Ausführungen und Vergleiche für dermaßen verfehlt, dass ich mir von einer weiteren Fortführung dieser Diskussion nichts mehr versprechen kann. In dem, worauf Sie Bezug nehmen, kann ich meine Position nicht finden.

    Daher lieber auf ein anderes Mal zu einem anderen Thema.

    • “… aber dass es in Deutschland einen Straftatbestand des „Tolerierens“ von was auch immer geben könnte, … halte ich für ausgeschlossen”

      Des Tolerierens sicher nicht, aber was die Aufforderung zum Tolerieren (hier von Mord) angeht, so bin ich mir nicht so sicher. Der Grund, weshalb ich dann doch zu der Meinung kam, es könne doch kein Straftatbestand vorliegen (haben Sie das überlesen?), ist, daß die Morde außerhalb des Geltungsbereichs der deutschen Rechtsprechung stattfinden sollen.

      “Auch kann ich Ihren Gedankensprung nicht nachvollziehen, wie sie von meinem „einer Gemeinschaft ihre Moral lassen“ zu der Unterstellung einer affirmativen normativen Haltung kommen („die sollen das tun“). Mit Verlaub, das ist hanebüchen.”

      Nee, nee, so leicht können Sie sich da nicht herauswinden. Sie reden von Moral, die eine bestimmte Kultur, ein Volk usw. hat. Was ist die Moral, wenn nicht das, wonach sie sich richten sollen? Sie sagen doch, die sollen sich nach dem richten, was ihre Moral (“Sharia”) fordert. Die Spitzfindigkeit, daß die das nur dürfen, nicht sollen, daß Sie es ihnen erlauben, obwohl es ihnen unangenehm ist, mach ich nicht mit. Wenn man sagt: in ihren Ländern mögen sie sich nach ihren Moralvorstellungen richten, dann heißt das, sie sollen das tun, was diese Moralvorstellungen verlangen.

      “Zu dem, was dann kommt, möchte ich gar nichts mehr äußern. Ich halte Ihre Ausführungen und Vergleiche für dermaßen verfehlt,”

      Das dachte ich mir. So reagieren alle, die man auf erschreckende Konsequenzen ihres Denkens hinweist: Das hab ich doch nun wirklich nicht gewollt. Das glaub ich Ihnen auch. Aber es ist eine Konsequenz dessen, was Sie geschrieben haben. Sie werden doch nicht behaupten wollen, bei Ihrem Satz “In der Tat bin ich der Ansicht, dass man den Muslimen ihre Moral lassen sollte, nämlich in ihren eigenen Ländern“ haben Sie gedacht, der soll wirklich nur für die Muslime gelten, sozusagen als ein Sondergesetz für eine bestimmte Religion, und Sie hätten den Satz nicht etwa allgemein gemeint “In der Tat bin ich der Ansicht, dass man den verschiedenen Kulturen, Völkern, religiösen Gemeinschaften … ihre Moral lassen sollte, nämlich in ihren eigenen Ländern“.

      • @udwig Trepl
        “Was ist die Moral, wenn nicht das, wonach sie sich richten sollen? Sie sagen doch, die sollen sich nach dem richten, was ihre Moral (“Sharia”) fordert. Die Spitzfindigkeit, daß die das nur dürfen, nicht sollen, daß Sie es ihnen erlauben, obwohl es ihnen unangenehm ist, mach ich nicht mit. Wenn man sagt: in ihren Ländern mögen sie sich nach ihren Moralvorstellungen richten, dann heißt das, sie sollen das tun, was diese Moralvorstellungen verlangen.”

        diese Logik leuchtet mir nicht ganz ein.
        Nehmen wir also den Fall – im Lande X gilt es als moralisch geboten, Ehebruch mit Steinigung zu bestrafen. “Ich” (in “”) toleriere das. Nun passiert es in X, daß die Steinigung unterbleibt. Erst, wenn “ich” nun empört wäre – “sie befolgen ihre eigene Moral nicht” – würde “ich” doch statuieren “sie _sollen_ steinigen”.

      • heißt “eine ‘unmoralische’ Moral in X zu tolerieren” soviel wie “die Leute in X partiell für unzurechnungsfähig halten”?

        • Etwas zu tolerieren bedeutet, nichts dagegen zu unternehmen, es stillschweigend zu billigen oder zu akzeptieren, obwohl das “Etwas” und seine Folgen bekannt sind. Eine angebliche Moral ist noch keine Tat. Dagegen kann man also höchstens protestieren, wenn es außerhalb eigener Machtgrenzen liegt.

          Eine strafbare Tat zu tolerieren kann selber strafbar sein, wenn die Tat hätte verhindert oder unterbunden werden können, mit zumutbaren Mitteln. Dieser Sachverhalt wird hierzulande als “mangelnde Zivilcourage” diskutiert, bzw. kann als unterlassene Hilfeleistung geahndet werden.

          Gegen vermeintliche Unmoral in fremden Staaten kann man nicht viel unternehmen, ohne eventuell mit dem Völkerrecht, mit dortigen Gesetzen oder mit politischen Gegebenheiten in Konflikt zu geraten. Obendrein ist “Moral” ein sehr schwammiger, konfliktträchtiger und klärungsbedürftiger Begriff, wo er über die Menschenrechte oder grundlegende Bürgerrechte hinausgeht (z.B. Religionsfreiheit).

          • Obendrein ist “Moral” ein sehr schwammiger, konfliktträchtiger und klärungsbedürftiger Begriff, wo er über die Menschenrechte oder grundlegende Bürgerrechte hinausgeht (z.B. Religionsfreiheit).

            ‘Mos’, ‘Mores’ & ‘Moralitas’, vgl. auch mit der ‘Ethik’, meint die Gewohnheit des einzelnen Seins und das der Menge, wobei regelmäßig Ideologien oder Bilderlehren ergänzen, notwendigerweise ergänzen.

            Eine Fixierung auf die sog. Menschenrechte (die in den islamischen Staaten nicht angenommen werden, in ihrer 48er-Erklärung, zynisch sozusagen unter den Vorbehalt der Scharia gestellt werden) bietet sich an, ist aber unzureichend.
            Moral kann alleinig so nicht sinnhaft bearbeitet werden.

            Die Rechtspflege, auch in “westlichen” Staaten, folgt, für einige vielleicht: übärraschend, der Moral, in ihrem Geltungsbereich wird “einiges” mehr nicht toleriert als die Hinnahme einer strafbewehrten Tat.

            Insofern fand der Schreiber dieser Zeilen auch diesen Einwurf eines anderen Autors, der mit – ‘Zu dem, was dann kommt, möchte ich gar nichts mehr äußern. Ich halte Ihre Ausführungen und Vergleiche für dermaßen verfehlt’ – begann, zuvörderst lustig.

            Zudem kommt die wichtige Unterscheidung zwischen ‘Tolerierung’, Akzeptanz’ & ‘Respektierung’ manchmal “etwas kurz” in der BRD, woll?!

            MFG
            Dr. W (der im Abgang noch kurz notiert, dass es keine Religionsfreiheit, im absoluten Sinne, gibt und nie gab, auch in der BRD nicht; sinnhafterweise nicht)

    • @ fegalo :

      Das liefe ja auf ein Gesinnungsstrafrecht hinaus, von dem sich Deutschland doch aus einschlägiger Erfahrung heraus verabschiedet hat.

      Auch das ist unrichtig.

  22. @Ludwig Trepl / Vernunft (6. Dezember 2015 16:40) .

    »Der gemeinsame Maßstab ist die Vernunft. Jeder Mensch, der an Diskussionen über Werte teilnimmt, hat die.«

    Geht hier nicht etwas durcheinander? Dass nur die Vernunft der gemeinsame Maßstab sein kann, sehe ich ein, aber dass sie jeder Mensch hat, davon müssten sie mich erst noch überzeugen. Was jeder (gesunde) Mensch aus meiner Sicht tatsächlich hat, ist der Verstand, das Vermögen, logisch und folgerichtig denken zu können. Das ist das, was vorausgesetzt werden muss, damit man überhaupt zu Vernunft, d. h. zu einem vernünftigen (moralischen) Urteil gelangen kann. ‚Vernunft‘ ist, so scheint mir, ist das Ziel, nicht das Mittel.

    Das merkt man, finde ich, schon daran, dass Sie ‚Vernunft‘ als die allerletzte und höchste (menschliche) Instanz in Fragen der Ethik betrachten, danach kann nur noch Gott kommen. Und wer nicht mehr auf Gott verweisen kann, für den ist die Vernunft dann wirklich das Allerhöchste, ein Ziel, das wir zwar anstreben, aber praktisch nicht erreichen können. Eben weil wir nur unseren kleinen menschlichen Verstand besitzen.

    Ich glaube, in diese Richtung hat auch @fegalo argumentiert. Sein letzter Kommentar ist, nachdem ich ihn gelesen hatte, plötzlich verschwunden. Was ist passiert?

    • @ Balanus

      “Das merkt man, finde ich, schon daran, dass Sie ‚Vernunft‘ als die allerletzte und höchste (menschliche) Instanz in Fragen der Ethik betrachten, danach kann nur noch Gott kommen. Und wer nicht mehr auf Gott verweisen kann, für den ist die Vernunft dann wirklich das Allerhöchste, …”

      Mehr nebenbei: Nach der im Katholizismus vorherrschenden Lehre kommt nicht nach der Vernunft nur noch Gott, sondern die kommen gleichzeitig, weil Gott nämlich vernünftig ist, sozusagen der Inbegriff von Vernunft. Natürlich ist unsere endliche Vernunft nur ein blasser Abklatsch der göttlichen; an der läßt uns Gott in seiner Gnade teilhaben. Im Protestantismus kam diese Hochschätzung der Vernunft erst später, aber dann sehr kräftig zur Geltung durch verschiedene Philosophen, vor allem Leibniz und Kant.

    • @ balanus

      “Dass nur die Vernunft der gemeinsame Maßstab sein kann, sehe ich ein, aber dass sie jeder Mensch hat, davon müssten sie mich erst noch überzeugen.”

      Es geht hier nicht um Virtuosen der Vernunft, sondern sozusagen um deren Minimalversion: Wenn ein Mensch dieses Mindestmaß von Vernunft hat, dann nennen wir ihn “zurechnungsfähig”, dann gilt er uns als “verantwortlich” für das, was er tut, dann ist er “Person”. Der Gedanke ist also ziemlich tautologisch: Der wahre, gewissermaßen vollständige Mensch ist durch dieses Mindestmaß an Vernunft definiert. – Aber nur “ziemlich” tautologisch, nicht ganz. Denn wer dieses Mindestmaß an Vernunft nicht hat, ist trotzdem ein Mensch, und wir haben ihm gegenüber Fürsorgepflichten, wie wir sie gegen ein Tier nicht haben (Allerdings bin ich der vielleicht nicht gerade mehrheitsfähigen Meinung, daß wir auch gegen Tiere Fürsorgepflichten haben).

    • Man kann morgens vernünftig und abends unvernünftig sein. Vernunft beschreibt das Verhältnis des Menschen zur Welt. Sie kann sich also so verändern, wie sich der Mensch in seiner Entwicklung und wie sich die Welt ändert (wissenschaftlich, technologisch, politisch, kulturell). Man muss deutlich unterscheiden zwischen der umgangssprachlichen Vernunft und der philosophischen Vernunft, insbesondere bei Kant etwa. Der Begriff der Vernunft suggeriert ein eigenständiges Agens, so wie Geist, deshalb wäre es angebrachter, von Vernünftigkeit als Eigenschaft einer menschlichen Ausdrucks- oder Verhaltensweise zu sprechen. Nur daran kann sie erkannt werden. Voraussetzungen für Vernunft sind Wahrnehmungsvermögen, Erinnerungsvermögen (Gedächtnis), Denk- und Urteilsvermögen (Verstand), Bedingungen sind Wissen oder Erfahrung (über Folgen des Handelns), sowie eine gewisse Freiheit des Willens, der Entscheidung und des Handelns.

  23. Sie haben, Herr Trepl, mit diesem Beitrag nun schon zum wiederholten Mal das Thema Werterelativismus angeschnitten. Bislang habe ich es noch nicht geschafft, die Meinung, die ich dazu vertrete, mit Argumenten ausreichend zu untermauern, vielleicht deswegen, weil sie anthropologisch-metaphysisch ist.

    Ihren Überlegungen zur Rolle des Naturalismus (ich glaube, man kann diesen Begriff ohne große Simplifizierung durch „Materialismus“ ersetzen – was die Argumentation etwas plastischer macht) stimme ich ganz überwiegend zu. Auch das Thema „Scham“, welche gewisse Teile unserer Gesellschaft für die kulturelle Position des „weißen Mannes“ heimsucht, ist ein sehr interessantes und inzwischen durchaus wichtiges Thema geworden.

    Dennoch glaube ich, dass dem Naturalismus/Materialismus in der eigentlichen Diskussion um den Relativismus der Werte nur eine untergeordnete Rolle zukommt, und dass es vielleicht sogar besser ist, das Thema nicht primär vor der Folie materialistischen Denkens zu behandeln.
    Ich zähle mich gewiss nicht zu den Relativierern in Hinsicht auf Moral und Werte, neige eher der Annahme eines Naturrechts gegenüber einem blanken Rechtspositivismus zu, und kann mich dennoch nicht davon überzeugt erklären, dass es nicht verschiedene, und in ihrer Unterschiedlichkeit dennoch jeweils gültige Wert- und Moralsysteme geben kann. Gleichzeitig würde ich jedoch bestreiten, dass dies eine Relativierung der je eigenen Wertordnung darstellen muss (also gleichsam deren Hypothetisierung).

    Wir wissen (die analytischen Anstrengungen der abendländische Philosophie haben es ans Licht gebracht), dass sich Moral und Werte nicht letztgültig rational begründen lassen, dass jede rationale Rechtfertigung immer bereits einen Bestand an zugestandenen Überzeugungen voraussetzt, im regelhaften Verweis auf welche dann die Rationalität besteht.

    Meine (metaphysische) These ist, dass Menschen/Völker sich mit vollem Recht ganz verschieden verankern im Verständnis ihrer selbst und ihrer Existenz. Auch die westliche Philosophie und Wissenschaft hat nichts hervorgebracht, was bezüglich der Rechtfertigung der ursprünglichsten Verankerung unseres Weltverhältnisses auf belastbarere Fundamente verweisen kann als andere. Wir sind nur besser, was die Durchdringung und Aufklärung ihrer rationalen Strukturen betrifft.
    Um Wertsysteme miteinander zu vergleichen, müsste man einen gemeinsamen Maßstab anlegen. Genau den gibt es nicht, da die großen Wertsysteme selbst jeweils letzter Maßstab sind. Als Maßstab tritt hier das vorherrschende Selbstverständnis „als Menschen“ innerhalb einer Gemeinschaft auf. Der Mensch ist darin entweder Geschöpf einer normsetzenden Instanz, oder Glied einer für sich bestehenden kosmischen Ordnung oder aber – wie in der westlichen Moderne – Zufallsprodukt blinder Prozesse der Materie. Dieses Selbstverständnis ist jeweils gelebtes Selbstverständnis, wie es sich vielleicht am markantesten in den Jenseitsvorstellungen und das Verhältnis zu Sterben und Tod manifestiert. Schließlich kommt daran niemand vorbei.

    Menschliches Selbstverständnis, wie es sich unterschiedlich z.B. im Islam oder in der westlichen, wissenschaftlichen Moderne ausdrückt, ist in diesen Ausdrucksformen miteinander nicht kompatibel oder aufeinander reduzierbar. Auch das westliche Werkzeug der Rationalität stößt bald an eine Grenze.

    Wir sollten also die faktische Vielgestalt nicht mehr relativierbarer Normensysteme anerkennen, ohne den Anspruch auf Unbedingtheit, den das eigene System erhebt, aufzugeben. Gleichzeitig sind sowohl Ansprüche fremder Normsysteme an Mitglieder des eigenen zurückzuweisen, und jedwede Missionstätigkeit verbietet sich. Das gilt auch für die Beglückung der gesamten Welt durch Exporteure westlicher Wertmaßstäbe. Mir ist bewusst, dass dies nicht ohne Widersprüche zu haben ist, sowohl praktische als auch logische.

    Und eine letzte Bemerkung: Die Forderung, dass Muslime sich hierzulande an deutsches Recht zu halten haben und sich nicht auf die Forderungen der Sharia berufen dürfen, ist berechtigt, weil es einen Unterschied gibt zwischen dem Normsystem des staatlichen Rechts und dem der Moral. Wer, wie die frühen Christen, den Konflikt nicht vermeiden will, muss die staatlichen Sanktionen auf sich nehmen.

    • Ich kann Ihnen hier – was ja nicht oft vorkommt – nicht zustimmen.

      Das „Wir wissen (die analytischen Anstrengungen der abendländische Philosophie haben es ans Licht gebracht), dass sich Moral und Werte nicht letztgültig rational begründen lassen,…“ bestreite ich. Das ist eine Auffassung innerhalb der abendländischen Philosophie, nicht die nun endlich ans Licht gekommene, gültige Auffassung; man streitet ja über sie.

      Das: „Um Wertsysteme miteinander zu vergleichen, müsste man einen gemeinsamen Maßstab anlegen. Genau den gibt es nicht, da die großen Wertsysteme selbst jeweils letzter Maßstab sind“ ist auch falsch. Der gemeinsame Maßstab ist die Vernunft. Jeder Mensch, der an Diskussionen über Werte teilnimmt, hat die. Und die verlangt, daß man, wenn verschiedene Auffassungen aufeinander treffen, diskutiert, welche denn nun die richtige sei, die eine, die andere oder keine von beiden. Dabei gibt es keine Stufe, auf der das aufhört und man sich auf ein „das ist nun einmal unser ‚großes Wertsystem’ zurückziehen kann. Auch wenn die „großen Wertsysteme“ aufeinander stoßen, geht das ganz praktisch nicht anders: Dann wird eben über die „großen Wertsysteme“ diskutiert unter der Idee der Entscheidung, so wie in anderen Fällen über kleine Fragen.

      Ihr Satz „Die Forderung, dass Muslime sich hierzulande an deutsches Recht zu halten haben und sich nicht auf die Forderungen der Sharia berufen dürfen, ist berechtigt, weil es einen Unterschied gibt zwischen dem Normsystem des staatlichen Rechts und dem der Moral“ zeigt sehr deutlich, daß Sie da falsch liegen. Impliziert ist ja in Ihrem Satz: Das Rechtssystem gilt, weil wir das so beschlossen haben. Moralisch hingegen gilt, daß die einen halt diese, die anderen jene Moral haben und zwischen ihnen eine vernünftige Entscheidung nicht möglich ist. Also lassen wir den Muslimen ihre Moral, aber das, was juristisch geregelt ist, an das müssen sie sich halten (man braucht hier keine weitere Begründung, ob das nun recht sei: sie müssen sich einfach daran halten, auch wenn sie innerlich widerstreben; unser Staat zwingt sie nämlich dazu; offensichtlich Hobbes’sche Gedanken). Aber bei „Scharia“ haben Sie sicher wie ich an so etwas gedacht wie Steinigung von Ehebrecherinnen. Die aber ist moralisch verwerflich, das zeigt sich, wenn man sie und das Verbot der Steinigung gegeneinanderstellt und argumentativ überprüft. Genauso kann man es – um endlich mal die leidigen Muslime zu lassen, womit man der Strategie, einen Konflikt zwischen Moderne und Vormoderne zu einem „Kampf der Kulturen“ umzudeuten, auf den Leim geht – mit allerlei anderem machen, z. B. mit der Sklaverei. Befürwortung der Sklaverei hält argumentativ ihrem Gegenteil nicht stand.

      • Die Auseinandersetzung mit dem Islam mag leidig sein, aber sie ist tagesaktuell gefordert und ein lebendiges Beispiel und Gelegenheit für eine hoffentlich öffentliche Auseinandersetzung, welche ausnahmsweise nicht nur akademisch ist.

        In der Tat bin ich der Ansicht, dass man den Muslimen ihre Moral lassen sollte, nämlich in ihren eigenen Ländern. Mitnichten bin ich deswegen der Auffassung, man sollte auch nur versuchen, Verständnis für jede darin vorkommende Praxis aufzubringen. Man darf durchaus abgestoßen sein.

        Mir geht es vielmehr um die Rechtfertigung. Die Scharia wird im Islam offensichtlich als Folgerung aus der Offenbarung verstanden. Nachdem der wörtlich offenbarte Koran ja leider inhaltlich außerordentlich wenig ergiebig ist und sich fast ausschließlich auf die ewige Wiederholung der Aufforderung zum Glauben und die Androhung von Strafen für die Ungläubigen beschränkt, brauchte man weitere verbindliche Quellen, um überhaupt die Orientierung darüber zu gewinnen, worin denn nun das gottgefällige Leben überhaupt besteht. So kam es dann wohl zur Kanonisierung der Hadithe bzw. der Sunna, welche nun ebenfalls als unverbrüchliche Quelle des Rechts gelten. Aufgrund der göttlichen Autorität dieser Quellen ist es auch nicht mehr erforderlich, dass sich einzelne Vorschriften vor dem Richterstuhl der Vernunft ausweisen können. Die Forderung an den Muslim, er möge doch bitte zum Beispiel die Stellung der Frau in der religiösen Gemeinschaft mit vernünftigen Argumenten rechtfertigen, wird dieser mit dem Verweis darauf ablehnen, dass die Offenbarung eben von höherem Rang ist als die stets mangelhafte und leicht irrende Vernunft. Die Weichen für dieses Denken wurden wohl im Islam bereits von Al-Ghazali im 12. Jhd. gestellt. Im Christentum dagegen hat sich die Überzeugung von der Vernünftigkeit der Offenbarung („fides quaerens intellectum“) durchgesetzt, so dass man auch von der Moral des gläubigen Christen die Rechtfertigung vor dem Tribunal der Vernunft einklagen kann. Dennoch verbleiben wir damit im westlichen „abendländischen“ Denken. Dass die Vernunft oberster Maßstab zu sein habe, ist selbst eine Werthaltung, die nicht noch einmal durch die Vernunft belegt werden kann. Letztendlich unterstellt sie, dass es etwas wie Offenbarung in Wirklichkeit gar nicht gibt. Das ist jedoch keine zwingende Einsicht der Vernunft, sonders selbst eine Glaubensfrage.

        In der moralphilosophischen Diskussion gibt es das ungelöste Problem der Letztbegründung, an dem niemand vorbeikommt, der Moral rein auf Vernunft gründen möchte. Ich halte das nicht nur für eine Position unter vielen, weil ja eine mögliche Lösung des Problems konsensfähig und damit allgemein anerkannt sein müsste. Eine solche ist mir allerdings nicht bekannt.

        Um das Thema Sklaverei aufzugreifen, so ist dies interessant und illustrativ dafür, was eben bezüglich des Selbstverständnisses der Menschen gar nicht selbstverständlich ist, sondern Ausfluss eines politischen Willens.

        Ist es wirklich ein Gebot der Vernunft, dass jeder Mensch die gleichen Rechte hat, die gleichen Freiheiten? Ist es zum Beispiel ein Gebot der Vernunft, dass in einer Demokratie die Stimme eines jeden Wahlberechtigten gleichviel zählt, unabhängig davon, über welche Bildung und Erfahrung er verfügt, wieviel Verantwortung er im tatsächlichen Leben für das Gemeinwesen schultert etc.? Ist es wirklich ein Gebot der Vernunft, dass die riesigen Unterschiede, die Menschen aufweisen aufgrund von und in Hinsicht auf Alter, Geschlecht, Kraft, Intelligenz, Verantwortungsbereitschaft, Lernfähigkeit etc., keine Rolle spielen bei der Vergabe von Rechten und Ansprüchen?
        Ich kenne keine Kultur, die nicht in irgendeiner Form gesellschaftliche Klassen hervorgebracht hat, mit verschiedenen Rechten ausgestattet. Der Egalitarismus und der Individualismus, welcher z.B. der Idee von den Menschenrechten zugrunde liegt, ist sowohl historisch kontingent und voraussetzungsreich, als auch keinesfalls eine zwingendes Ergebnis vernünftigen Denkens. Er trägt starke Züge eines politischen Programms. Die modernen Theorien der Gerechtigkeit, die darauf gründen, haben allesamt große theoretische Probleme, die sie entweder einfach stehen lassen oder es werden irgendwelche praktischen Kompromisse anvisiert.

        Sokrates hat meines Wissens zur Sklaverei keine genauen Auskünfte hinterlassen, aber von Aristoteles ist zumindest überliefert, dass der die Menschen unterscheidet in solche, die sich selbst führen können, und solche, die das nicht können. Das könne auch ganze Völker betreffen. Diese sind dann zur Sklaverei bestimmt, denn sie leben unter fremder Führung am Ende besser als unter der eigenen. Offensichtlich zieht er hier ein Kriterium für die Vergabe von Rechten heran, das in der individuellen Beschaffenheit des Einzelnen liegt. Ebenso hat Platon in seiner Theorie der Gerechtigkeit dieselbe als „das Tun des Seinigen“ definiert, wobei er drei Sorten Menschen unterschied, welchen je nach ihrer spezifischen Beschaffenheit bestimmte Pflichten zugeordnet werden. Auch hier keine Spur von Gleichheit. Ist es deshalb unvernünftig?

        Es liegt ein immenser Anteil von Willkür darin, der individuellen Freiheit eine höhere Priorität einzuräumen als den Forderungen überlieferter religiöser Normsysteme. Letzten Endes bekennen wir uns einfach dazu, dass dies das Leben ist, das wir lieber leben wollen, aber mithilfe der Vernunft allein können wir es nicht begründen.

        • @ fegalo

          Ich habe den Kommentar erst mal wieder versteckt, weil mir der Verdacht kam, ich könnte, wenn ich ihn stehenlasse, vielleicht eine Straftat begehen, und da wollte ich mir erst etwas Klarheit verschaffen. Leider kenne ich keinen Juristen, den ich fragen könnte.

          Es geht um diesen Satz:

          “In der Tat bin ich der Ansicht, dass man den Muslimen ihre Moral lassen sollte, nämlich in ihren eigenen Ländern.“

          Der Zusammenhang, in dem dieser Satz steht, ist die Steinigung. „Ihre Moral“ steht für Sharia und Sharia steht für Steinigung von Ehebrecherinnen (siehe vorigen Kommentar von @fegalo).

          Der Satz ist eine Aufforderung, Mord zu tolerieren. Man könnte noch weiter gehen und sagen: „ihre Moral lassen“ heißt in diesem Fall, daß man es gutheißt (und nicht nur toleriert), wenn Ehebrecherinnen gesteinigt werden, denn „ihre Moral lassen“ impliziert ja, daß sie das tun sollen, was „ihre Moral“ von ihnen fordert. Das nachfolgende „Mitnichten bin ich deswegen der Auffassung, man sollte auch nur versuchen, Verständnis für jede darin vorkommende Praxis aufzubringen. Man darf durchaus abgestoßen sein“ kann dagegen nichts ausrichten. Es heißt ja nur: Ich bin dafür, daß ihr die Steinigung vornehmt, ihr müßt das ja, eure Moral verlangt das. Selbst habe ich allerdings ein sehr unangenehmes Gefühl dabei, ich fühle mich abgestoßen.

          Nun vermute ich, daß der Satz trotzdem kein Straftatbestand (die Täter wären @ fegao und ich) ist, denn die vom Mord bedrohten leben nicht in Deutschland, und die Morde sollen auch nicht hier verübt werden.

          Aber formen wir den Satz leicht um:

          “In der Tat bin ich der Ansicht, dass man den Deutschen ihre Moral lassen sollte, nämlich in ihren eigenen Ländern.“

          Ihre Moral forderte von den Deutschen die Ermordung der Juden. Eine Zeitlang war diese Moral die Moral eines weit größeren Anteils der Deutschen als die Wahabiten-Moral, die man gemeinhin bei uns die Moral „der Muslime“ nennt, Anteil an der Moral der Muslime hat. Der Satz heißt also im Klartext: So lange die Deutschen sich bei der Ermordung der Juden, die von ihrer Moral gefordert ist, auf Deutschland und die anderen den Deutschen gehörenden Länder beschränken, sollte man das tolerieren. Daß dieser Satz ein Straftatbestand ist, scheint mir keineswegs unwahrscheinlich.

          Nun meine ich jetzt, daß es wohl erlaubt sein wird, den Satz stehenzulassen und auf Ihre Einsichtsfähigkeit zu setzen. Ich halte Sie keineswegs für einen Rechtsextremisten, nur für unglaublich politisch naiv. Aber vielleicht nützt es ja was, wenn Sie Ihren Satz bzw. einen Satz, der aus Ihrem Satz folgt, mal im Klartext sehen.

          Ich möchte Sie nicht als Kommentator verlieren; Ihre Beiträge sind im allgemeinen sehr bereichernd. Darum werde ich auf andere Punkte in Ihrem Kommentar im Detail eingehen, demnächst.

    • @fegalo

      “Sie haben, Herr Trepl, mit diesem Beitrag nun schon zum wiederholten Mal das Thema Werterelativismus angeschnitten.”

      Die Werterelativisten sehen das so, und sie sehen sich angegriffen, wenn ich den Relativismus kritisiere. Aber sie übersehen, daß ich im gleichen Zuge die Meinung kritisiere, man hätte die Wahrheit in der Tasche. Das ist bei einem endlichen Wesen nicht möglich; die Rede von der absoluten Wahrheit hat einen ganz anderen Sinn. Hier aber geht es mir nur um eines: die wechselseitige Bedingtheit der Haltung: “Alle Wahrheit ist relativ” und “ich kenne die (oder wenigstens einen bestimmten Teil der) absoluten Wahrheit” zu zeigen. Damit ist nicht jede Art von Relativismus und nicht jede Art von Überzeugtheit von absoluter Wahrheit getroffen.

    • @ fegalo :

      Auch die westliche Philosophie und Wissenschaft hat nichts hervorgebracht, was bezüglich der Rechtfertigung der ursprünglichsten Verankerung unseres Weltverhältnisses auf belastbarere Fundamente verweisen kann als andere.

      Die aufklärerische Philosophie meint unter anderem das Sapere Aude, die Aufforderung an die Individuen ihre Rationalität persönlich zu pflegen und überhaupt die Anerkennung der Vernunft.

      Alleine die zitierte Meinung ist aus den Ideen und Werten der Aufklärung persönlich hergeleitet vernünftig, wenn auch im aufklärerischen Sinne nicht richtig, die falsche Idee, dass eine Gesellschaftsideologie wie beschrieben nicht besser sein kann als andere.

      Die ganzen Konzepte, die sich durch Ihre Nachricht ziehen, können anderswo unter Umständen gar nicht bearbeitet werden, weil indiskutabel.

      MFG
      Dr. W

  24. »Die sittlichen [„Gesetze“, Gebote] beschreiben nicht, was geschieht, sondern was geschehen soll, auch wenn es vielleicht nie geschieht. Sollen setzt aber Freiheit voraus. […] Der Begriff der Handlung impliziert den der Freiheit, sonst würde es sich nicht um eine Handlung, sondern um einen bloßen Prozeß handeln. In einem solchen gibt es keine Freiheit, sondern alles verläuft den Naturgesetzen gemäß („es geht mit rechten Dingen zu“). « (@L.T., 2. Dezember 2015 21:20)

    Meines Wissens wird die hier gemeinte Freiheit aus naturwissenschaftlicher Sicht keineswegs in Frage gestellt. Eine Einschränkung der Freiheit, wenn auch einer anderen Form von Freiheit, gibt es aber sehr wohl. Wenn es nämlich letzte Werte gibt, und nicht nur einen letzten Wert, dann bedeutet das m. E., dass Werte auch miteinander konkurrieren können. Und wenn dass der Fall ist, kann es sein, dass auch das unbedingte Sollen relativiert werden muss. Zumindest in der Praxis. Ethikkommissionen versuchen, solche Wertekonflikte zu lösen.

    In der praktischen Ethik kennt man zahlreiche Konstellation, wo das eine (unbedingte?) Sollen mit einem anderen (unbedingte?) Sollen in Konflikt gerät.

    Die Meinung, eine Meinung nicht zu tolerieren, muß ja auch toleriert werden. Man kann dieser Meinung nur noch sein Interesse an der Freiheit der abweichenden eigenen Meinung entgegensetzen, man kann aber kein Argument mehr beibringen, warum diejenigen, die der Meinung sind, Meinungsfreiheit solle es nicht geben, dieses Interesse berücksichtigen sollten. Sie handeln ja so, wie ihrer freien Meinung nach zu handeln ist.

    Meinungsfreiheit ist keine Handlungsfreiheit. Man könnte das Äußern einer Meinung zwar als Handlung betrachten, aber eine Meinungsäußerung führt bei Dritten zumindest nicht zu physischen Verletzungen.

    Der szientifische Naturalismus führt notwendig zum Relativismus in ethischen Dingen.

    Das Zwingende daran sehe ich nach wie vor nicht. Das evolutionsbiologisch bedingte oder (natur)wissenschaftlich entwickelte Sollen könnte im Ergebnis durchaus mit dem vermeintlich „unbedingten“ Sollen in Eins fallen.

    Kompensiert wird die Scham [der wissenschaftlich denkenden Menschen] dadurch, daß man dort, wo das wissenschaftliche Denken nicht hinreicht, bei den Meinungen über Werte und Normen, den anderen Kulturen ihre Meinungen läßt.

    Meinungsfreiheit, Handlungsfreiheit und Religionsfreiheit sind aber doch auch anerkannte und wichtige Werte. Mir scheint, Sie reden Sie hier einer Art Wertehierarchie das Wort. Aber vielleicht gibt es ja höher- und geringerwertige (letzte) Werte.

    Die Handlungsfreiheit z. B., um das nochmal zu sagen, wird allein eingeschränkt durch die Freiheit derjenigen, die von einer Handlung negativ betroffen sind. Aber sie wird (nach naturalistischer Auffassung) nicht eingeschränkt durch (deterministische) Naturgesetze, ganz im Gegenteil, der naturgesetzliche Ablauf basaler biochemischer und physiologischer Prozesse ist Voraussetzung für die Handlungsfreiheit auf der höheren Beschreibungsebene.

    • “Meines Wissens wird die hier gemeinte Freiheit aus naturwissenschaftlicher Sicht keineswegs in Frage gestellt.”

      Ja, weil die Frage außerhalb der Reichweite der Naturwissenschaft liegt. Das haben allerdings viele (nicht alle) Naturalisten nicht mitbekommen und meinen, daß es Freiheit (die hier gemeinte) nicht gibt und daß sie dies nachweisen könnten, z.B. die Promi-Hirnforscher.

      “Wenn es nämlich letzte Werte gibt, und nicht nur einen letzten Wert, dann bedeutet das m. E., dass Werte auch miteinander konkurrieren können.”

      Ja, aber das beweist nicht einen Relativismus. Sondern es tritt einfach eine neue Frage auf, die wiederum Reflektieren und Argumentieren und Diskutieren verlangt – unter der Leitidee, daß sich eine Entscheidung finden läßt. Man ist da nicht an einem Punkt, wo man nur dezisionistisch werden kann: eine Münze werfen.

      “Das evolutionsbiologisch bedingte oder (natur)wissenschaftlich entwickelte Sollen könnte im Ergebnis durchaus mit dem vermeintlich „unbedingten“ Sollen in Eins fallen.”

      “Meinungsfreiheit, Handlungsfreiheit und Religionsfreiheit sind aber doch auch anerkannte und wichtige Werte.”

      Ich verstehe nicht, wofür/wogegen das ein Argument sein soll.
      Könnte, tut es aber nicht. Die Ebene ist die falsche, auf der Sie suchen. Lesen Sie sich doch noch mal meine Blog-Aufsätze zu Grünewald durch, der trifft die richtig Ebene.

      Dem letzten Absatz kann ich zustimmen (bis auf den letzten Satz, das ist Naturalisten-Metaphysik, in dieser Formulierung.Abe der Intention stimme ich zu.

    • @Ludwig Trepl

      » … “Meinungsfreiheit, Handlungsfreiheit und Religionsfreiheit sind aber doch auch anerkannte und wichtige Werte.”

      Ich verstehe nicht, wofür/wogegen das ein Argument sein soll.«

      Dafür, dass es, wie ich meine, kein in sich widerspruchsfreies Wertesystem gibt und wohl auch nicht geben kann. Und zwar aus prinzipiellen Gründen nicht.

      So wie es auch keine natürliche Sprache gibt oder geben kann, die nur widerspruchsfreie Aussagen ermöglicht. Mir scheint, das liegt in der Natur der Sache.

      Wenn es zutrifft, dass es mehrere letzte Werte gibt, dann muss es bei deren Realisierung durch das Individuum zwangsläufig zu Wertekollisionen kommen. Und dann muss abgewogen werden, welchem letzten Wert das größere moralische Gewicht beigemessen wird.

      Die damit verbundene Relativität der Werte ist aber wohl nicht das, was Sie mit ‚Werterelativismus‘ als Ergebnis bestimmter naturalistischer Vorstellungen meinen, wenn ich Sie denn richtig verstanden habe.

      Sokrates maß der Befolgung eines (schlechten) Gesetzes ein so großes Gewicht bei, dass er lieber in den Tod ging, als es zu übertreten. Heute tendieren viele dazu, Menschen moralisch zu verurteilen, wenn sie schlechte Gesetze trotz allem achten.

      • @ Balanus

        Dafür, dass es, wie ich meine, kein in sich widerspruchsfreies Wertesystem gibt und wohl auch nicht geben kann. Und zwar aus prinzipiellen Gründen nicht.”

        Das eben halte ich für falsch. Daraus, daß es dieses widerspruchsfreie Wertesystem nicht gibt, darf man nicht schließen, daß es das nicht geben kann. Und die Argumente dafür, daß es das nicht geben kann, überzeugen mich nicht. Unbestreitbar ist jedenfalls, daß das widerspruchsfreie Wertesystem immer angestrebt wird. Ohne dies ist ein Gespräch nicht möglich, meinte schon Plato, und das gehört nicht zu den Teilen seiner Philosophie, die man widerlegt hat. Sondern es sind halt auch andere Meinungen aufgekommen, und seitdem streitet man.

        dann muss es bei deren Realisierung durch das Individuum zwangsläufig zu Wertekollisionen kommen. Und dann muss abgewogen werden, welchem letzten Wert das größere moralische Gewicht beigemessen wird.”

        Und dieses Abwägen ist eben ein Prozeß des Argumentierens, der auf Widerspruchsfreiheit zielt, mit sich oder anderen. Und auch wenn man ein Gefühl in den Abwägungsprozeß einbringt, muß man ja begründen, warum man dieses Gefühl und nicht ein anderes einbringt. Natürlich könnte es sein, daß Wertsysteme wirklich in sich widersprüchlich sind und das nicht behoben werden kann und daß sie mit anderen Wertsystemen auf alle Zeiten inkompatibel sind oder sich nicht als ihnen über-/unterlegen erweisen lassen. Aber wissen könnte man das erst, wenn man den Prozeß des Argumentierens bis zum Ende durchgeführt hat.

        “Sokrates … heute tendieren ..”

        Und was hätte Sokrates dazu gesagt? Er hätte gesagt: dann muß man eben Gründe anführen, um zu sehen, wer von beiden, Sokrates oder diese heutigen Menschen, die besseren Gründe hat.

        • @Ludwig Trepl;
          Können Werte wirklich im Widerspruch zueinander stehen? Wäre ein Widerspruch zu “Wert” nicht ein “Unwert”? Werte können zueinander im Widerstreit oder in Konkurrenz stehen, das steht außer Frage. Zum Beispiel kann der Wert “Gesundheit” im Widerstreit zum Wert “Karriere” stehen, weil eine Höherbewertung des einen Wertes zur Minderbewertung des anderen Wertes stünde, wie das tatsächliche Leben oftmals zeigt.

          Einen Widerstreit von Werten kann es in der Medizin, im Rettungswesen oder im Fall von Notwehr geben. Ist ein Kunstwerk oder ein Sachwert höher zu bewerten als das Leben eines Einbrechers? Widersprüche können entstehen bei der Bewertung selber, durch den oder die Bewertenden. Ein bekanntes Beispiel aus der Antike ist das “Brett des Karneades”.

          • @Anton Reutlinger

            Wenn in einem komplexen Wertesystem bestimmte Werte miteinander in Konflikt geraten können, nämlich dann, wenn es zu Handlungen kommen soll, dann halte ich es für zulässig, von einem nicht widerspruchsfreien Wertsystem zu sprechen. Ein ideales, in sich widerspruchsfreies Wertesystem wäre eines, in dem solche Konflikte gar nicht erst auftreten können.

            Die einzelnen Werte als solche widersprechen sich wohl eher nicht, würde ich meinen. Zumindest fällt mir jetzt kein Beispiel ein, wo das der Fall wäre.

          • @Balanus;
            Eine Kultur kann man sicher als ein komplexes Wertesystem bezeichnen. Meine Frage ist, worin genau bestehen die Widersprüche, wenn es sie gibt? Sind es die Werte, oder sind es die Bewertungen? Der Begriff der Werte ist nur ein Sammelbegriff, ein Symbol für die Sachen, Ressourcen, Freiheiten, Berechtigungen (z.B. Führerschein), Rechte, Ansprüche eines Menschen oder einer Gruppe. Das Problem ist, dass diese Dinge zueinander in Konkurrenz stehen können, z.B. Freizeit und Einkommen. Widersprüche sind meines Erachtens nur in einer inkonsistenten Bewertung der Dinge möglich, was bei abstrakten Werten wie Freiheit und religiösen Werten wahrscheinlicher ist als bei Sachwerten.

            Die Menschenrechte als Werte würde ich nicht zur Kultur zählen, sondern mehr zur Natur des Menschen, denn sie sollen unabhängig von Kultur gelten, das ist gerade ihre Bedeutung. Damit würden sie auch nicht dem Kulturrelativismus unterliegen. Dass sie in einer bestimmten Kultur “entdeckt” oder ausgearbeitet wurden, ändert daran nichts.

          • @Anton Reutlinger

            »Meine Frage ist, worin genau bestehen die Widersprüche, wenn es sie gibt? Sind es die Werte, oder sind es die Bewertungen?«

            Es geht nach meinem Verständnis um die Werte, die sich aus der Bewertung von Tatsachen ergeben.

            In dem zitierten und verlinkten Aufsatz von Michael Hauskeller (Arbeitsgebiet u.a.(?) praktische Philosophie, siehe weiter unten) findet sich das Beispiel eines 8-zelligen Embryos, der sowohl als „Zellhaufen“ als auch werdender Mensch beschrieben werden kann. Implizit findet dabei immer eine Wertung statt, aber nur im zweiten Fall, wenn „Mensch“ als normativer Begriff verstanden wird, ergibt sich daraus ein bestimmtes, sittliches Handeln, ein Sollen, womit wir wieder beim Blog-Thema wären.

            Ein Wertekonflikt, kein Wertewiderspruch, dürfte sich eben dann ergeben, wenn z. B. das Recht auf die Verfügungsgewalt über den eigenen Körper gegen das Recht des Embryos auf sein Leben steht, nämlich dann, wenn eine Abtreibung geplant ist.

      • @Ludwig Trepl

        »Daraus, daß es dieses widerspruchsfreie Wertesystem nicht gibt, darf man nicht schließen, daß es das nicht geben kann. […] Unbestreitbar ist jedenfalls, daß das widerspruchsfreie Wertesystem immer angestrebt wird.«

        Widerspruchsfreiheit wird generell, in fast allen Dingen, angestrebt, das hat nichts zu bedeuten. Wir fühlen uns unwohl, innerlich zerrissen, wenn wir sowohl das eine als auch das andere sollen, aber beides eben nicht zugleich machbar ist.

        »Aber wissen könnte man das [ob bestimmte Werte auf alle Zeiten inkompatibel sind] erst, wenn man den Prozeß des Argumentierens bis zum Ende durchgeführt hat.«

        Und woher wissen wir, dass wir am Ende angelangt sind? Müsste dazu die menschliche Vernunft nicht erst göttliche Dimensionen erlangen?

        Wenn diese Widerspruchsfreiheit als ein für uns angestrebtes, aber eben unerreichbares Ziel begriffen wird, einverstanden. Dann ist es wie mit der Perfektion, die viele anstreben, im sicheren Wissen, diese doch nie erreichen zu können. Ein anderes Bild wäre der unerreichbare Horizont, oder der Griff nach den Sternen…

        »Und was hätte Sokrates dazu gesagt? Er hätte gesagt: dann muß man eben Gründe anführen, um zu sehen, wer von beiden, Sokrates oder diese heutigen Menschen, die besseren Gründe hat.«

        Die Gründe, die Sokrates bewogen haben, ein als schlecht erachtetes Gesetz zu befolgen, gelten auch heute noch, daran hat sich nichts geändert und wird sich wohl auch nie etwas ändern. Andererseits gibt es gute, ja ewige Gründe, ein schlechtes Gesetz nicht zu befolgen (bestimmte Nazi-Gesetze sind hier ein eher extremes Beispiel). Letztlich wird man wohl sagen müssen, es kommt eben auf das jeweilige Gesetz an, wer hier die besseren Gründe anführen kann und welcher Wert dann mehr gilt als der andere. Das fällt dann aber vermutlich unter die Rubrik „bedingtes Sollen“.

        Wie überhaupt es beim Argumentieren nur um bedingtes Sollen gehen kann. In dem Moment, wo Sollen argumentativ begründet wird, handelt es sich um ein bedingtes Sollen. Unbedingtes Sollen, so scheint mir, ist nicht im praktischen Leben verankert, sondern ein Abstraktum. Siehe Rudolf Eislers Kant-Lexikon:

        Der “kategorische” Imperativ drückt ein unbedingtes Sollen, eine absolute Forderung (Norm) der Vernunft aus, ohne Rücksicht auf einen Zweck, eine “Materie” des Willens.

        Unsere Handlungen sind in aller Regel, eigentlich ausnahmslos, zweckbestimmt. Wenn nicht, wären es keine Handlungen, sondern bloß ziellose Bewegungen.

        Über eine „absolute Forderung der Vernunft“ kann man nicht sinnvoll streiten. Wenn es einen gibt, der zu wissen meint, was die Vernunft absolut fordert, dann wird es auch andere geben, die das ebenfalls meinen. Und wenn diese Meinungen nicht deckungsgleich sind, wie will man entscheiden, wer Recht hat, wenn beide sich bloß auf die Vernunft berufen können?

        Ich frage mich ohnehin, ob die Vorstellung, man könne auch in Fragen der reinen Vernunft und der letzten Werte den anderen mit den besseren Argumenten zur Einsicht bringen, nicht aus der Empirie stammt. Im praktischen Leben gibt es für technische oder, mit Einschränkungen, soziale Probleme oft eine optimale Lösung. Diese Vorgehensweise beim Lösen von praktischen Problemen wird dann übertragen auf „Dinge“, die nur in der Vorstellung existieren (sollen). Ich fürchte, das funktioniert so nicht.

        Um auf das Argumentieren „bis zum Ende“ zurückzukommen: So etwas kann es bei Werte-Fragen eigentlich nicht geben. Das Problem ist, dass (a) kulturelles Wissen aktiv erworben werden muss, und (b) der Fortschritt in ethischen Fragen (so es ihn überhaupt gibt) in völlig anderer Weise transportiert wird als der Fortschritt in Wissenschaft und Technik.

        Die Werte der Aufklärung beispielsweise stehen laufend zur Disposition, sie müssen immer wieder, von jeder Generation neu, verteidigt werden, während das in den Wissenschaften und insbesondere Naturwissenschaften etablierte Wissen zwar auch nicht in Stein gemeißelt, aber doch von ganz anderer Validität ist. Man kann zwar die Evolution leugnen, aber nicht, dass Navigationsgeräte funktionieren.

        Das dürfte einer der Gründe sein, warum szientifische Naturalisten sagen, dass „science“ der Königsweg zu sicherem Wissen ist.

        • Nachtrag:

          Zu dem Abschnitt, der mit „Ich frage mich ohnehin,…“ beginnt, bin ich in einem philosophischen Aufsatz (von Michael Hauskeller, 2004) gerade auf eine Formulierung gestoßen, die in etwa das wiedergibt, worum es bei meiner Anmerkung geht:

          In der Art, wie wir die Welt erfahren, finden wir das Sollen immer schon ins Sein verwoben, und statt des Problems, Werte und Normen aus Tatsachen logisch zu deduzieren oder auf andere Weise abzuleiten, stellt sich uns eher das Problem, die ursprüngliche Erfahrung so zu zergliedern, dass deskriptive und normative Aspekte fein säuberlich zu unterscheiden sind.

          http://www.academia.edu/1825333/Der_sogenannte_naturalistische_Fehlschluss_und_seine_Bedeutung_f%C3%BCr_die_Ethik

        • @ Balanus

          Ich bin, was zwischen uns nicht oft vorkommt, Punkt für Punkt anderer Meinung.

          “Widerspruchsfreiheit wird generell, in fast allen Dingen, angestrebt, das hat nichts zu bedeuten. Wir fühlen uns unwohl,…”

          Das können Sie nicht so mir nichts dir nichts zu einem psychologischen Problem machen. Es ist ein logisches Problem. Gälte die Forderung nach Widerspruchsfreiheit nicht (bzw. wäre sie nur so was nebensächliches Psychologisches), dann wäre Erkenntnis (auch naturwissenschaftliche) logisch unmöglich. Dazu gibt es eine Menge Literatur.

          “Und woher wissen wir, dass wir am Ende [des Argumentierens] angelangt sind? “

          Wir können es nicht wissen – nur vermuten; das nennt man dann “Überzeugung”. Darum geht es hier aber nicht.

          “Wenn diese Widerspruchsfreiheit als ein für uns angestrebtes, aber eben unerreichbares Ziel begriffen wird,…”

          Das ist wieder was anderes. Wir können durchaus Widerspruchsfreiheit erreichen, die Logiker nennen ja allerlei simple Beispiele dafür. Aber daß wir in allem Widerspruchsfreiheit anstreben und dann erreichen können (also nicht nur zufällig). das ist wieder etwas anderes. Es ist wie mit der Wahrheit. Auch die kann man anstreben und erreichen (also nicht nur zufällig treffen, was immer möglich ist), aber nicht bezogen auf alles, auf “die Welt”, solange wir endliche Wesen sind. Die Erde ist kleiner als die Sonne: dieser Satz ist wahr. Von Theorien beispielsweise, die sich auf “alles” beziehen (z.B. “die Welt ist unendlich”) kann man so etwas nicht behaupten.

          “Andererseits gibt es gute, ja ewige Gründe, ein schlechtes Gesetz nicht zu befolgen”

          Ja, und wenn Sokrates diese Gründe gekannt hätte, hätte er das Gesetz nicht befolgt. Sokrates dient mir nur als Beispiel dafür, daß aufgrund von Gründen zu entscheiden ist, nicht, weil die Mehrheit etwas will oder weil die Empirie sagt: so haben wir das doch immer gemacht. – Ob es sich da um bedingtes oder unbedingtes Sollen handelt, ist eine andere Frage, beides ist möglich. Wenn das unbedingte Gebot lautet: Du sollst nicht morden, und jemand das bestreitet, daß dies ein unbedingtes Gebot ist, müssen beide Gründe anführen.

          “In dem Moment, wo Sollen argumentativ begründet wird, handelt es sich um ein bedingtes Sollen. “

          Mit Kant, wie Sie es machen, können Sie das nicht begründen. Es gibt bei ihm etliche Beispiele, in denen er unbedingtes Sollen argumentativ begründet.

          “Unbedingtes Sollen, so scheint mir, ist nicht im praktischen Leben verankert, sondern ein Abstraktum.”

          Ich verstehe nicht, wie das gemeint ist. Das unbedingte Gebot “Du sollst dich nicht durch Betrug im Spiel bereichern” kommt mir doch ziemlich gut im praktischen Leben verankert vor.

          “Unsere Handlungen sind in aller Regel, eigentlich ausnahmslos, zweckbestimmt. “

          Stimmt, aber wogegen ist das ein Argument?

          “Und wenn diese Meinungen nicht deckungsgleich sind, wie will man entscheiden, wer Recht hat, wenn beide sich bloß auf die Vernunft berufen können?”

          Eben durch das, was man Vernunft nennt. Dieses Vermögen (=Fähigkeit) ist letztlich das, was uns diese Unterscheidung vorzunehmen erlaubt. Vernunft ist das Vermögen, sich selbst durch Gründe zu bestimmen, und die Gründe sagen uns: diese Meinung ist die richtige, nicht jene.

          Den nächsten Absatz (“Ich frage mich ohnehin,..”) habe ich nicht verstanden.

          “Die Werte der Aufklärung beispielsweise stehen laufend zur Disposition, sie müssen immer wieder, von jeder Generation neu, verteidigt werden, während das in den Wissenschaften und insbesondere Naturwissenschaften etablierte Wissen zwar auch nicht in Stein gemeißelt, aber doch von ganz anderer Validität ist.”

          Daß da ein Unterschied ist, wird schon stimmen, aber dieser ist es nicht. Die Erkenntnisse nicht-empirischer Art, ob nun logische, mathematische oder philosophische (apriorische, die nicht unter Logik und Mathematik fallen) sind, wenn sie erkannt sind, eben Erkenntnisse. Daß 2 x 2 4 ist, muß nicht in jeder Generation neu verteidigt werden. Daß Sklaverei verwerflich ist und Verstöße gegen die Menschenwürde ebenso, auch nicht.

          Ihr Fehler kommt daher, daß Sie diese nicht empirisch gewonnenen Erkenntnisse apriorischer Art mit den kulturbedingten in einen Topf werfen. Das sieht man daran, daß Sie von “Werten der Aufklärung” sprechen und mit “Aufklärung” offenbar etwas zu einer bestimmten Kultur, der christlich-abendländischen (?) gehöriges meinen. Aber: diese spezifische Kultur (Europas im 18. Jh.) hat zwar diese Erkenntnisse ermöglicht , aber sie sind in ihrer Geltung dann nicht an diese Kultur gebunden. Wenn die europäische Kultur völlig zusammenbräche, so würde doch ein erst durch die europäische Mathematik des 19. Jahrhunderts faktisch gedachter zutreffender mathematischer Satz weiterhin gelten (er hat ja auch schon vor der Aufklärung gegolten, nur hat ihn keiner gekannt), und das Theorem von der Menschenwürde würde ebenfalls weiterhin gelten, so wie es auch vorher galt. Ich glaube, hier liegt ein für Sie ganz zentrales Mißverständnis vor.

        • @Ludwig Trepl

          »Gälte die Forderung nach Widerspruchsfreiheit nicht (bzw. wäre sie nur so was nebensächliches Psychologisches), dann wäre Erkenntnis (auch naturwissenschaftliche) logisch unmöglich.«

          Das wird ja nicht in Abrede gestellt, dass Widerspruchsfreiheit eine notwendige Bedingung für die Richtigkeit eines Wertesystems ist, nur, damit alleine ist es ja nicht getan, es müssen weitere Kriterien erfüllt sein. Ein fiktiver Roman kann in sich völlig widerspruchsfrei sein, aber wahr (im Sinne von tatsächlich passiert) wird die darin erzählte Geschichte dadurch nicht. Widerspruchsfreiheit wird halt auch dann angestrebt, wenn es nicht um Wahrheit geht.

          »Ja, und wenn Sokrates diese Gründe gekannt hätte, hätte er das Gesetz nicht befolgt. Sokrates dient mir nur als Beispiel dafür, daß aufgrund von Gründen zu entscheiden ist, nicht, weil die Mehrheit etwas will oder weil die Empirie sagt: so haben wir das doch immer gemacht.«

          Das Beispiel macht zugleich deutlich, dass Gründe kein sicherer Grund für eine moralisch richtige Entscheidung sind. Entweder man kennt nicht alle möglichen Gründe, oder man gewichtet die Gründe nicht so, wie man es—aus anderer Sicht—besser hätte tun sollen.

          Im Übrigen bin ich keineswegs davon überzeugt, dass bei Sokrates reine Vernunftgründe ausschlaggebend waren. Ich schätze, er hatte vor allem das Gefühl, richtig zu handeln, so wie fast jeder Mensch sein moralisches Handeln primär nach dem Bauchgefühl (Gewissen) ausrichtet und erst sekundär die Vernunft als Bestätigung des „richtigen“ Gefühls heranzieht.

          »Das unbedingte Gebot “Du sollst dich nicht durch Betrug im Spiel bereichern” kommt mir doch ziemlich gut im praktischen Leben verankert vor.«

          Ist dieses Gebot wirklich „unbedingt“? Die Unterscheidung bedingt / unbedingt dient nach meinem Verständnis doch bloß dazu, bestimmte Sollens-Sätze zu unterscheiden, bedingte Gebote haben keine moralische Dimension, unbedingte hingegen schon. Die Forderung: „Du sollst dich an die Regeln halten“, kann man m. E. als bedingten oder als unbedingten Sollens-Satz auffassen.

          » . . .”Unsere Handlungen sind in aller Regel, eigentlich ausnahmslos, zweckbestimmt. ”

          Stimmt, aber wogegen ist das ein Argument?«

          Mir ging es um die für mich problematische Beziehung von unbedingtem moralischen Sollen und dem notwendig zweckgerichteten Handeln. Mir scheint da ein Bruch zu bestehen, oder so etwas wie ein kategorialer Sprung.

          »Vernunft ist das Vermögen, sich selbst durch Gründe zu bestimmen, und die Gründe sagen uns: diese Meinung ist die richtige, nicht jene.«

          Gewiss, aber das Problem ist doch, dass die Gründe jedem etwas anderes sagen können. Der Gedanke, dass man am Ende aller Diskussionen schon zu den allein richtigen Gründen gelangen werde, mag zwar die Voraussetzung dafür sein, dass man überhaupt diskutiert, aber mir scheint das im Falle der Wertsetzungen doch eine trügerische Hoffnung zu sein.

          Diesen Gedanken habe ich in dem unverständlichen Absatz („Ich frage mich ohnehin,…“) näher auszuführen versucht: Wenn es um zunächst unbekannte Tatsachen geht, dann können verschiedene Meinungen am Ende zu dem Punkt gelangen, an dem die Tatsache als solche von allen anerkannt wird. In den Objektwissenschaften ist es gang und gäbe, dass man sich einem Sachverhalt aus verschiedenen Richtungen nähert und am Ende sagt: Ja, so ist es, so und nicht anders.

          Meine Befürchtung ist nun, dass dieses Verfahren, das wir aus dem alltäglichen praktischen Leben kennen (von dort ist es in die Objektwissenschaften gelangt und methodisch verfeinert worden), dass diese Art der Annäherung an die „Wahrheit“ bei Werten und Normen einfach nicht funktionieren kann, weil es sich eben nicht um Tatsachen handelt, sondern um Setzungen, Ideen, Gedanken. Wir befinden uns da auf einer ganz anderen kategorialen Ebene, und zwar auf der, wo z. B. auch Religionen angesiedelt sind.

          »Die Erkenntnisse nicht-empirischer Art, ob nun logische, mathematische oder philosophische (apriorische, die nicht unter Logik und Mathematik fallen) sind, wenn sie erkannt sind, eben Erkenntnisse. Daß 2 x 2 4 ist, muß nicht in jeder Generation neu verteidigt werden.«

          Erkenntnisse auf dem Gebiet der Logik und Mathematik sind m. E. empirisch fundiert, Rechenoperationen oder Beziehungen zwischen Größen haben in aller Regel eine Entsprechung in der Natur und somit auch in den Objektwissenschaften (weshalb sie dort Anwendung finden). Reine Mathematik, also ohne jeden empirischen Bezug, ähnelt eher der Kunst und Musik. Hier wie dort würde ich nicht von Erkenntnissen sprechen (aber ich bin kein Mathematiker, die sehen das vielleicht anders).

          In der praktischen Philosophie geht es wohl eher um Einsichten, Überzeugungen und Meinungen, als um Erkenntnisse und Wissen. Sklaverei hält man für verwerflich und Menschen schreibt man, im Gegensatz zu den meisten Tieren, eine unverletzliche Würde zu. Beim Hund gilt aktive Sterbehilfe als etwas Gutes, beim Menschen als etwas Schlechtes.

          Kurz und gut, dass, wie Sie sagen, 2 x 2 4 ist, muss nicht in jeder Generation neu verteidigt werden, die Wahrheit/Richtigkeit dieser Aussage liegt förmlich auf der Hand, aber dass Sklaverei etwas Schlechtes ist, davon muss man die Menschen immer wieder von Neuem überzeugen, das liegt nämlich keineswegs auf der Hand. Es ist, wie Sie an anderer Stelle sagten, die Werte der Aufklärung „erheben den Anspruch auf universelle Gültigkeit“. Einen Anspruch auf Gültigkeit erhebt man, wenn es sich bei den Aussagen nicht um Tatsachenfeststellungen handelt. Bei der Feststellung, dass 2 x 2 = 4 ist, handelt es sich um eine Tatsache, die erhebt nicht Anspruch auf Gültigkeit, die ist gültig. Ich finde, das ist ein fundamentaler Unterschied, und ich denke nicht, dass da bei mir ein „zentrales Missverständnis“ (LT) vorliegt, was die Werte der Aufklärung angeht.

          Nochmal: Wenn ich sage, die Würde des Menschen ist unverletzlich, dann soll dieser Satz natürlich nicht nur hier und jetzt gültig/wahr/richtig sein, sondern immer und ewig. Das Gleiche würde aber auch für den Satz „Die Würde des Menschen ist verletzlich“, gelten. Der Anspruch auf universelle Gültigkeit ist immer gegeben.

          (Sorry, ich habe es mal wieder nicht geschafft, mich auf die wichtigsten Punkte zu beschränken…)

          • @ Balanus

            „Ein fiktiver Roman kann in sich völlig widerspruchsfrei sein, aber wahr (im Sinne von tatsächlich passiert) wird die darin erzählte Geschichte dadurch nicht. Widerspruchsfreiheit wird halt auch dann angestrebt, wenn es nicht um Wahrheit geht.“
            Ja. Aber es geht uns doch hier nur um letzteres.

            „Das Beispiel macht zugleich deutlich, dass Gründe kein sicherer Grund für eine moralisch richtige Entscheidung sind.“

            Es ist doch als selbstverständlich vorausgesetzt, daß es gute und schlechte, zureichende und unzureichende Gründe gibt und nur die guten und zureichenden einen Grund für eine moralisch richtige Entscheidung abgeben. Aber dazu muß man erst mal soweit sein, daß man überhaupt auf Gründe setzt, und das taten die Gegner des Sokrates nicht, man mußte erst mal draufkommen.

            „Im Übrigen bin ich keineswegs davon überzeugt, dass bei Sokrates reine Vernunftgründe ausschlaggebend waren. Ich schätze, er hatte vor allem dasGefühl,“…

            Das kann durchaus sein. Aber er wußte – so, wie wir es wissen – , daß die Vernunftgründe ausschlaggebend sein sollen, daß er den Gefühlen nicht einfach folgen kann, sondern zwischen verschiedenen Gefühlen unterscheiden muß, abwägen muß, und dazu hat er eben die Vernunft.

            »Das unbedingte Gebot “Du sollst dich nicht durch Betrug im Spiel bereichern” …
            Ist dieses Gebot wirklich „unbedingt“?

            „Unbedingt“ heißt einfach (ich referiere hier, wie immer, wenn ich es nicht extra sage, Kant): nicht nur unter bestimmten Bedingungen. Nicht unbedingt wäre hier z. B.: „Du sollst dich nicht durch Betrug im Spiel bereichern, wenn du (das wäre die Bedingung) nicht willst, daß es herauskommt und dann keiner mehr mit dir spielen will.“ Unbedingt heißt: Du sollst das nicht, unter keinen Umständen, Punkt.

            „Die Forderung: „Du sollst dich an die Regeln halten“, kann man m. E. als bedingten oder als unbedingten Sollens-Satz auffassen.“

            Ja.

            „Mir ging es um die für mich problematische Beziehung von unbedingtem moralischen Sollen und dem notwendig zweckgerichteten Handeln. Mir scheint da ein Bruch zu bestehen, oder so etwas wie ein kategorialer Sprung.“

            Bei Kant ist das Verhältnis so: Beim unbedingten moralischen Sollen darf der Zweck nicht den Grund für die Willensbestimmung abgeben. Egal, was man damit erreichen will: stehlen darf man nicht (hängen Sie sich nicht an dem Beispiel fest, vielleicht funktioniert es nicht, es geht mir nur darum, das Prinzip zu erklären.) Das bedeutet: unter einer Vielzahl von möglichen Zwecken darf man einige anstreben, einige nicht. Das moralische Sollen liefert ein Auswahlkriterium.

            „Der Gedanke, dass man am Ende aller Diskussionen schon zu den allein richtigen Gründen gelangen werde, mag zwar die Voraussetzung dafür sein, dass man überhaupt diskutiert, aber mir scheint das im Falle der Wertsetzungen doch eine trügerische Hoffnung zu sein.“

            Na ja: scheint; anderen scheint etwas anderes. Entscheidend ist: Es gibt keine andere Möglichkeit als die Prüfung mittels der Vernunft. Wir können ja nicht sagen: wir sollen diejenige Lösung nehmen, die schöner aussieht oder besser riecht. Derartiges kann in die Prüfung eingehen: gibt es ausreichende Vernunftgründe dafür, dem besser Riechenden den Vorzug zu geben.

            „…Werten und Normen einfach nicht funktionieren kann, weil es sich eben nicht um Tatsachen handelt, sondern um Setzungen, Ideen, Gedanken. Wir befinden uns da auf einer ganz anderen kategorialen Ebene …“

            Über die Gültigkeit eines Satzes entscheidet man immer auf die gleiche Weise: Er muß den Vorgaben der Logik genügen und er muß sich empirisch bestätigen lassen „Tatsachen“). Beispiele fallen Ihnen mit Sicherheit unzählige ein. Wenn der Satz nicht von etwas Empirischen handelt, fällt die empirische Bestätigung natürlich weg, es bleibt allein: muß den Vorgaben der Logik genügen. Tut er es nicht, sagt man meist „inkonsistent“, und das reicht dann. Die neueren Wissenschaftstheoretiker tendieren dazu, die empirische Prüfung sozusagen aufzulösen, es bleibt dann nur die (In-)Konsistenz von Theorien. Denn bei genauerer Betrachtung lösen sich die „empirischen Tatsachen“ in Theoriemomente auf. Ich halte das aber für überzogen.

            „Erkenntnisse auf dem Gebiet der Logik und Mathematik sind m. E. empirisch fundiert, Rechenoperationen oder Beziehungen zwischen Größen haben in aller Regel eine Entsprechung in der Natur“

            So kann man das nicht sagen. Weil sie Erkenntnisse sind, gelten sie halt auch auf dem Gebiet der Natur. Es ist nicht die Reinheit der Mathematik oder der Logik (auch wen die heutigen Mathematiker und Logiker von „reiner“ M. und L. reden), die es macht, daß sie eher der Kunst und Musik ähneln. Sondern es ist die Trennung der neuen Mathematik und Logik von der Erkenntnistheorie, die dazu führt. Mit der Logik soll nichts mehr erkannt werden, man kann ganz unabhängig von möglicher Erkenntnis „spielen“. Darum „passen“ M. und L. auch nicht mehr zur empirischen Welt. Aber „empirisch fundiert“ kann man nicht sagen, das führt in einen Zirkel: Logik und Mathematik (die alte) sind Grundlagen des Empirischen, man kann sie nicht aus dem Empirischen ableiten.

            „In der praktischen Philosophie geht es wohl eher um Einsichten, Überzeugungen und Meinungen, als um Erkenntnisse und Wissen. Sklaverei hält man für verwerflich und Menschen schreibt man, im Gegensatz zu den meisten Tieren, eine unverletzliche Würde zu.“

            Genau wie in den Naturwissenschaften. Die Meinung, die Erde stehe im Mittelpunkt, wurde durch die Überzeugung (und hier kann man m.E. von Wissen sprechen) abgelöst, daß es anders sei. Der Nachweis, daß der Mensch eine Würde hat (die kein Tier hat – wir würden es sonst nicht zu den Tieren zählen), ist eine theoretische Operation nicht anders als in den Naturwissenschaften auch, nur eben daß die Empirie keine Rolle spielt (s.o.)

            „Kurz und gut, dass, wie Sie sagen, 2 x 2 4 ist, muss nicht in jeder Generation neu verteidigt werden, die Wahrheit/Richtigkeit dieser Aussage liegt förmlich auf der Hand“

            Aber nicht, daß 17 x 37 = 629 ist, das muß man jedesmal neu nachprüfen. Von komplizierteren mathematischen Dingen, zu deren Erkenntnis die Mathematiker manchmal Jahrhunderte gebraucht haben, ganz zu schweigen. Und Sachen, die „auf der Hand liegen“, gibt es auch im Bereich der Ethik jede Menge.

            „Einen Anspruch auf Gültigkeit erhebt man, wenn es sich bei den Aussagen nicht um Tatsachenfeststellungen handelt. Bei der Feststellung, dass 2 x 2 = 4 ist, handelt es sich um eine Tatsache, die erhebt nicht Anspruch auf Gültigkeit, die ist gültig.“

            Dass 2 x 2 = 4, erhebt einen Anspruch auf Gültigkeit: Der Grundschullehrer erhebt ihn. Die Kinder bezweifeln ihn. Er sagt: nehmt eure Finger und zählt nach. Dann hat sich für die Kinder der Anspruch auf Gültigkeit in Gültigkeit verwandelt.

            „und ich denke nicht, dass da bei mir ein „zentrales Missverständnis“ (LT) vorliegt, was die Werte der Aufklärung angeht.“

            Das mit dem „zentralen Missverständnis“ bezog sich auf etwas anderes. Sie haben das offenbar nicht verstanden (wir hatten es ja schon öfter). Ich weiß nicht, was da Ihre Sperre ist, mir scheint es ganz einfach. Wir sollten noch etwas dabei bleiben, weil es von großer Bedeutung ist und auch viele andere es nicht verstehen. Also noch mal:

            Es gibt kulturgebundene Werte. Nehmen wir das Weihnachtsfest. Das, ja sogar einzelne Gebräuche und Rituale, die damit im Zusammenhang stehen, haben für viele unserer Landsleute einen ungeheuren Wert. Manche meinen, sie möchten gar nicht mehr leben, wenn es dieses Fest nicht mehr gibt. Wenn es unsere Kultur nicht mehr gibt, verliert das Fest seinen Wert, so wie die Feste der Huronen ihren Wert verloren, weil es die Kultur nicht mehr gibt, in der sie ihn hatten.

            In gewisser Weise ist auch die Theorie der Menschenwürde, die neuere Mathematik oder die Relativitätstheorie kulturgebunden: sie wären nämlich ohne eine bestimmte Kultur, die Sie „Kultur der Aufklärung“ nennen, nicht entstanden. Zu dieser Kultur gehören allerlei Dinge des Umgangs miteinander, die es vor der Zeit der Aufklärung und anderswo als in Europa nicht gab, z. B. das freie Sprechen, das Veröffentlichen der Gedanken. Aber die Ergebnisse sind nicht an das Fortbestehen dieser Kultur gebunden. Die Theorie der Menschenwürde, die neuere Mathematik oder die Relativitätstheorie bleiben gültig, auch wenn von der Kultur der Aufklärung nichts mehr übrig ist, so wie der Satz des Pythagoras nicht falsch wurde dadurch, daß die griechische Kultur zusammenbrach. D. h.: Etwas zeitgebundenes, ortsgebundenes, kulturelles schafft die realen Bedingungen, daß etwas herausgefunden werden kann, das behält seine Gültigkeit aber dann ganz unabhängig von dieser Kultur. Historisch ist etwas wie Relativitätstheorie oder Theorie der Menschenwürde gebunden an eine bestimmte Kultur, aber nicht systematisch. Dies – das Kulturelle und das Universelle – nicht zu trennen, ist das „zentrale Mißverständnis“.

          • @Balanus

            »Erkenntnisse auf dem Gebiet der Logik und Mathematik sind m. E. empirisch fundiert, …«

            Mathematischer Empirizismus gehört ideengeschichtlich ins 19. Jhdt. und gilt inzwischen als inadäquat und obsolet.

            Im übrigen, auch 2 × 2 = 0 ist wahr, nämlich in ℤ/4ℤ. Die Wahrheit hat nun einmal viele Gesichter, aber man kann sich daran gewöhnen.

          • @chrys

            “Im übrigen, auch 2 × 2 = 0 ist wahr, nämlich…”

            Ist sie wahr oder “wahr”? Soll heißen: Ist Sie wahr unter dem Verständnis von Wahrheit, das man nun mal seit Jahrtausenden hat, oder ist sie wahr unter einer Definition von Wahrheit, die einen ganz anderen Begriff definiert als den, der halt immer unter Wahrheit verstanden wurde?

            Das dürfen Sie nicht mit “Fachsprache-Alltagssprache” verwechseln, obwohl es natürlich stimmt, daß die Operation, die zeigt, daß 2 x 2 = 0 falsch ist, im Alltag stattfindet: Wenn der Verkäufer sagt, 2 x 2 Euro, also 4 Euro möchte er haben, weil ein Stück des Gekauften 2 Euro kostet und ich 2 Stück gekauft habe, und ich antworte, 2 x 2 = 0, also gebe ich Ihnen gar keinen Euro, dann tippt er sich an den Kopf. Es ist eine Erkenntnis, daß ich 4 Euro zu zahlen habe. Sie verschwindet nicht als Erkenntnis unter jener anderen Wahrheitsdefinition, sondern diese Wahrheitsdefinition ist einfach nicht auf Erkenntnis bezogen (wie es @Balanus eben so schön formuliert hat: Sie gehört eher in die Sphäre der Musik.)

          • @Ludwig Trepl

            Tut mir leid, dass ich nicht deutlich machen konnte, dass ich, wie ich meine, sehr wohl das Kulturelle vom Universellen trenne—nämlich dann, wenn es mir angebracht erscheint. Wie z. B. bei der Relativitätstheorie. Mir ist auch völlig klar, dass das Theorem von der Menschenwürde diese universelle Gültigkeit beanspruchen muss und vielleicht sogar besitzt. Jedes Moralgesetz muss universelle Gültigkeit beanspruchen, das liegt in der Natur der Sache. Ein zeitlich befristetes oder örtlich beschränktes sittliches Gebot oder eine raumzeitlich begrenzte moralische Erkenntnis wäre wohl ein Widerspruch in sich.

            Mit anderen Worten, ein moralisches Gebot impliziert allein aufgrund der Tatsache, dass es ein solches ist, universelle Gültigkeit. So wie der Begriff ‚Mord‘ bereits impliziert, dass es sich um etwas Verwerfliches handelt, immer und überall.

            Dessen ungeachtet stelle ich mir aber die Frage, bei welchen Sollens-Sätze der Anspruch auf universelle Gültigkeit berechtigt ist und bei welchen Zweifel angebracht sind.

            Drei Punkte noch:

            »Aber „empirisch fundiert“ kann man nicht sagen, das führt in einen Zirkel: Logik und Mathematik (die alte) sind Grundlagen des Empirischen, man kann sie nicht aus dem Empirischen ableiten.«

            Mit „empirisch fundiert“ meinte ich, dass zeitlich vor den Rechenkünsten die sinnliche Erfahrung steht (onto- und phylogenetisch). Ob diese Vorstellung unter „mathematischen Empirismus“, (@Chrys, [gerade eben gesehen]) fällt, weiß ich nicht. Ich denke eher, nein.

            Aus der Erfahrung logisch „ableiten“ lässt sich so gut wie gar nichts. Dennoch sind wir felsenfest davon überzeugt, dass z. B. eine reale Außenwelt inklusive kausaler Beziehungen tatsächlich existiert.

            »Aber [es liegt] nicht [auf der Hand], daß 17 x 37 = 629 ist, das muß man jedesmal neu nachprüfen.«

            Ja, ich musste es nachprüfen, 629 stimmt. Aber es gibt Menschen, denen steht das Ergebnis sofort klar vor Augen. Wie kommt es zu solchen Fähigkeiten? Natürlich lassen sich Rechenaufgaben formulieren, die ohne immensen Rechenaufwand nicht zu lösen sind. Aber das ändert nichts an der Tatsache, dass es bei Rechenergebnissen (in der Regel, und eben völlig anders als bei moralischen Erkenntnissen) praktisch nichts zu diskutieren gibt, entweder sie stimmen oder sie sind falsch.

            »Und Sachen, die „auf der Hand liegen“, gibt es auch im Bereich der Ethik jede Menge.«

            Wohl deshalb, weil die meisten Menschen einen moralischen Kompass besitzen. Sie fühlen unmittelbar, was falsch ist. Anlage und Erziehung spielen hier zusammen. Wenn das Gefühl für das sittlich Gute mittels der Vernunft überprüft wird und sich dann ergibt, dass die Vernunft dem Gefühl widerspricht, und wenn die Vernunft das Gefühl nicht verändern, drehen kann, dann hat der Mensch ein Problem. Soll er dem Herzen folgen, oder dem Verstand.

            Nun wissen wir aber, dass nicht wenige Menschen es nicht als falsch empfinden, Ehebrecherinnen zu steinigen oder bestimmte Gefangene zu foltern.

            Wenn ein Gefühl dafür, dass eine bestimmte Handlung moralisch falsch ist, tatsächlich fehlt, dann könnte die Vernunft zur Einsicht verhelfen, dann könnte sich (vielleicht) ein Gefühl für die Falschheit der Handlung entwickeln.

            Wenn aber eine Handlung als falsch empfunden wird, dann dürfte es ungleich schwerer sein, dieses Gefühl umzudrehen. Wenn solche Handlungen dennoch vollzogen werden, dann werden zur Entschuldigung gerne irgendwelche äußere Umstände angeführt, etwa soziale Zwänge und Forderungen.

            Naturalistische Auffassungen führen m. E. nicht zwangsläufig zu moralischem Relativismus. Die Auffassung, dass in moralischen Dingen das Gefühl der Vernunft vorgängig ist, schließt nicht aus, dass das, was für richtig gehalten wird oder als richtig erkannt wurde, anderen nahegebracht wird.

          • @Ludwig Trepl;
            Es scheint, Sie haben den Beitrag von Chrys nicht ganz verstanden. Die Wahrheit hängt von dem System ab, in dem man sich bewegt. Im Bereich der natürlichen Zahlen sieht die Wahrheit anders aus als im Bereich der reellen Zahlen, oder gar der komplexen Zahlen. Gibt es in der empirischen Natur negative und irrationale Zahlen? Gibt es überhaupt Zahlen in der Natur? Sind Zahlen nicht das Produkt von Aggregation und Abstraktion, also dem Weglassen oder Leugnen von Wahrheiten? Gibt es in der Mathematik andere Wahrheiten als in der Natur?

            Mathematik und Musik haben tatsächlich etwas gemeinsam: sie nehmen ursprünglich Anleihen aus der Natur und entwickeln daraus (kulturelle Evolution) eigene, phantasievolle Artefakte und Kompositionen (Wahrheiten). Vor zehntausend Jahren gab es andere Musik und andere Mathematik, auch andere Wahrheiten.

          • “Vor zehntausend Jahren gab es andere Musik und andere Mathematik, auch andere Wahrheiten.” – Und warum haben sie sich verändert? Wurden sie als unzulänglich empfunden und durch bessere ersetzt? Oder sind sie einfach außer Mode gekommen und wurden durch andere neumodische aber gleichwertige abgelöst? Gibt es Fort- und Rückschritte? Oder gibt es ausschließlich Seitwärtsbewegungen?

            In den Naturwissenschaften werden sich die meisten einig sein, daß z.B. die Relativitätstheorie die Wirklichkeit besser beschreibt als Newtons Mechanik oder gar das ptolomäische Weltbild.

            In der Ästhetik (Musik) würde ich Fort- und Rückschritte bestreiten. Mir gefällt Mozart besser als Heino, ich glaube aber nicht, daß er objektiv besser ist.

            In der Moral gibt es, im Unterschied zur Ästhetik, den Anspruch auf universelle Gültigkeit. Es ist keine Geschmackssache, ob man Menschen ermorden darf oder nicht. Man darf oder man darf nicht. Daher gibt es hier auch Fort- oder Rückschritte. Kants Kritik der praktischen Vernunft ist ein solcher Fortschritt.

            Eine andere Frage ist die nach dem Gültigkeitsbereich moralischer Imperative. Gilt sie für die eigene Familie, nicht aber für Nichtverwandte; für Glaubensbrüder, aber nicht für Ungäubige? Für alle Männer? Für alle Menschen? In- oder exklusive Ungeborener? Was ist mit anderen Tieren?

            Bei der Beantwortung solcher Fragen ist es sehr schwer, kulturelle Geschmacksfragen von universellen Gesetzen zu unterscheiden. Warum gestattet unsere Gesellschaft die Tötung ungewollter Embryonen und verabscheut gleichzeitig die Enthauptung Ungläubiger? Ist das womöglich bigott?

            Wie immer wir solche Fragen diskutieren und beantworten: wir müssen voraussetzen, daß es universell gültige moralische Gesetze gibt und wir sie mit unserer Vernunft aufdecken können.

            Oder wir diskutieren sie nicht sondern bestimmen sie normativ. Das ist dann aber keine Moral sondern schlichte Machtausübung.

          • @Jürgen Bolt;
            Wenn es heute andere Wahrheiten gibt als vor zehntausend Jahren, dann bedeutet das keineswegs, dass alle Wahrheiten damals falsch waren. Am falschesten ist das dichotome oder binäre Denken, auf das man immer wieder stößt. Wenn man sagt, dass Wahrheit relativ ist, dann bedeutet es nicht, dass sie beliebig oder willkürlich sei. Die Natur kennt strikte und scheinbar unveränderliche Gesetzmäßigkeiten wie die Gravitation und die Bahn der Erde um die Sonne, jedenfalls über lange Zeiträume wie die gesamte Menschheitsgeschichte, sie kennt aber auch chaotische und unberechenbare Ereignisse wie Vulkanausbrüche, Meteoriteneinschläge und Supernovae. Was bedeutet es da, dass eine Theorie “besser” ist als eine andere? Es ist trivial, dass Theorien fallen gelassen werden, wenn eine andere Theorie die Welt zuverlässiger beschreibt, also genauere Vorhersagen ermöglicht, an denen sie geprüft werden kann.

            Der Moralbegriff und Moralvorstellungen sind viel zu schwammig, um universelle Gültigkeit beanspruchen zu können. Wie weit reicht die “Moral” einer Fußballmannschaft? Dass man Menschen nicht töten soll, könnte (sollte) universelle Gültigkeit beanspruchen. Aber selbst hier gibt es Konflikte. Ein Beispiel ist die Triage im Rettungswesen, sowie “das Brett des Karneades”, oder Kannibalismus zum Zweck des Überlebens. Russland hat gerade ein Gesetz verabschiedet, das Urteile des europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte außer kraft setzen kann. Moral ist fast immer relativ zur Kultur, leider. Nur die Menschenrechte könnten universelle Gültigkeit beanspruchen, weil sie zur Natur und zum Wesen des (gegenwärtigen!) Menschen gehören, besonders die Gleichwertigkeit auf Grund der biologischen Gleichartigkeit, bzw. der Zufälligkeit und Bedeutungslosigkeit der biologischen Unterschiede.

          • @ Jürgen Bolt

            Einverstanden, bis auf ein paar Kleinigkeiten (glaub ich wenigstens, daß es Kleinigkeiten sind).

            Das Zitat am Anfang: “Vor zehntausend Jahren gab es andere Musik und andere Mathematik, auch andere Wahrheiten.” Eine andere Musik gab es sicher, aber woher will man wissen, daß es eine andere Mathematik gab? Die haben die doch nicht aufgeschrieben. Und andere Wahrheiten? Man hielt anderes für wahr, aber das war vor einem Jahr auch so, und hat mit “es gab andere Wahrheiten” nichts zu tun.

            “Mir gefällt Mozart besser als Heino, ich glaube aber nicht, daß er objektiv besser ist.”

            Das Beispiel ist so gewählt, daß es mir (und wohl den meisten, die etwas von Musik verstehen) nicht möglich ist, zuzustimmen. Wichtig ist aber vor allem: So urteilen wir nicht. Wenn wir sagen: das ist schön, treffen wir ein Urteil mit dem Anspruch der Objektivität; andernfalls würden wir nicht von schön sprechen, sondern etwa sagen “mir ist das angenehmer”. Ausführlich und mich überzeugend dazu in der Kritik der Urteilskraft.

            “Eine andere Frage ist die nach dem Gültigkeitsbereich moralischer Imperative.”

            Man macht nichts falsch, wenn man sagt: Sie sind gültig für alle Menschen. Dennoch bleiben Fragen übrig. “Nur für Glaubensbrüder” oder “nur für Männer” – das ist geklärt. Daß manche anderer Meinung sind: damit verhält es sich so wie mit der Frage, ob die Erde eine Scheibe ist. Das halten auch einige Menschen für richtig, dennoch ist die Frage geklärt. – Für anderes (Verhältnis eigene Familie – alle Menschen, Ungeborene, Tiere) kann man m.E. nicht sagen, daß die Sache geklärt ist. Da geht’ uns wie mit der Sklaverei vor 1000 Jahren: da muß noch geklärt werden.

          • @Chrys

            Besten Dank für den Hinweis auf das Rechnen in Restklassenringen. Ich wusste bis dato gar nicht, dass es so etwas gibt. Faszinierend…

          • @Ludwig Trepl
            Beiden Formeln liegt dasselbe Verständnis von Wahrheit zugrunde. Wenn Sie die Formel “2 × 2 = 0” seit der Schulzeit für unwahr gehalten haben, dann unter der ungenannten Voraussetzung des Bezugs auf eine ganz spezielle Interpretation, nämlich die Arithmetik der ganzen Zahlen. Und wenn man im Alltag auf die Nennung dieses Bezugs verzichtet, dann aus purer Bequemlichkeit, die darauf vertraut, dass die Semantik dieser Formel allen Beteiligten schon klar sein wird. Jenseits der Gewohnheiten des Alltags ist jedoch ein solches Vertrauen keinesfalls gerechtfertigt. Alltagssprache dient eben nur den Belangen des Alltags, wozu Wissenschaft oder Epistemologie gewiss nicht zählen.

            Allgemeiner lässt sich vom Wahrheitswert eines (wahrheitsfähigen) sprachlichen Ausdrucks stets nur mit Hinblick auf eine Interpretation reden, die den Ausdruck in einen bestimmten Kontext stellt, in Abhängigkeit von welchem der Ausdruck dann wahr oder auch unwahr sein kann. Der Ausdruck selbst liefert keine Information darüber, wie er zu interpretieren ist; eine Interpretation ist stets eine zusätzliche Metainformation, die zu einer Beurteilung des Wahrheitswertes erforderlich ist. Wenn diese Kontextualität nach Ihrem Verständnis Relativismus darstellt, okay, dann war gewiss auch Kant ein Relativist, denn dem war offenbar durchaus bewusst, dass hier das Streben nach dem Unbedingten ganz rasch auf Antinomien führt:

            Die Antinomien der reinen Vernunft sind Widersprüche, in die sich die Vernunft selbst verwickelt, indem sie das Unbedingte (s. d.) zu denken bestrebt ist. Diese Antinomien bestehen aber nur so lange, als man dogmatisch spekuliert.

          • @ Chrys

            “Jenseits der Gewohnheiten des Alltags ist jedoch ein solches Vertrauen keinesfalls gerechtfertigt. Alltagssprache dient eben nur den Belangen des Alltags, wozu Wissenschaft oder Epistemologie gewiss nicht zählen.”

            Wenn Sie dem Verkäufer für 2 x 2 Stück Irgendwas, von denen jedes 1 Euro kostet, nicht 4 Euro, sondern Null Euro geben, weil das ja auch wahr ist, dann fällt das, was der Verkäufer Ihnen dann sagt, nicht unter “Alltagssprache” (obwohl natürlich auch), sondern unter “Wirklichkeit”, und die Wissenschaft, die einem das klarmacht, heißt Erkenntnistheorie. Wenn einem eine Wissenschaft klarmacht, daß 2 x 2 = 0 sein kann, dann bedeutet das, daß diese Wissenschaft sich von der Erkenntnistheorie gelöst hat: Man erkennt mit ihr nichts über die Wirklichkeit (denn diese Frage wurde ausgeklammert), sondern nur über das, was das System (der “reinen Mathematik”, der “reinen Logik”) gemäß dessen, was man an Voraussetzungen hineingesteckt hat, hergibt. In Wirklichkeit hat man 4 Euro zu zahlen, alles andere ist billige Sophisterei.

          • @Chrys

            16. Dezember 2015 13:01
            »Im übrigen, auch 2 × 2 = 0 ist wahr, nämlich in ℤ/4ℤ. Die Wahrheit hat nun einmal viele Gesichter, aber man kann sich daran gewöhnen.«

            18. Dezember 2015 10:49
            »Beiden Formeln [2 × 2 = 0 und 2 × 2 = 4] liegt dasselbe Verständnis von Wahrheit zugrunde.«

            Dann sollte die Bemerkung am 16. Dez. wohl nur ein bisserl Verwirrung stiften.

            Denn es ist ja klar: Auch wenn 4 Äpfel doppelt so viele sind wie 2 Äpfel, ist es bei 4 °C nicht doppelt so warm wie bei 2 °C.

          • @Chrys

            Zu Ihrem Hinweis auf Kants Antinomien der reinen Vernunft. Was daran für unsere Kontroverse von Bedeutung ist, ist, daß das Antinomien der spekulativen Vernunft in ihrem dogmatischen Gebrauch sind, nicht etwa Antinomien der Vernunft überhaupt. Denn diese löst diese Fragen. Nur wenn sie das nicht könnte, könnte man Kant einen Relativisten nennen.

          • @Balanus;
            Wie sieht es aus, wenn man Winkel addiert, deren Summe größer wird als 360°? Im Fernsehen sind manchmal Fahrzeuge zu sehen, deren Räder sich scheinbar rückwärts bewegen, obwohl das Fahrzeug sich vorwärts bewegt. In der Welt gibt es viele symmetrische Körper, deren Zustände bei bestimmten Bewegungen nicht voneinander unterscheidbar sind (einfarbige Billardkugeln)! Der Zustand eines Teilsystems ist oftmals nur durch den Zustand des übergeordneten Systems zu bestimmen. Eine Eintagsfliege weiß nicht, an welchem Tag sie lebt.

            Wenn man ein Haus vollständig beschreiben will, dann muss man es notwendig auch von außen betrachten. Im Universum ist das nicht möglich.

          • @Anton Reutlinger

            »Wie sieht es aus, wenn man Winkel addiert, deren Summe größer wird als 360°?«

            Ich komme nicht recht dahinter, auf welchen meiner Kommentare sich Ihre Aufzählung wahrnehmungspsychologischer bzw. erkenntnistheoretischer Probleme bezieht. Im vorliegenden Diskussionsstrang geht es um das Verständnis von „Wahrheit“ oder „Richtigkeit“ und um die angestrebte Widerspruchsfreiheit von Wertesystemen.

            »Der Zustand eines Teilsystems ist oftmals nur durch den Zustand des übergeordneten Systems zu bestimmen.«

            Genau das ist passiert doch, wenn der menschliche Geist forscht und erkennt. Das Bewusstsein kann als ein der physikalischen Welt übergeordnetes System verstanden werden.

          • @Ludwig Trepl
            Eine Entgegnung von Ihnen zu erhalten, bei der ich ausnahmslos jedem Satz entschieden zu widersprechen geneigt bin, erstaunt mich doch. Jetzt haben Sie das aber geschafft. Ich versuche mal, mich auf das Wesentliche zu beschränken.

            Sie wollen mir da erklären, dass das Rechnen mit ganzen Zahlen irgendwie wahrer sein müsse als das mit Restklassen, und zwar begründet damit, dass ersteres für die Lebenswirklichkeit eines Verkäufers wohl von Belang sei, letzteres aber nicht. Nun, so hätte Kant garantiert nie formal argumentiert, und es ist zudem auch inhaltlich falsch. Letzteres ist tatsächlich von faktischem Belang für die Lebenswirklichkeit eines jeden Internetnutzers, der mit seinem Smartphone, oder womit auch immer, nolens volens Protokolle zur verschlüsselten Übermittlung von Daten verwendet, also etwa beim Online Shopping. Das Rechnen in Restklassenringen ist von zentraler Bedeutung in kryptographischen Verfahren, und falls Sie es wünschen, könnte ich Ihnen dazu auch gerne ein einführendes Lehrbuch nennen, wo Sie das exakt so bestätigt finden würden.

            Was die Antinomien betrifft, da scheinen Sie sich Scheuklappen zugelegt zu haben, denn Sie ignorieren bis anhin beharrlich jeden Hinweis darauf, dass Sie mit Ihrem Begriff von Wahrheit unweigerlich auf hinlänglich bekannte Antinomien treffen, wozu im übrigen Literatur in beträchlicher Fülle erhältlich ist. Stattdessen sind Sie bestrebt, etwas Unbedingtes zu denken, indem Sie unverdrossen Ihre Vorstellung von absoluter Wahrheit verfechten. Es kann Sie freilich niemand daran hindern, sich diesbezüglich hinter mittelalterlichen Klostermauern zu verschanzen und alles, was darüber hinausgeht, als billige Sophisterei abzutun. Doch wen wollen Sie damit eigentlich überzeugen?

          • @Balanus

            »Dann sollte die Bemerkung am 16. Dez. wohl nur ein bisserl Verwirrung stiften.«

            Nichts liegt mir ferner, und ich hätte doch gehofft, dies am 18. Dez. auch hinreichend erläutert zu haben. Nicht das Verständnis von Wahrheit macht den Unterschied, sondern der Kontext, in den eine Formel zu setzten ist, um ihren Wahrheitswert überhaupt beurteilen zu können.

          • @Chrys

            Was die Sache mit den ganzen Zahlen angeht, muß ich vielleicht nachgeben, wenigstens zum Teil. Dieser Teil wäre aber dann nicht der, an dem mir liegt. Es könnte schon sein, daß die neue Logik und Mathematik auch Erkenntniswert hat, und Ihr Hinweis auf den Rechner zeigt das vielleicht ebenso wie der Hinweis auf die Relativitätstheorie, der üblicherweise kommt, wenn es um den Erkenntniswert der nichteuklidischen Geometrie geht. Aber anders als die alte Logik und Mathematik haben sie diesen Erkenntniswert nicht systematisch, oder wie ich das nennen soll, er ist nicht Bedingung dafür, daß etwas in die Logik/Mathematik gehört.

            Was aber die Antinomien angeht, so habe ich entweder nicht verstanden, worum es Ihnen geht, oder Sie haben nicht Recht. Mir jedenfalls geht es um etwas anderes: die Vernunft ist nicht am Ende, wenn sie auf Antinomien führt, man kann daraus nicht schließen, daß es keine Wahrheit gibt, sondern verschiedene. Sondern die Vernunft selbst kann zeigen, daß sie weiterkommt und dann eben doch zu einem Ergebnis kommt.

            Doch ändert sich der Status des Unbedingten. Es (z.B. Gott) wird zu einer regulativen Idee, ohne die die Vernunft nicht auskommt, die man nicht, wie die (einige) Positivisten meinen, auch lassen könnte, sondern die notwendig ist insbesondere im Fortgang der Wissenschaften. Ich zitiere aus einem der populären Kant-Bücher von O. Höffe (1): “Antinomie … meint bei Kant, daß die menschliche Vernunft unter zwei gegenläufigen Gesetzen steht, dem Gesetz, alles Bedingte auf etwas Unbedingtes zurückzuführen, und dem Gesetz, jede Bedingung wiederum als bedingt anzusehen.”

            Die gegensätzlichen Thesen/Antithesen werden im Falle des Streites, ob die Welt einen Anfang habe oder “von Ewigkeit her” sei, von Rationalismus und Empirismus vertreten. Eine Entscheidung zwischen ihnen ist nicht möglich, logisch ist an beiden nichts auszusetzen. Kant versöhnt nicht Rationalismus und Empirismus und läßt auch den Skeptizismus als (damals bekannte) Lösung nicht zu. Er “zerstört” alle drei, indem er den “kosmologischen Ideen” die konstitutive Bedeutung nimmt und eine regulative Bedeutung gibt. “Sie sagen nicht, wie die Welt als ganze aussieht, sondern geben eine Regel an, wie die Naturforschung anzustellen ist …” (Höffe).

            Mit Kant kehrt man also nicht ins Mittelalter zurück, sondern da ist man eher noch drin, wenn man die rationalistische (Universalienrealismus) oder empiristische (Nominalismus) wählt; sie destruieren sich gegenseitig und lassen den Skeptizismus (es gibt keine Wahrheit – oder viele) übrig. Ob Kants Lösung die richtige ist, ist eine andere Frage. Immerhin hat sie eine wichtige praktische Konsequenz, “denn die Totalität der Erscheinungen läßt sich nie vollständig ausmessen. So halten die kosmologischen Ideen das Feld der empirischen Forschung in einem weit grundsätzlicheren Sinn offen als der eher triviale Fallibilismus der heutigen Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie. Kant behauptet nicht bloß, daß keine wissenschaftliche Aussage schlechthin irrtums- und vorurteilsfrei ist. Er erklärt darüber hinaus, daß es für die empirische Forschung weder im Großen noch im Kleinen einen Gegenstand geben kann, der als schlechthin letzter Gegenstand die äußerste Grenze menschlicher Erkenntnis bezeichnet. Die unglückliche, weil mit sich selbst entzweite Metaphysik macht dem glücklichen, weil mit sich einigen Prozeß einzelwissenschaftlicher Forschung Platz.” (Höffe)

            (1) Ich bin durchaus der Meinung, daß man das Original nehmen sollte und nicht Sekundär- oder Tertiärliteratur. Aber die Höffe-Bücher stehen in Reichweite meines Bettes, die KrV nicht. Was für Kriterien doch wichtig werden können!

          • @Trepl: ” Ich bin durchaus der Meinung, daß man das Original nehmen sollte und nicht Sekundär- oder Tertiärliteratur. Aber die Höffe-Bücher stehen in Reichweite meines Bettes, die KrV nicht.”

            Schauen Sie mal hier:

            https://korpora.zim.uni-duisburg-essen.de/Kant/verzeichnisse-gesamt.html

            Ich habe gerade noch einmal in meine Print-Ausgabe der KrV gesehen und denke, Sie interpretieren sie korrekt. “Was nun die Beobachter einer scientifischen Methode betrifft, so haben sie hier die Wahl, entweder dogmatisch oder sceptisch, in allen Fällen aber doch die Verbindlichkeit, systematisch zu verfahren. Wenn ich hier in Ansehung der ersteren den berühmten Wolff, bei der zweiten David Hume nenne, so kann ich die übrigen meiner jetzigen Absicht nach ungenannt lassen. Der kritische Weg ist allein noch offen.”

            (Das Zugeständnis an Chris war allerdings auch nötig.)

          • @Chrys

            »Nicht das Verständnis von Wahrheit macht den Unterschied, sondern der Kontext, in den eine Formel zu setzten ist, um ihren Wahrheitswert überhaupt beurteilen zu können.«

            Nun ja, das war aus dem Satz: „Die Wahrheit hat nun einmal viele Gesichter, aber man kann sich daran gewöhnen,“ nicht so unmittelbar zu erkennen, nämlich dass mit „viele Gesichter der Wahrheit“ bloß der jeweilige Kontext einer Wahrheit gemeint war.

            »Und wenn man im Alltag auf die Nennung dieses Bezugs verzichtet, dann aus purer Bequemlichkeit, die darauf vertraut, dass die Semantik dieser Formel allen Beteiligten schon klar sein wird.«

            Ab und an wird dieser Bezug schon noch hergestellt. Am Ende einer im Kopf durchgeführten Rechenoperation sagen manche gerne „nach Adam Riese“. Zu Zeiten von Adam Ries gab es wohl noch kein Rechnen mit Restklassen. An der universellen Gültigkeit von Adam Riesens 2 × 2 = 4 dürfte sich, sofern man die Bedeutung der Zeichen nicht verändert, angesichts der Erfindung des Rechnens mit Restklassen rein gar nichts ändern. Und das ist es doch, worauf es hier in der Diskussion um Naturalismus und (Werte-)Relativismus allein ankommt.

            In Mathematik, Logik und Sprache mögen die zahlreichen Kontextualitäten für die „Wahrheit“ oder Richtigkeit einer Aussage eine zentrale Rolle spielen, aber mit Blick auf moralische Werte habe ich doch meine Zweifel. Da gibt es m. E. nur ein System und einen Kontext, nämlich den vernunftbegabten Menschen. Und ich wüsste nicht, wie da naturalistische Auffassungen zu einem moralischen Relativismus führen könnten.

          • @Ludwig Trepl

            »Mir jedenfalls geht es um etwas anderes: die Vernunft ist nicht am Ende, wenn sie auf Antinomien führt, man kann daraus nicht schließen, daß es keine Wahrheit gibt, sondern verschiedene. Sondern die Vernunft selbst kann zeigen, daß sie weiterkommt und dann eben doch zu einem Ergebnis kommt.«

            Dem würde ich zwar durchaus zustimmen wollen, wobei mir aber noch etwas unklar bleibt, was mit dem “einen Ergebnis” genau gemeint ist. Falls das heissen soll, dass sich ein Schema zur konsistenten Beurteilung des Wahrheitswertes von Aussagen formulieren lässt, okay, so etwas haben wir schliesslich mit dem semantischen Wahrheitsbegriff zur Hand.

            Antinomien kommen hierbei üblicherweise herein, wo Aussagen auf sich selbst bezogen werden können. Ein solcher Selbstbezug ist insbesondere gegeben für Definitionen von Wahrheit, bei welchen sich danach fragen lässt, ob sie gemäss ihrer eigenen Bestimmung wahr sind. In diesen Fällen lautet die paradoxe Antwort, dass die Wahrheitsdefinition genau dann wahr ist, wenn sie nicht wahr ist. Tarskis semantischer Wahrheitsbegriff vermeidet diese Paradoxon, wobei ansonsten von Aristoteles’ Vorgabe so viel wie nur möglich erhalten bleibt. Wie das funktioniert, lässt sich hier nicht in wenigen Worten explizieren, und ich verweise allfällig Interssierte einfach mal an folgenden Aufsatz:

            Tarski, A. (1944). The semantic conception of truth and the foundations of semantics. Philosophy and Phenomenological Research, 4(3), 341-376. [PDF]

            N.B. Das originale PDF bei JSTOR ist von besserer Qualität, leider nicht open access. Es existiert auch ein deutsche Übersetzung davon, Die semantische Konzeption der Wahrheit und die Grundlagen der Semantik, die u.a in folgender Sammlung enthalten ist: Gunnar Skirbekk (Hrsg.), Wahrheitstheorien, Suhrkamp, 1977. Ein PDF der übersetzten Fassung hat mir google allerdings nicht beschert.

  25. Bonus-Frage hierzu:

    Die Ziele aber, es sei denn, sie seien wiederum Mittel für andere Ziele, sind keine Sache der Erkenntnis, sondern der individuellen Entscheidung und der kollektiven Vereinbarung [1].

    Ginge es für Sie, lieber Herr Trepl, das Sittliche als Erkenntnissystem und dem naturwissenschaftlichen Erkenntnissystem nicht unähnlich zu verstehen, dem die individuelle Entscheidung wie die kollektive Vereinbarung unterliegen, so dass die Freiheit des Einzelnen und die der Menge schon eingeschränkt ist (und sei es “nur” durch die Sprache)?

    • “Ginge es für Sie, …, das Sittliche als Erkenntnissystem und dem [das?] naturwissenschaftliche[n] Erkenntnissystem nicht unähnlich zu verstehen, dem die individuelle Entscheidung wie die kollektive Vereinbarung unterliegen, so dass die Freiheit des Einzelnen und die der Menge schon eingeschränkt ist (und sei es “nur” durch die Sprache)?“

      Das hat’s aber in sich! Richtig ist, daß es in beiden Systemen keine Beliebigkeit gibt in dem Sinne: Ich kümmere mich nicht um das, was das System als gültig bezeichnet. Im Falle der Naturwissenschaft wird dann die Aussage falsch und die damit versuchte Technik funktioniert nicht, im Falle des Sittlichen wird man die resultierende Willensbestimmung als „verwerflich“, „unmoralisch“ (falls sich „moralisch“ nicht nur auf kulturabhängige Normen bezieht und für kulturunabhängige Normen man vielleicht „ethisch“ reserviert) oder als „böse“ bezeichnen müssen. Insofern setzen diese Systeme der Freiheit Grenzen. Nicht alle Beliebige kann oder soll getan werden.

      In anderer Hinsicht aber bestehen Unterschiede. Das drückt sich schon in der alten Formulierung aus, daß sich die naturwissenschaftlichen Erkenntnisse auf das „Reich der Notwendigkeit“ beziehen, die sittlichen aber auf das „Reich der Freiheit“. In der empirischen Welt, worauf sich die naturwissenschaftlichen Erkenntnisse beziehen, geht es deterministisch zu. (Daß es eine Diskussion darüber gibt, ob das denn überhaupt stimmt, muß uns glaub’ ich hier nicht weiter kümmern.) Die Naturgesetze beschreiben (zusammen mit „Randbedingungen“), „was immer geschieht“. Die sittlichen beschreiben nicht, was geschieht, sondern was geschehen soll, auch wenn es vielleicht nie geschieht. Sollen setzt aber Freiheit voraus. Der Handelnde muß nicht, soll aber in bestimmter Weise handeln (ob er das, was er gerade möchte, auch soll oder darf, das fragt er sich ohne Unterlaß, selbst der Böse, er hat sich nur entschieden, sich um die Antwort nicht zu kümmern und ist darum auch nicht immerzu am fragen.) Der Begriff der Handlung impliziert den der Freiheit, sonst würde es sich nicht um eine Handlung, sondern um einen bloßen Prozeß handeln. In einem solchen gibt es keine Freiheit, sondern alles verläuft den Naturgesetzen gemäß („es geht mit rechten Dingen zu“).

      Das „Sittliche als Erkenntnissystem“ schränkt also die „Freiheit des Einzelnen und die der Menge“ so gesehen nicht ein, sondern setzt Freiheit voraus. Das „naturwissenschaftliche Erkenntnissystem“ deckt die Unfreiheit auf, ermöglicht damit aber auch Freiheit der Handlungen, denn es zeigt mit dem, was nicht geht, auch auf, was gehen könnte.

      Wie das Sittengesetz (der Kategorische Imperativ) hervorgeht aus der Notwendigkeit eines jeden, seine Freiheit als Bedingung dafür, überhaupt etwas zu wollen, nicht durch andere zerstören zu lassen, habe ich unter der Überschrift „Zum Ursprung der Naturethik“ in Anlehnung an Bernward Grünewald, einen neueren, ich glaube noch lebenden Philosophen, zu zeigen versucht.

      • Auf jeden Fall vielen Dank für Ihre Nachricht, lieber Herr Trepl; inwiefern sich genau Erkenntnissysteme [1] unterscheiden, bleibt eine spannende Frage, die naturwissenschaftlichen scheinen im skeptizistischen Sinne sozusagen abgehandelt, es wird ja nicht mehr verifiziert, sondern die Falsifikation einer Theorie oder eines Theorienzusammmenhangs gesucht, die Frage nach einer möglichen Determiniertheit wird wohlweislich ausgeklammert. [2]
        Im Sittlichen wird deutlich mehr gestochert und ausprobiert: nur ganz am Rande angemerkt scheint Ihrem Kommentatorenfreund weder der sogenannte Kategorische Imperativ, noch der sogenannte Naturalistische Fehlschluss überzeugend, das eine wird durch das, was gesellschaftlich stattfindet, in Frage gestellt, auch im Spieltheoretischen, das andere dadurch, dass das Sein (letztlich) das Sollen bestimmt, auch: mangels Alternative.

        MFG
        Dr. W

        [1]
        Es gibt u.a. naturwissenschaftliche, sittliche, formalistische, theologische und generell esoterische (vs. exoterische) Erkenntnissysteme.

        [2]
        Zur Frage nach der Determiniertheit eines Weltsystems kann aus Sicht von Systemteilnehmern zuverlässig erklärt werden, dass weder eine umfängliche Determiniertheit, noch eine umfängliche Indeterminiertheit * festgestellt werden kann.
        Insofern ließe sich diese Fragestellung sinnhafterweise darauf reduzieren, dass die Welt entweder deterministisch oder teilweise determiniert ist.
        Was aber an dieser Stelle nicht weiter stören soll, schöne Adventstage und so schon einmal!

        *
        Diese sozusagen ganz besonders nicht.

        • “Im Sittlichen wird deutlich mehr gestochert und ausprobiert”

          Das stimmt sicher und liegt in der Natur der Sache. Man löst da ja nicht theoretische Probleme in durchgeplanten Projekten, oder auch praktische, wie “wie baue ich eine Atombombe”, sondern da kommen sozusagen die Fragen aus dem Leben auf einen zu, und daneben gibt es eine allgemeine Diskussion mit sozusagen sehr langen Rhythmen – immer wieder muß man bei Platon anfangen – über den großen Rahmen, z.B. “kann die Natur Subjekt oder Objekt in ethischen Fragen sein?”

          “Zur Frage nach der Determiniertheit eines Weltsystems kann aus Sicht von Systemteilnehmern zuverlässig erklärt werden, dass weder eine umfängliche Determiniertheit, noch eine umfängliche Indeterminiertheit * festgestellt werden kann.”

          Da wäre ich vorsichtig. Es gibt eine umfangreiche und verzwickte Diskussion unter Experten darüber, und jede denkbare Position wird heftig vertreten und ebenso heftig bekämpft. Ich habe nicht den Eindruck, daß da schon etwas spruchreif ist. – Ich habe dazu schon einiges in diesem Blog geschrieben, ich glaube hier: scilogs.spektrum.de/landschaft-oekologie/glueck-hirn-gene/
          und hier: https://scilogs.spektrum.de/landschaft-oekologie/willensfreiheit-nachtrag-schicksal-goetter-wissenschaft/, kann aber auch woanders gewesen sein.

          “…scheint Ihrem Kommentatorenfreund weder der sogenannte Kategorische Imperativ, noch … überzeugend, das eine wird durch das, was gesellschaftlich stattfindet, in Frage gestellt,…”

          Ich hab’s Ihnen schon mal geschrieben: Sie wissen nicht, was der KI ist, Sie halten ihn mit großer Beharrlichkeit für etwas, was er nicht ist. “Durch das, was gesellschaftlich stattfindet”, kann er nicht in Frage gestellt werden, das liegt kategorial auf einer anderen Ebene. Ich rate Ihnen, noch mal das zu lesen, was ich in Anlehnung an Grünewald über den Bedingungszusammenhang von eigener Freiheit und Freiheit von Jedem, der notwendig zum KI führt, geschrieben habe.

          • Der “KI” wird hier so verstanden:

            Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde.

            Die Sache mit der möglichen Determiniertheit dieser Welt ist metaphysisch klar, Weltteilnehmer (vs. Weltbetreiber) können bestimmte Fragen nicht entscheidend beantworten, weil sie definitorisch keinen direkten Zugriff auf den Betrieb haben, das ist eigentlich eine rein logische Forderung oder besser: Definition.
            Von der gerade auch von bestimmten bundesdeutschen Hirnforschern angeleierten Diskussion hält der Schreiber dieser Zeilen also nichts bzw. Abstand; das ist Sandkasten.

            MFG
            Dr. W (der aber hier keine Randdiskussionen beginnen möchte, wenn schon einmal ein Ihriger Aufsatz umfänglich gut ankam)

  26. “+1”

    Insofern kann zum Thema von hier ausgehend kaum gestritten werden,
    nett auch der letzte Absatz der Nachricht,
    MFG
    Dr. W