Kant und der Tierschutz. Die Unterteilung der Naturethiker in Anthropozentriker und Biozentriker ist irreführend.

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Immanuel Kant gilt unter den Natur- und Tierschutzethikern als „Anthropozentriker“. Tierquälerei habe verrohende Folgen für die Menschen, und das wirke sich auf den Umgang der Menschen miteinander aus. Nur deshalb sei Tierquälerei für Kant verwerflich. Hier wird gezeigt, daß diese Interpretation der Kant’schen Texte falsch ist.

In der natur- und tierschutzethischen Diskussion ist eine bestimmte Auffassung der Position Kants überaus verbreitet, die von einiger Bedeutung ist. Das ist sie vor allem deshalb, weil in den (deutschen) ethischen Diskussionen insgesamt die Theorie Kants eine herausragende Rolle spielt. Da man ihm aber in Hinblick auf das gebotene Verhalten gegen Tiere eine Auffassung zuschreibt, die der eigenen Intuition entgegensteht, meint man nun oft, sich anderen „Paradigmen“ zuwenden zu müssen, meist solchen angloamerikanischer (utilitaristischer) Herkunft. Zwei Zitate sollen als Beispiele für die Auffassung stehen, die man Kant im Hinblick auf das Quälen von Tieren zuschreibt:

„Alle Menschen sind Selbstzweck, um ihrer selbst willen zu achten. Alle nichtmenschlichen Lebewesen hingegen haben nur einen Preis, d.h. einen Nutzwert, insofern sie dem Menschen als nützlich und wertvoll erscheinen. Er kann sie gebrauchen wie es ihm richtig scheint.

Natürlich hat der Mensch auch nach Kant eine Pflicht zum humanen Umgang mit Tieren. Dabei handelt es sich aber nicht um eine Pflicht dem Tier gegenüber, sondern um eine Pflicht ‚in Ansehung der Tiere’ – gegenüber den anderen Menschen (Immanuel Kant, MST AA VI 442-443). Um sich vor anderen Menschen nicht als gewalttätig oder roh zu erweisen, muss der Mensch sorgsam mit Tieren umgehen, aber nicht, weil die Tiere sonst Leid empfinden würden. Die Schmerzempfindlichkeit der Tiere ist für Kant nicht relevant. …

Dabei bleibt sie [die ‚Anthropozentrik’ Kants] in einem nicht aufhebbaren Begründungsdefizit hängen: Warum ist es eine Rohheit, dem Tier Schmerz zuzufügen, wenn doch der Schmerz des Tieres grundsätzlich irrelevant ist, wie Kant behauptet? Warum befürchtet er, dass Tierquälerei in Menschenquälerei münden kann, wenn doch zwischen Tier und Mensch keinerlei Ähnlichkeit besteht?“ (Rosenberger).[1]

„Tiere darf man bei Kant nicht quälen, weil andere Menschen Mitleids- oder Ekelgefühle bekommen könnten, Gefühle die man i. d. Regel selbst auch nicht haben möchte. Da ein rücksichtsloser Umgang mit Tieren verrohende Folgen für die Menschen haben könnte, der sich negativ auf den Umgang des Menschen miteinander negativ auswirken könnte. Sein Ansatz stellt den Menschen in den Mittelpunkt. Tiere haben keinen Eigenwert und ihr Schutz ist einzig von der Einschätzung des Einzelnen abhängig.“ (Wikipedia, Stichwort Tierethik)

 

Heike Baranzke hat in ihrer Dissertation gezeigt, daß das grundfalsch ist.[2]

Kants Werk zeigt, daß ein „Wert“ und eine „Würde“ empirischer Dinge nicht (mehr) gedacht werden kann. Nichts in der empirischen Welt hat einen „innern Wert“ (= Würde), alles hat nur einen „Preis“. „Was einen Preis hat, an dessen Stelle kann auch etwas anderes, als Äquivalent, gesetzt werden; was dagegen über allen Preis erhaben ist, mithin kein Äquivalent verstattet, das hat eine Würde“, lautet eine berühmte Stelle in der Grundlegung. Kant hat „in seinem Werk […] den Dingen im natürlichen Kosmos allen Wert genommen“ (S. 220[3]).

Daraus folgt aber keineswegs, wie es die vorherrschende Meinung unter den Tier- und Naturschutzethikern ist, daß nach Kant das Handeln den Tieren oder überhaupt „der Natur“ gegenüber moralisch beliebig wird. Die Grenze, die hier gesetzt ist, begründet sich allerdings nicht substantialistisch. Das heißt, sie ist nicht dadurch gegeben, daß ein bestimmtes Naturding (die Spezies Homo sapiens) für sich selbst einen Wert hat, andere Naturdinge dagegen nicht; das wird  Kant zugeschrieben, entspricht aber nicht seiner Auffassung. Sie begründet sich auch nicht, wie in der dieser  Auffassung gemeinhin entgegengesetzten, so, daß die Natur oder zumindest die lebende Natur als solche einen Selbstwert habe oder einen ihr von ihrem Schöpfer verliehenen Wert. Vielmehr ergibt sich die Nicht-Beliebigkeit aus der moralischen Bestimmung des Menschen. Damit aber erhalten das Verbot der Tierquälerei und die positiven Fürsorgepflichten, die Menschen gegen Tiere haben, höchsten Rang.

Es gibt nach Kant keine Pflichten gegen Tiere. Gegen einen Menschen kann man ein Verpflichtungsverhältnis eingehen. Ein solches ist  symmetrisch; ich habe die Würde eines anderen Menschen zu achten, so wie dieser meine. Pflichten gibt es aber sehr wohl „in Ansehung“ der Tiere, so wie auch in Ansehung von Menschen, die nicht in der Lage sind, ein Verhältnis wechselseitiger Verpflichtung einzugehen, z. B. Geisteskranke. Man hat für sie Verantwortung. Das Umgekehrte gilt hier nicht, die Pflicht zu Verantwortung ist asymmetrisch.

Baranzke attestiert der heutigen Naturethikdiskussion hinsichtlich der Verpflichtungsverhältnisse ein erhebliches Durcheinander, eine „Verwechslung von verpflichtendem Subjekt (gegen wen?), Verantwortungsinstanz (vor wem?), Verpflichtungsgrund (warum?) und Verantwortungsgegenstand (für was/‚in Ansehung’ wessen?)“ (S. 202). Gegen das Tier als ein verpflichtendes Subjekt – also ein Subjekt, das uns verpflichtet und damit auch sich selbst uns gegenüber verpflichtet – kann man die Pflicht der Verantwortung für Tiere (d. h. den Verantwortungsgegenstand) selbstverständlich nicht haben. Es gibt hier keine Wechselseitigkeit. Verantwortungsinstanz ist auch nicht das Tier, vielmehr die eigene moralische Person: Zu verantworten hat man sich vor dem eigenen Gewissen.

Es ist also falsch, wenn Rosenberger schreibt (s. o.): „Natürlich hat der Mensch auch nach Kant eine Pflicht zum humanen Umgang mit Tieren. Dabei handelt es sich aber nicht um eine Pflicht dem Tier gegenüber, sondern um eine Pflicht ‚in Ansehung der Tiere’ – gegenüber den anderen Menschen“. Die Pflicht des „humanen Umgangs“ mit Tieren hat der Mensch nicht „gegenüber den anderen Menschen“, sondern gegen und vor sich selbst. Er ist es, könnte man sagen, sich selbst schuldig.

Was aber ist der Verpflichtungsgrund? Warum sind diese Pflichten „in Ansehung“ der Tiere zu erfüllen? Sie sind es „um der Realisierung der Idee der Menschheit willen“ (S. 203). „Menschheit“ ist in der Metaphysik der Sitten kein ontologischer oder empirischer Gattungsbegriff, sondern ein Wertbegriff. Die Idee der Menschheit ist der höchste Wert (vgl. S. 144 ff.) – die Idee dessen, was der Mensch als moralisches Wesen objektiv sein soll, nicht das, was er real ist oder was die real existierende „Menschheit“ (als Gattungsbegriff verstanden) sich wünscht, zu sein. Die Idee der Menschheit in der eigenen Person zu verwirklichen ist das Höchste, was uns (von der Vernunft) aufgegeben ist, und zu unterlassen, was dem zuwiderläuft, gehört zu den „vollkommenen Pflichten gegen sich selbst, die keinerlei ‚neigungsbedingte Ausnahmen’ … dulden“ (S. 217).

Tiere haben bei Kant, wie gesagt, keinen „Eigenwert“. Diese Haltung ist aber keineswegs „anthropozentrisch“. Denn nicht einmal „der Mensch als homo phaenomenon, wie Kant anthropozentrikkritisch in § 11 der Tugendlehre festgehalten hat, hat Wert. Beide haben nur ‚Preise’.“ (S. 209) Deswegen ist auch der Vorwurf des „Speziezismus“, der Kant ebenso wie anderen „Anthropozentrikern“ gemacht wird, unbegründet. „Was kein Äquivalent verstattet“ ist nicht etwa anthropos, also nicht eine Art von empirischen Wesen, im Verhältnis zu dem alles andere und insbesondere alle anderen Lebewesen nur „nützlich“ sein könnten. Darum sind auch diese Sätze Rosenbergers falsch: „Alle Menschen sind Selbstzweck, um ihrer selbst willen zu achten. Alle nichtmenschlichen Lebewesen hingegen haben nur einen Preis, d.h. einen Nutzwert, insofern sie dem Menschen als nützlich und wertvoll erscheinen. Er kann sie gebrauchen wie es ihm richtig scheint.“ Der Mensch wird hier offensichtlich als Lebewesen anderen Lebewesen gegenübergestellt. Der Mensch als Lebewesen ist aber nicht Selbstzweck und hat keinen unbedingten Wert. Nicht er ist es, der um seiner selbst willen zu achten ist, und die Pflichten gegen Menschen, andere wie die eigene Person, sind nicht Pflichten gegen den homo phaenomenon, sondern den  homo noumenon. Auch die theoretische Vernunftfähigkeit (die „Intelligenz“) ist es nicht, die die „Würde“ und damit den unbedingten Wert des Menschen begründet. Es kommt vielmehr auf den Zweck an, dem die theoretische Vernunftfähigkeit dient. Der Mensch kann die Tiere darum keineswegs „gebrauchen wie es ihm richtig scheint“, denn sollte es das Ziel des Wohlbefindens des empirischen Menschen sein, was ihm richtig scheint, so hat sich dieses Ziel dem unterzuordnen, was moralisch richtig ist (nicht scheint, sondern objektiv richtig ist), es hat sich „der Realisierung der Idee der Menschheit“ unterzuordnen.

Die „moralische Wohltätigkeitspflicht“ (S. 182) richtet sich zwar auf Menschen als empfindungsfähige Lebewesen, doch geht es dabei nicht um „Dienste an anderen Menschen um ihrer phänomenalen Sinnennatur willen, sondern vielmehr an ihrer Sinnennatur um ihrer noumenalen Selbstzwecklichkeit willen“ (S. 182, Hv. LT). „Insofern darf man sich von der Kurzform ‚Pflicht zur Förderung fremder Glückseligkeit’ nicht dahingehend beirren lassen, als ginge es um die fremde Glückseligkeit als Selbstzweck.“ (S. 182)

Die moralische Wohltätigkeitspflicht richtet sich nun aber nicht nur auf Menschen, insofern sie empfindungsfähige Lebewesen sind, sondern auf empfindungsfähige Lebewesen überhaupt. „Tiere sind […] glücksfähig […] insofern folgt für Kant nicht nur die negative Pflicht eines Verbots der Tierquälerei, sondern auch analoge positive Fürsorgepflichten zur Förderung  fremder Glückseligkeit, insbesondere in Ansehung der Haus- und Nutztiere.“ (S. 207)

Was aber ist der Grund dafür, daß aus der Glücksfähigkeit von Tieren auf eine Pflicht der Unterlassung von Grausamkeit und auf die Pflicht der Wohltätigkeit geschlossen werden kann? Rosenberger bringt bezüglich der Tiere das in der Kant-Interpretation unter heutigen Naturethikern übliche Verrohungsargument: „Um sich vor anderen Menschen nicht als gewalttätig oder roh zu erweisen, muss der Mensch sorgsam mit Tieren umgehen, aber nicht, weil die Tiere sonst Leid empfinden würden.“ Und er fragt: „Warum befürchtet er [Kant], dass Tierquälerei in Menschenquälerei münden kann …?“ Um der Vermeidung der Menschquälerei willen dürfe man, so meint er also, nach Kant Tiere nicht quälen, nicht aber, um den Tieren Leid zu ersparen. In der Tat, das Verrohungsargument wird von Kant genannt, doch begründet er das Verbot der Tierquälerei nicht damit, sondern er integriert nur „zusätzlich das pädagogische Verrohungsargument seiner Zeit“ (S. 318) in die ethische Begründung, der Begründung von der Verantwortung aus. Das ist, im Zusammenhang mit Tierquälerei, nicht nur eine Verantwortung für Menschen (obwohl, indirekt, über die Verrohung, auch), sondern für nicht verpflichtungsfähige, aber doch empfindungsfähige Wesen. Und es ist eine Verantwortung für diese; sie wahrzunehmen bedeutet, ihnen Leid zu ersparen. Der letzte Grund dieses Gebots aber liegt darin, daß es der Moralität zuwiderliefe, ihnen unnötiges Leid zuzufügen.

Tiere sind bei Kant „selbstverständliche ‚Adressaten’ oder ‚Objekte’ von asymmetrischen Verantwortungspflichten“, wenn auch nicht „von reziproken Achtungspflichten.“ (S. 320) Und es ist, wie gesehen, eine Verantwortung vor sich selbst, die er hier wahrzunehmen hat. Auch wenn sich jemand nicht „vor anderen Menschen … als gewalttätig oder roh“ (Rosenberger) erweist, weil er nicht beobachtet wird, darf er Tiere nicht quälen. Er darf es, anders als Rosenberger behauptet, für Kant gerade deshalb nicht, „weil die Tiere sonst Leid empfinden würden“; eben dies zu verursachen ist „der Idee der Menschheit“ zuwider. Zusätzlich gilt das Argument, daß dadurch „eine der Moralität, im Verhältnis zu anderen Menschen, sehr diensame natürliche Anlage [das Mitgefühl] geschwächt“ (§ 17 Tugendlehre in der Metaphysik der Sitten) werde.

Wenn Rosenberger fragt: „Warum ist es eine Rohheit, dem Tier Schmerz zuzufügen, wenn doch der Schmerz des Tieres grundsätzlich irrelevant ist, wie Kant behauptet?“ und meint, hier liege ein „nicht aufhebbares Begründungsdefizit“, so geht er also von falschen Voraussetzungen aus. Kant behauptet keineswegs, daß der Schmerz des Tieres irrelevant ist. Warum aber kann er relevant sein, wo er doch nur ein Naturereignis ist? Kants Antwort ist: Tiere zu quälen ist dem Menschen um seiner eigenen Moralität willen verboten. Denn „nicht um der Tiere willen, auch nicht um der Menschen willen, sondern um der Moralität willen ist Grausamkeit ver- und Verantwortung geboten“ (S. 217); um der Moralität willen, d. h. wegen der Pflicht der  Realisierung der Idee der Menschheit. Ihr widerspricht die Rohheit (und überhaupt der „Spiritus destructionis“, Metaphysik der Sitten, S. 412), und zwar nicht primär deshalb, weil sie verwerfliche Handlungen von Menschen (anderer oder des Tierquälers selbst, der durch die Tat noch mehr verroht) gegen Menschen nach sich zieht, sondern einfach weil sie eine Rohheit – gegen empfindungsfähige Wesen – ist. Tierquälerei qualifiziert Kant auch „nicht – wie die frühe Tierschutzgesetzgebung im 19. Jahrhundert – als Sittenwidrigkeit, die das Gefühl anderer Menschen verletzt“ – also nicht weil sie erfahrungsgemäß zur Verrohung führt, sondern weil sie anderen, empfindsameren Menschen unmittelbar seelisches Leid zufügt – „sondern als in sich schlechte Handlung, auch wenn sie von anderen Menschen unbemerkt bleibt.“ (S. 341)

Zusammengefaßt „setzt Kant in § 17 [der Tugendlehre] die ‚anderen Menschen’ weder als Verpflichtungspartner (gegen wen?) noch als Verantwortungsinstanzen (Verantwortung vor) noch als Verpflichtungsgrund (um willen) ein, wie es auf der Linie des klassischen hypothetischen Verrohungsarguments liegen würde, sondern die eigene noumenale moralische Person.“ (S. 212 f.) Das Verbot der Tierquälerei gehört zu den „vollkommenen Pflichten gegen sich selbst“ (S. 217). Ihnen ist wesentlich, daß sie „keinerlei ‚neigungsbedingte Ausnahmen’ (Kersting) dulden.“ (Ebd.) Und sie dienen nicht, wie die „unvollkommenen Pflichten des Menschen gegen sich selbst“ „nur der ‚Entwicklung und Vermehrung’ der ‚Naturvollkommenheit des Menschen’“ (ebd.). Wer Tiere quält, verletzt vielmehr seine eigene Menschenwürde (ebd). „Sich der Naturzerstörung, der Tierquälerei oder der Gotteslästerung zu enthalten und Fürsorgeverpflichtungen gegen vorhandene Haustiere zu übernehmen“ (ebd.) ist unmittelbar auf die Moralität bezogen: „Durch die Einordnung der Pflichten in Ansehung der Tiere in die Klasse der vollkommenen Pflichten gegen sich selbst wird jeder Akt sinnloser Naturzerstörung und jeder Akt der Tierquälerei zu einem Akt der Negierung der Idee der Menschheit und damit zum Verrat am gesamten moralischen Projekt. Damit rückt der Umgang mit Natur und Tieren in jene Klasse moralischer Handlungen, an denen sich Moralität schlechthin entscheidet.“ (S. 220) Tierschutz wird somit „zur schlechthin gebotenen kategorischen Pflicht erklärt.“ (S. 314)

 

Kant begründet also die Pflicht der Unterlassung von Grausamkeit und die Pflicht der Wohltätigkeit gegen Tiere nicht substantialistisch, er fragt nicht nach einem unterschiedlichen Wert empirischer Wesen – sie haben bei ihm alle keinen, auch der Mensch als ein solches Wesen nicht. Die Ebene der Begründung ist die des Homo noumenon, des Menschen nicht als eines natürlichen, sondern als eines seiner Bestimmung nach alle Natur unendlich übersteigenden moralischen Wesens. Es ist die Ebene der „Menschheit“, deren Idee die Person realisieren soll. Kant fragt, was deren Pflichten sind, und Tierschutz fällt in die höchste Pflichtenklasse, die Klasse der vollkommenen Pflichten.

Man kann, das wird einem bei Lesen der Arbeit von Heike Baranzke klar, nicht sagen, daß der mainstream der heutigen naturethischen Diskussion dem widerspricht. Vielmehr wird es dort einfach nicht verstanden, und das ist das Wichtigste, was man aus der Arbeit lernen kann: Die heutige naturethische Diskussion stellt sich in die empiristische Tradition, sie ist naturalistisch[4] oder biologistisch und kann auch ethische Fragen – in utilitaristischer Tradition – nur im Rahmen dessen sehen, wonach die Wesen ihrer Natur nach streben: ihr Glück; und der Mensch ist auch nur ein Wesen, das für sich „nach dem ‚Glück der Tiere’ strebt“ (S. 221). In dieser naturethischen Diskussion redet man von „anthropozentrisch“ und meint mit anthropos ein Naturwesen unter vielen. Dieser Diskussion ist die Reflexionshöhe, die die Philosophie um 1800 erreicht hatte, einfach nicht zugänglich. Man begreift hier nicht, daß man sich mit der Frage nach der Bestimmung des Menschen, nach dem, was er objektiv sein soll, in eine ganz andere Sphäre begibt als in jene, in der man sinnvoll nach mehr oder weniger großen Ähnlichkeiten mit Tieren fragen kann. Man versteht hier nicht, daß es ein kategorialer Unterschied ist, ob man vom „Menschen“ als einer Art unter vielen spricht, die sich von allen anderen zwar abhebt, aber doch lediglich durch ihre Denkleistungen, so daß man dann darüber streiten kann, ob hier ein sprunghafter oder doch nur ein gradueller Unterschied vorliegt, und wieso sich aus der Fähigkeit, besser für sein eigenes Wohlergehen sorgen zu können, ein Anspruchsvorrang ergeben soll. (Den bejaht man dann entweder mit der aus der Lebensphilosophie bekannten Siegerpose oder bestreitet ihn kleinmütig – weil man ja auch nur Natur ist). Man kann nicht erkennen, daß es eine „grundsätzliche Unvergleichbarkeit zwischen Menschen und Tieren“ gibt, daß aber aus der unendlich „überlegenen Position […] nicht automatisch ein Anspruchsvorrang [folgt], sondern unter Umständen auch eine moralische Pflicht zur Übernahme größerer Zumutungen“ (S. 327)

Und man fragt an der falschen Stelle nach der Empfindungsfähigkeit, nämlich nicht im Zusammenhang mit der Begründung von Verantwortungspflichten, sondern von Achtungspflichten, fragt nach der „Würde der Kreatur“ – für die es aber nicht nur im Kant’schen, sondern auch in dem empiristischen Denksystem der Naturethiker gar keinen Platz geben kann. „Würde“ setzt voraus, sich Zwecke anderer Wesen zu den eigenen machen zu können und sich zu verpflichten, dies auch zu tun. Darum gibt es nur Menschenwürde, keine Tierwürde. Der Menschenwürdebegriff taugt aber „nicht als zweit- oder drittpersonale Zuschreibungsgröße, vermittels derer Menschen bei anderen Menschen das Vorhandensein von Menschenwürde, moralischer Gesinnung, Willensfreiheit etc. meinen, empirisch feststellen oder absprechen zu können“. Er dient „ausschließlich zur tugendethischen Selbstbeurteilung und Selbstverpflichtung“. (S. 325) Den Unterschied hervorzuheben zwischen dem Leben des Menschen und dem Leben, dem diese Würde nicht zukommt, dient nicht dazu, „das empirische Leben zu entwerten und der Beliebigkeit preiszugeben, sondern ganz im Gegenteil, um es aus der Beliebigkeit empirischer Geschehnisse herauszuheben“ (S. 344).

 

Blogbeiträge mit Bezug zum Thema: (1), (2), (3), (4), (5), (6), (7), (8), (9), (9), (10), (11), (12), (13)

 


[1] Aus: Stellungnahme von Prof. Dr. Michael Rosenberger, Moraltheologe, Rektor der KTU Linz Kernfragen der ethischen Diskussion. Mensch und Tier: Was muss gleich, und was muss ungleich behandelt werden?

[2] Siehe z. B. auch hier

[3] Nicht weiter gekennzeichnete Seitenangaben beziehen sich auf die Arbeit von Baranzke.

[4] Nicht immer, wenn von „Mensch ist Teil der Natur“ oder ähnlich geredet wird, muß das naturalistisch sein; es könnte z. B. auch schellingianisch gemeint sein. Aber das kommt im Naturethik-Diskurs heute kaum vor.

 

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Ich habe von 1969-1973 an der Ludwig-Maximilians-Universität München und der FU Berlin Biologie studiert. Von 1994 bis zu meiner Emeritierung im Jahre 2011 war ich Inhaber des Lehrstuhls für Landschaftsökologie der Technischen Universität München. Nach meinem Studium war ich zehn Jahre lang ausschließlich in der empirischen Forschung (Geobotanik, Vegetationsökologie) tätig, dann habe ich mich vor allem mit Theorie und Geschichte der Ökologie befaßt, aber auch – besonders im Zusammenhang mit der Ausbildung von Landschaftsplanern und Landschaftsarchitekten – mit der Idee der Landschaft. Ludwig Trepl

6 Kommentare

  1. nicht gleich dem Bären

    nun wird der vegetarische Mensch nicht gleich aussterben. Aber mit Sicherheit hat die Ernährung Folgen für den Organismus und vielleicht für das Verhalten.

  2. @ chris

    Du meinst die NAchteile wären nicht genug öffentlich geklärt worden. Soll das unterstellen wissenschaftlich wäre da welche belegt.

    Mir sind keine bekannt. Das Pandabärproblem scheint doch eher spekulativ und eine Übertragung auf den Menschen problematisch da hier andere Gesetzmäßigkeiten gelten.

  3. Vegetarismus und Pandabärproblematik

    riske @ chris: Mögliches Problem

    -> Die Nachteile bei Vegetarismus scheinen mir sicher noch nicht genug öffentlich erklärt worden zu sein.

    Gibt es Katzen, die sich Vegetarisch ernähren? Nein. Mein Beispiel der Nachteile von Vegetarismus ist immer noch der Bär (die Gattung) Es gibt den Panda, welcher sich vegetarisch ernährt, der aber am Rande des Aussterbens ist. Alle anderen Bärenarten aber sind noch relativ gut im Lebensrennen unterwegs. Was diese Pandabärproblematik auf den Menschen angewendet bedeutet, ist also noch nicht genügend bis gar nicht erforscht worden. Welche Nachteile werden sich dabei ergeben? Auch hinsichtlich der Verteilungsgerechtigkeit (ein Teil der Menschen ißt Fleisch, der andere nicht) ist dabei in seinen Folgen noch zu besprechen…

  4. @ chris: Mögliches Problem

    Die Irreführung soll denke ich darin liegen, dass die Bezeichnung Anthropozentriker unterstellt, anderes als ein Mensch könne keinen moralischen Wert haben. Und gerade Kant als Paradebeispiel soll genau dies widerlegen.

    Zu dem Problem der möglichen Folgen:
    Die möglichen Folgen (hier nur genetische und organische) des Vegetarismus gehen aber meiner Meinung nach sowohl in positive Entwicklung als auch in die negative Richtung. Es gibt meiner Einschätzung nach keinen Grund anzunehmen, dass dies eher zu einer schlechteren Situation, in welcher Hinsicht auch immer, führen sollte.

  5. Fleischeslust trotz Empathieschmerz?

    Die Irreführung der Unterteilung ist mir nach dem Lesen des langen (und Inhaltsreichen) Artikels noch nicht klar. Werde ihn noch einmal Lesen müssen.
    Aufgestoßen aber ist mir eine besondere Fragestellung aufgrund folgender Aussage:

    “Die Schmerzempfindlichkeit der Tiere ist für Kant nicht relevant. …”

    -> Für Nietzsche aber war sie wohl relevant, als er einem Pferd um den Hals fiel …oder? Oder sei sein überliefertes Verhalten auch oder gerade in heutiger Zeit als krankhaft…abnorm einzustufen? Eine gute Frage – angesichts einem Tierschutzverstänsnisses heutiger Zeit.

    Kann man an Nietzsches überlieferten Lebenslauf ablesen, wie eine ganze Zivilisation sich entwickeln wird? Oder bleiben es (die Extremtierschützer) Einzelfälle?

    Fakt ist doch aber, dass der Mensch Tiere tötet, um sein Fleisch zu essen. Und solange er das tut, solange bleibt die Thematik durchaus kontrovers bis schizophren. Denn derweil praktiziert man erstmal noch das würdige und schmerzfreie, schnelle Töten aus Verlegenheit in dieser Frage …

    Auch ein Problem vielleicht:

    Mag es denn rein Wissenschaftlich auch möglich sein sich vegetarisch zu ernähren – was es für Folgen hinsichtlich der Evolution des Menschen (genetisch), Entwicklungstechnisch und auch Soziologisch (so es besondere Folgen im Organismus des Vegetariers hat – die Nachfolgend auch Konsequenzen in seinem Verhalten haben) haben wird, ist damit nicht erklärt. Hier ist zwar dem Vegetarier der gute Vorsatz die Rechtfertigung – jedoch bezieht dieser eben die möglichen Konsequenzen nicht mit ein. Die Tatsache, dass für die Ernährung nicht getötet wird, hat zudem auch psychologische Konsequenzen – was sich im Inhalt des Artikels auch erkennen lässt.